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Literaturwissenschaften in der Krise E-Book

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Beschreibung

In einem Zeitalter zahlreicher globaler Umbrüche destabilisieren klimatische, politische und finanzielle Krisen und die daraus resultierenden Kriege und Konflikte gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Wertemuster weltweit. Unter diesen Umständen müssen sich die Literaturwissenschaften kritischen Fragen stellen: Welche Relevanz haben philologische, historische und kontextuelle Forschungsprojekte im Licht einer krisengeschüttelten Gegenwart und einer unsicheren Zukunft? Welche Rolle kann Literatur, kann die Vermittlung literaturwissenschaftlicher Techniken im Rahmen bildungspolitischer Systeme spielen, die ökonomisch nutzbare Ergebnisse als Hauptlegitimationskriterium von Bildung betrachten? Welche ethischen und politischen Imperative müssen zwingend neu formuliert werden und welche Rolle spielen die Literaturwissenschaften dabei? In ihren Beiträgen setzen sich Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaftler mit ihrer eigenen literaturwissenschaftlichen Praxis und der Bedeutung ihres Faches in den und für die aktuellen Krisensituationen auseinander und versuchen eine Neueinordnung der gesellschaftlichen Rolle und Relevanz der Literaturwissenschaften über Fach- und Landesgrenzen hinaus.

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Seitenzahl: 495

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Literaturwissenschaften in der Krise

Zur Rolle und Relevanz literarischer Praktiken in globalen Krisenzeiten

Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2018 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0078-6

Inhalt

DankeLiteraturwissenschaften in der Krise. EinleitungKrise? Welche Krise?Krise als Chance(?)Geisteswissenschaften in der KriseLiteraturI Bestandsaufnahmen1 »Nach der Krise ist vor der Krise«Literatur2 Literatur, Wahrheit, Menschsein3 Literatur(-Wissenschaft) in der gravierenden KriseKrise und LiteraturLiteratur und LiteraturwissenschaftLiteratur(-Wissenschaft) und Krise4 Literaturgeschichte und KonstruktivismusWahrheit und WahrheitenLiteraturgeschichte als KulturgeschichteMittelbare Wahrheiten5 Von Fakes, ›fun facts‹ und anderen AlternativenLiterarisches Management an der Grenze von Fakt und FiktionII Lektüren6 Alternative Fakten und postfaktische Politik als NarrativPolitische Tweets und andere ErzählungenDie Menschlichkeit des ErzählensPostfaktische Erzählungen I: Typenmodelle und mediale StrukturenPostfaktische Erzählungen II: Mythos, Linearität, KomplexitätZusammenfassung und Ausblick7 Erzählungen vom ›wahren‹ VolkHinführung: die Worte der PopulistenVoraussetzungen: die drei Akteure in populistischen ErzählungenDas Volk als affektiver ErzähleinsatzDie Rede des FeindesDas Zusammenspiel Erzähler – Volk als lustvolle BefreiungAndere Geschichten erzählenPlädoyer: Narratologische Instrumente zur Analyse gesellschaftlicher Erzählungen8 Globalisierungsangst in der GegenwartsliteraturGlobalisierungsangstRoman Ehrlich: Die fürchterlichen Tage des schrecklichen GrauensSimon Strauss: Sieben Nächte9 Wie wollen wir in Zukunft leben?LiteraturIII Anwendungen10 Kafka zur Flüchtlingskrise und Beitrag an die KlimawandelforschungIm Anfang war die KriseDie Krise als konstitutives Merkmal der Literatur(-wissenschaft)Der Beitrag der Literaturwissenschaft an die KlimawandelforschungKafka als ›Kommentator‹ der aktuellen FlüchtlingskriseSchluss11 »Ich konsumiere, also bin ich?!«Der Diskurs des Ökonomischen im Gegenwartsdrama und -theater – ein ÜberblickLiteratur, Ökonomie, Deutschdidaktik und -unterricht – fachdidaktischer ForschungsstandPlädoyer für eine ›ökonomie-sensible‹ Lektüre- und Theaterpraxis im UnterrichtFazit und Ausblick12 Broadcast PhilologyLiteratur13 Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaften in globalen und innergesellschaftlichen Krisenzeiten am Beispiel von Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015)Transnationalismus und transnationale Literatur – Produktive Kategorien oder Modebegriffe?Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen (2015) – Der Roman zur Flüchtlingskrise?Die Rolle der Literatur und Literaturwissenschaft in Krisenzeiten – RepriseIV Interventionen14 Globale Flucht und die LiteraturwissenschaftenFluchtpunkteDie Ästhetik der KriseRepräsentation und die Krise des eingeschränkten BlickesFlucht sehen, Flucht lesenCoda/Yallah15 Make complexity great againDas Feste und das FlüssigeDie Wut des Verstehens – das Verstehen der WutEmpört euch!16 Dem konformistischen Text widerstehenAfter Hölderlin’s Pindar Extravaganza When He Was Supposedly Past It: ›Vom Dolphin‹After Hölderlin’s ›Der Sommer‹ – ›Wenn dann vorbei‹After Hölderlin’s ›Der Winkel von Hahrdt‹Literatur17 Literaturwissenschaften in der KriseWorin die Krise bestehtLiteraturwissenschaften in der Krise: Was wir tun könnenLiteraturwissenschaften in der Krise: Was wir auch noch tun könntenManifest für eine extrovertierte LiteraturwissenschaftLiteraturBeiträger*innen

Danke

Anya Heise-von der Lippe möchte sich bei ihren krisenfesten Eltern Burghard und Elke Heise bedanken und ihnen dieses Buch widmen.

 

Russell West-Pavlov möchte sich bei Tatjana Pavlov-West und bei Joshua, Iva und Niklas bedanken.

 

Unser gemeinsamer Dank gilt den Beiträger*innen dieses Bandes für ihre vielen spannenden Ideen sowie Valeska Lembke und Vanessa Weihgold vom Narr Verlag für ihre Geduld und ihre Unterstützung bei der Manuskripterstellung und – last but not least – Lukas Müsel für seine Übersetzungen und seine unermüdliche Arbeit am Manuskript.

Literaturwissenschaften in der Krise

Einleitung

Anya Heise-von der Lippe / Russell West-Pavlov

Krise? Welche Krise?

Krisen sind allgegenwärtig. Zwischen Eurokrise, Griechenlandkrise, Bildungskrise, Flüchtlingskrise, Finanzkrise und Klimakrise stellt sich leicht der Eindruck einer begrifflichen Überstrapazierung ein. Rainer Leschke attestiert der Krise in diesem Sinne eine »hohe Affinität zu narrativen Formen« (Leschke 2013: 10). Selbst wenn Ereignisse als problematisch, gefährlich oder tragisch wahrgenommen werden, ist die Bezeichnung »Krise« eine Art narrative Zuspitzung, die häufig erst durch ihre Medialisierung erfolgt. Durch die Verwandlung in ein Narrativ rückt die Krise damit paradoxerweise in einen Interpretationszusammenhang, der es minder betroffenen Zuschauer*innen oder Leser*innen ermöglicht, die Krise komplett zu ignorieren. Diese Distanz ist jedoch, mehr noch als die Krise selbst, ein Narrativ, das lediglich von bestimmten privilegierten Positionen aus aufrechterhalten werden kann. Nur wer nicht unmittelbar von ihren Auswirkungen betroffen ist, kann die Krise ignorieren. Dies ist jedoch ein rückwärtsgewandtes Spiel auf Zeit. Längst schon leben wir in einem von menschlichem Handeln beeinflussten Erdzeitalter, dem Anthropozän, dessen Auswirkungen und Anzeichen immer deutlicher werden.

Während wir diese Einleitung schreiben, hat Hurrikan Harvey, allen US-amerikanischen Klimawandelleugnern zum Trotz, gerade die Großstadt Houston, Texas, mit noch nie dagewesenen Wassermengen überflutet (und damit die Auswirkungen des katastrophalen Hurrikan Katrina bereits um ein Vielfaches übertroffen), während eine ähnlich gravierende Flutkatastrophe auf dem indischen Subkontinent bereits über 1000 Todesopfer gefordert hat und in Ostafrika weiterhin die schlimmste Dürrekatastrophe seit 50 Jahren wütet. Die mediale Aufmerksamkeit für diese krisenhaften Ereignisse könnte unterschiedlicher nicht sein, bleibt unsere Aufmerksamkeit doch weitgehend auf den globalen Norden konzentriert. Die Stärke und Häufung dieser Klimaereignisse verdeutlichen jedoch eines: Die größte Bedrohung des 21. Jahrhunderts ist die Klimakrise, deren Anzeichen (extreme Wetterphänomene, Dürreperioden, Wasserknappheit, Hungersnöte und der aufgrund des Abschmelzens der Polkappen steigende Meeresspiegel) in den letzten Jahren so massiv zugenommen haben, dass sie nun auch für Laien erkennbar sind (Friedrich et al. 2016; Lenton et al. 2008; Scheffers et al. 2016). Zum Teil mag dies am gewachsenen Medieninteresse zu diesem Thema liegen. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass die erhöhte Wahrnehmbarkeit dieser Phänomene auch mit der rasanten Entwicklung des Klimawandels zusammenhängt, die durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren noch beschleunigt wird (Friedman 2016). Während Klimaforscherinnen die Wechselwirkungen und Reversibilität klimatischer ›Kipp-Punkte‹ (›Tipping Points‹) in verschiedenen Bereichen des Klimawandels (CO2-Ausstoß, Abschmelzen von Gletschern und Eiskappen, Ansteigen der Meeresspiegel, Rückgang borealer Wälder und Absterben von Korallenriffen etc.) durchaus kontrovers diskutieren, besteht dennoch ein weitgehender Konsens, dass wir es, wenn wir nicht schnell etwas ändern, sehr bald mit nicht-reversiblen Veränderungen zu tun haben werden.

Als unmittelbare Auswirkung der Klimakrise wird sich in den nächsten Jahren die aktuelle Flüchtlingskrise noch verschlimmern. Bereits jetzt sind auf der ganzen Welt 65 Millionen Menschen auf der Flucht, davon 40 Millionen im eigenen Land und 3 Millionen als Asylsuchende (UNHCR2016). Dabei liegen die größten Migrationskorridore im globalen Süden (UNDESA2013: 7) und Migrationsbewegungen vom Süden in den Süden kommen etwa gleich häufig vor wie Süd-Nord Bewegungen. Sie machen etwa ein Drittel des globalen Migrationsvolumens aus. Tatsächlich fand im Zeitraum von 1990 bis 2013 der größte Teil der weltweiten Migrationsbewegungen vom Süden in den Süden statt (Wickramasekera 2011: 79; UNDESA2013: 2). Bei diesen Werten handelt es sich um eher konservative Schätzungen, die eine Dunkelziffer an nicht dokumentierten Migrationsbewegungen außer Acht lassen und die Dramatik der Situation wahrscheinlich unterschätzen. Dies wird umso deutlicher, zieht man in Betracht, dass der Klimawandel und seine Folgen (Landverluste durch steigende Meeresspiegel, Ernteausfälle aufgrund steigender Temperaturen, Wasserknappheit und Dürren) bis zum Ende des 21. Jahrhunderts nach aller Voraussicht ein Viertel der Weltbevölkerung aus ihren jetzigen Gebieten vertreiben wird (Nealon 2016: 121; Wennersten und Robinson 2017).

Ein zusätzlicher Grund für weltweit zunehmende Migrationsbewegungen ist die weiter aufklaffende Schere zwischen arm und reich – und zwar immer weniger zwischen reichen und armen Ländern, sondern zunehmend zwischen Reichen und Armen in allen Ländern (Piketty 2014; Milanovic 2016). Der wachsende Abstand zwischen reich und arm erzeugt eine weltweit zunehmende Verdrängung, die sich in reicheren Ländern im Zuge der globalen Finanzkrise von 2008 entwickelte und sich in ärmeren Gegenden in Form von (illegaler) Landnahme (›Land Grabbing‹) und Zwangsräumungen fortgesetzt hat (Sassen 2014). Diese führen zu einem Zusammenbruch sozialstaatlicher Unterstützungssysteme und einer Zunahme des Prekariats (Streeck 2017). Globale Veränderungen von Arbeitsmärkten und ‑Bedingungen beschleunigen diese Veränderungen (Avent 2017; Cameron 2017; Frey und Osborne 2013); viele Menschen werden nie eine formale Anstellung finden, sondern dauerhaft in äußerst prekären Situationen leben (Mbembe 2012b). Schon jetzt arbeiten mehr Menschen unter Sklavenbedingungen als zu jedem anderen Zeitpunkt in der Weltgeschichte (Bales 2012). Der Abstand zwischen Reichen und Armen wird sich aller Voraussicht nach in der nächsten weltweiten Finanzkrise, die zahlreiche Experten für die nähere Zukunft voraussagen, nur noch vergrößern (Richards 2017).

Unter diesen Bedingungen steigt weltweit die Bedrohung durch Kriege. Die Website »Wars in the World« (http://www.warsintheworld.com) listet zum gegenwärtigen Zeitpunkt 230 Kriegsparteien in 29 afrikanischen Ländern, 170 Kriegsparteien in 16 Ländern Asiens und 81 Kriegsparteien in 10 europäischen Ländern sowie 253 Kriegsparteien in 7 Ländern des Mittleren Ostens und 27 Kriegsparteien in 6 Ländern auf dem amerikanischen Kontinent. Ein ato­marer Konflikt zwischen Nordkorea und den USA oder Indien und Pakistan würde signifikante Klimakonsequenzen für den gesamten Planeten nach sich ziehen (Toon, Robock und Turco 2008). Hunger wird schon jetzt zunehmend als Waffe eingesetzt (Waal 2017) und es ist generell wahrscheinlich, dass Kriege um Ressourcen – vor allem Wasser – in den nächsten Jahren weiter zunehmen werden.

Global ist ein dramatischer Rückgang demokratischer Strukturen festzustellen (Kurlantzick 2013). Selbst im demokratischen Kerngebiet des alten Westens wird die Demokratie zunehmend durch finanzielle Institutionen ausgehöhlt (Streeck 2014); autoritäre Politik und politisch rechtsstehende Bewegungen nehmen zu. In einer wachsenden Anzahl an Ländern ist die ›Rule of Law‹ (das angelsächsische Äquivalent zur Rechtsstaatlichkeit) z.B. durch Notfallgesetzgebung außer Kraft gesetzt, darunter auch traditionell demokratische Staaten wie die USA und Frankreich (Alford 2017; Fassin 2016). Diese Mittel werden häufig, wenn auch häufig grundlos, als Antwort auf Terrorismus gerechtfertigt; sehr zum Nutzen von Terroristen, da sie den Terror weiter schüren und verstärken. Folter und Missachtung von Menschenrechten haben Hochkonjunktur rund um den Globus (Amnesty 2017).

Zu diesen Kernpunkten der Krise(n) ließen sich weitere hinzufügen: die zunehmende Digitalisierung der Menschheit, die wachsende Kontrolle über biologische Ressourcen (einschließlich der bio- oder nekropolitischen Instrumentalisierung menschlicher Ressourcen in Kriegen, z.B. in Palästina, oder der biopolitischen Ausbeutung von Körpern im internationalen Organhandel), die sowohl aus ökonomischen wie aus militärisch-industriellen Gründen zunehmend engmaschiger werdende weltweite Überwachung, die florierende Militär- und Waffenindustrie und so weiter und so fort (Mbembe 2012a; Mbembe 2016).

Unser notorisches kollektives Nichthandeln im Angesicht dieser Zusammenhänge, so argumentiert Claire Colebrook, liegt in unserer Akzeptanz der »catastrophe of human existence as natural and irredeemable« begründet (Colebrook 2014: 11). Im Angesicht komplexer Krisenszenarien wie des globalen Klimawandels fühlen wir uns, so Colebrook, überfordert und reagieren mit Trägheit und Nichtstun – und zwar so regelmäßig, dass unser Leugnen einen wesentlichen Bestandteil der Krise ausmacht, wie z.B. auch Jeffrey Mantz im Zusammenhang der katastrophalen Produktions- und entfremdenden Konsumprozesse digitaler Kommunikationsgeräte argumentiert (Mantz 2013). Im medien-überschwemmten 21. Jahrhundert steht unser Nichtstun, so scheint es, in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu unserer Überinformation. Mehr noch, die Angst vor radikalen Umwälzungen scheint vielerorts zu panikartigen Klammerreaktionen und einem Wiedererstarken autoritärer politischer Strukturen zu führen.

Krise als Chance(?)

Was tun wir also, in Zeiten der Krise? Nichts, argumentiert Jonas Lüscher in seiner als »Abrechnung mit dem Neoliberalismus« gefeierten Novelle Frühling der Barbaren (2013). Lüschers Protagonist, der Schweizer Fabrikerbe Preising, ist ein Mensch, der keine Entscheidungen trifft, und sein Nichthandeln hat im Laufe der Zeit eine Reihe problematischer Konsequenzen – für andere. Dies zeigt sich vor allem in seiner Haltung gegenüber Hilfsbedürftigen und Abhängigen, die im Kontext der Novelle nicht ohne argumentativen Grund alle im Globalen Süden angesiedelt sind. So deutet der Titel der Novelle zwar auf den »arabischen Frühling« hin, die titelgebenden »Barbaren« sind jedoch die von einer imaginären Finanzkrise überraschten Europäer in einem Ferienresort in der tunesischen Wüste. Die Hotelanlage fungiert dabei als eine Art Foucault’sche Heterotopie der Krise – ein Ort außerhalb der normalen Raum-Zeit, an dem Handlungen scheinbar ohne Konsequenzen für das ›reale‹ Leben der Charaktere in Europa bleiben. Dass dies ein Trugschluss ist, zeigt der Text anhand der wirtschaftlichen Verbindungen und Verstrickungen von Europa und Nordafrika. Preising reist zum Ausbau seiner Geschäftsbeziehungen mit nordafrikanischen Zulieferbetrieben nach Tunesien, fürchtet jedoch jegliches Handeln seinerseits könnte dort als »unangemessene Einmischung« (Lüscher 2015: 27) empfunden werden. Die moralische Schieflage dieser Ansicht wird nicht nur durch Preisings Reichtum unterstrichen – sein Tagesverdienst an den Firmenanteilen entspricht der »Existenz einer ganzen Familie« (Lüscher 2015: 26) –, sondern wird vor allem durch die Weigerung seines Prokuristen deutlich, »auch nur einen Franken nach Afrika fließen zu lassen«, mit der Begründung, »[d]ieser Kontinent ertrinkt in unserer Fürsorge. Afrika ist wie gelähmt durch die Hilfsgelder. Dieser Kontinent muss sich an seinen eigenen Stiefelhacken aus dem Sumpf ziehen.« (Lüscher 2015: 27) Dass diese Weigerung und Preisings Untätigkeit keine neutrale Haltung, sondern ganz im Gegenteil ein grundlegender Faktor der Krise sind, wird im Zusammenhang der Kinderarbeit in einer Zulieferfabrik seines Unternehmens deutlich. Preising begründet seine Nichteinmischung mit der mehrfach wiederholten Überlegung, »wie schwierig das mit der Kinderarbeit sei« (Lüscher 2015: 12–13). Die Aussage bleibt jedoch unbegründet und wird nicht nur durch ihre Wiederholung, sondern auch durch Preisings Quelle in ihrer Aussagekraft in Frage gestellt, handelt es sich doch um ein Mitglied eines »liberale[n] Unternehmerclub[s]« (Lüscher 2015:12), einen »Jungunternehmer, der [ihm] einstmals bei Zürcher Geschnetzeltem und Rösti wortreich erklärt hatte, dass, mit etwas gesundem Abstand betrachtet, die Sache mit der Kinderarbeit nicht so einfach sei.« (Lüscher 2015: 123) Direkt mit den gebeugten Kinderrücken und »blutverkrusteten Fingernägeln« (Lüscher 2015: 122) der afrikanischen Kinder konfrontiert, die unverkennbar seine Produkte fertigen, zieht Preising sich auf diese geografisch im globalen Norden verortbare Position des »Abstands« zurück, die vom Fabrikleiter, der Preising aufgrund seines Schweigens für »einen ganz harten Hund« (Lüscher 2015: 124) hält, als Aufforderung zu neuen Preisverhandlungen interpretiert wird. Preisings Untätigkeit hält somit nicht nur der sprichwörtlich neutralen Schweiz, sondern gleich einer ganzen neoliberal-finanzkräftigen Schicht des globalen Nordens den Spiegel vor:

Preising war natürlich nicht bereit, sich allzu viele Gedanken über das Größere und Höhere zu machen, zumindest war er nicht bereit, die damit verbundene Verantwortung auf sich zu nehmen und unterlief die an ihn gestellten Erwartungen damit, dass er sich einfach damit begnügte, reich zu sein, ich vermute sogar stinkend reich, und ansonsten das Leben eines Durchschnittsbürgers führte, mit Ausnahme der Haushälterin, die er sich leistete, weil sie ihm viele Entscheidungen des Alltags abnahm. (Lüscher 2015: 66)

Den Reichtum Preisings, seines Prokuristen und der »Masse seiner Mitleistungsträger, Großentscheider und Vielverdiener« (Lüscher 2015: 67) identifiziert der Erzähler als wesentlichen Faktor der Krise, indem er ihre Argumente in einem moralisierenden Kommentar als fadenscheinige Ausreden entlarvt:

Geld sei ja nur Mittel zum Zweck, es würde Möglichkeiten eröffnen, Möglichkeiten Großes zu tun, wobei sich dann die Größe der Taten meistens doch in Quadratmetern Wohnfläche in Cap Ferrat oder Rumpflängen in St. Barth manifestierte oder bestenfalls im Zukauf noch einer BH-Bügelfabrik in Bangladesch, die noch mehr Geld abwarf, mit dem man ›Dinge in Bewegung setzen konnte‹, wie sie sich gerne ausdrückten. Dass Geld nicht für sich selbst steht, lag in der Natur der Sache, das war die Idee dahinter. Warum nur versuchen sie, uns das als ihre eigene Entdeckung zu verkaufen, und warum glaubten sie, würde das irgendetwas besser machen? (Lüscher 2015: 67)

In diesen Überlegungen zeigt sich die Funktion des namenlosen extradiegetischen Erzählers, der sowohl als Adressat für Preisings Narrativ als auch als moralischer Kommentator der von Preising beschriebenen Ereignisse fungiert. Dabei stellt der Erzähler nicht nur Preisings Untätigkeit an den Pranger, sondern hinterfragt exemplarisch gleich das gesamt globale kapitalistische Wirtschaftssystem. Dies wird vor allem durch Preisings die Novelle gleichsam umrahmende Kritik deutlich: Der Erzähler, so argumentiert der Fabrikerbe, »stell[e] die falschen Fragen« (Lüscher 2015: 7).

Preisings Unglaubwürdigkeit wird dabei durch die meta-narrativen Überlegungen des Erzählers unterstrichen, der sich der narrativen Qualitäten von Preisings Erzählung durchaus bewusst ist: »Was mir Preising hier also präsentierte, war eine Variante der Erzählung ›Wo ich gerade war, als England den Staatsbankrott erklärte‹, ein Genre, welches die Erzählung ›Womit ich am 11. September gerade beschäftigt war‹ abgelöst hatte […]« (Lüscher 2015: 96). Diese Kontextualisierung der Krise im Alltäglichen mag auf den ersten Blick wie ein Versuch ihrer Verarbeitung erscheinen, ersetzt die notwendige Auseinandersetzung mit dem Schrecklichen und Unfassbaren aber meist nur durch die Erzählung persönlicher Banalitäten. Im Text steht hierfür bildhaft die minutiöse Kritik der »babyblauen Seidenkrawatte« des britischen Premierministers, die dem Erzähler »auch heute noch als unangemessen optimistisch und frivol in Erinnerung ist.« (Lüscher 2015: 96) Darüber hinaus wird diese Lesart der Krise als Sensationsnarrativ durch Preisings Beschreibung der medialen Reaktionen auf die Krise getragen, die sich einer für Krisensituationen typischen Sprache bedienen: »Allerorts begegnete ich aufgeregten Gesichtern. Sondermeldungen verlesenden Nachrichtensprechern, nachlässig gepuderten Kommentatoren, schwitzenden Experten. Von einem drohenden Flächenbrand, einer Epidemie war die Rede.« (Lüscher 2015: 97) Die verwendete Metaphorik (Flächenbrand / Epidemie) unterstreicht die unvorhersehbaren Auswirkungen und wahrscheinliche Ausweitung der Katastrophe und ist so dazu angetan, zusätzliche Ängste im Zuschauer zu schüren. Diese sprachliche Hysterie wird in Preisings Erzählung direkt als solche entlarvt: »Beides, wie du weißt, ist dann doch nur in weit geringerem Maße eingetroffen, als an diesem Morgen in den Fernsehstudios und auf den Sonderseiten der Weltpresse heraufbeschworen wurde.« (Lüscher 2015: 97)

Was wäre aber nun der richtige Umgang mit der Krise? Vor dem Hintergrund der zunehmenden Panik setzt die Novelle sich in diesem Zusammenhang auch mit möglichen Reaktionen verschiedener Schlüsselfiguren auseinander, die stellvertretend für eine Reihe wissenschaftlicher Disziplinen stehen. Die textbasierten Geisteswissenschaften – in diesem Szenario vertreten durch die Englischlehrerin Pippa Greyling – präsentiert sie dabei als entrückt und von den Ereignissen einigermaßen unbeeindruckt: »Pippa nahm die schlechte Nachricht resigniert zur Kenntnis und bemerkte, dass sie das habe kommen sehen. Sie war sich nicht sicher, ob sich deswegen die Welt auf eine bedeutsame Art und Weise ändern würde, ob deswegen Dinge wie zum Beispiel das Rezitieren eines Gedichtes wieder an Bedeutung gewinnen würden […]« (Lüscher 2015: 93). Der Kommentar zur Gedichtrezitation, obschon im Kontext der Novelle auf ihren misslungenen Vortrag auf der Hochzeit ihres Sohnes bezogen, unterstreicht dennoch einen aktuellen Kritikpunkt an der Distanzierung der textbasierten Geisteswissenschaften vom aktuellen Weltgeschehen, suchen sie ihre Forschungsthemen doch häufig gerade nicht in der Gegenwart, sondern in eta­blierten historischen Kanons. Auch die Soziologie, vertreten durch Pippas Mann, kommt in diesem Kontext nicht besser weg. Seine Vorstellungen von einem gesellschaftlichen »Neuanfang, der ohne Männer wie ihn, die ein Leben lang auf der richtigen Seite gestanden hatten und ihre besten Jahre damit verbraucht hatten, darüber nachzudenken, wie die Gesellschaft eigentlich einzurichten sei, kaum zu bewerkstelligen war« (Lüscher 2015: 105), werden zugleich durch die selbsteingestandene »Lächerlichkeit« seiner spontanen Affäre mit der Trauzeugin seines Sohnes untergraben (Lüscher 2015: 105). Die Geistes- und Sozialwissenschaften, so wie sie im Text präsentiert werden, haben keine Handhabe gegen die Barbarei der Finanzwirtschaft, mehr noch, sie haben kein Interesse an ihr. Lüschers Novelle reflektiert somit, jenseits der eindeutigen Parallele von neoliberalen Finanzmärkten und Barbarei, auch eine aktuelle Kritik an der Position der Geisteswissenschaften in der Krise. Auch sie stellen, so argumentiert der Text, »die falschen Fragen« (Lüscher 2015: 7).

Lüschers Novelle ist ein Zitat von Franz Borkenau vorangestellt, das Barbarei als »schöpferische[n] Prozess« und die Krise damit als Chance interpretiert – auch wenn dieser »Barbarei« und »Jahrhunderte spiritueller und materieller Verarmung und […] schreckliche Leiden« vorangehen könnten (Borkenau in Lüscher 2017). Das Zitat spiegelt sich auch in einer umstrittenen Äußerung Slavoj Žižeks, in der er sich positiv zur Wahl Donald Trumps äußerte, die notwendig sei, um die »inertia of the status quo« (Žižek 2016) aufzubrechen. Dieser accelerationistisch geprägten Liebäugelei mit den »reinigenden« (in ihrer selektiven Bevorzugung einer finanziell und körperlich überlebensfähigen Bevölkerungsgruppe extrem problematischen) Kräften der Apokalypse steht auf der anderen Seite eine kollektive Apathie im Angesicht der Krise gegenüber, die im globalen Norden vor allem der wahrgenommenen Komplexität geschuldet zu sein scheint. Dabei würde es doch zur ureigenen Rolle der textbasierten Geisteswissenschaften gehören, Interpretationsansätze zu finden und Strategien im Umgang mit komplexen Szenarien zu entwickeln. Dazu bedarf es allerdings neuer Ansätze jenseits verängstigter Kopf-in-den-Sand Politik und apokalyptischer Begeisterung für die reinigende Wirkung von Katastrophen. Doch wie könnten solche Ansätze aussehen und befinden die Geisteswissenschaften sich nicht aktuell selbst in der Krise?

Geisteswissenschaften in der Krise

Die Krise der Geisteswissenschaften ist sicher kein neues Thema (Martus 2017). Es ist also nicht sonderlich überraschend, dass ein im Februar 2017 veröffentlichter Artikel von Spiegel-Autor Martin Doerry die aktuelle Relevanz der Germanistik als Studienfach in Frage stellt. Die Germanistik, so Doerry, sei gesellschaftlich zum Schweigen verurteilt, denn »[w]er aus der akademischen Nische heraustritt, muss um sein Ansehen fürchten.« (Doerry 2017) Die Germanist*innen Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein und Albrecht Koschorke – Letzteren zitiert Doerry mit den Worten, »[d]as Fach habe ›keinen Biss‹ und ›keine Identität‹ mehr« (Doerry 2017) – kritisierten Doerrys Aussagen in der FAZ. Die Germanistik vermittle, so die AutorInnen, »ein spezifisches Wissen in Fragen der Form«, das »den Blick für Fiktionalisierungen und ihre strategischen Einsätze öffnen [könne], auf die wir nicht nur in der Kunst, sondern vielleicht verstärkt auch in der politischen Wirklichkeit treffen.« (Drügh, Komfort-Hein und Koschorke 2017) Und auch andere Vertreter des Fachs engagierten sich für die Relevanz der germanistischen Literaturwissenschaft (zum Beispiel Steffen Martus, ebenfalls in der FAZ, und Klaus Kastberger in der ZEIT). Die Kritik an Doerrys Artikel ist jedoch mehrheitlich darauf ausgerichtet, die Relevanz und gesellschaftliche Nützlichkeit des Fachs Germanistik zu verteidigen und übersieht damit, wie Doerrys Artikel selbst, die wesentlich weitreichendere Frage nach der Position der Geisteswissenschaften in Krisenzeiten. Hierzu müssen in der Tat nicht nur die Germanisten, wie von Doerry gefordert, »Stellung beziehen« (Doerry 2017), gerade weil sie einen wichtigen Beitrag zum Umgang mit diesen Krisen leisten können.

Die mangelnde gesellschaftliche Wirkung geisteswissenschaftlicher Forschung ist jedoch nicht allein auf das zu geringe Selbstbewusstsein der Geisteswissenschaften oder die gesamtgesellschaftliche Irrelevanz ihrer Forschungsgegenstände zurückzuführen. Vielmehr handelt es sich um ein systematisches, kulturelles Problem, das Achille Mbembe im Rahmen eines Kommentars zu einem aktuellen Forschungsprogramm der südafrikanischen Regierung folgendermaßen beschreibt: »The assumption is that coupled with science and technology, market capitalism will sort out most of our problems. Not once does it mention the humanities.« (Mbembe 2012a: 8) Mbembe führt dies vor allem auf die Dominanz neoliberaler Wirtschaftsmodelle zurück, die auch die Gewichtung natur- und geisteswissenschaftlicher Forschung an Universitäten beeinflusst. Dabei bezieht er sich zwar vor allem auf Südafrika; dass es sich aber nicht um ein genuin südafrikanisches, sondern ein globales Problem handelt, wird vor allem beim Blick in die USA und nach Großbritannien deutlich, wo neoliberale Wirtschaftsüberlegungen noch mehr als im deutschsprachigen Raum die Struktur der universitären Landschaft verändert haben. Gerade hier, im industrialisierten, kapitalistischen Norden liegt ein großer Teil des Problems, wie Philipp Blom argumentiert:

Die reichen demokratischen Länder, die großen Wirtschaftsmächte, die G7 oder G8, die ehemaligen Kolonialherren und ehemaligen Industriestandorte sind in ein reaktionäres Zeitalter abgerutscht. Ihr schönstes Gefühl ist Nostalgie. Sie wollen keine Zukunft. Zukunft ist Veränderung, und Veränderung ist Verschlechterung, bedeutet millionenfache Migration, Klimawandel, kollabierende Sozialsysteme, explodierende Kosten, Bomben in Nachtklubs, Umweltgifte, ausbleichende Korallenriffe, massenhaftes Artensterben, versagende Antibiotika, Überbevölkerung, Islamisierung, Bürgerkrieg. Zukunft sollte vermieden werden. Die Menschen in der reichen Welt wollen nur, dass die Gegenwart nie endet. (Blom 2017: 16)

Gerade deshalb kann der krisengeplagte globale Süden, in dem die Menschen auf kreative Eigenlösungen angewiesen sind, einen besonderen Modellcharakter für die Lösung dieser Probleme einnehmen, wie auch Mbembe argumentiert. Jenseits euro-amerikanischer Theoriemodelle und altbekannter Narrative könnten kreative Fragestellungen eine Schlüsselrolle in der Neubewertung der Geisteswissenschaften (und Universitäten insgesamt) jenseits ihrer neoliberal-kapitalistischen Nützlichkeit einnehmen. Dies kann und muss im Anthropozän auch eine Neubewertung der Rolle des Menschen (im Englischen durch das »Human« im Begriff »Humanities« repräsentiert) und seiner Auswirkungen auf diesen Planeten beinhalten. Denn nur wenn Geistes- und Naturwissenschaften zusammenarbeiten und neue Fragestellungen und Problemlösestrategien entwickeln, werden wir der Klimakrise überhaupt etwas entgegenzuhalten haben.

Die siebzehn Kapitel des vorliegenden Bandes setzen sich in diesem Sinne kritisch mit der Rolle der Geisteswissenschaften in Krisenzeiten auseinander. In vier Teilen bieten sie Bestandsaufnahmen, Lektüren, Anwendungen und Interventionen.

 

Ausgehend von Rita Felskis Überlegungen zu den Aufgaben der Geisteswissenschaften – einerseits konservativ-konservatorisches »curating« bzw. »conveying«, andererseits tendenziell innovatives »criticizing« bzw. »composing« – konstatiert Dorothee Kimmich in einer ersten Bestandsaufnahme zwei Tendenzen in der Literaturwissenschaft. Die konservativ-konservatorische Richtung der Germanistik wird zwangsläufig in kommenden Jahrzehnten schrumpfen, so Kimmich. Dagegen wird (und sollte) das innovative Potential des Faches einen Zuwachs erleben. In diesem Sinne entwirft Kimmich ein Programm für solche Fächer bzw. Studiengebiete, die auf die Arbeit des Urteilens und die Erläuterung des Urteils fokussiert sind. In dieser Grauzone des impliziten Wissens, der Ambiguität, der Diffusitätskompetenz – also in Bereichen des Denkens/Handelns, die für unsere heutige Gesellschaft in Zeiten multipler Krisen höchst relevant sind – liegt der eigentliche Kernkompetenzbereich der Geisteswissenschaften. Das Urteilen zu untersuchen ist wichtig, da, so Kimmich, »Literatur- und Kulturwissenschaften gerade das kompliziert machen, was auf den ersten Blick einfach erscheint. Sie brechen das Normale auf, ändern den Kontext und machen sichtbar, was sich im ›Normalen‹ verbirgt«.

John K. Noyes etabliert im zweiten Kapitel ein konzeptuelles Dreieck aus den Eckpfeilern Philosophie, Naturwissenschaften bzw. Technologie und Literatur(wissenschaft). Da wo sich die Philosophie im Zuge ihrer zunehmend sichtbar werdenden Irrelevanz für die Welt der Technologie gänzlich von der Realität abgewandt hat, und wo die naturwissenschaftliche Fetischisierung des Fortschritts als ihre eigene Bankrotterklärung fungiert, kommt der Literatur(wissenschaft) eine wichtige Rolle zu: und zwar die des Möglichmachens einer Rückkehr zu einer scheinbar von der Technologie überholten Vergangenheit, so dass die Literatur(wissenschaft) als ein Locus der Infragestellung des Fortschrittsglaubens hervorzutreten vermag. Literatur(wissenschaft) übernimmt so eine Wächterrolle für das Unbewusste des naturwissenschaftlich modellierten Menschen. Viele Fragen der Technologie, z.B. die ihrer Gewinne und Verluste, können nicht von ihr selbst beantwortet werden, sondern müssen aus ihrem Unbewussten, d.h. aus dem Bereich der Literatur(wissenschaft) beantwortet werden – und zwar im Dialog mit einer neu konzipierten Version der Philosophie, der (kritischen) Theorie.

I-Tsun Wan stellt im dritten Kapitel aktuelle Krisennarrative in den historischen Zusammenhang der krisenhaften Welt um 1800. Seine beispielhafte Lektüre zeitgenössischer literarischer (Kleist) und philosophischer (Schlegel) Positionen zielt dabei auf die Beschreibung einer transzendentalen Geschichtsschreibung, die schließlich eine Überwindung der gravierenden – d.h. ausweglos erscheinenden – Krise ermöglicht. Im Spannungsfeld von Literatur und Wissenschaft, Kommerzialisierung und Religion argumentiert Wan für eine Rückbesinnung auf eine ethisch-religiöse Transzendentalität der Literatur.

Vor dem Hintergrund ›postfaktischer‹ politischer Diskurse (Trump et al.) und solcher Kommentare, die die Schuld für die Untergrabung objektiver Wahrheitsmaßstäbe vor allem bei den linksradikalen Theoretikern der Postmoderne suchen, stellt Christoph Reinfandt in Kapitel vier eine Typologie der gegenwärtigen Wahrheitsbegriffe auf. Anhand von Niklas Luhmanns Modellierung der modernen Gesellschaft als ein sich ausdifferenzierender Zusammenhang autopoietischer, d.h. sich selbst hervorbringender und vorantreibender Kommunikationen, schlägt Reinfandt vor, dass literatur- und kulturgeschichtliche Einsichten einen möglicherweise entscheidenden Schlüssel zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Situation bieten können.

In Kapitel fünf geht es Thomas Kater um die Ausdifferenzierung aktueller Krisenzusammenhänge für die Literaturwissenschaft, die sich – möglicherweise zu Recht – genötigt sieht ihre Relevanz in Krisenzeiten zu rechtfertigen. Kater attestiert der Literaturwissenschaft weniger ein Relevanz- denn ein Kommunikationsproblem, lägen ihre Kernkompetenzen doch gerade im schmalen operativen Bereich an der Grenze von Fakt und Fiktion, also im »Modalitätsmanagement« von Texten, das er konkret am Beispiel postfaktischer Auseinandersetzungen in den Social Media (zwischen dem AfD Landtagsabgeordneten Björn Höcke und dem ARDfaktenfinder der Tagesschau) aufzeigt. Statt einer Krise attestiert Kater der Literaturwissenschaft die »Notwendigkeit zur Selbstreflexion im Hinblick auf ihre eigene Relevanz« – sind ihre Kompetenzen doch heute gefragt wie selten zuvor.

Raphael Zähringers Kapitel sechs beginnt die Reihe der Lektüren mit einem Plädoyer für die narratologische Auseinandersetzung mit postfaktischer Politik, die, genau wie Literatur, als »fiktionale Projektionsfläche von Wirklichkeit« gelesen werden kann. Ausgehend von Monika Fluderniks Typenmodell mündlicher Erzählformen und Juri Lotmans Plot-Typologie setzt sich Zähringer mit der »Literaturhaftigkeit« postfaktischer Medientechniken auseinander und kommt zu dem Schluss, dass sich die multimedialen Strukturen postfaktischer Politik mittels literaturtheoretischer Werkzeuge nicht nur beschreiben lassen, sondern dass dies eine sonst kaum führbare Debatte über solche Narrative erst ermöglicht.

In Kapitel sieben setzen sich Robert Leucht und Carl Niekerk anhand konkreter Redebeispiele mit den narrativen Strategien populistischer Politiker (Trump, Blocher, Wilders) auseinander – darunter die Etablierung simplifizie­render narrativer Konzepte, z.B. eines »wir«-Gefühls über die Evozierung eines »Volksbegriffs«, dem eine Gruppe von »Feinden« gegenübergestellt wird, oder die Erzeugung von Feindbildern über das Umdefinieren der »Rede des Feindes« für die eigenen Zwecke. Leucht und Niekerk entwickeln so eine Narratologie populistischer Rhetorik, die neue Fragen für die Auseinandersetzung mit der­artigen politischen Strategien aufwirft und auch die unausweichliche Frage stellt, was wir als Gesellschaft – und ganz konkret auch die Literaturwissenschaften – diesen Narrativen entgegensetzen können.

Eine ganze Reihe aktueller literarischer Krisennarrative steht im Zentrum von Sascha Seilers Kapitel acht, das sich konkret mit der Frage nach der Darstellung und Untersuchung von Grenzüberschreitungen in der Literatur und durch die Literaturwissenschaft auseinandersetzt. Lähmende Globalisierungsangst steht, so Seiler, im Zentrum des 2017 erschienenen Romans Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens von Roman Ehrlich, ebenso wie in Simon Strauss’ ebenfalls in diesem Jahr veröffentlichtem Roman Sieben Nächte. Beide Texte können damit exemplarisch für die literarische Darstellung aktueller Ängste gelesen werden.

In Kapitel neun setzt sich Nele Guinand anhand einer Lektüre von Friedrich von Borries Klimakapseln mit der Frage auseinander, wie das Leben im reichen Globalen Norden in Zukunft aussehen könnte, und zeigt dabei die vielfältigen ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verstrickungen von arm und reich, globalem Norden und globalem Süden, willkommenem, anerkanntem Bürger und illegalem, aus der Gesellschaft ausgestoßenem Migranten auf. Von Borries Text, so argumentiert Guinand, präsentiert ein paradoxes Zukunftssystem, dass sich gleichzeitig als literarische Intervention zu aktuellen wirtschafts- und klimapolitischen Zusammenhängen lesen lässt.

Stefan Hofer-Krucker Valderrama eröffnet die Reihe der Anwendungen mit konkreten Überlegungen zur didaktischen Aufbereitung des genuin zur Literatur (und damit auch zur Literaturwissenschaft) gehörenden Krisenbewusst­seins im Literaturunterricht. Dabei geht es ihm sowohl um literaturwissenschaftliche Klimawandelforschung, die untrennbar mit der Rolle menschlichen Handelns im Anthropozän verknüpft ist und deren Aufgabe es sein sollte, das von der Literatur generierte ›hybride Wissen‹ gesellschaftlich verfügbar zu machen, als auch um das konkrete Anwendungsbeispiel einer in die Diskussion der aktuellen ›Flüchtlingskrise‹ eingebetteten Kafka-Lektüre im Rahmen des gymnasialen Literaturunterrichts. Das Kapitel beschreibt sowohl die didaktische Umsetzung als auch Reaktionen und Verstehensarbeit der Schüler und kommt zu dem Schluss, dass die von vielfältigen Formen von Krisenhaftigkeit geprägte Literatur(wissenschaft) es vermag, den Menschen in seiner Selbstzufriedenheit aufzurütteln und zum Nachdenken über sich selbst anzuregen.

In Kapitel elf setzt sich Jens F. Heiderich mit den Möglichkeiten dramatischer Texte und Praktiken zur Ausprägung eines ökonomischen Bewusstseins im Deutschunterricht auseinander. Anhand des Begriffs der ›literarischen Ökonomik‹ (der Verzahnung von Literatur- und Wirtschaftswissenschaft) analysiert Heiderich verschiedene, vor allem zeitgenössische Theaterstücke im Hinblick auf ihre Darstellung der Finanzwelt, von Arbeit, Geld und Börsenhandel und stellt Überlegungen zur bisher eher zögerlichen didaktischen Auseinandersetzung und Aufbereitung solcher Diskurse für die Anwendung im Literaturunterricht an. Das Kapitel schließt mit einem Plädoyer für eine ›ökonomie-sensible‹ Lektüre- und Theaterpraxis im Unterricht, die Schüler*innen für die vielfältigen wirtschaftlichen Diskurse, in die sie in ihrem alltäglichen und zukünftigen Leben eingebunden sind und sein werden, sensibilisieren (und auch wappnen) könnte.

In Kapitel zwölf setzen sich Julian Ingelmann und Christian Dinger kritisch mit der Frage auseinander, warum die Literaturwissenschaft scheinbar in einer Sinnkrise bezüglich der allgemeinkulturellen Vermittelbarkeit ihrer eigenen Relevanz zu stecken scheint, und zeigen Parallelen und Anknüpfungspunkte der Literaturwissenschaft zu den Vermittlungsformen neuer Medien – vor allem zum auf Youtube verbreiteten Format des Videoessays – auf. Der Erfolg dieser neuen Medien, gerade wenn sie sich mit literatur- und sprachwissenschaftlichen Kernthemen auseinandersetzen (wie hier am Beispiel des Videoessays How Donald Trump answers a question gezeigt wird), spricht, so Dinger und Ingelmann, für ein breites öffentliches Interesse an Themen aus dem Bereich der Sprache und Literatur, das durch eine Öffnung der Literaturwissenschaft gegenüber diesen neuen Formen der Literaturvermittlung als Argument für die Aktualität literaturwissenschaftlicher Themen und Methoden nutzbar gemacht werden könnte.

Daniela Roth setzt sich in Kapitel dreizehn kritisch mit der Rolle der Gegenwartsliteratur als Spiegel aktueller Themen und Diskurse (hier konkret der deutschen Flüchtlingspolitik und gesellschaftlicher Reaktionen auf diese) auseinander und argumentiert, dass sich auch die Literaturwissenschaft fragen muss, wie sich ihre Begrifflichkeiten (hier das Stichwort Transnationalismus) auf den Umgang mit solchen Problemen und Fragestellungen auswirken. Am Beispiel von Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen zeigt Roth, wie zeitgenössische Texte die Problematik transnationaler Mobilität in Kontexten diskutieren können, in denen selbstbestimmte grenzüberschreitende Bewegungen eben gerade nicht Teil der Erfahrungswelt der Geflüchteten sind, und argumentiert, dass in Erpenbecks kontrovers diskutiertem Text auch »bildungsbürgerliche und literatur- sowie geisteswissenschaftliche Ansätze und Denkmuster (selbst-)kritisch reflektiert werden.«

In Kapitel vierzehn bietet Tom Reiss eine erste kritische Intervention zum Krisenbegriff, der aktuell auf so unterschiedliche Diskussionsgegenstände wie persönliche Ausnahmezustände von Geflüchteten und die kritische Auseinandersetzung der Literaturwissenschaften mit ihrem eigenen Selbstverständnis Anwendung findet. Reiss konstatiert einen problematischen Zusammenhang zwischen beiden Anwendungsbereichen, der sich über eine ernsthafte Auseinandersetzung der Literaturwissenschaften mit Fluchtnarrativen lösen ließe. »Die Öffnung der Literaturwissenschaften für Geflüchtete ist eine Frage des Selbsterhaltes«, argumentiert Reiss, und schlägt hierfür eine Reihe von Strategien vor – eine Demokratisierung von Kanon und Diskurs, die Auseinandersetzung mit den Grundbedingungen von Narration, eine kritische Hinterfragung von Nationalphilologien und Öffnung von wissenschaftlichen Perspektiven für deren durch Kolonialismus erzeugte globale Verbindungen sowie eine kritische Auseinandersetzung der Literaturwissenschaften mit dem eigenen Selbstverständnis, um die Krise weniger als Notstand und mehr als Chance zur Nutzung der eigenen Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit Krisen zu begreifen.

Swen Schulte Eickholt argumentiert in Kapitel fünfzehn ebenfalls für eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen kulturellen und politischen Diskursen, die oft einfache Lösungen und griffige Slogans über die notwendige Auseinandersetzung mit komplexen Problemlagen stellen und so Populisten, die scheinbar einfache Lösungen anbieten, Tür und Tor öffnen. Dagegen setzt Schulte Eickholt eine Argumentation für einen dynamischen Begriff des Interkulturellen, für eine Neubewertung des Verstehensbegriffs und für eine engagierte und standortbestimmte Literaturwissenschaft, die sich »der Komplexität einer Welt aus den Fugen« stellt und sich gegen ihre Vereinfachung einsetzt.

John Kinsellas didaktische, poetische und kulturkritische Auseinandersetzung mit Hölderlins Werk in Kapitel sechzehn zielt darauf ab, Literatur(wissenschaft) als Strategie des Widerstands zu etablieren – gegen konformistische Textlektüren, die Argumente, wie kritisch sie auch immer sein mögen, lediglich wiederholen, anstatt sie effektiv zu nutzen. Dagegen setzt Kinsella, gleichermaßen Poet und Literaturwissenschaftler, ein Plädoyer für einen neuen Umgang mit Texten, der das Umschreiben, das Rekontextualisieren und auf die eigene Situation Beziehen sowie das Öffnen von Leerstellen und Abwesenheiten aus dem Text in den Mittelpunkt literaturwissenschaftlicher und ‑didaktischer Arbeit stellt. Kinsella zeigt dies am Beispiel seiner eigenen poetischen Auseinandersetzung mit und »Verstörung« von Hölderlins Gedichten ebenso wie in der Frage nach der Möglichkeit, Bildung zu entschulen und Wissen stärker in den Dienst der Gemeinschaft, des Schutzes der Umwelt und einer erstrebenswerten Zukunft zu stellen.

Matthias N. Lorenz prangert im siebzehnten Kapitel Missstände im deutschen Hochschulsystem – wie etwa prekäre Beschäftigungsverhältnisse sowie feudale Hierarchien bzw. Abhängigkeitsverhältnisse von Mittelbauwissenschaftler*innen – an. Er deutet solche Missstände als lokale Symptome weitreichender globaler Krisen. Nur durch eine Überwindung der Kluft zwischen den laut geäußerten linksliberalen Theorien vieler Literaturwissenschaftler*innen und der gleichzeitig oft ausbeuterischen Praxis im akademischen Alltag durch eine vielerorts bereits begonnene (jedoch leider häufig unstrukturierte und nicht zielgerichtete) Reform der hochschulinternen Strukturen können universitäre Forschung und Lehre überzeugende Antworten auf die globale Krise geben.

Mögliche Interventionen im Sinne einer extrovertierten (d.h. nicht auf ihre eigene Krise, sondern nach außen gerichteten) Literaturwissenschaft stehen auch im Zentrum des Schlussworts dieses Bandes, mit dem wir einen Beitrag zu einer Neuinterpretation der Rolle der Literaturwissenschaften (und Geisteswissenschaften) in globalen Krisenzeiten leisten möchten.

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IBestandsaufnahmen

1»Nach der Krise ist vor der Krise«

Vom Überleben in, mit und durch die Krise

Dorothee Kimmich

Eine Krise der Geisteswissenschaften an den Universitäten aber auch außerhalb von ihnen zu konstatieren, ist notorisch und verheißt im Prinzip nichts Neues. Seit Jahren und ganz abgelöst vom wie auch immer beklagenswert sich darbietenden Realzustand der humanities stößt solches Lamento auf gleichsam rhetorische, durchwegs habituelle Zustimmung. […] Es scheint, als leiden die Geisteswissenschaften und die mit ihnen epistemisch verwandten heuristisch orientierten Gesellschaftswissenschaften unter einem kaum korrigierbaren und sich praktisch auswirkenden beständigen Legitimationsdefizit. (Diner 2003: 70)

Der Historiker, Publizist und Wissenschaftsmanager Dan Diner hat diese Sätze vor mehr als zehn Jahren formuliert – und es ist keineswegs der erste Kommentar zur Lage der Humanities. Schon vor ihrer eigentlichen Existenz gab es Kritik: Leonardo Bruni Aretino, Humanist und Staatskanzler im Florenz des frühen 15. Jahrhunderts, bemerkt verächtlich gegenüber Philosophie-Professoren, dass er ihnen lieber beim »Schnarchen als beim Reden zuhören« würde (Bruni Aretino 1984: 93). In eine ähnliche Richtung zielt das immer wieder gern bediente Bild des »faulen Professors« (Enders und Schimank 2001: 159–178), der die Autonomie von Forschung und Lehre dazu nutzt, sich ein schönes und vor allem geruhsames Leben zu machen. Um die ganze Sache rund zu machen, gehört dazu noch eine Studentenbeschimpfung, wie sie unlängst wieder im Spiegel nachzulesen war: Germanistikstudenten – noch mehr offenbar Studentinnen – haben keine Ahnung vom Lesen, noch weniger von Literatur und schon gar nicht von Goethe, den sie nur noch als »so nen Toten« kennen (Doerry 2017: 105–109).

Im Spiegel geht es nicht um eine Abrechnung mit den Humanities im Allgemeinen, sondern mit dem größten Fach innerhalb der Literaturwissenschaften, mit der Germanistik: Sie sei riesig, aber marginal. Sie bringe weder gute Lehrende noch gute Kritiker*innen hervor, anders als dies (früher? zu Zeiten von Walter Jens?) einmal war. Berufsfelder wie das Feuilleton und der viel beschworene Lektoratsjob verschwinden, weil Zeitungen und Verlage keine Literaturwissenschaftler*innen brauchen. Diese dagegen landen, wie uns Doerry Houllebecq zitierend belehrt, bei Hermès im Verkauf. Im Vergleich zu anderen Studienfächern scheinen die Literaturwissenschaften und dabei insbesondere die Germanistik – für die man nicht einmal Englisch können muss, geschweige denn so etwas Kompliziertes wie Rechnen – schlechte Studierende anzuziehen und aus motivierten Lehrenden frustrierte akademische Verwaltungsangestellte zu machen.

Diese Kritikpunkte lassen sich noch ergänzen durch die Kritik an der Institution Universität insgesamt, die – je nach nationaler Bildungspolitik – entweder vollkommen unterfinanziert ist, wie in Italien und Deutschland, oder große interne Qualitätsunterschiede aufweist wie etwa in Frankreich und den USA. Drittmittelpolitik in unterschiedlicher Form, der dauernde Druck, Geld einzuwerben, die deutsche Exzellenzinitiative mit ihren Tausenden von Anträgen, die zigtausende von Arbeitsstunden verschlingen, werden ebenso getadelt wie neue Besoldungsrichtlinien für Wissenschaftler*innen, die offenbar die Vertreter der Naturwissenschaften bevorzugen. Die nicht abreißende Debatte um die Relevanz philologischer Kompetenzen gehört ebenso zum Kanon der Einwände wie die Kritik an den Schulen und dem Niveau, mit dem sie Schüler*innen an die Universität entlassen (Lehrlinge bzw. Azubis allerdings können auch nichts mehr!).

Mit dem Verschwinden des Bildungsbürgertums und seiner Wertvorstellungen, seinem Bildungskanon und seinen Ausbildungspraktiken verschwanden auch die Sicherheit und Selbstverständlichkeit der zu vermittelnden Inhalte in Literatur, Kunst und Musik (vgl. Erhart 2003a: 108–125). Die damit verbundene Warnung vor dem Untergang der Bildung im Internetzeitalter ist zum Gemeinplatz geworden: Das »Ende der Gutenberg-Galaxis« (Bolz 1995) war erst nur ein schönes Bonmot – und heute haben wir dieses Ende so weit hinter uns gelassen, dass es selbst schon Geschichte geworden ist. In all dem ist nichts Positives zu erkennen; außer vielleicht der Tatsache, dass Bildung offensichtlich zu allen Zeiten wenn nicht alle, so doch viele anzugehen scheint, und dass man Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen, ja, dass man bestimmten Fächern und Disziplinen offenbar viel zutraut – oder eben auch viel zumutet.

Die Kritikpunkte sind fast alle berechtigt – und genau dies mag einen skeptisch stimmen. Sie zielen auf die Universitäten ganz allgemein, besonders aber auf die Literatur- und Kulturwissenschaften und im Speziellen häufig auf die Germanistik. Selten wird so viel Häme über die juristischen Fakultäten, die theologischen Seminare, die Archäologie oder auch die Geschichte ausgeschüttet wie über die Literaturwissenschaften. Man fragt sich manchmal, warum. So viel Kritik, und aus so unterschiedlichen Perspektiven? So viele implizite und explizite Forderungen und Erwartungen, die, würde man versuchen, sie alle zu erfüllen, sicherlich kein konsistentes Bild ergeben würden. Vielleicht muss man sich also zunächst einmal fragen, was eigentlich solche Empörung auslöst. Wie sieht der Katalog der Wünsche aus? Woher kommt die krasse Kritik?

Geisteswissenschaften – oder, um den irreführenden Begriff des »Geistes« zu vermeiden, besser: Humanities – sollen historisches und zeitgenössisches Wissen bewahren, es pflegen, sie sollen es erhalten, zugänglich und brauchbar machen oder sogar oft die Zugänglichkeit erhalten, indem sie etwa die Kenntnis fast vergessener Sprachen und Schriften, Zeichensysteme und Bilder konservieren und ihre Funktionen trainieren. Die einen loben dabei, dass dies ohne Ansehen von direkter Verwertbarkeit, mit langem Atem und ohne tägliche Überprüfung von aktueller Relevanz geschehen soll und kann. Tagesaktuelle Verwertbarkeit soll und darf dann gerade kein Kriterium sein. Andere reden genau hier vom Elfenbeinturm.

Die Kritiker des Elfenbeinturms nämlich verlangen, dass zeitgenössische Debatten aufgegriffen, überalterte Themen und Thesen verworfen und dezidiert verabschiedet werden. Und nicht nur dies: Zu aktuellen Themen soll es auch noch kompetente und ethisch vertretbare Kommentare, Urteile, politisch und sozial relevante, wirksame Beiträge geben. Universitäten sollen Forschung – nicht nur in den Humanities – garantieren, die nicht von Politik und Lobbyismus beeinflusst ist (dies ist – leider zu selten betont – im Übrigen auch für die Lehre relevant!). Sie müssen mit ihren Ressourcen ökonomisch umgehen und die Ausgabenverteilung an gesellschaftlichen Bedürfnissen ausrichten. Sie sollen einerseits auf Distanz gehen zu den gesellschaftlichen Akteur*innen und Interessent*innen, andererseits nicht im Abseits stehen: Keine leichte Übung!

Universitäten sind – wie fast alle Institutionen – träge, und genau dies ist auch ein nicht zu unterschätzender Vorteil von Institutionen. Anders als wirtschaftlich arbeitende Unternehmen, die auf ökonomische Veränderungen möglichst schnell und flexibel reagieren sollen und müssen, sollten das weder Bildungseinrichtungen noch Gerichte tun:

Die notwendige Autonomie, eine gewisse Freiheit von Marktimperativen und die Distanz zu unternehmerischer Kultur können sich die Geisteswissenschaften nur dann verschaffen, wenn sie bereit sind für diese (notwendige) Sonderstellung auch bestimmte Reformen nicht nur in Kauf, sondern selbst in Angriff zu nehmen. Gelingt dies nicht, leiden darunter nicht nur die Geisteswissenschaften selbst, sondern das gesamte System Universität. (Kimmich und Thumfart 2003: 30)

Die Anpassung von Universitäten an Vorbilder aus Wirtschaft und Industrie ist nicht in jeder Hinsicht unsinnig, eine Vorbildfunktion ökonomischer Strukturen für die Universität kann es aber nicht geben. Moden und Konjunkturen bestimmen nicht den Pulsschlag von Universitäten. Das mag man bedauern. Tatsächlich sammelt sich daher eine Menge Muff – auch unter den z. T. wieder eingeführten Talaren – in Bürokratien, Studienplänen, Prüfungsordnungen, Leselisten und Forschungsprojekten. Autonomie von wirtschaftlichem Effektivitätsdruck und gesellschaftlicher Relevanz führt nicht per se zu wissenschaftlichen Hochleistungen. Aber umgekehrt gilt dies eben genauso: Ständiger Effektivitätsdruck und Relevanzforderungen garantieren eben leider auch keine gute Forschung!

Erreichen lässt sich in einer Institution nur dann etwas, wenn man grundsätzlich deren Charakter, also auch denjenigen einer oft langsamen, ja eben ›bedächtigen‹ Arbeitsweise akzeptiert, ihre Vorteile anerkennt und erst dann die daraus entstehenden Nachteile korrigiert. Universitäten sind konservativ: im Wortsinn und als Funktionsbeschreibung gemeint. Es sind besonders die Humanities, die diese konservativ-konservierende Seite vertreten. Das sieht man den Vertreter*innen der Fächer an, ihrem Habitus und ihren Tätigkeiten. Ihr Denkstil ist in vieler Hinsicht auf konservative Praktiken hin ausgelegt. Allerdings sind diese Fächer damit nur zur Hälfte beschrieben.

Weder die Universität selbst noch die Humanities sind nur konservativ. Ganz im Gegenteil: Schließlich wird das Wissen von morgen in den Forschungslaboren, Universitätskrankenhäusern, aber auch an Schreibtischen und in Seminarräumen entwickelt. Dabei geht es nicht nur um technischen, technologischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt, sondern ganz zentral auch um das Wissen, mit dem sich eine Gesellschaft selbst beschreibt und verständigt, mit dem sie Arbeitsleben und Familie, Geschlechterverhältnisse und Kindererziehung, kulturelle Vielfalt und Innovation, Tradition und Erinnerung, Gesundheit und Religiosität neu konzipiert, verwandelt, kommuniziert und kritisiert.

Insbesondere die Literaturwissenschaften zeichnen sich also durch die Spannung zwischen einer konservativen Seite ihrer Praktiken und Aufgaben und zugleich einer Seite innovativer, oft sehr experimentierfreudiger, meist theoretisch versierter Ansätze aus. Das passt nicht gut zusammen und erzeugt Konflikte. Obwohl die Kombination fast unmöglich erscheint, kann auf keine der beiden Seiten verzichtet werden: Betrachtet man eine Seite isoliert, wirkt es entweder dröge oder schrill.

Rita Felski nennt in ihren viel beachteten Publikationen vier verschiedene Praktiken, die Humanities zu kombinieren haben: »curating, conveying, critizing, composing« (Felski 2016: 216). Die ersten beiden, ›curating‹ und ›conveying‹ möchte ich zusammenfassen in dem, was ich als ›konservativ‹ bezeichne. Critizing und composing werde ich ihnen gegenüberstellen und im Sinne von Kritik und – statt ›composing‹ – Urteil also auf der Seite des Experimentellen und Innovativen verorten. Die Unterteilung in die beiden Komponenten ist vielleicht meinem besonderen Fokus auf die Germanistik geschuldet, da hier die Debatten um die Einführung von kulturwissenschaftlichen Ansätzen, Themen und Methoden bzw. auf der anderen Seite um eine »Rephilologisierung« (vgl. Erhart 2003b) des Faches besonders heftig geführt wurden, also die Polarisierung von konservativ-kurativ und kritisch-innovativ kontrovers diskutiert wurde. Interessant sind die Spannungen innerhalb der Germanistik auch, weil sie als Nationalphilologie im Rahmen der deutschen Kultur- und Wissensgeschichte – mehr noch und anders als etwa die Romanistik oder die Amerikanistik/Anglistik – gewissermaßen intrinsisch eine Art Umbau oder sogar eine Form der Selbstauflösung betreibt. Warum?

Die konservativ-konservierenden Praktiken Felskis, ›curating‹ und ›conveying‹ fallen zusammen mit dem, was man als philologische Praktiken im besten Sinne bezeichnen kann. Sie gehören zum Kernbestand der Literaturwissenschaften und ihre Berechtigung und ihr Wert sollten nicht in Zweifel gezogen werden. Allerdings: Philologen – insbesondere auf dem Gebiet der Germanistik – braucht man nicht viele und man wird in Zukunft immer weniger von ihnen brauchen. Hier ist Albrecht Koschorke zuzustimmen, der darauf hinweist, dass diese Art von Germanistik schrumpfen wird – und zu Recht (vgl. Koschorke 2015: 587–594). Die deutschsprachige Literaturgeschichte ist vergleichsweise kurz, sehr prominent und entsprechend gut erforscht. Es gibt noch viel zu forschen, aber die Menge an Dissertationen und Publikationen steht in keinem Verhältnis zum Material, das erforscht wird. Nicht selten sind es zudem Mainstream-Gebiete, die sich besonderer Beliebtheit erfreuen, Redundanzen lassen sich daher nicht vermeiden. Dazu gehören allerdings nicht nur die ›großen‹ kanonischen Autoren, sondern bedauerlicherweise auch viele theoretische Texte aus den letzten Jahrzehnten, die weit mehr Aufmerksamkeit erfahren haben, als notwendig gewesen wäre, um sie angemessen zu rezipieren. Das dient dem Renommee eines Faches nicht. Weniger Quantität und höhere Qualitätsstandards wären oft angebracht. Schließlich ist nicht jeder, der schnell lesen kann, ein guter Philologe. Dazu bedarf es spezifischer und seltener Begabungen, eines hohen sprachlichen Feingefühls, einer langen Ausbildung und komplexer Kompetenzen.

Die Lage auf der anderen Seite der Literaturwissenschaften, also auf der kritisch-innovativen, ist womöglich noch schwieriger zu beschreiben, denn sie zeichnet sich durch ein hohes Maß an Veränderungen aus, die sowohl den Bereich der zu erforschenden Gegenstände – also eigentlich Texte und Bücher – als auch Methoden und Theorien und so letztlich immer das Selbstverständnis des Faches betreffen. Die Germanistik hat sich – und das gilt in etwas anderer Weise auch für andere Nationalphilologien – mit der Geschichte der jeweiligen Nationalstaaten im Rahmen einer Globalgeschichte der letzten 200 Jahre vollkommen gewandelt. Und dies ist selbstverständlich nur zu begrüßen: Als Selbstversicherung einer nationalen, bürgerlichen Identität ist das Fach obsolet geworden, ja, es wäre eine politische Provokation.

Die entscheidenden Impulse kamen dabei aus verschiedenen Literaturwissenschaften und aus den neu entstehenden Kulturwissenschaften, die zusammen seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Herausforderungen einer sich selbst suspekt werdenden Moderne begegneten und sie auf kreative und einflussreiche Weise aufarbeiteten. Das Fach Germanistik bzw. die Literaturwissenschaften haben sich durch diese Einflüsse fundamental verändert: Manche Gebiete, die zuvor als kleine Unterabteilungen fungierten – wie die Medienwissenschaften –, haben eine spektakuläre Konjunktur erlebt und sind zu eigenen Fächern, ja Fachbereichen geworden. An anderen Stellen haben sich Querverbindungen und Vernetzungen gebildet – etwa in allen Bereichen des ›Transkulturellen‹, des ›Postkolonialen‹ –, die dafür sorgen, dass die Grenzen des Faches diffus – noch diffuser – wurden. Im Grunde sind Fächergrenzen immer diffus, das zu ignorieren, lässt ideologische Interessen vermuten.

Man könnte hier verschiedene Beispiele für die Art und Weise der Wirkung und Bedeutsamkeit kulturwissenschaftlicher Forschung anführen; ich wähle die lange und hochinteressante Debatte über ›Erinnerung‹ und Gedächtnis, die heute in vielen Sparten geläufig ist. Sie angestoßen zu haben, ist u.a. ein Verdienst von Aleida und Jan Assmann, die dafür 2017 berechtigterweise einen der höchst dotierten Wissenschaftspreise, den Balzan-Preis, erhielten. Wenn heute Begriff und Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ viel geläufiger sind als der Name der beiden ›Erfinder‹, so ist das eine ähnliche Leistung wie diejenige, das ›Unbewusste‹ entdeckt oder erfunden zu haben. Die Problematisierung von ›Erinnerung‹, die Konzeption des kulturellen Gedächtnisses und deren Theorie verhalfen gerade zur kritischen Revision nationalistischer Selbstkonstruktion, und diese Kritik diente nicht nur der Dekonstruktion nationaler Mythen, sondern eben auch der Dekomposition von Disziplinen, die ursprünglich solche nationalen Selbstfindungsfunktionen erfüllten. Solche Themenfelder weiterhin zu identifizieren und zu bearbeiten, ist heute dringender denn je. Ohne kulturwissenschaftliche Expertise wird man dem verheerenden Trend zum Vergessen nicht beikommen.

Die Geisteswissenschaften können nicht mit den gleichen Kriterien der Relevanz, der Effektivität und der Produktivität evaluiert werden wie technische oder naturwissenschaftliche Fächer. Wie wollte man den Wert der Assmannschen Forschungsleistung evaluieren, die sich über Jahrzehnte entfaltet und sich über die verschiedensten Gebiete politischer Entscheidungen, disziplinärer Forschung, internationaler Beachtung und kultureller Wirksamkeit, ja sprachlicher Veränderung und Innovation erstreckt? Ein Einfluss, der weit größer sein dürfte als derjenige, den einzelne Wissenschaftler*innen, wie die vom Spiegel apostrophierten, je gehabt haben dürften. Vermissen wir die ›großen‹ alten Männer wirklich? Können wir an ihnen den Einfluss eines Faches bemessen? Es dürfte doch vielleicht den ebenfalls viel geschmähten Gender Studies zu verdanken sein, dass wir darüber heute differenzierter urteilen können.

Im Grunde können wir festhalten, dass gerade die Literaturwissenschaften diejenigen Stimmen hervorbringen, die im richtigen Moment darauf hinweisen, dass sie sich – in bestimmter Hinsicht – überlebt haben. (Das gilt übrigens auch für den Verfasser des kritischen Spiegel-Artikels, der – natürlich – u.a. Germanistik studiert hat.) Aber was – bitteschön – will man denn sonst? Das genau ist doch die viel beschworene kritische Haltung, die man sich von Akademiker*innen wünscht.

Oft geht es um sehr komplexe und ernsthafte Auseinandersetzungen mit hoch komplizierten Entwicklungen. Wir werden z.B. zweifellos in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vollkommen neue Konzepte von Weltgeschichte und Weltliteratur brauchen. Leider wird uns Goethe – auch wenn er den Begriff populär gemacht hat – nicht viel weiterhelfen können. Allein die Daten- und Textmengen werden sich nur mit Hilfe von Digitalisierungsmethoden verwalten lassen, denn Weltliteratur ist eben nicht die Kombination von Schiller, Montaigne, Shakespeare und Cervantes, sondern umfasst Mythen und Lieder, Romane und Geschichten, Anekdoten und Märchen der ganzen Welt und aller Sprachen. Im Moment kann sich – trotz gegenteiliger Behauptungen – niemand vorstellen, wie eine Literaturwissenschaft aussehen soll, die mit solchen Mengen umgehen kann, und in der Zwischenzeit behelfen wir uns mit meist eurozentrischen Hilfskonstruktionen, die methodisch unseriös sind, da sie ungerechtfertigterweise – oft leider nur implizit – Repräsentativität postulieren. Eine ganze Reihe anderer Entwicklungen – etwa im Bereich der Digital Humanities oder der Neuroästhetik – könnte hier ebenfalls und mit gleichem Recht genannt werden.

Es mag für manche ›irrelevant‹ klingen, sich mit der Frage nach Weltliteratur zu beschäftigen, angesichts von Dieselskandal und Flüchtlingskatastrophen. Tatsächlich werden die Auswirkungen eines Umbaus literaturwissenschaftlicher Fächer und Konzepte erst in vielen Jahren wirklich zu spüren sein. Es handelt sich dabei um Entwürfe für einen Umgang von Ethnien, Nationen und Kulturen in postkolonialen Kontexten, für die es sich lohnt, lange Zeit zu investieren. Dieser Umbau von Disziplinen und Fächern wird nicht nur universitäre Forschung, sondern eben auch Lehrpläne und Kulturprogramme, die Politik und den alltäglichen Umgang miteinander prägen. Dies allerdings nur, wenn man diejenigen, die in diesen Bereichen arbeiten, auch anerkennt; und dies bedeutet: sie für ihre Arbeit entlohnt und ihnen zuhört. Hier mit Umsicht vorzugehen, wird gut sein. Man wird dabei auf alte Wissensbestände zurückzugreifen haben: Und da werden die Kritischen und die Kurator*innen im Bereich der Humanities kooperieren müssen.

Wohlfeil ist es auch, über ›Gender-Studies‹ zu spotten (vgl. Handelsblatt2013; Emma 2017): Wer aber hätte es noch in den 80er Jahren für möglich gehalten, dass sich in unseren Gesellschaften homosexuelle und transsexuelle Lebensentwürfe innerhalb von drei Jahrzehnten durchsetzen lassen? Begriffe, Konzepte, ethische Forderungen und normative Umbesetzungen wurden in der Politik konkret, aber sie wurden erst einmal in der Theorie vorgedacht und debattiert. Wo hätten sie denn entwickelt werden sollen, wenn nicht an den Universitäten? Heute, wo das alles selbstverständlicher geworden ist, lässt sich gut spotten. Die ersten Seminare zu Gender Studies anzubieten, war eine Leistung – und sie hat sich gelohnt. Allerdings lässt sie sich eben schlecht messen. Dazu muss man schon etwas genauer hinsehen, etwas mehr Ahnung von Kulturgeschichte haben und einen etwas längeren Atem mitbringen … Alles so genannte ›soft skills‹, die man sich etwa in einem historischen oder kulturwissenschaftlichen Studium aneignen kann.

Kaum ein Artikel zur Lage der Literatur- und Kulturwissenschaften kommt ohne einen Verweis auf die besondere Bedeutung von ›Kritik‹ oder ohne das Lob des kritischen Geistes aus, den man in diesen Fächern erlernen oder erwerben kann. Felski weist darauf hin, dass viele »critique« als eine Art »guiding ethos« der Humanities verstehen (Felski 2016: 216). Das ist sicherlich nicht falsch, bleibt aber oft unkonkret. Was soll man sich genau unter dieser Kritik oder dem kritischen Geist vorstellen? Ist Kritik nicht oft auch zu wenig (vgl. Felski 2017: 344–51)? Statt nur auf die kritische Komponente der Humanities möchte ich daher hier auf einen anderen Aspekt hinweisen, der sicherlich Teil von kritischen Reflexionen ist, aber nicht darin aufgeht: Die Fähigkeit, zu urteilen.