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In den Neunzigern begann das Internet als Abenteuer. Grenzenlos, anonym, verlockend. Für Max war es der Ort, an dem Freundschaften entstanden, Geheimnisse geteilt und Fehler gemacht wurden, die längst vergessen schienen. Heute arbeitet er als Cybercrime-Ermittler – rational, kontrolliert, weit entfernt von der digitalen Unschuld seiner Jugend. Doch ein aktueller Mordfall zwingt ihn, alten Spuren zu folgen: Chatlogs, Musik, Erinnerungen. Alles wirkt wie ein Echo aus einer anderen Zeit. Und jemand scheint diese Vergangenheit besser zu kennen als er selbst. Logout ist ein Cyber-Krimi über digitale Identität, vergessene Spuren und das, was nie wirklich gelöscht wird. Zwischen Popkultur, 90er-Nostalgie und moderner Ermittlungsarbeit entsteht eine Geschichte über Geheimnisse, Verbindungen und den Versuch, der eigenen Vergangenheit zu entkommen – bevor man von ihr eingeholt wird.
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Seitenzahl: 188
Veröffentlichungsjahr: 2025
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© 2025 Copyright, Dominik Stauber
https://logout.dsta.dev/
1. Auflage, 2025
Dominik Stauber, c/o COCENTER, Koppoldstr. 1 86551 Aichach
Cover-Artwork erstellt von Miloš Kostić @HarveyDentMD
Herstellung durch epubli, ein Service der neopubli GmbH
Köpenicker Straße 154a 10997 Berlin
Kontaktadresse: [email protected]
The cake is a lie!
recovered note, test chamber 16,
Aperture Science Enrichment Center
(author unknown)
»Boah, das ist krass hier«, flüsterte Nico, während er die Taschenlampe seines Smartphones über die Wände des alten Raums schweifen ließ. Der schwache Lichtstrahl enthüllte mehrere alte Tische, die grob in Reihen aufgestellt waren, zerbrochene Stühle und alte Computer. »Wie habt ihr das überhaupt gefunden?«
Es war eine Art Internetcafé und wirkte wie eine Zeitkapsel aus einer längst vergangenen Ära. An den Wänden hingen zerfledderte Poster von Spielen wie Counter-Strike, Half-Life und World of Warcraft. Die Tische waren mit dicken Staubschichten bedeckt, auf manchen lagen immer noch Tastaturen und Mäuse.
In einer Ecke ein alter Röhrenmonitor mit gesprungenem Gehäuse, der von einem dichten Spinnennetz überzogen war, daneben eine vergilbte Tastatur mit fehlenden Tasten.
Ein Snackautomat, längst außer Betrieb, stand an der Wand, seine Glasfront zerbrochen. Die Regale waren gefüllt mit leeren CD-Hüllen, DVDs und VHS-Kassetten. Ein paar alte LAN-Kabel hingen wie Schlangen von der Decke.
»Mike hat's entdeckt«, antwortete Lisa, während sie auf einem Tisch saß und eine leere Cola-Dose in der Hand hielt. »War letztens, als wir nachts nach Hause gefahren sind. Die Hintertür war einen Spalt offen, also ist es jetzt unser Geheimversteck.«
»Geheimversteck?«, fragte Paul mit einem breiten Grinsen. »Sind wir jetzt die scheiß Drei Fragezeichen?«
»Halt die Klappe«, erwiderte Lisa, warf die Dose in seine Richtung, aber verfehlte ihn knapp. Die Gruppe lachte leise. Es war spät und die Stille draußen machte den Raum noch unheimlicher, als er ohnehin schon war.
»Krass, guck mal hier!«, rief Nico, der sich einen der riesigen Tower-PCs ansah. »Die Teile sind uralt. Und hier diese fetten Röhrendinger. Wie hießen die nochmal?«
»Die hießen auch damals schon Monitor, du Idiot«, murmelte Lisa, während sie nähertrat.
»Kann man die überhaupt noch benutzen?«, fragte Nico und klopfte vorsichtig auf das Gehäuse. Der dumpfe Klang hallte durch den Raum. »Das ist doch wie aus der Steinzeit.«
»Und trotzdem irgendwie cool«, sagte Mike, der sich an einen alten Stuhl gelehnt hatte. Er zog an einem der Kabel. »Hier haben die bestimmt früher gezockt. So richtige LAN-Partys, mit Pizza und allem.«
»Mein Bruder hat davon erzählt«, fügte Lisa hinzu. »Das war damals, bevor alles online ging.«
Nico wollte gerade etwas erwidern, als ein leises Kratzen an der Tür zu hören war. Alle verstummten. Dann Schritte, ein dumpfes Klopfen.
Paul stand sofort auf. »War das draußen?«, flüsterte er und griff instinktiv nach einem alten Stuhlbein, das auf dem Boden lag.
»Beruhig dich«, sagte Lisa und rollte die Augen. Doch auch ihre Stimme zitterte leicht. »Ist bestimmt der Wind oder so.«
In diesem Moment öffnete sich die Hintertür. Das Knarren der Scharniere schnitt durch die Stille. Im Türrahmen stand eine schmale Gestalt, kaum zu erkennen im spärlichen Licht. Die Taschenlampe in der Hand der Person war auf den Boden gerichtet, doch der Umriss war genug, um die Gruppe innehalten zu lassen.
»Wer zur Hölle?«, begann Paul, aber die Gestalt trat bereits langsam näher. Die Taschenlampe bewegte sich nach oben, und ein blasses Gesicht mit emotionslosem Ausdruck wurde sichtbar. Es war eine Frau, vielleicht Ende zwanzig, mit schmalen Schultern, die seltsam zerbrechlich wirkte.
»Was macht ihr hier?«, fragte sie mit einer Stimme, die ruhig klang, aber eine Kälte mit sich brachte, die allen eine Gänsehaut verursachte.
»Was wir hier machen? Was machst du denn überhaupt hier?« warf Mike zurück und verschränkte die Arme. »Wir haben's zuerst gefunden. Also verpiss dich.«
»Ich brauche diesen Raum«, flüsterte die Frau und trat noch einen Schritt näher. Ihr Blick wanderte über die Gesichter der Gruppe, als würde sie jeden kurz mustern. »Ihr solltet gehen. Bitte! Geht einfach.«
»Sonst was?«, fragte Paul, der immer noch das Stuhlbein in seinen Händen hielt, »Glaubst du, wir lassen uns von dir einschüchtern?« und ging einen Schritt auf die Frau zu.
Lisa lachte nervös, doch die Stimmung im Raum wurde zunehmend angespannter. Die Frau wich keinen Schritt zurück. Langsam zog sie einen kompakten Elektroschocker aus ihrer Jackentasche und richtete ihn auf die Gruppe.
Plötzlich schossen zwei feine Drähte hervor und bohrten sich in Pauls Brust. Ein scharfes Zischen ertönte, sein Körper zuckte unter der Entladung. Er stöhnte auf, sackte in sich zusammen, und das Stuhlbein krachte auf den Boden.
Für einen Moment herrschte absolute Stille. Dann hob Paul ruckartig den Kopf, zitternd, aber wieder bei Bewusstsein. »Fuck!«, schrie Nico und sprang zurück. »Die ist irre!«
»Los, weg hier!«, rief Mike und schnappte sich Lisas Arm. Gemeinsam stürmten sie zur Vordertür hinaus, die von innen problemlos zu öffnen war, während Nico Paul aufhalf und ihn mit sich zog.
Draußen, in sicherer Entfernung, keuchte Lisa: »Warum hat die uns angegriffen?«
»Keine Ahnung«, sagte Nico und stützte immer noch Pauls schwankenden Schritt.
»Sollen wir nicht die Polizei rufen?«, fragte Lisa und schaute schuldbewusst zurück zum Gebäude.
»Und was sagen wir denen? Dass wir in ein verlassenes Gebäude eingebrochen sind? Vergiss es!«
»Paul, alles okay mit dir?«, fragte Nico hastig. Paul stöhnte schwach, löste sich dann aber von Nico und konnte selbst weiterlaufen.
»Mir geht's schon wieder gut, echt jetzt. Lasst uns einfach hier weg!«
Max schob die Bürotür mit einem leichten Seufzen auf und ließ seinen Blick über die halbhohen Trennwände gleiten, die den Großraum in Arbeitsinseln unterteilten. Die Geräuschkulisse war vertraut: das Klappern von Tastaturen, das leise Murmeln von Stimmen und das gelegentliche Summen eines Druckers. Es war ein typischer Morgen in der Cybercrime-Einheit der Kölner Kriminalpolizei.
»Moin, Chef«, grüßte ihn Daniel, ein junger Kollege mit einem Faible für Popkultur und Gaming. »Habe dir schon Kaffee gemacht.«
Er hob dankbar die Tasse an. »Danke, Daniel. Etwas Spannendes passiert?«
»Routine«, antwortete Daniel und wedelte mit einem Ausdruck in der Hand. »Bedrohung auf Social Media gegen eine Influencerin. Angeblich weiß er, wo sie wohnt.«
»Was haben wir schon?«
»Nicht viel. Das Profil ist offensichtlich ein Fake. IP-Adresse springt über drei Länder. Klassischer Amateur, der sich für clever hält.« Daniel grinste. »Lässt sich aber zurückverfolgen, bin mir sicher, du bekommst das schnell hin.«
Max nickte und ließ sich an seinem Schreibtisch nieder. Sein Computer erwachte surrend zum Leben, und er öffnete die vertrauten Programme. Er rief die Akte des Falls auf und überflog die Details.
Die Influencerin war eine aufstrebende Fitness-Bloggerin, die auf Instagram zehntausende Follower hatte. Der Täter hatte ihr eine Reihe von Nachrichten geschickt, angefangen mit Beleidigungen hin zu direkteren Drohungen »Ich weiß, wo du wohnst, und ich mache dich fertig!«
»Die klassische Mischung aus Neid und Größenwahn«, dachte Max, während er begann, die Daten zu sortieren. Er prüfte die Screenshots der Nachrichten, die Serververbindungen und die IP-Adressen. Der Täter hatte VPN-Dienste genutzt, um seinen Standort zu verschleiern.
»Okay, mal sehen, ob du wirklich so clever bist.« Er begann, die Logs der Social-Media-Plattform genauer zu analysieren. Er suchte nach möglichen Anomalien wie IP-Adressen, die sich zu schnell änderten oder ungewöhnlichen Login-Zeiten.
Ein Eintrag stach heraus. Der Zugriff einer IP aus Deutschland, welcher nicht durch einen VPN-Dienst verschleiert war. Hier wurde wohl ein einziges Mal vergessen, das VPN zu aktivieren.
Schließlich entdeckte er ein anderes Social-Media-Profil mit Zugriffen der gleichen IP-Adresse, welches ebenfalls auffällig oft mit dem Account des Opfers interagiert hatte. Ein Jugendlicher, dessen Beiträge sich durch aggressive Kommentare und Beleidigungen auszeichneten.
Ein paar Stunden später hatte Max den Täter zurückverfolgt: ein Teenager aus Pulheim, dessen Profil mehr Rechtschreibfehler als Inhalte aufwies. Die Adresse führte zu einem unscheinbaren Reihenhaus, wie Google Street View schon verriet, bevor er überhaupt hinfahren musste.
»Soll ich das übernehmen?«, fragte Daniel, als Max die Daten ausdruckte.
»Klar, gern«, antwortete Max, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und nahm einen Schluck von seinem inzwischen kalten Kaffee. »Aber vergiss nicht: Erst mal ruhig mit den Eltern sprechen. Der Junge hat wahrscheinlich nur Langeweile.«
Daniel nickte grinsend und schnappte sich die Ausdrucke. »Ich schaffe das. Und keine Sorge, ich lasse meinen Charme spielen.«
Am Nachmittag kehrte die typische Ruhe ins Büro zurück. Max nutzte die Zeit, um Berichte zu schreiben und ein paar ältere Fälle zu prüfen, die bisher nicht abgeschlossen waren. Es war der Alltag eines Cybercrime-Spezialisten. Lange, monotone Stunden vor Bildschirmen, unterbrochen von kurzen Momenten, in denen sich das Puzzle plötzlich zusammensetzte.
Kurz vor Feierabend kam Daniel zurück, die Akte des Social-Media-Falls unter dem Arm und setze sich auf den freien Bürostuhl neben Max. »Die Eltern waren geschockt. Der Junge hat alles zugegeben. Dachte, es wäre witzig. Die Mutter hat ihn fast zum Heulen gebracht. Wir haben ihn für ein Gespräch mit einem Sozialarbeiter vorgemerkt.«
»Gut. Er sollte begreifen, dass so etwas ernste Konsequenzen haben kann.« Er hielt kurz inne und fügte hinzu: »Macht ihm klar, dass bei Wiederholung strafrechtliche Schritte folgen können. Bedrohungen im Netz sind kein Spaß.«
Daniel hob den Daumen. »Ist doch schon erledigt. Der Sozialarbeiter wird ihm das auch noch mal eintrichtern.«
»Sag mal, Max«, fügte er fast hastig hinzu, »kennst du eigentlich Monkey Island?«
Er blinzelte und sah ihn mit leichtem Stirnrunzeln an. »Monkey Island? Natürlich. Das hab ich früher gespielt. Piraten, Rätsel lösen, Guybrush?«
Daniels Gesicht hellte sich auf. »Ja genau! Guybrush Threepwood! Der Möchtegern-Pirat schlechthin. Das war ein Klassiker von 1990.«
Max lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte. »Ja, ich erinnere mich noch, dass es ziemlich knifflig war. Ich habe Stunden gebraucht, um dieses komische Schwertkampf-Duell zu gewinnen. Da musste man korrekt auf die Beleidigungen der Gegner reagieren.«
Daniel lachte. »Das mit den Beleidigungen ist legendär! Weißt du, das war das Besondere an dem Spiel. Du konntest keinen normalen Schwertkampf gewinnen. Es ging nur, wenn du die richtigen Beleidigungen auswendig gelernt hast.«
»So ganz genau erinnere ich mich nicht mehr, das ist schon ein paar Jahre her.«
»Tja«, erklärte Daniel, »die Gegner haben dich beleidigt, und du musstest mit einer klugen Antwort kontern. Zum Beispiel, wenn der Gegner sagte: "Du kämpfst wie ein dummer Bauer!", dann musstest du antworten: "Wie passend, du kämpfst wie eine Kuh.", nur so hast du gewonnen.«
Max lachte und schüttelte den Kopf. »Das klingt heute ein wenig albern, aber damals hat es echt Spaß gemacht. Stimmt, ich hatte mir die Antworten alle aufgeschrieben.«
Daniel fügte eifrig hinzu: »Ursprünglich sollte es ein ganz normaler Schwertkampf werden, die Idee mit den Beleidigungen kam den Entwicklern dann spontan. Ich hab' das neulich in einem Podcast gehört, da erzählen die, wie solche Spiele entstanden sind.«
»Du hörst Podcasts über Spiele, die du selbst nicht gespielt hast?«
»Ja, klar«, entgegnete Daniel. »Das ist wie eine Geschichtsstunde. Sie sprechen über die Technik und die Hintergründe, wie die Spiele damals gemacht wurden. Voll spannend.«
Max schüttelte leicht ungläubig den Kopf. »Also ich verstehe ja, wenn man sowas spielt, aber sich das nur anzuhören?«
»Es ist wie eine Zeitreise«, sagte Daniel begeistert. »Und die Geschichten hinter den Spielen sind oft interessanter als die Spiele selbst. Kennst du das Baumstumpf-Rätsel?«
»Baumstumpf? Sag mir nichts.«
»Man findet im Spiel einen Baumstumpf. Wenn man ihn anschaut, sagt Guybrush, dass er hinein gehen könnte, aber anschließend fordert das Spiel an, dass man die Disketten 22, 36 und 114 einlegen soll.«
»So viele Disketten hat das Spiel doch gar nicht?«
»Richtig, es sollte ein Witz sein. Aber die Leute haben es nicht als solchen verstanden und es haben so viele bei der LucasArts-Hotline angerufen, dass dieses Easter Egg in der nächsten Version entfernt werden musste.«
»Klingt, als würdest du zu viel Zeit mit sowas verbringen«, meinte Max und grinste schief.
»Vielleicht ein bisschen«, gab Daniel zu und stand auf. »Wenn du magst, schick ich dir den Link zu dem Podcast. Könnte dich interessieren.«
Max hob abwehrend die Hand. »Ich glaube, ich bleibe bei Musik. Aber danke.«
»Dein Verlust«, erwiderte Daniel grinsend und ging zurück Richtung seines Schreibtischs.
»Wo ist eigentlich Dirk heute?«, rief Max noch hinterher.
Daniel drehte sich um, lief rückwärts weiter, sagte »Home Office«, während er mit seinen Fingern in der Luft imaginäre Anführungszeichen malte. Mit einem breiten Grinsen bog er dann doch in Richtung Kaffeeküche ab.
Gerade als Max seine Sachen packte, kam Sabine Köhler, seine Vorgesetzte, auf ihn zu. Sie war eine gute Chefin, hatte stets den Überblick, war fair, duldete jedoch meist keinen Widerspruch und formulierte Befehle meistens als Bitte.
»Max, ich habe eine Bitte«, sagte sie, wie erwartet, und verschränkte die Arme. »Jemand muss für das Wochenende die Rufbereitschaft übernehmen. Dirk hat gerade spontan abgesagt, irgendwas Persönliches.«
Max seufzte leise. »Aha, deshalb wohl auch Home Office? Ich nehme an, es gibt keine anderen Freiwilligen?«
»Nicht wirklich«, antwortete Sabine. »Aber ich wusste, auf dich kann ich zählen.«
Er lächelte, denn er hatte in Wirklichkeit gar keine Wahl. »Alles klar, ich übernehme.«
»Danke«, sagte Sabine, klopfte ihm kurz auf die Schulter und verschwand wieder.
Die Entscheidung, Köln zu verlassen, war ihnen nicht leichtgefallen. Max und Hannah hatten jahrelang in einer modernen Wohnung mitten im Herzen der Stadt gelebt. Das Viertel war lebendig, voller Bars, Cafés und Menschen, doch die Geräuschkulisse war zur Dauerbelastung geworden.
Abends drang Musik aus der Bar gegenüber durch die Fenster, nachts hallten Schritte und Stimmen von Nachbarn über das Treppenhaus und morgens wurden sie von hupenden Autos geweckt, die sich durch den Berufsverkehr quälten.
Der Wendepunkt kam an einem heißen Sommerabend 2023. Max saß mit einer Akte auf dem Sofa, Hannah sortierte Fotos auf ihrem Notebook am Küchentisch und plötzlich brach in der Wohnung über ihnen ein wie so oft lautstarker Streit aus. Schreiende Stimmen, dumpfe, wutgeladene Schritte.
Hannah hatte sich das schon so oft gedacht, bei jedem Streit, bei jedem unerträglichen Geräusch. Sie sah auf und sagte: »Das reicht! Ich will hier nicht mehr wohnen.«
Nach wochenlanger Suche fanden sie dieses kleine Haus in Brühl, einem ruhigen Vorort von Köln. Es war nicht perfekt. Die Küche war altmodisch und der kleine Garten bestand im Grunde nur aus Moos und Unkraut. Doch der Gedanke an eine eigene Haustür, die sie hinter sich schließen konnten, war unwiderstehlich.
»Es ist genau das, was wir brauchen«, hatte Hannah gesagt, als sie das Haus zum ersten Mal besichtigten.
Der Umzug fühlte sich dann wie ein Befreiungsschlag an. Endlich keine lauten Nachbarn mehr, keine ständigen Staus vor der Haustür, stattdessen erwachten sie jetzt zu Vogelgezwitscher, das durch die offenen Fenster drang. Ihr kleines Wohngebiet war ruhig und freundlich.
Und Hannah blühte in der neuen Umgebung regelrecht auf. Als Hochzeitsfotografin war sie oft unterwegs, doch sie genoss es, nach einem langen Arbeitstag in ihr kleines, ruhiges Zuhause zurückzukehren. Endlich hatte sie einen Raum in ihr eigenes Büro verwandeln können. Ihre besten Fotos hingen überall an den Wänden und auf einem Beistelltisch stand eine uralte iPod-Dockingstation mit dem zugehörigen iPod nano.
Neue Musik auf dieses Gerät zu spielen, war eine Aufgabe für Stunden, aber Hannah war musikalisch irgendwo in den 2000ern hängen geblieben und die Playlist war seit fünf Jahren unverändert.
Manchmal saß sie am Abend auf der Terrasse mit einem Glas Wein in der Hand, während die Sonne hinter den Häusern verschwand. Die Kamera neben ihr immer griffbereit, um den perfekten Moment einzufangen.
Max brauchte etwas länger, um sich an den längeren Arbeitsweg zu gewöhnen. Doch mit der Zeit erkannte auch er die Vorzüge ihres neuen Lebens. Und heute lief alles gut, kein Stau und er war überpünktlich zu Hause angekommen, wo Hannah bereits auf ihn wartete.
Sie hatte die Idee, den freien Nachmittag für einen Ausflug ins Grüne zu nutzen. »Lass uns die Sonne genießen, bevor sie wieder verschwindet«, hatte sie gesagt.
Als sie durch die Eifel fuhren und die Sonnenstrahlen auf die sanften Hügel fielen, spürte Max, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatten.
Max hatte auch hier Hannahs Lieblingsplaylist laufen lassen. Eine absurde Mischung aus Songs sämtlicher Genres der 90er und 2000er, die er selbst teilweise kaum kannte, aber Hannah alle mitsingen konnte. Hier folgte Eminem auf Celine Dion und Sido wechselte sich mit den No Angels ab.
»Schon verrückt, wie viel Zeit seit damals vergangen ist«, sagte Hannah und lehnte sich entspannt in den Sitz zurück.
Er lächelte, ohne den Blick von der Straße abzuwenden. »Ja. Und dann wiederum denke ich an all die Dinge, die wir in der Zwischenzeit erlebt haben, und frage mich, wie das alles in so wenig Zeit gepasst hat.«
Hannah drehte den Lautstärkeregler des Radios ein wenig herunter, gerade genug, dass die Melodie im Hintergrund blieb. »Ich meine, denk mal darüber nach: Wenn wir uns damals nicht kennengelernt hätten, wo wären wir dann heute?«
Max warf ihr einen kurzen Seitenblick zu. »Du meinst, wenn du mich nicht aus meiner Komfortzone gezerrt hättest?«
Hannah grinste. »Sag ruhig, dass ich dich gerettet habe.«
»Das würde ich nicht ganz so formulieren«, erwiderte Max, mit einem gespielt nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Aber … nur vielleicht, hast du einen kleinen Anteil daran, dass ich heute nicht komplett sozial inkompetent bin.«
Sie erreichten schließlich einen kleinen Parkplatz am Rand des Waldes. Der Frühling hatte die Landschaft in ein lebendiges Grün getaucht, und die Vögel zwitscherten vielleicht sogar ein wenig zu laut. Hannah packte ihre Kamera aus der Tasche, während Max die Wanderkarte studierte, die an einer Holztafel befestigt war.
»Okay, Mrs. Ich-habe-ihn-gerettet, wie wäre es, wenn du mich nochmal rettest und mir sagst, welchen Weg wir nehmen?«
»Da kommen wir zu einem Aussichtspunkt«, sagte sie, während sie auf eine der Linien zeigte. »Wenn wir Glück haben, ist dort nichts los und wir haben unsere Ruhe.«
Max folgte ihrem Blick und nickte. »Klingt gut. Lass uns gehen.«
Sie folgten einem schmalen Pfad, der sich durch das Unterholz schlängelte. Kleine Bäche durchschnitten das Moos, das sich wie ein grüner Teppich über die Steine zog. Der Boden war feucht und das Plätschern des Wassers vermischte sich mit dem gelegentlichen Rauschen der Blätter im Wind.
Hannah blieb immer wieder stehen, hob die Kamera an und suchte nach dem perfekten Motiv.
»Das Licht hier ist schön.« Sie drehte am Fokusring, trat einen Schritt zur Seite, um die Sonnenstrahlen einzufangen, die durch das Blätterdach fielen.
Max ließ ihr Zeit, ging aber langsam weiter. Sein Blick glitt zu den hohen Bäumen, deren Wipfel sich sanft im Wind wiegten. Die Stille war angenehm.
Als sie einen besonders dichten Abschnitt des Waldes erreichten, blieb er kurz stehen und sah zurück. Nicht, weil ihn bewusst etwas störte, sondern nur so. Instinktiv. Aber dort war niemand.
Hannah bemerkte es. »Alles gut?«
Max zuckte mit den Schultern. »Ja. Ich dachte … da wäre jemand.«
Kurze Zeit später öffnete sich der Wald und gab den Blick auf eine kleine Lichtung frei. Das Gras leuchtete im warmen Abendlicht, ein schmaler Trampelpfad führte hinab zu einem Hügel, von dem aus man die Felder in der Ferne sehen konnte. Eine alte Holzbank stand ein wenig abseits, mit verwitterten Armlehnen und leicht schief.
Er ließ sich darauf nieder, streckte die Beine aus und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Die Sonne lag angenehm warm auf seiner Haut, der leichte Wind trug den Duft von Gras heran.
Hannah hingegen konnte nicht lange stillsitzen und fing die Aussicht mit ihrer Kamera ein.
Max lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen. Hier ließ es sich aushalten.
Er erinnert sich gern an den Anfang ihrer Beziehung: Er hatte sich eher widerwillig in die eine Buchhandlung in der Kölner Innenstadt geschleppt. Eigentlich suchte er nur nach einem Geschenk für seine Schwester, die nächste Woche Geburtstag hatte, doch die endlosen Regale schienen ihn eher zu überfordern als zu inspirieren.
Er wanderte ziellos durch die Gänge, den Blick abwechselnd auf die Regale und den Boden gerichtet, bis er an der Ecke mit den Harry-Potter-Büchern innehielt. Sein Blick fiel auf eine junge Frau, die an einem der Regale stand. Ihre dunkelblonden Haare waren zu einem lockeren Zopf gebunden, und ein paar Strähnen hatten sich gelöst und fielen sanft in ihr Gesicht.
Sie trug nur ein schlichtes, weißes Shirt und Jeans, und doch sah sie für Max aus, als wäre sie einer Kartei für Topmodels entsprungen. Es war nicht nur ihre Erscheinung, sondern die Art, wie sie das Buch in den Händen hielt. Und wie sie leicht den Kopf neigte, während sie las.
Sie strahlte eine Mischung aus Selbstbewusstsein und sanfter Ruhe aus, die ihn gleichzeitig faszinierte und einschüchterte. Er konnte seinen Blick nicht abwenden, fühlte sich jedoch sofort unwohl bei dem Gedanken, dass sie ihn bemerken könnte. Was, wenn sie ihn für einen Idioten hielt? Doch die Idee, einfach weiterzugehen, ohne ein Wort zu sagen, fühlte sich genauso falsch an.
»Welches Haus?«, hatte er zögernd gefragt, die Stimme unsicher, aber doch entschlossen, irgendwie das Gespräch zu starten.
Hannah sah auf, etwas überrascht. Dann erwiderte sie mit einem schiefen Grinsen »Hufflepuff. Obwohl ich manchmal denke, ich wäre eher eine Gryffindor. Und du?«
Max zuckte mit den Schultern und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Slytherin. Aber ich schwöre, ich bin einer von den netten.«
Hannah lachte laut, und Max konnte nicht anders, als mitzulachen. »Einer von den Netten? Gibt es das überhaupt?«
»Absolut. Wir sind die seltene Art, die im Schatten arbeitet, um den Helden zu helfen, ohne dafür jemals Dank zu erwarten«, sagte Max und hob dramatisch die Hand, als würde er einen Eid schwören.
»Also ein versteckter Held?«, fragte sie, ihre Augen blitzten amüsiert.
»Oder ein Schurke mit Prinzipien«, erwiderte Max und für einen Moment herrschte eine angenehme Stille, die nur von der leisen Hintergrundmusik aus der Lautsprecheranlage der Buchhandlung durchbrochen wurde.
Es lief Bittersweet Symphony von The Verve, und Max hatte das Gefühl, dass sein Leben einen eigenen Soundtrack bekam.
Er wusste damals nicht, dass diese zufällige Begegnung in der Buchhandlung der Beginn von allem war, was ihm heute wichtig ist.
»Ist irgendwas Spannendes auf der Arbeit passiert?«, fragte Hannah plötzlich und riss ihn aus seiner Erinnerung.
Max brauchte einen Moment. »Wenn du Retro-Spiele als spannend bezeichnest, vielleicht.«
»Retro-Spiele?«
»Daniel hat mich heute aus dem Nichts nach einem alten Videospiel gefragt, also ob das damals gespielt habe.«
Hannah sah ihn überrascht an. »Der Daniel, der normalerweise nur über Grafikleistung und High-End-Hardware redet?«
»Genau der. Plötzlich schwärmt er von LucasArts-Adventures, als hätte er die 90er persönlich miterlebt. Er hatte irgendwelches obskures Wissen über Monkey Island.«
Die beiden setzten sich wieder in Bewegung und gingen zurück Richtung Parkplatz, während sie weitersprachen.
»Hat er das Spiel plötzlich entdeckt, oder wie kommt er drauf?«
»Hat wohl einen Podcast darüber gehört«, antwortete Max.
Hannah kicherte leise. »Und dir erzählt er das, weil du alt bist, hm?«
»Wow, danke.«
Sie neigte etwas den Kopf. »Und? Hat er dich überzeugt, dir den Podcast auch anzuhören?«
»Ich bleibe bei Musik. Und ich bin nicht alt!«
