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Lloyd ist ein Mensch, zumindest glaubt er das. Doch sein Leben ändert sich schlagartig. Als er merkt, dass er sich in einen Wolf verwandeln kann, kippt sein Leben komplett. Wem kann er noch vertrauen? Wer ist Freund, wer Feind? Und wer will er sein? Ein wilder Wolf, ein Mensch? Oder doch ein Leben zwischen diesen beiden Spezies führen? Gefangen in einem Konflikt zwischen 3 verschiedenen Wolfsclans muss er eine Lösung finden. Doch auf dem Weg dahin bricht das Chaos über ihm zusammen.
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Seitenzahl: 585
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Cover
Kapitelbild
R.J. Held
Skully
Lloyd ist ein Mensch, zumindest glaubt er das. Doch sein Leben ändert sich schlagartig. Als er merkt, dass er sich in einen Wolf verwandeln kann, kippt sein Leben komplett.
Wem kann er noch vertrauen? Wer ist Freund, wer Feind? Und wer will er sein? Ein wilder Wolf, ein Mensch? Oder doch ein Leben zwischen diesen beiden Spezies führen?
Gefangen in einem Konflikt zwischen 3 verschiedenen Wolfsclans muss er eine Lösung finden. Doch auf dem Weg dahin bricht das Chaos über ihm zusammen.
Dennis Wolf ist ein junger Autor, der sich nie zuvor Gedanken darüber machte, dieses Buch wirklich zu veröffentlichen. Er lebt im Süden Deutschlands, der ihn für diesen Roman stark inspiriert hat. In seiner Laufbahn hat er sich erst in einer Ausbildung und dann als Student kaufmännisches Wissen angeeignet, das ihn bis heute überall in seinem Leben begleitet.
Trotz großen Hürden, die ihn durch das Leben begleiten, liebt er es, anderen zu helfen, besonders mit Texten wie diesem Roman.
Außerdem ist er ein Furry.
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Hiho. Ich möchte mich mit ein paar persönlichen Worten an dich wenden.
Zuerst: Ich bin so unfassbar dankbar, dass du dieses Buch gekauft hast.
Es bedeutet mir die Welt.
Dieser Roman ist mehr als nur ein Text mit Worten. Vieles – womöglich mehr, als du denkst – ist wirklich passiert oder beruht auf einer wahren Begebenheit.
Als das Konzept dieses Romans im Jahr 2008 aufgeschrieben wurde, als ich 15 war, hätte ich mir niemals zu träumen gewagt, dass aus diesem Konzept ein Werk entsteht, das Menschen heute lesen würden. Als kleiner Junge, der kaum Freunde hatte, erdachte ich diese Geschichte, um selbst daraus zu lernen, zu wachsen und zu genau der Person zu werden, die ich immer sein sollte, genau wie Lloyd.
In jedem Kapitel finden sich Parallelen zu meinem Leben und bestimmt auch zu Erfahrungen, die du gemacht und Menschen, die du kennengelernt hast.
Selbst der Ort Salbrun ist angelehnt an eine real existierende Stadt im Südwesten Baden-Württembergs, beinahe jeder Charakter basiert auf jemandem, den ich in meiner Jugend getroffen habe.
Ich möchte dir mit diesem Buch zeigen, was alles möglich sein kann.
Wenn du unzufrieden mit deinem Leben bist, ergreife die Chance, etwas zu ändern. Es ist dafür niemals zu spät.
Und bevor du mit diesem Roman beginnst, möchte ich dir eine Aussage mit auf den Weg geben, die mich mein Leben lang begleitet hat: »Definiere dich nicht über das, was du tust. Definiere dich über das, was du bist.«
Lass dich nicht anhand deiner Taten messen. Du bist eine tolle Persönlichkeit und lass dich von niemandem anhand deiner Taten beurteilen.
Schnee. Jedes Mal, wenn ich im Winter nach draußen sah, fragte ich mich, wieso so viele Leute diese Kälte mochten. Er sah zwar schön aus, aber selbst mit der dicksten Jacke war mir immer kalt, wenn ich zu dieser Jahreszeit das Haus verließ.
Ich ließ den Blick über die Straße schweifen. Autos fuhren in Schrittgeschwindigkeit vorbei, während auf den Bürgersteigen einige Kinder Schneebälle formten und sich damit gegenseitig bewarfen.
Einige Sekunden schloss ich meine Augen und ließ die Wärme, die vom Heizkörper unter dem Fensterbrett ausging, durch den Körper strömen. Ich griff zur Kaffeetasse und nahm einen Schluck.
Heute war Samstag. Obwohl ich hätte ausschlafen können, wurde ich unerwartet früh wach. Manchmal spielte mein Körper mir solche Streiche und ich konnte nicht erklären, warum.
Nach einigen Minuten wandte ich mich vom Fenster ab und ließ meinen Blick durch das Schlafzimmer schweifen.
Mein Zimmer war relativ spartanisch eingerichtet. Ich hatte alles dort hingestellt, wo gerade Platz war. Auf dem Nachttisch lagen Papiere, Rechnungen und Briefe von einem Freund, der vor einigen Wochen nach England gezogen war und mir das Gefühl gab, hier in dieser viel zu großen Stadt allein zu sein. Wir hielten regelmäßigen Kontakt. Er hatte zwar versucht, mich zu überreden, zu ihm nach England zu ziehen, aber ich fühlte mich unwohl dabei, Deutschland zu verlassen und in ein Land zu ziehen, in dem ich bislang nicht einmal Urlaub gemacht hatte.
Schlaftrunken rieb ich mir erneut die Augen. Die Anstrengung von gestern saß noch in den Knochen, aber das war nichts, was der Kaffee nicht wieder in den Griff bekommen würde.
Nach einem lauten Gähnen beschloss ich, mir etwas Warmes anzuziehen. Im Schrank kramte ich ein T-Shirt, einen braunen Pullover und eine Jeans heraus und verließ das Schlafzimmer.
»Vielleicht habe ich ja endlich Post von Eric.« Der letzte Brief von ihm war vielversprechend gewesen. Er hatte geschrieben, dass er am folgenden Tag seinen ersten Arbeitstag hätte und mir alles darüber berichten wollte. Obwohl wir theoretisch über WhatsApp in Kontakt bleiben konnten, fanden wir Briefe immer persönlicher. Das war uns dann auch das Porto wert.
Daher beschloss ich, zum Briefkasten zu gehen. Kaum öffnete ich die Tür, blickte meine Nachbarin mir von ihrer eigenen entgegen; eine ältere Frau, die für jeden Menschen ein Lächeln übrighatte, selbst für jemanden wie mich, der mit seinem Leben immer unzufrieden wirkte.
»Morgen, Frau Morrison.«
Sie lächelte mich herzerwärmend an. »Guten Morgen, Lloyd. Wie geht es dir denn?«
Geistesabwesend suchte ich nach dem richtigen Schlüssel. »Gut. Ich konnte heute wenigstens ausschlafen. Wurde gestern einfach wieder zu spät.«
»Ach du Armer. Du solltest dir mal ein paar Tage frei nehmen. Du hast sie wirklich nötig.«
Ich wehrte ab und öffnete den Briefkasten. »Das geht leider nicht. Stattdessen verlangt mein Chef, dass alle Angestellten Überstunden machen. Es kommen viel zu viele neue Fälle herein. Und mehr Leute einzustellen, ist ihm zu teuer.« Ich zog zwei Umschläge heraus. Einer war von Eric, auf dem anderen konnte man keinen Absender erkennen.
Frau Morrison nahm eine kleine Gießkanne und goss die Pflanzen vor ihrer Haustür. »Das ist nicht gerecht.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Was soll ich denn dagegen machen? Ich kann doch nicht einfach kündigen. So schnell finde ich nichts Neues.«
»Du solltest dich wenigstens beschweren.«
Mit einem kurzen Seufzen schloss ich den Briefkasten. »Es ist schon okay so. Wir bekommen eine Provision pro Fall. Irgendwie kommt man schon rum.«
Frau Morrison stimmte zu und musterte aus der Distanz die Umschläge in meinen Händen. »Hast du wieder einen Brief von Eric bekommen?«
Mir war heute wirklich nicht nach Reden, doch das konnte ich ihr nicht so direkt sagen. Eigentlich meinte sie es ja gut. Sie wohnte ganz allein und über die Jahre kamen wir immer wieder ins Gespräch. Frau Morrison konnte einem aber schon leidtun. Sie bekam nur selten Besuch von Freunden oder der Familie. Daher versuchte sie jedes Mal, wenn wir uns über den Weg liefen, ein Gespräch zu beginnen, egal, wie abwehrend ich darauf manchmal reagierte. Gelegentlich erzählte sie von den Spaziergängen im Wald, dem Bach, der im Winter oft gefror und im Frühling wieder auftaute. Das Leben hier am Rande der Stadt war friedlich, auch wenn es durch die Nähe zur französischen Grenze immer recht turbulent war.
»Ja, einer ist von ihm«, antwortete ich viel zu spät. Es wunderte sie nicht, dass ich mir Zeit bei den Antworten ließ. Sie kannte mich und wusste, dass Gespräche nicht meine Stärke waren.
»Wie geht es ihm denn in England?«, fragte sie weiter, obwohl ich das Gespräch lieber beenden wollte.
Ehrlich gesagt wollte ich gar nicht mit ihr darüber sprechen, aber da sie sonst niemanden zum Reden hatte, antwortete ich. »Er meinte im letzten Brief, dass ihm die Gegend und seine neue Arbeit gefällt.«
»Das ist doch schön.«
»Mhmm.« Ich nickte. Eric hatte es wirklich schön. Er kam von hier weg, dieser Stadt, die mir trotz all der Jahre immer noch fremd schien. Außerdem arbeitete er in seiner Traumfirma, in die er schon immer kommen wollte. Mein Job war anstrengend und so, wie er schrieb, schien seiner ausnahmslos toll zu sein. Vielleicht wäre es ja eine gute Idee, ihn ein paar Tage zu besuchen, um sich eine Auszeit zu gönnen. Das hatte ja auch Frau Morrison schon vorgeschlagen.
»Also. Ich muss dann auch wieder rein. Ich möchte noch frühstücken«, erklärte ich, um das Gespräch, das mir länger vorkam, als es war, zu beenden.
Sie stellte die Gießkanne ab. »In Ordnung, Lloyd. Wir sehen uns.«
Bevor ich die Tür hinter mir schließen konnte, hörte ich schon die meiner Nachbarin. Im Vorbeigehen legte ich Erics Brief auf die Kommode im Flur, auf der ein Kalender, einige Papiere und Kugelschreiber lagen, und setzte mich ins Wohnzimmer. Ich hatte lange gespart, um mir wenigstens dort einen kleinen Luxus zu gönnen. Ein Flachbildfernseher, eine ausziehbare Couch, eine Play-station. Neben dem Fernseher standen Vitrinen mit Stützbalken aus Holz. Mehr als Bilderrahmen und Krimskrams stand aber nicht drin. Ich betrachtete die Fotos meiner Geschwister und Eltern. Meine zwei Brüder führten schon ihr eigenes Leben. Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich dreizehn Jahre alt war. Mein Vater war irgendwann für eine Jüngere abgehauen. Das war das Beste, was uns passieren konnte, da seine Erziehung aus Schreien, lautem Pfeifen und Schlägen bestanden hatte.
Ein Bild aber befand sich im Schrank, worauf er auch zu sehen war. Das war am Tag ihrer Hochzeit. Meine Mutter hatte jedem von uns ein eingerahmtes Bild geschenkt, da sie wollte, dass jeder in ihrer Familie eines besaß. Damals waren sie noch so glücklich gewesen. Sie hielten sich in den Armen und lächelten beide. Es war ein schöner Augenblick und manchmal wünschte ich mir, dabei gewesen zu sein. Jetzt nach all den Jahren fragte ich mich, wie es wohl wäre, wieder Kontakt zu ihm zu haben. Ihn mit der Vergangenheit zu konfrontieren. Würde er seine Fehler bereuen? Oder wäre ihm alles egal?
Ich nahm das Foto aus dem Schrank und betrachtete es genauer. Meine Mutter sah in ihrem weißen Hochzeitskleid so glücklich aus. Als hätte sie den wahren Mann fürs Leben gefunden. Es musste für sie eine bittere Enttäuschung gewesen sein, dass sie sich für den Falschen entschieden hatte.
Dann kam mir der Brief ohne Absender wieder in den Sinn. Ich setzte mich auf das Sofa und öffnete den unbekannten Brief vorsichtig mit einer Schere.
Dass kein Absender auf dem Umschlag war, stimmte doch nicht ganz. Der Name war stark verwischt worden. Als hätte jemand mit einem Füller geschrieben und es dann absichtlich mit der Handkante verschmiert. Es war unmöglich, etwas darauf zu entziffern. Was man allerdings deutlich erkennen konnte, war der Empfänger: Lloyd Vargen.
Ja, meine Eltern waren sehr kreativ bei der Namenswahl, auch wenn ich keine mir bekannten Wurzeln im Ausland hatte. Ich hasste den Namen nicht, er war mir eher egal.
Ich klappte den Brief auf. Er war mit roter Tinte geschrieben worden. Die Worte verwirrten mich: Mein Name, ein Ort in der Nähe und ein Datum. Ich sollte jemanden treffen … in einem Monat im Park am Rand der Stadt.
Was hatte das zu bedeuten? Wer wollte sich denn mit mir treffen und wieso?
Ich überlegte lange hin und her, ob ich es jemandem erzählen sollte. Normalerweise bekam ich keine Briefe. Das hier erinnerte eher an Spam, den ich per E-Mail erhielt. Am besten mit einer Geldforderung nach einem kurzen Nachrichtenwechsel oder für einen Prinzen in Afrika. Ich beschloss, niemandem von diesem Termin zu erzählen. Dennoch interessierte mich, was diese Person von mir wollte, wenn das nicht doch ein Scherz war. Die Neugier in mir gewann schließlich die Oberhand. Was hatte ich schon zu verlieren? Also stand meine Entscheidung.
Erschöpft blickte ich auf die Akte vor mir. Das war ein Fall, der mich noch eine Weile beschäftigen würde. Ich arbeitete in einer Versicherungsagentur und der Chef legte jedem Mitarbeiter morgens einen Stapel Papiere auf den Schreibtisch. Je nach Menge war ich manchmal früher fertig und konnte eher gehen, doch es kam nicht selten vor, dass ich länger am Tisch saß, als die üblichen acht Stunden.
Ich hasste meinen Beruf. Er raubte mir den letzten Nerv und immer, wenn ich dachte, ich wäre gleich fertig, kam ein Fall, dessen Bearbeitung mehrere Stunden in Anspruch nahm. Da genehmigte ich mir jedes Mal einen Kaffee zur Arbeit, den man sich aus dem Automaten im Büro ziehen konnte.
Heute war so ein Tag, an dem gar nichts vorwärts ging. Ich ertappte mich dabei, den gleichen Text der Akte wieder und wieder zu lesen, ohne daraus schließen zu können, wie weiter verfahren werden musste.
Frustriert legte ich die Akte beiseite und rieb mir die Augen. Das war einfach nicht mein Tag, sagte ich mir, während mein Blick zu den Kollegen schweifte, die teils mehr, teils ebenso wenig motiviert an ihren Rechnern saßen.
Wenn mein Chef sehen würde, dass ich wieder einmal nicht vorwärtskam, gäbe es sicher Ärger. Vielleicht auch eine Abmahnung. Ich wollte ja heute fertig werden, aber in dieser Verfassung und mit solch komplizierten Fällen ganz sicher nicht.
Der halbe Tag war schon vergangen und ich hatte von meinen Akten geradeso die Hälfte durch. Müde legte ich kurz den Kopf auf den Schreibtisch. Schlafen am Arbeitsplatz war natürlich nicht erlaubt, aber das war mir in dem Moment recht egal.
Kurz vor dem Einschlafen riss ich mich noch einmal zusammen und richtete mich auf, um erschrocken in das Gesicht meines Vorgesetzten zu blicken. Sein stets gepflegter Bart wirkte heute vernachlässigt und ein Kratzer an der Wange war kaum zu übersehen. Sein Gesicht wirkte blass. Auch ihm schien es nicht gut zu gehen.
»Herr Vargen. Denken Sie, der Arbeitsplatz ist das heimische Bett?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Herr Lanker. Ich hatte gestern einfach nicht genug Schlaf. In letzter Zeit habe ich eine Menge Stress und komme kaum hinterher.«
Er machte eine ausschweifende Handbewegung über alle Kollegen, die im Großraumbüro arbeiteten, durch nichts getrennt außer einem Teppichboden und den Schreibtischen.
»Denken Sie, mir geht es anders? Denken Sie, ich habe ein leichtes Leben? Ich habe mehr Arbeit als Sie. Ich muss ständig im Büro sitzen und dafür sorgen, dass Sie keine Fehler machen. Ich habe Wichtigeres zu tun, als Sie vom Schlafen abhalten zu müssen. Das Leben ist nie einfach und auch selten gerecht. Finden Sie sich damit ab.«
Ich nickte hilflos. Jede andere Reaktion, die mir in den Kopf kam, hätte vermutlich nur zu einer Abmahnung geführt.
Mein Kollege und guter Freund Daniel, den aber alle Danny nannten, tippte mir mit dem Finger an die Schulter, nachdem Herr Lanker wieder wortlos in seinem Büro verschwunden war. »Heute ist er noch schlechter drauf als sonst.«
Das dachte ich mir schon. »Verscherz es dir heute lieber nicht mit ihm«, riet ich Danny.
Dieser wehrte ab. »Das interessiert mich doch nicht. Ich komme so oder so immer durch.«
Ja, das kannte man von ihm. Wenn er zu viele Versicherungsfälle bearbeiten musste, fing er mit einem Kollegen ein nettes Gespräch an und schob ihm dann heimlich Versicherungen unter. So hatte er eine Menge Freizeit, während ich schuften musste. Es war mir schleierhaft, wieso Lanker ihn immer noch nicht erwischt hatte. Vielleicht lag es daran, dass Danny einfach geschickt war und andere durch seine charismatische Art schnell einnehmen und von sich überzeugen konnte.
»Gehen wir heute Abend noch ein Bier trinken?«, fragte er mich. »In der Bar hier gleich um die Ecke. Du siehst nämlich echt scheiße aus. Vielleicht hilft ein Bier. Für dich gibt’s notfalls sogar ‘nen Cocktail.« Dabei konnte er sich ein Zwinkern nicht verkneifen. Er wusste, dass ich den herben Geschmack dieses Gebräus nicht ausstehen konnte.
Ich zeigte ihm wortlos den Stapel Versicherungen. Er begriff, dass mein Tagespensum heute vermutlich nicht mehr zu schaffen war und ich einen langen Abend im Büro vor mir hatte. Daraufhin kam ein Grinsen über seine Lippen. Er schnappte sich einen großen Teil meines Stapels und legte ihn auf seinen. »Nach der Arbeit um neun?«, fragte er.
Ich nickte schweigend.
»Keine Sorge. Bald sind es nicht mehr meine.« Ehe ich mich versah, begann er schon mit einem benachbarten Arbeitskollegen ein Gespräch und schob ihm allmählich meine Arbeit zu. Ich war ziemlich froh, jemanden wie Danny zu haben, der mir unter die Arme griff. Dank ihm hatte ich schon eine Menge Stunden eingespart und er selbst ebenso, denn er arbeitete fast nie. Seltsam, dass das bis heute nicht aufgeflogen war.
Wenigstens hatte ich heute Abend ein Treffen mit einem Freund auf ein Bier. Oder von mir aus auch einen Cocktail. Das motivierte mich genügend, um gegen 17 Uhr tatsächlich fertig zu sein. Herr Lanker sagte uns immer, dass wir gehen könnten, wenn die Akten, die uns morgens auf den Tisch gelegt würden, abgearbeitet waren. Vertrauensarbeitszeit nannte er das. Aber ob es der Definition wirklich entsprach? Daran zweifelte ich stark. Jedoch hielt ich mich an seine Worte, klopfte Danny freundschaftlich im Vorbeigehen auf die Schulter und verabschiedete mich. Wir würden uns nachher in der Bar sowieso sehen.
Am Straßenrand stand mein dunkelblauer Golf, nichts Besonderes, aber er erfüllte seinen Zweck. Etwas Besseres konnte ich mir bei dem geringen Gehalt nicht leisten und es war auch nicht notwendig.
Ich ertappte mich wieder beim Gähnen. Vielleicht wäre es besser, sich noch einmal hinzulegen, damit ich nachher nicht so müde war und in der Bar einschlief.
Die Autos rauschten förmlich an mir vorbei. Ich nahm sie gar nicht richtig wahr. Es waren nur sich bewegende Objekte, die meinen Weg kreuzten. Obwohl ich sonst nie beim Fahren Radio hörte, gab ich ihm heute eine Chance. Um diese Zeit kam immer der Wetterbericht für die nächsten drei Tage. Trotz der Tatsache, dass ich mein Haus lediglich zur Arbeit verließ, interessierte es mich.
Eine freundliche Männerstimme, die klang wie jede andere, die man im Radio oder TV hörte, drang an mein Ohr als ich den richtigen Sender gefunden hatte: »In den nächsten Tagen ist mit heftigem Schneefall und nur wenig Sonnenschein zu rechnen. In Süddeutschland bleibt es aber milder. Die Temperaturen fallen auf drei Grad. Vereinzelt kommt es zu starken Windböen. Die kommenden Tage bleibt es immer noch winterlich. Das war das Wetter von ...« Ich unterbrach die Stimme durch das Abschalten des Radios. Oh Mann ... Die nächsten Tage würde es wieder schneien; und das, obwohl die letzten Wochen relativ mild gewesen waren. Die Temperaturen fielen auf drei Grad. Das gesamte Jahr hatte es geregnet und gerade jetzt kam der Winter schneller und heftiger, als man dachte.
Plötzlich ertönte ein lautes Gehupe, gefolgt von Reifenquietschen. Links und rechts standen einige Autos, manche aus Frankreich, viele aus Deutschland. Im Auto neben mir wurde das Fenster heruntergelassen. »Qu'est-ce que vous faîtes?!«, schrie er mich wütend an.
Ich wollte nicht antworten, obwohl ich ihn verstanden hatte, denn sonst wäre nur eine Diskussion entstanden. Wobei er mich lediglich brüllend gefragt hatte, was ich tat. Verunsichert kurbelte ich mein Fenster wieder hoch und fuhr geradeaus weiter, so schnell ich konnte.
Daraufhin schlug ich mir gegen den Kopf. Die Ampel eben war rot und ich bin einfach weitergefahren! Was war denn los? Ich war direkt gefahren, als das rote Licht aufleuchtete! Mühsam zwang ich mir einen kontrollierten Blick auf. Die Müdigkeit war wohl stärker, als ich dachte. Hoffentlich hatte sich niemand mein Kennzeichen aufgeschrieben, um mich anzuzeigen. Das hätte mir gerade noch gefehlt.
Ich stellte den Wagen vor meinem Haus ab, schloss zu und trat ein. Das letzte, was man von draußen hörte, waren erste Regentropfen, die auf die Frontscheibe des Fahrzeugs prasselten, ehe die Stille meiner Wohnung mich wieder umgab.
Auf dem Sofa versuchte ich, mir bewusst zu werden, was ich getan hatte. Müdigkeit. Das musste es sein. Vielleicht Überarbeitung. Ich würde mich morgen vermutlich krankmelden. Die Woche stand ich sonst nicht mehr durch.
Einen kurzen Moment schloss ich die Augen. Dennoch sah ich meine Umgebung, als wäre ich unter Wasser und würde nach oben blicken. Nur der Brief des Fremden, der war deutlich zu erkennen. Er hatte mein Leben so durcheinandergebracht, dass ich kaum schlafen konnte. Ich hoffte, dass es einen guten Grund gab, mich in den Park zu zitieren. Wenn nicht, würde ich der Person die Hölle heiß machen. Falls es überhaupt jemanden gab, der mich dort erwartete.
Mühsam zwang ich meine Augen dazu, sich wieder zu öffnen. Ich ging ins Schlafzimmer und stellte den Wecker auf acht Uhr. Danach ließ ich mich einfach ins Bett fallen, um den Stress der Arbeit und meines Alltags ein wenig zu vergessen. Es war nicht viel passiert und doch reagierte mein Körper ausgelaugt darauf. Schlafmangel, Überarbeitung, Erschöpfung. Vielleicht Burnout? Die Anzeichen könnten passen, aber dieses Leben sollte mich nicht überfordern. Im Gegenteil. Irgendwas sagte mir, dass dieser Trott mich nicht komplett ausfüllte. Ich war sicher zu mehr fähig, als stumpf zu arbeiten und zu schlafen.
Und dann war da noch dieser Brief, bei dem ich den Absender nicht lesen konnte. Vielleicht war das ja genau die Absicht. Es interessierte mich ungemein, was der Fremde zu sagen hatte und es machte mich völlig verrückt, dass das Treffen erst in einem Monat war. Ich konnte versuchen, mir auszumalen, wie die Person aussehen könnte, was sie tun und sagen würde, aber damit belastete ich mich nur unnötig.
Schlaf war das Einzige, was mir jetzt ein wenig helfen konnte. Wieso fand ich einfach keine Ruhe? Meine Gedanken drehten sich immer weiter und ließen sich nicht stoppen. Nur wegen eines Briefes? Das konnte doch nicht sein. Das war doch sicher ein Streich, den mir jemand spielen wollte, der sich so etwas wünschte, obwohl ich mir nicht erklären konnte, wieso. Es gab sicherlich genug Leute, die Spaß daran hatten, irgendwelchen Leuten eins auszuwischen.
Gut, das reichte. Diese Gedanken brachten mich nicht weiter. Sie raubten mir den Schlaf und so blieb mir wohl nichts anderes übrig, als wach zu liegen, bis die Erschöpfung Oberhand gewinnen würde.
Vielleicht sollte ich Danny den Brief zeigen und ihm davon erzählen. Er bekam es sicherlich hin, dass ich mich besser fühlte und wieder schlafen konnte. Das hatte er früher auch immer geschafft.
Ich griff mir das Schriftstück vom Wohnzimmertisch, schloss alle Türen und Fenster und stieg in meinen Wagen. Inzwischen regnete es fürchterlich und trotz Scheibenwischer musste man sich sehr anstrengen, um etwas erkennen zu können. Im Gegensatz zum frühen Abend wollte ich dieses Mal auf Nummer sichergehen und besser auf den Verkehr achten. Eine Unachtsamkeit pro Tag reichte völlig.
Einige Meter entfernt war schon die Reklame der Bar zu erkennen. Ich war sichtlich erleichtert, dass nichts passiert war. Es war nicht zu leugnen, dass ich mein Lenkrad während der gesamten Fahrt umklammert hatte und wie ein Anfänger fuhr. Noch bevor ich ausstieg, sah ich auf die Uhr.
20:50 Uhr.
Noch zehn Minuten. Das reichte allemal, mir zu überlegen, ob ich Danny den Brief verheimlichen sollte oder ob er es einfach als Hirngespinst oder Streich abstempeln würde, wenn ich es nicht tat. So kannte ich ihn zumindest. Er war nie ein Mensch gewesen, der ernst sein konnte. Zumindest war er mir nie so begegnet. Vielleicht hatte ich heute Glück und er verstand, wieso ich so aufgewühlt war und konnte mir einen Rat geben. Ich würde ihm einfach den Brief geben und sehen, wie er reagierte. Ich brauchte jetzt jemanden, dem ich vertrauen konnte und der für mich eine Erklärung suchte, denn ich fand keine. Generell war mir auch nicht klar, warum ich dieses Schriftstück so bitterernst nahm. Hätte es nicht einfach gereicht, es in den Müll zu werfen und die Sache zu vergessen?
Ich starrte auf den Brief, untersuchte jedes Wort, ob vielleicht ein Sinn dahintersteckte, der sich beim Überfliegen nicht erschloss. Trotz aller Bemühungen schien ich keinen zu finden. Was war denn mit diesem Brief los? Oder mit mir? Wieso warf er meinen Alltag so durcheinander? Es waren doch nur ein paar Worte auf einem Stück Papier in roter Tinte geschrieben – und doch wollten sie mir etwas sagen und ich wusste nicht, was. Wieso bekam ein so unbedeutender Versicherungsangestellter denn diesen Brief? Was hatte ich getan, dass man mir so etwas schrieb? Wieso hielt es eine Person für so wichtig, sich mit mir zu treffen? Wieso gerade ich? Wieso nicht Danny, wieso nicht Eric in England?
20:55 Uhr.
Meine Handflächen wurden feucht. Ich machte mir zu viele Sorgen. Eric und Danny hatten den Brief eben nicht erhalten. Damit musste ich zurechtkommen.
Wieso war denn überhaupt die Tinte rot? Was wollte der Verfasser des Briefes damit bezwecken? Vielleicht war es ja ... Blut. Nein, so ein Unsinn. Warum sollte mir jemand solch einen Brief schicken, der mit Blut geschrieben war? Wieso überhaupt in Rot? Blaue oder schwarze Tinte hätte es doch auch getan.
Ich rieb mir den Kopf. Es warfen sich so nur noch mehr Fragen auf. Jetzt würde ich erst einmal mit meinem Freund etwas trinken und kein Brief sollte mir das vermasseln. Es einfach beiläufig anzusprechen und zu sehen, wie Danny reagierte, klang nach einer vernünftigeren Lösung.
20:57 Uhr.
Ich nahm den Brief, steckte ihn in die Jackentasche und betrat die Bar.
Es war stickig und roch nach Alkohol. Heute war die Bar hier gut besucht. Der Barkeeper redete mit einem Kunden am Tresen, einige Leute unterhielten sich laut lachend in den Ecken miteinander. Ich fühlte mich hier gar nicht wohl. Ich war immer mal wieder in Bars gewesen und irgendwie konnte ich dieser Örtlichkeit nie sonderlich viel abgewinnen. Selbst für eine normale Unterhaltung mit einem Drink war es hier einfach zu laut. Rauch lag in der Luft und es war bei dem Lärm schwierig, sich auf seine eigenen Gedanken zu konzentrieren. Wenn ich mich nicht mit Danny treffen würde, wäre ich schon längst wieder draußen gewesen.
Plötzlich sah ich ihn. Er saß an der Bar, allein und nippte an einem Bier. Als er mich sah, winkte er mir zu. Wir gaben uns die Hand; eine Geste, die sich bei uns über die Jahre einfach eingeschliffen hatte. Danny rieb sie sich angeekelt an der Hose ab.
»Mann, bist du verschwitzt. Wo warst du denn?«
»Nur daheim.«
Danny zuckte die Schultern, während der Barkeeper sein Gespräch unterbrach und sich mir zuwandte. Er wirkte sichtlich gestresst und schwitzte stark. Das konnte ich bei der schlechten Luft aber auch verstehen. »Was willst du trinken?«
Ich winkte ab. »Irgendetwas, aber ohne Alkohol.«
Danny zog eine Grimasse. »Junge, wenn du schon hier bist, trink was Gescheites. Bestell doch gleich ‘ne Limonade. Oder noch besser: stilles Wasser.« Ein Lachen konnte er sich nicht verkneifen.
»Vielleicht liegt das daran, dass wir morgen wieder arbeiten müssen?«
»Und was interessiert mich das? Ich will heute Abend Spaß haben.«
Langsam begann ich daran zu zweifeln, ob ich ihm den Brief wirklich zeigen sollte. Bei seinem aktuellen Zustand würde er ihn vermutlich sowieso nicht ernst nehmen. Ich entschied mich dafür, es zu tun, aber noch ein wenig damit zu warten.
»Na ja«, fuhr er fort, als er auf sein Getränk blickte. »Ist auch nur ein Radler.«
Ich lächelte. Dass Danny sich nicht gerne betrank, war mir schon recht früh klargeworden.
Der Barkeeper stellte den Cocktail auf den Tresen. Er hatte dabei diesen ›Oh je, der Junge hat wohl noch nie eine Bar von innen gesehen‹-Blick und lief gleich weiter zum nächsten Gast.
Virgin Colada. Der wohl harmloseste Cocktail, den er finden konnte. Ich nippte kurz daran. Na ja, immerhin kein Alkohol.
Ich ließ das Glas erst einmal stehen. Stattdessen wandte ich mich Danny zu. »Und, bist du mit meinem oder deinem Teil der Versicherungen fertig geworden?«
Mein Gegenüber grinste hämisch. »Ich nicht, aber die Kollegen. Du kennst mich doch. Du weißt, dass ich nicht gerne arbeite. Vielleicht kannst du dir ja den ein oder anderen Trick bei mir abschauen. Dann musst du dich auch nicht mehr so ins Zeug legen und hast früher Feierabend. Das wäre doch was. Das würde dir guttun. Aber willst du jetzt wirklich über die Arbeit reden?«
Ich kaute auf der Lippe herum. »Ich weiß. Vorgestern früh hat meine Nachbarin gesagt, dass ich viel zu lange arbeite. Man hat es mir wohl angesehen. Sie meinte, ich sollte mir freinehmen.«
»Lloyd. Warum tust du es dann nicht? Du siehst ganz schön scheiße aus.«
Danke? »Es ist nur – « Ich suchte nach den richtigen Worten. »Ich schlafe in letzter Zeit echt nicht gut.«
Danny hakte sofort weiter nach. »Und wieso? Hast du schlechte Träume, zu starken Kaffee oder was ist los?«
Ich überlegte kurz, nahm mein Glas in die Hand und nippte daran. Jetzt müsste ich ihm das mit dem Brief bestenfalls sagen, aber ich wusste nicht, wie er reagieren würde.
Ich nahm ihn aus der Jackentasche und legte ihn auf den Tisch. »Deswegen.«
Danny nahm sich das Papier und las es durch. Sein Gesicht wurde schlagartig bleicher. Schließlich klappte er es wieder zu und legte es auf den Tisch.
»Und? Was hältst du davon?«, fragte ich ihn. Einerseits interessierte mich seine Meinung, andererseits wartete ich quasi nur auf einen schlechten Witz als Antwort von ihm. Das bleiche Gesicht konnte auch gespielt sein.
Danny ließ sich für seine Antwort eine gefühlte Ewigkeit Zeit. Zumindest würde sie nicht so ausfallen, wie ich sie erwartet hatte, denn sonst wäre er nicht so ruhig.
»Also – «, setzte er an. Er nahm sich noch einmal den Umschlag und sah auf den Absender. »Weißt du, von wem der Brief ist?«
»Ich habe gehofft, du könntest es entziffern«, entgegnete ich.
Danny schüttelte den Kopf.
Ich hatte von ihm immer noch keine wirkliche Antwort bekommen. Vielleicht war das auch besser so, aber ich hätte mir eine gewünscht und es war mir egal, ob er dachte, dass es ein Scherz von jemandem war oder nicht.
»Weißt du, wieso ich ihn bekommen habe?«
»Weißt du es?«, wiederholte er.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Du kennst mich doch fast so gut, wie ich mich. Kannst du dir irgendeinen Grund zusammenreimen?«
Mit einem Zug trank Danny den Rest seines Radlers leer und rief dem Barkeeper zu: »Nochmal eins!« Dann wandte er sich wieder mir zu. »Sorry. Mir fällt wirklich nichts ein.«
Ich steckte resigniert den Brief zurück in die Tasche. Sein Verhalten als seltsam zu bezeichnen, wäre eine maßlose Untertreibung. So hatte sich Danny noch nie benommen. »Dir braucht nichts leid zu tun. Lassen wir das Thema. Trinken wir lieber einen und reden über andere Angelegenheiten.«
Danny nickte vorsichtig. Ich glaubte es fast nicht. Ein Brief, von dem ich angenommen hatte, er würde ihn für einen Streich halten, hatte ihn komplett verunsichert: Danny, den lebensfrohen Typen, der zu jedem Mist einen Witz riss. Danny, der sich selbst und sein Umfeld nie zu ernst nahm. Jetzt sah er wirklich nicht mehr so aus, als hätte er noch große Lust, mit mir zu reden. Als hätte ich ihm den Abend verdorben.
»Ist es meine Schuld, dass du nicht reden willst?«
Danny schüttelte den Kopf. »Es ist meine.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Was?«
»Vergiss es einfach. Lass uns trinken. Morgen müssen wir wieder arbeiten und da will ich heute nicht schlechte Laune bekommen.«
Ich seufzte. »Ich gehe morgen nicht arbeiten. Ich nehme mir Frau Morrisons Rat zu Herzen und schlafe den ganzen Tag aus. Kannst du mich entschuldigen? Ich gehe dann zum Arzt und schicke die Krankmeldung hin oder so.«
Danny kaute auf seiner Lippe. »Morgen bleibe ich auch daheim. Ich ruf bei Marco an und melde uns krank.«
Ich wollte gar nicht weiter fragen. Der gesamte Tag lief heute nicht nach meinen Vorstellungen und es war etwas vollkommen anderes eingetroffen als erwartet. Die Lust auf den Cocktail war mir inzwischen vergangen. Ich wollte nur noch nach Hause. Dannys aktuelle Art hätte mir jetzt einen Grund mehr gegeben, mich zu betrinken, denn er hatte sich bisher nie so verhalten. Aber zu jedem Schluck musste ich mich zwingen. Mein Hals war wie ausgetrocknet, die Augen müde, der Körper erschöpft. Ich würde morgen durchschlafen. Oder es zumindest versuchen. Mal sehen, ob es klappte.
»Können wir uns an einem anderen Tag treffen?«, schlug ich vor. »Ich bin müde.«
»Ich auch. Lass uns das auf irgendwann verschieben. Ich ruf dich an.«
»Okay.« Wir nahmen unsere Jacken und verließen die Bar.
Der Regen hatte aufgehört und der Himmel war beinahe wolkenfrei. Die Sterne leuchteten und der Mond erhellte die Wege dort, wo keine Laternen standen. Die Straßen waren menschenleer, die Lichter in den Häusern ausgeschaltet, obwohl es doch noch gar nicht so spät sein konnte.
Ein Blick auf die Uhr half leider nicht wirklich weiter. Sie war um 20:57 stehen geblieben, zu dem Zeitpunkt, als ich zum letzten Mal darauf gesehen hatte.
Erneut klopfte ich Danny auf die Schulter und er ging die Straße entlang. Ich sah ihm nach, bis er verschwunden war. Im Gegensatz zu mir hatte er keinen weiten Weg von seinem Haus zum Arbeitsplatz und zu der Bar. Er konnte zu Fuß gehen.
Ich sah gen Himmel. Es war beinahe Vollmond. Die Sterne leuchteten wunderschön und unerwarteterweise fror ich in dieser Nacht gerade nicht, im Gegenteil. Irgendwie fühlte ich mich wohl. In der Nacht hatten zwar viele Menschen Angst, aber es war meine Lieblingszeit. Hier konnte ich den Gedanken besser nachhängen als zu Hause und solange es nicht regnete, konnte ich noch eine Weile dastehen und die Ruhe um mich genießen.
Ich fühlte mich frei und froh, denn nichts beengte mich hier. Seltsamerweise war ich wieder hellwach. Als hätten mir der Mond oder die Sterne neue Kraft geschenkt.
Mir war sogar durch die Bar noch ein wenig warm. Daher zog ich meine Jacke aus und der Brief fiel auf den Boden. Während ich ihn aufhob, war mir plötzlich danach, ihn im Licht des Mondes und der Laterne noch einmal durchzulesen. Nun hatte ich das Gefühl, ich würde ihn verstehen, den Sinn, der hinter den Wörtern steckte. Meine Finger glitten vorsichtig über das Papier, als würde die Tinte verschmieren, wenn ich nur eine falsche Bewegung machte.
»Die Tinte kann doch gar nicht verschmieren. Die ist doch schon lange trocken«, sagte ich mir. Ich hielt den Brief so, dass der Mond darauf schien. So konnte ich die Worte besser lesen.
Die Tinte glitzerte im Mondlicht und es sah fast so aus, als würde sie einen Schatten werfen, als wäre sie dreidimensional. Ich konzentrierte mich auf die Formen des Schattens. Wahnsinn! Es entstanden vollkommen andere Wörter, die ich vorher nicht hatte lesen können. Es fiel mir zuerst nicht leicht, sie zu entziffern, doch schon nach kurzer Zeit ging es besser.
»In – drei – Tagen – sollst – du – im – Seepark – sein. Um – Mitternacht. Ich – warte – auf – dich.« Mehr stand da nicht. Moment. In drei Tagen? Ich hatte den Brief vorgestern bekommen. Das hieß, ich sollte also morgen im Seepark sein? Um Mitternacht? Jetzt glaubte ich ganz und gar nicht mehr dran, dass das ein Scherz sein sollte. Niemand würde sich solch eine Mühe für einen Witz machen. Aber wie ging das denn mit der roten Tinte? Das musste ein Trick sein, von dem ich noch nicht gehört hatte. Meine Gedanken fuhren Achterbahn. Was sollte das alles? Konnte jemand sich so sicher sein, dass ich die versteckte Botschaft im Brief erkennen würde?
Nach einigen Minuten stieg ich ins Auto und fuhr nach Hause. Ich wollte mich einfach ins Bett fallen lassen und ausschlafen. Es würde mir wirklich guttun, sich morgen freizunehmen.
Bevor ich die Tür öffnete, sah ich in den Briefkasten und es war tatsächlich etwas darin; ein Paket, kaum größer als ein Brief, umhüllt mit dickem Papier. Ich setzte mich auf mein Bett und sah nach, wer mir das Päckchen geschickt hatte. Jetzt war gar kein Absender mehr darauf und auch der Empfänger, also ich, fehlte. Offensichtlich hatte die Person das Paket persönlich eingeworfen.
Mit dem Fingernagel öffnete ich es und holte heraus, was ich darin vorfand. Ein Amulett oder eine Art Kette, kein Brief, nicht einmal ein Zettel. Lediglich dieser metallische Gegenstand. Ich hätte mir eine Erklärung erwartet, irgendetwas, das zeigte, dass es eindeutig mit dem Brief zu tun haben musste, den ich bereits bekommen hatte.
Argwöhnisch hielt ich das Amulett ins Licht. Es glitzerte leicht. In der Mitte war ein jaulender Wolf zu erkennen. Er wirkte erschreckend real, weniger wie eine simple Zeichnung oder eine Gravur. Eine silberne Farbe hinterlegte ihn.
Es wäre garantiert nicht schlau, es jetzt umzulegen; nicht nach diesem Brief, nicht nach Dannys Reaktion und einfach nicht nach allen Umständen. Mein Verstand schrie deutlich: ›Nein, lege das Amulett nicht um. Wer weiß, was das am Ende ist.‹ Womit er recht hatte. Welcher normale Mensch verschenkte denn ein Amulett, das so hochwertig schien, wie dieses hier?
Die Kette ließ sich nicht verstellen. Sie war jedoch gerade groß genug, um sie anzulegen. Irgendetwas in mir trieb mich dazu, es umzulegen, obwohl mein Innerstes sich dagegen sträubte. Doch die Neugier gewann, wie vorgestern bei dem Brief.
Das kalte Metall berührte meine Haut und ließ mich kurz frösteln, nur um sich nach kurzer Zeit warm und pulsierend anzufühlen. Beinahe pochend, als würde es leben und kein toter Gegenstand sein. Durch die Vibration hatte ich das Gefühl, als ob eine unnatürliche Wärme durch meinen Körper strömte. Als wollte dieses Amulett ein Teil von mir sein.
Noch bevor mich dieses Gefühl übermannen konnte, griff ich die Kette und zog sie nach oben. Doch es ging nicht. Wie jetzt!? Ich zog wieder und wieder, doch entweder war mein Kopf schlagartig gewachsen oder das Amulett geschrumpft. Es lag sehr eng um den Hals, aber nicht so, als dass ich keine Luft mehr bekommen würde.
Aufgebracht rannte ich ins Bad, betrachtete mich im Spiegel und spritzte mir Wasser ins Gesicht.
»Das ist doch alles nicht wahr!« Mit einem Mal fühlte ich mich unfähig, weil ich dieses verdammte Amulett nicht abbekam. Verzweifelt verließ ich das Bad und warf mich aufs Bett.
Es war wirklich merkwürdig. Es war wie mit dem Brief. Er war ganz plötzlich und unerwartet gekommen und ließ mich nicht in Ruhe. So auch jetzt. Ich musste wohl damit schlafen und es morgen noch einmal versuchen.
»Versuch einfach, es zu vergessen«, sagte ich mir. »Es wird dich nicht weiter stören, wenn du einfach nicht daran denkst.«
Nach einer ergebnislosen Untersuchung des Päckchens legte ich es auf den Küchentisch, damit ich es mir morgen früh genauer ansehen konnte. Da musste etwas an dem Paket sein, irgendeine Spur. Ich war mir so sicher, dass das der anonyme Kerl war, der mir schon den Brief geschickt hatte. Nur was war die Bedeutung dieses Amuletts oder Medaillons? In welchem Zusammenhang stand es mit dem Brief? Was wollte die Person von mir, gottverdammt? Langsam hielt ich diese Gedankenspielereien und Unklarheiten nicht mehr aus.
Müde schloss ich die Augen. Es konnte doch nicht so schwer sein, einfach zu schlafen.
Mit meiner Hand griff ich nach dem Medaillon, als ob ich es lösen könnte, doch das brachte nichts. Das wusste ich, doch ich fühlte mich so irgendwie besser.
Die Sonne schien durch das Fenster herein, meine Bettdecke lag neben mir, die Tür offen, der Schrank durchwühlt.
Grummelnd rieb ich mir den Kopf und versuchte, den letzten Abend Revue passieren zu lassen. Was war denn heute Nacht passiert? War ich einfach zu müde gewesen, um die Tür und den Schrank zu schließen? Gut möglich. Nur kam es mir nicht in den Sinn, dass ich nach etwas gesucht hatte.
Ich blickte in Richtung der Uhr, die normalerweise neben dem Schrank hing, während der Nacht aber auf den Boden gefallen war. Sicher nur ein Zufall oder meine mangelnden handwerklichen Fähigkeiten hatten einfach bei der Befestigung der Uhr versagt. Wäre nicht das erste Mal, wenn ich daran dachte, wie viele Bilder mir kurz nach dem Aufhängen schon wieder entgegengekommen waren.
Langsam stand ich auf. Mir tat jeder Knochen im Körper weh. So schlimm hatte ich mich bislang nie gefühlt. Überall Muskelkater, jede Bewegung war anstrengend. Eigentlich konnte ich noch eine Weile liegen bleiben, wenn ich mich eh schon krankmelden würde. Den Anruf konnte man sicherlich auch am Mittag absetzen. Aber den ganzen Tag im Bett zu liegen, war ebenso keine Lösung. Ich musste heute etwas essen und außerdem später im Seepark sein. Ich konnte endlich Antworten auf die Fragen finden, die sich mir in so kurzer Zeit ergeben hatten. Ich konnte diese Person damit konfrontieren, wieso sie mit diesem Brief mein Leben durcheinanderbrachte. Und wenn das alles wirklich nur ein schlechter Scherz war, dann würde ich das mein Gegenüber spüren lassen.
Ich bestrich mein Brot mit Marmelade. Das Paket auf dem Tisch konnte ich bislang relativ erfolgreich verdrängen. Nur was für Möglichkeiten gab es, was man heute tun konnte? Ich könnte ja Danny anrufen und ihn fragen, ob es ihm heute besser ging als gestern. Warum er sich so merkwürdig verhalten hatte. So war er sonst ja auch nie gewesen. Wobei ... Selbst ich musste zugeben, dass mein Interesse an dem Brief wesentlich stärker war, als es sein sollte.
Während ich auf dem Brot herumkaute, stellte ich fest, dass es trotz des fruchtigen Aufstrichs wenig Geschmack besaß. Nachdem mein Hungergefühl weitestgehend verflogen war, entsorgte ich den Rest in den Mülleimer, räumte ab, duschte und ging zum Telefon. Als ich meine Anrufliste betrachtete und Dannys Namen sah, zögerte ich. War es sinnvoll, ihn jetzt anzurufen? Was sollte ich sagen? ›Hey Danny. Geht es dir besser?‹ oder ›Junge, was war das denn gestern?‹ Beides wohl eine eher schlechte Idee.
Im letzten Augenblick überlegte ich es mir doch anders. Irgendwie fühlte ich mich schuldig. Nicht Danny gegenüber, sondern, weil ich nicht arbeitete, obwohl es möglich gewesen wäre. Immerhin konnte man so auf den Stress und irgendwelche Tiraden von Lanker verzichten, der einem beim geringsten Jammern immer erzählte, wie schwer es damals gewesen wäre, einen solchen Job zu bekommen und wie glücklich ich mich doch schätzen sollte.
Nach dem Überfliegen meiner Kontaktliste blieb ein Name bei mir hängen und ich betrachtete ihn mehrere Sekunden. Meine alte Schulfreundin Rebecca, die immer nur Becca genannt werden wollte. Obwohl wir beste Freunde in der Schule gewesen waren, hatte ich sie schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Ich besaß sogar noch ihre Handynummer. Sie hatte mir immer gesagt, sie wünschte sich einen Job, in dem sie nachts arbeiten konnte, um etwas vom Tag übrig zu haben. Schlaf war für Becca immer überbewertet gewesen. Jetzt, wo es schon halb zwölf war, müsste sie doch eigentlich erreichbar sein.
Nach kurzem Klingeln nahm eine Frau den Hörer ab. »Hochstett?«, ertönte die Stimme im Telefon.
Einen Moment überlegte ich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, es sein zu lassen. Sie würde mich zwar noch kennen, aber – ach ... ich wusste es doch auch nicht.
Einige Sekunden rang ich mit mir. Das musste ihr wohl aufgefallen sein. »Hallo?«
»Hi, hier ist Lloyd, Lloyd Vargen.«
»Lloyd!«, rief die Stimme voller Freude. Anscheinend hatte sie mich zumindest nicht vergessen. Das war schon mal ein gutes Zeichen und brachte mir ein Grinsen über die Lippen. »Wie geht es dir denn?«
»Gut. Weißt du, ich wollte dich fragen, ob du vielleicht mit mir heute einen Kaffee trinken gehen willst. Wir haben uns lange nicht mehr gesehen und vielleicht auch ein wenig zu erzählen oder so.«
Obwohl die Wahrscheinlichkeit für eine positive Antwort meiner Meinung nach recht gering war, zögerte sie keine Sekunde. »Gerne, warte mal kurz – « Im Hintergrund raschelte etwas. Es hörte sich an wie Papier. »Wann genau?«, erkundigte sie sich.
»Wäre heute Mittag in Ordnung?«
»Klar.«
»Im Café di Pedro?«
»Ist das bei der Bibliothek?«
Ich bejahte.
»Ah, das kenne ich. Gut, in zwanzig Minuten?«
Wow, das ging jetzt doch schneller als ich dachte. »Auf jeden Fall.« Ehe ich darüber nachdenken konnte, ob es in zwanzig Minuten überhaupt möglich war, dorthin zu kommen, waren die Worte schon aus mir herausgeschossen.
»Gut, bis dann.« Der Hörer klickte.
Einen erleichterten Seufzer konnte ich nun nicht mehr zurückhalten. Es hätte ihr ja auch etwas dazwischenkommen können. Trotz des kurzen Telefonats stellte sich bei mir ein vertrautes und warmes Gefühl ein, das ich gerade sehr genoss. Bei einem Getränk sprach es sich auch besser als am Handy und ich wollte heute Gesellschaft so lange es ging. Das lenkte mich von der noch ausstehenden Nacht ab.
Der Weg zum Café war nicht weit, denn ich wohnte in demselben Stadtteil. Ich zog den Weg durch den Park vor. Die Vögel zwitscherten fröhlich, das Wasser des Teiches plätscherte. Auf den Bänken saßen Anwohner mit Zeitungen oder ihren Smartphones und Senioren, die den Vögeln und Enten Brot zuwarfen. Es war schön anzusehen und es beruhigte mich, dass ich mich mit der mir unbekannten Person heute Nacht an einem normalerweise so malerischen Ort treffen würde.
Und dann kam mir der Gedanke, den ich den gesamten Morgen schon erfolgreich hatte verdrängen können. Hektisch fasste ich mir an den Hals! Es war noch da ... Eigentlich hätte ich es mir denken können und auch der jetzige Versuch, mich davon zu befreien, blieb erfolglos. Wieso sollte es dieses Mal klappen, wenn es gestern Abend schon nicht funktioniert hatte?
Mein Magen fühlte sich flau an. Ich war durcheinander und verängstigt und allein der Brief war daran schuld. Einerseits wollte ich die Person ja treffen, die ihn mir geschickt hatte, doch andererseits auch ein gewohntes Leben weiterführen, was sich durch das Treffen ändern konnte. Wenn man mir ein Amulett, Medaillon oder was auch immer es sein sollte hatte zukommen lassen, dann würde das sicherlich kein Scherz sein. Und das Treffen versprach nicht, eine einmalige Sache zu werden. Als ob jemand mir sagte: ›Hier, ein Geschenk für dich. Tschüss.‹ Dass dieses ganze Ereignis einen weitreichenden Einfluss auf mein Leben haben könnte, war mir durchaus bewusst. Nur war ich dafür wirklich bereit?
Ich schüttelte den Kopf. Es brachte nichts, noch weiter daran zu denken. Bis heute Nacht sollte ich das einfach vergessen, mit Becca einen schönen Mittag verbringen und entspannen, denn aus keinem anderen Grund hatten mir meine Mitmenschen geraten, freizunehmen.
Vor dem Café blieb ich stehen und wartete. Becca ließ mir gar keine Zeit, darüber nachzudenken, ob ich doch wieder umkehren sollte, denn kaum war ich da, bog sie um die Ecke und lächelte mich schon aus der Ferne an.
Wahnsinn. Becca sah definitiv nicht mehr aus wie in meiner Erinnerung. Früher war sie blond gewesen, heruntergekommene Klamotten, eine Brille und Pickel hatten sie ausgezeichnet. Es war damals schon klar gewesen, dass jeder, der sich mit ihr angefreundet hätte, genauso unbeliebt wie sie geworden wäre. Wir waren beide genau die Personen in der Schule gewesen, die von allen Seiten gemobbt worden waren. Daher war es nachvollziehbar gewesen, dass wir uns zusammengetan und angefreundet hatten. Ich erinnerte mich gerne an ihre liebevolle und fürsorgliche Art, wie sie sich um ihre eigenen Tiere und fremde auf der Straße gekümmert hatte. Ihre beinahe naive Art konnte ich nie vergessen, doch seit unserem Schulabschluss hatten wir bis heute nicht ein Wort miteinander gesprochen, was schade war.
Wäre ich nicht mit ihr befreundet gewesen, hätte ich Becca kaum erkannt. Jetzt trug sie keine Brille mehr, hatte um einiges abgenommen, ihre blonden Haare braun gefärbt und trug ein bauchfreies Top.
Unsere Begrüßung fiel weniger verhalten aus, als ich zuerst angenommen hatte. Ihre Umarmung war so vertraut, als hätten wir uns lediglich ein paar Tage nicht gesehen.
»Lloyd! Es ist schön, dich wiederzusehen. Ich erkenne dich kaum wieder.«
Dasselbe hätte ich von ihr auch sagen können. Zehn Jahre waren eine lange Zeit und ließen viel Raum für Veränderungen. Es war erstaunlich, wie sehr das bei Becca der Fall gewesen war.
»Dich erkenne ich auch kaum. Du hast ganz schön an dir herumexperimentiert.« Ich lächelte. »Mir gefällt es.« Herumexperimentiert? Ja, Smalltalk war wirklich überhaupt nicht meine Stärke.
»Lass uns reingehen. Ich würde gerne mit dir über die alten Zeiten reden. Es freut mich so, mit dir wieder Kontakt zu haben. Wieso hast du mich denn nicht schon früher angerufen?«
Ich kratzte mich am Kinn. Auf diese Frage fiel mir auch nichts ein. »Ich weiß es nicht. Habe es wohl eine Weile vor mir hergeschoben. In letzter Zeit klappt einfach nichts so richtig und dann dachte ich, ich könnte dich mal wieder anrufen. Sorry, dass es erst jetzt passiert ist. Hätte ich echt früher tun sollen.«
»Ach, ist nicht schlimm.« Tatsächlich wirkte sie so, als wäre es in Ordnung.
Ich nickte und wir betraten das Café. Es war gut gefüllt. Mir fiel allerdings sofort auf, dass in einer Ecke jemand saß, der mich direkt nach Betreten des Lokals in Augenschein nahm. Ein finsterer Typ mit langem Mantel, der den Blick nach einigen Momenten abwandte und sich seinem Heißgetränk widmete.
Wir setzten uns an ein Fenster, durch das die Sonne direkt auf den Tisch schien. Als der Kellner uns dann zur Kenntnis nahm, bestellte sie einen Cappuccino und ich einen Latte Macchiato.
»Also sag schon: Was hast du denn aus deinem Leben gemacht?«, erkundigte sie sich. »Was arbeitest du inzwischen eigentlich?«
Ich kratzte mich am Nacken, da ich nach wie vor nicht wusste, was ich sagen sollte. Obwohl Becca sehr hübsch geworden war, schien sie noch wie früher geblieben zu sein. »Ich bin das Mädchen für alles in einer Versicherungsagentur. Mehr schlecht als recht. Und du? Hast du es im Gegensatz zu mir zu was gebracht?« Sofort bereute ich die Worte, nachdem ich sie ausgesprochen hatte. Dieses verzweifelte Selbstmitleid. Ich hasste mich genau dafür. Stets hatte ich das Gefühl, ich konnte nichts und hätte weder die Fähigkeiten, noch die Möglichkeiten, etwas aus mir zu machen. Aber entsprach es nicht auch irgendwo der Wahrheit?
Becca lachte. »Denkst du, ich wäre Model oder sowas? Nein, ich habe eine kaufmännische Ausbildung gemacht und ein Studium drangehängt. Ich verdiene so viel, dass ich ganz gut davon leben kann. Und wie ich sehe, butterst du dich noch genauso unter wie früher.«
Ich staunte. »Ruhiges Leben?«
»Kann man so nicht sagen. Nachtschichten sind jetzt nicht das Gelbe vom Ei.«
Als der Kellner uns die Getränke brachte, griff Becca schon nach dem Cappuccino, noch bevor er ihn auf dem Tisch abstellen konnte.
Während sie einen Schluck trank, musterte sie neugierig meinen Hals. »Was hast du da? Eine Kette?«
Ich schluckte kurz, griff dann nach dem Medaillon und fuhr die Konturen des Wolfs mit den Fingern entlang. Sollte ich ihr sagen, dass ich es nicht freiwillig trug, sondern mehr oder weniger dazu gezwungen war? »Das weiß ich selbst nicht so genau. Da kam so ein komisches Paket gestern. Ich habe das Medaillon – oder was auch immer es genau ist – anprobiert und irgendwas muss sich verhakt haben. Ich krieg das Ding seitdem nicht mehr ab. Kannst du mir da vielleicht helfen?«
»Klar.« Becca ging um mich herum und versuchte sich an dem mysteriösen Mechanismus. Sie drehte daran herum, stocherte mit ihren Fingernägeln im Verschluss und gab es dann auf. »Was für ein komisches Ding. Hast du dich mal an wen gewandt, der sich damit besser auskennt? Mit so einem Ding solltest du auch nicht schlafen. Es besteht ja immer die Gefahr, dass man sich aus Versehen die Luft abschnürt.«
Ich nippte an meinem Getränk. »Ich weiß nicht. Mein Leben ist zurzeit ein wenig kompliziert. Ach egal. Reden wir lieber über früher. Wie sind deine letzten Jahre denn so gewesen?«
Morgen und Mittag verstrichen, nachdem wir ein Getränk nach dem anderen und schließlich dann eine Mahlzeit bestellt hatten, auch wenn es nur einige Stücke Kuchen waren.
Allmählich begann es, zu dämmern. Da es Winter war, setzte die Nacht schon früher ein.
»Es war toll, dich wieder zu treffen, aber ich glaube, so langsam sollte ich nach Hause.« Ich ertappte mich dabei, an den Punkt gekommen zu sein, an dem ich nicht mehr wusste, was ich zu ihr nach all den Stunden noch sagen sollte. »Morgen geht die Arbeit weiter. Ich habe mir heute eine Auszeit genommen, weil gestern einfach gar nichts mehr ging. Ich denke, es war eine gute Entscheidung. Irgendwie haben mir immer mehr Leute geraten, es zu machen. Ich sah wohl ganz schön fertig aus.«
Becca lächelte sanft. »Melde dich doch öfter. War schön, dich wiederzusehen.«
Wir standen beide auf und schoben die Stühle heran.
»Die Rechnung geht auf mich«, entschied ich.
Becca lachte. »Komm, mir geht es besser als dir im Moment. Lass mich das bezahlen.« Obwohl sie es nur gut meinte, merkte sie gar nicht, wie schlecht es mir damit ging, sie die Rechnung bezahlen zu lassen. Es hinterließ ein Schuldgefühl, das sich anfühlte, als müsste ich mich dafür revanchieren.
Ich konnte nicht verbergen, wie unangenehm mir das war, sodass ich rot anlief. »Das musst du nicht. Ich habe auch Geld.«
Sie legte 30 Euro auf den Tresen vor den Kellner, der gerade einen Kaffee vorbereitete. »Das wird den Bedarf für meinen Freund und mich decken. Der Rest ist für Sie.«
Becca hatte mich wirklich ihren Freund genannt? Ich glaubte es beinahe nicht, dass sie mich nach so vielen Jahren nicht nur als Bekanntschaft ansah, sondern immer noch als ihren Freund. Irgendwie machte mich dieser Gedanke glücklich.
Auch der Mann hinten im Café stand auf, was jeder mitbekam, da er mit seinem Stuhl am Tischbein hängen blieb und es zu einem lauten Rumpeln kam. Er war anscheinend so lange dageblieben, wie wir. Wieso überhaupt? Eigentlich sollte es mich nicht interessieren, doch ich hasste es, beobachtet zu werden. Und wenn er jetzt aufstand, würde es mich nicht überraschen, wenn er entweder Becca oder mir nachstellte. Vielleicht war das nur ein Zufall, wohl ein unwahrscheinlicher, aber es konnte doch auch einer sein.
»Es war sehr schön«, sagte Becca, während wir das Café verließen. »Ich meine, dich wiederzusehen.«
»Auf jeden Fall. Ich werde dich definitiv bei Gelegenheit nochmal anrufen.«
Becca hakte weiter nach. »Versprichst du es?«
»Na klar.«
»Dann ist ja alles gut.« Sie ging einen Schritt weiter auf mich zu und küsste sanft meine Wange.
Die Berührung kitzelte ein wenig und fühlte sich warm an. Ich hatte wirklich einen Kuss bekommen. Erstaunt wurde ich rot und lächelte verlegen. Dann wurde es für mich schnell doch unangenehm. Sie hatte mich auf die Wange geküsst und ich stand wortlos mit offenem Mund da und wusste nicht, was ich sagen sollte. »Ehm, danke.«
Wir verabschiedeten uns mit einer Umarmung und gingen getrennte Wege.
Obwohl ich es womöglich nicht sollte, blieb ich noch einmal stehen und sah ihr hinterher, als sie um die Ecke bog. Auf irgendeine Art bereute ich es, doch es war schön, solange es angedauert hatte. Es war, als hätte ich mich in meine alte Schulfreundin verliebt. Nach einem einzigen Treffen? Unter all den Umständen, den Sorgen, der Angst, die gerade vorherrschten? Ich hatte nicht Zeit, mich zu verlieben. Und jemand wie Becca hätte jemand Besseren haben können als mich. Aber warum dann dieser Kuss? Oh Mann. Ich war mir doch auch nicht sicher.
Zu Hause angekommen fiel mein Blick auf die virtuelle Anzeige der Mikrowelle. Ich hatte noch fünf Stunden. Es war kurz nach sieben.
Teilnahmslos nahm ich die Fernbedienung in die Hand und drückte ein paar Knöpfe, ohne dabei den Fernseher einzuschalten. Mir war gerade nicht wirklich danach, fern zu sehen. Stattdessen legte ich mich auf die Couch und starrte die Decke an. Jetzt dauerte es nicht mehr lange bis zu dem Treffen, das ich so sehnsüchtig erwartete, teilweise aus Angst, teilweise erwartungsvoll.
Die Kirchturmuhr läutete zweimal. Es war halb zwölf. Auch der Alarm, den ich mir zur Erinnerung eingestellt hatte, klingelte und riss mich aus meinen Gedanken. Der Seepark lag einige wenige Kilometer entfernt in einem Teil von Salbrun, den man mit dem Auto nur schwer erreichen konnte.
Ich zog die Jacke an und verließ das Haus. Da der Weg so weit war, hatte ich genug Zeit, um darüber nachzudenken, was hier überhaupt gespielt wurde.
Also: Ich hatte einen Brief bekommen, in dem von einem Treffen in 30 Tagen im Seepark die Rede gewesen war, was aber nicht stimmte, da der Termin ja heute stattfand. Wenige Tage später hatte ich das Medaillon erhalten, es angelegt und konnte es bis jetzt immer noch nicht abnehmen. Als ich den Brief Danny gezeigt hatte, war seine Reaktion so eigenartig gewesen, als kannte er die Bedeutung oder enthielt mir irgendeine Information vor.
Das war alles ineinander verstrickt und ich erhoffte mir endlich die Antworten, die ich gerne gehabt hätte.
Während ich die Straßen entlangschritt, ließ ich die Ruhe der Nacht auf mich wirken. Nachts fand ich mich in der Stadt besser zurecht als tagsüber und fühlte mich auch wohler, wenn nicht so viele Menschen hektisch um mich herumliefen und laute Alltagsgeräusche die Stille unterbrachen.
Dann fiel mir der Brief wieder ein. Sollte ich ihn vielleicht mitnehmen? Nein. Wieso denn auch? Sollte der Verfasser seinen selbstgeschriebenen Brief zurückhaben wollen? Wohl eher nicht.
Lichter schwirrten um mich herum wie Glühwürmchen, als ich an den Häusern vorbeilief. Die Laternen leuchteten hell und in einigen Wohnungen brannte noch Licht.
Ich zwang meine Gedanken, sich nicht mehr um das zu drehen, was bald geschehen würde, sondern ging beinahe emotionslos die Straße entlang und ließ die Atmosphäre der leeren Stadt auf mich wirken.
Und dann kam ich an. Der Park war von einer unheimlichen Schwärze durchzogen und ein leichter Nebelschleier lag in der Luft, der das Gelände düster und mysteriös wirken ließ. Der Park war groß und unübersichtlich, vor allem im Dunkeln. Wenn ich mich recht erinnerte, hatte Salbrun dafür sogar einmal einen Preis bekommen, da er erstaunlich unberührt war und dafür, dass er nicht als Wald zählte, doch ziemlich groß war. Ich ging weit hinein. Vielleicht lag das auch daran, dass ich nicht wusste, wohin ich genau gehen sollte. Sollte ich mich von der Zivilisation Salbruns weiter entfernen oder doch versuchen, in der Nähe der Stadt zu bleiben? Nach einigen hundert Metern erkannte ich eine Parkbank, auf die ich mich setzte und wartete. Da sowieso nicht beschrieben worden war, wo genau im Park man sich treffen sollte, konnte diese Person sicher auch zu mir kommen, während ich hier wartete.
Dann setzte allmählich die Nervosität ein. Bis eben hatte ich erfolgreich meine Angst vor der Dunkelheit verdrängen können, nun kam sie jedoch wieder zum Vorschein. Man hörte ja immer öfter von Fällen, in denen Menschen an einsamen Orten entführt oder ermordet wurden. Und wenn ein Ort gerade einsam war, dann dieser hier.
Zu allem bereit, aber doch unsicher, blickte ich mich um. Und tatsächlich! Aus der Ferne kam ein Mann auf mich zu. Man konnte lediglich seine Silhouette erkennen, aber als er näherkam, bemerkte ich, dass es der Fremde aus dem Café war. Sein Blick schien an mir vorbei zu gehen und einen unbekannten Punkt in der Ferne zu fixieren. Das Rascheln der Blätter im Wind legte sich, selbst die Grillen blieben still. Man konnte keine Autos mehr hören, nur noch die Schritte, die der fremde Mann durch das nasse Gras machte. Egal, was jetzt passierte, es würde mir nicht gefallen. Vor mir blieb er dann stehen.
»Bist du die Person, die den Brief geschickt hat?«, fragte ich zögernd.
Mein Gegenüber offenbarte mir nicht einmal sein Gesicht.
»Trägst du das Medaillon?«, fragte er mich. Seine Stimme war furchterregend und vollkommen emotionslos. Sie war tief und er rollte das ›R‹, wie ein Russe, der es nicht anders gelernt hatte. Mir lief es eiskalt den Rücken herunter. In der Großstadt mochte seine Stimme zwar unscheinbar und überhörbar sein, doch hier, kombiniert mit dem Nebel des Parks, der Nacht und seinem schwarzen Mantel, wirkte sie beunruhigend und gefährlich.
Ich fasste an meinen Hals und holte das Medaillon so hervor, dass er es sehen konnte.
»Gut.« Mit der Geste eines seiner Finger wies er mich an, ihm zu folgen. Das tat ich dann auch.
Wir liefen lange geradeaus und ich sah Bäume, die ich in diesem Park vorher noch nie gekannt hatte. Mit der Zeit wurde aus diesen paar Bäumen ein ganzer Wald.
Wo waren wir denn überhaupt? Sicher nicht mehr im Seepark. Den kannte ich gut genug, um zu wissen, dass das hier ein anderer Ort sein musste, an dem ich noch nie gewesen war. Aber wie konnte das sein?
Ich sparte mir jede Frage auf, damit ich sie ihm stellen konnte, wenn wir dort waren, wo er hinwollte.