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Der 11-jährige Lomi aus dem Jahr 1492, ein Ziegenjunge, fällt bei der Jagd im verbotenen Wald durch ein Zeitenfenster und landet im Jahr 2016. Zunächst findet er sich kaum zurecht und lernt mit Johannes einen vermeintlichen Helfer kennen. Doch mit Hilfe des Bauernjungen Sammy lernt er die Errungenschaften der Neuzeit, angefangen vom einfachen Fahrrad bis zum Handy, zu begreifen und verstehen. Doch nicht alle meinen es gut mit ihm. Vor allem dieser Johannes und auch Sammy´s Schwester Kathi sind ihm nicht so wohlgesonnen. Sein Heimweh wird unerträglich und er muss sich vor seinen Widersachern in Acht nehmen. Wird es ihm trotzdem gelingen, in seine Heimat und ins Mittelalter zurückzukehren?
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Seitenzahl: 255
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Betty Golding
Lomi – zwischen zwei Welten
Reihe, Band, Nr.1
Betty Golding
Lomi
Zwischen zwei Welten
Kinderbuch
Impressum
Texte: © 2022Copyright by Betty Golding
Umschlag:© 2022Copyright by Betty Golding
Verantwortlich
für den Inhalt:Elisabeth Plötz
84030 Ergolding
Druck:epubli–ein Service der Neopubli GmbH,Berlin
Die steinerne Brücke erstrahlte in der Morgensonne. Obwohl Regensburg noch etliche Kilometer weit weg lag, konnte man das Hufgetrappel der Pferde von dort hören, die die Karren in die Stadt zogen. In diesem Jahr, 1492, waren viele Kaufleute und Fremde in der Stadt, so dass reger Warenaustausch herrschte. Dadurch florierte der Handel in der Stadt. Jedoch die armen Landbewohner und Bauern merkten nicht viel davon.
Weiter stromaufwärts, vor einer armseligen Hütte aus Holz lag ein kleiner, mit viel Mühe errichteter Bauerngarten, in dem Gemüse wuchs, mit einem Bretterzaun aus unbesäumten, naturbelassenen Bretterladen. Karotten, Rüben, Lauch, Sellerie, alles was man für die tägliche Nahrung selbst ernten konnte, wuchsen in diesem kleinen Feld. Kaum erreichte der erste Sonnenstrahl die Talsenke und tauchte diese in gelbrotes Licht, als schon die Türe der Hütte aufgestoßen wurde und Lomi, der 11-jährige Sohn des Landpächters heraus gestürmt kam - nicht all zu groß - etwa 1,30 m und von schmaler Statur. Ungewaschen und ungekämmt, den Schlaf gerade so aus den Augen heraus gerieben, lief er ins Freie. Sein erster Blick galt dem Wetter. Doch da brauchte er sich diesmal keine Sorgen machen. Die Sonne ging über dem Wald auf und kein Wölkchen trübte den Himmel. Aber es war noch ziemlich kalt. Herausgelockt durch sein Rufen und Schreien folgten ihm acht Ziegen aus der Hütte, allesamt braun und weiß, manche mit Hörnern und andere ziemlich kräftig gebaut. Es waren auch zwei Kitzlein darunter. Einige der Elterntiere reichten dem zierlichen Jungen bis zur Armbeuge. Dennoch war er mit der Versorgung und Betreuung der Tiere von morgens bis abends beauftragt. Sie waren der wertvollste Besitz der Familie. Lomi steckte zwei Finger in den Mund und pfiff ein Signal. Sofort folgten ihm die Tiere. Morgens war es noch sehr kühl, denn Ende April hatte die Sonne noch nicht genügend Kraft, um die Luft und den Boden zu erwärmen. Trotzdem war der Junge barfuß und nur in seiner Strumpfhose ähnlichen braunen Hose und seinem moosgrünen Wams unterwegs. Doch Lomi fror selten, dazu war er zu quirlig. Er preschte mit seinem Stecken um die Ziegen und trieb sie zur Eile. Immer wieder klopfte er auf den Rücken oder die Flanke der einen oder anderen Ziege, wenn sie ihm zu langsam erschien. Seine angenehme Stimme war den Tieren vertraut. Der Tau unter seinen Füßen knirschte noch und leichter Nebel lag über der Gegend. Manche Ziegen blieben stehen und zupften von den Grasbüscheln am Wegesrand, aber der Junge trieb sie stetig vorwärts. Und er hatte ein strammes Tempo drauf. Nach einem Fußmarsch von etwa einer halben Stunde entlang des Bachs, gegenüber dem herzoglichen Wald, wurden sie langsamer. Erst als sie die Wiese, „seine Wiese“, auf der nördlichen Seite des Bachs erreichten, gönnte er sich etwas Ruhe und den Tieren Zeit zum Fressen. Er setzte sich auf einen großen Granitstein, streckte sich erst einmal ordentlich durch und holte sein kleines graues Messer aus der Tasche. Diese hing an seinem Gürtel, mit dem sein Oberteil und seine Hose zusammengehalten wurden. Er hatte das Messer immer dabei. Es war ein Geschenk seines Vaters. Mit seinen langen feingliedrigen Fingern umklammerte er den Griff und zog den Schneideschutz ab. Neben seinem Rastplatz wuchs ein noch sehr kleiner Weidenstrauch. Davon brach er einen etwa fingerdicken Zweig ab. Er begann, daran herum zu schnitzen, er war ein Meister im Weidenpfeiflein basteln. Das machte er oft, wenn ihm langweilig war und keine besonderen Vorkommnisse unter den Tieren herrschten. Fröhlich sang er eine einfache Melodie vor sich hin. Er sang gerne und auch wunderschön, doch nur für sich und die Ziegen. Eigentlich hätte er jetzt Zeit gehabt, etwas zu essen, denn sein Magen knurrte verdächtigt. Aber, wie so oft, hatte er in aller Eile wieder vergessen, seinen Brotbeutel umzuhängen, den ihm die Mutter bereitgelegt hatte. Das passierte ihm fast jeden zweiten Tag. Darin wären aber doch nur wieder eine Möhre und ein Apfel und ein Brotschnitz gelegen. Jedoch kannte er sich gut genug aus, um Pflanzen und Beeren zu bestimmen, die auf der Wiese wuchsen und die er bei allzu großem Hunger essen konnte. Seine Mutter hatte ihm viel Wissen über Heilpflanzen und Kräuter beigebracht. Und auch Lesen und Schreiben beherrschte er, trotz seines niedrigen Standes. Obwohl er sich aus dem „Garten der Natur“ bedienen konnte, war ihm Ziegenmilch viel lieber. Er sollte zwar nach dem Willen des Vaters die Ziegen untertags nicht melken, weil sie sonst am Abend weniger Milch gaben. Doch das ignorierte er. Deswegen steckte er sein Messer weg und duckte sich kurzerhand unter eine der größeren weißen Mutterziegen und begann zu melken, von der Zitze in seinen kleinen zierlichen Mund. Ah.., das schmeckte ihm. Überhaupt waren seine Gesichtszüge sehr zart und fein, wie die seiner Mutter. Er wäre gerne etwas größer und kräftiger gewesen, denn sein Wunsch war es, Junker oder Knappe am herzoglichen Hof zu werden. Ritter würde er auch gerne werden. Davon träumte er, wenn er in der Mittagssonne im Gras lag, einen Halm im Mund zum Darauf-Herum-Kauen und die weißen Wolken am Himmel betrachtete. Doch das blieb nur ein Traum. Das musste er sich aus dem Kopf schlagen. Dazu war er in den falschen Stand geboren.
Mit einem weißen Milchbart, aber satt, setzte Lomi sich nach ein paar Minuten wieder im Gras auf und spähte nach seinen Tieren. Alles schien in Ordnung. Dennoch: irgendetwas stimmte nicht. Plötzlich wurden die Ziegen unruhig, liefen aufgeregt hin und her. Lomi versuchte, den Grund für das merkwürdige Verhalten zu erkennen. Er zählte seine Tiere ab: eins, zwei, drei …. Es fehlt doch eine! Wo war Storli geblieben. Die jüngste und zarteste Ziege, eigentlich sein Liebling, war verschwunden. Sie war erst vor drei Monaten geboren worden und noch völlig unerfahren. Erschrocken und nervös rannte er wie ein Wiesel das Weidegebiet ab. Von Angst erfüllt, blickte er in alle Richtungen. Er konnte das kleine Zicklein nicht finden. Sorgenfalten breiteten sich auf seiner Stirn aus, er raufte sich seine schulterlangen braunen Haare. Wo sollte er suchen? Er musste sie finden! Seine Eltern wären außer sich vor Wut! Wieder und wieder zählte er seine Ziegen. Es waren nur sieben, obwohl es doch acht sein müssten. Er dachte an das, was ihm sein Vater beigebracht hatte: erst einmal Ruhe bewahren und die Umgebung absuchen. Hastig rief der nach dem Tier. Lomi blickte zum Himmel, suchte nach einem Adler, der eventuell das Tier getötet haben könnte. Aber nichts. Ein Fuchs oder sogar ein Wolf, welche das Tier gerissen haben könnten, kämen auch noch in Frage. Das wäre zwar ungewöhnlich hier auf der Wiese, aber auch da war nichts zu sehen. In dem Fall hätte er sowieso nichts mehr machen können. Aber Lomi gab nicht auf. Sein Herz pochte wie wild und der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Er hatte den festen Willen, das Tier zu finden. Irgendwo musste diese kleine Ziege sein. Verzweifelt rannte er hin und her. Lomi lief zu dem reißenden Bach und suchte das Ufer ab. Er durchwühlte jeden Strauch und Busch mit seinen Händen, als er schließlich ein Jammern und Blöken hörte. Trotzdem konnte er das Tier nirgends entdecken. Was, wenn das Tier in den Bach gefallen war und zu ertrinken drohte. Lomi konnte doch nicht schwimmen, er könnte es niemals aus dem Wasser ziehen. Außerdem hatte er Angst vor dem Wasser. Der Bach war sehr angeschwollen durch das Schmelzwasser und hatte eine starke Strömung. Lomi stand davor und fühlte sich hilflos. Er suchte mit seinen eisblauen Augen das Wasser entlang an beiden Seiten ab. Was, wenn man nur von der anderen Seite helfen konnte? Zum anderen Ufer konnte man nur über einzelne Steine an einer ganz bestimmten Stelle gelangen. Eine Brücke gab es nicht. Lomi traute sich nur zusammen mit seinem Vater über den Bach, alleine war er noch nie drüben. Außerdem war es jedermann verboten, den herzoglichen Wald zu betreten. Wer beim Betreten oder Wildern und Fallenstellen erwischt wurde, hatte mit einer gnadenlosen Strafe zu rechnen. Panik stieg in ihm auf. Wieder und wieder suchte er die Grasbüschel ab. Unentwegt rief er den Namen der Ziege. Aber er hörte nur ein leises Wimmern. So sehr er sich auch anstrengte, er konnte sie nicht finden. Hätte er doch nur einen Hütehund gehabt, der hätte das Tier schon längst aufgespürt! Nach einer gefühlten Ewigkeit entdeckte er ein weißes Fellbündel im hohen Gras an der Uferböschung, etwa einen halben Kilometer von seinem ursprünglichen Weideplatz entfernt. Erleichterung machte sich in ihm breit. Gott-sei-Dank, das Tier war nicht tot. Lomi scheuchte die anderen Ziegen, die ihm gefolgt waren, in die Mitte der Weide und lief so schnell er konnte hin. Hoffentlich hatte es sich nicht verletzt oder ein Bein gebrochen, sonst müsste es geschlachtet werden. Und das war alles seine Schuld, weil er nicht aufgepasst hatte! Er war durch sein Schnitzen unachtsam gewesen und hatte die Tiere nicht ständig kontrolliert. Innerlich machte er sich Vorwürfe. So etwas war ihm noch nie passiert. Und dabei machte er diese Hütearbeit seit zwei Jahren. Wie würde sein Vater reagieren und würde er bestraft werden dafür? Er wäre bestimmt sehr enttäuscht von ihm. Die Tiere waren für seine Familie Lebensgrundlage. Sie verkauften die Milch und den Käse und konnten sich ein karges Zubrot dadurch verdienen in dieser ärmlichen Zeit. Da zählte jedes Tier! Solche Gedanken quälten ihn, während er sich dem Tier immer mehr näherte durch das Gestrüpp. Er musste sich durch die vielen Zweige kämpfen, die ihm den Weg versperrten. Endlich erreichte er es. Die Ziege lag am Boden und strampelte mit den Hinterläufen, wehrte sich gegen etwas. Es schien irgendwie gefesselt zu sein. Lomi konnte aber aus seinem Standort nicht feststellen, was da los war. Er sah nur das hilflose Tier, das um seine Freiheit kämpfte. Schließlich erreichte er die Stelle, an der die Ziege lag. Erst einmal versuchte er, sie zu beruhigen. Er bückte sich und streichelte sie und redete beruhigend auf sie ein. Seine sanfte Stimme hatte bisher noch bei jeder Aufregung Ruhe zu den Tieren gebracht. Doch diesmal war das gar nicht so einfach, das zappelnde Etwas zu besänftigen. Lomi kniete sich nieder und kraulte Storli liebevoll zwischen den Ohren. Redete unentwegt auf die Ziege ein. Mit raschen Blicken untersuchte er das Tier äußerlich. Zunächst konnte er keine Verletzung feststellen. Aber warum lag das Tier dann am Boden? Erst bei genauerem Hinsehen sah er es: Die Ziege war in eine Falle getreten und hatte sich mit dem Hinterlauf in einer Schlinge verfangen, so dass sie nicht mehr aufstehen konnte. Das Seil war an einem Stock in der Erde befestigt und hatte sich um das Hinterbein zugezogen. Lomi konnte sich das nicht erklären. Wer macht denn so etwas? Am Rande einer Wiese eine Falle zu stellen. Genauso gut hätte er sich in dieser Schlinge verfangen können. Nicht auszudenken, wenn er gestürzt wäre und sich ein Bein gebrochen hätte!
Lomi und sein Vater waren schon auch oft auf der Jagd, aber mit Pfeil und Bogen. Oder sie jagten Hasen und Rebhühner im herzoglichen Wald, verbotenerweise. Aber dazu brauchte man keine Schlingfallen! Solche hatten sie noch die verwendet und Lomi fand es grausam, ein Tier so leiden zu lassen, bevor man es tötete. Überhaupt konnte er keinem Tier was zu leide tun. Jagen und Fallen stellen war die eine Sache, aber das Tier töten und das Fell abziehen die andere. Das brachte er nicht übers Herz. Lomi hatte nichts gegen einen Braten, aber Fleisch war auf dem Speiseplan sehr selten und wenn, dann war es ein richtiger Festtagsschmaus. Gemüseeintopf, das war das tägliche Mahl. Lomi konnte sich nicht erklären, wer mitten auf „seiner“ Wiese eine solche Falle erstellt hatte. Er musterte die Falle ganz genau. Das mussten Fremde gewesen sein. Oder galt die Falle doch ihm? Vielleicht waren es wieder die sog. „Kinderfänger“, die ahnungslose und elternlose Kinder von der Straße abfingen und sie zu den Reichen brachten, damit sie dort wie Sklaven arbeiteten. Von solchen Dingen hatte er gehört. Seine Phantasie kannte da keine Grenzen und er fürchtete sich vor solchen Geschichten.
Er nahm sein kleines Messer und befreite die Ziege, schnitt den Strick durch und trug das verängstigte Tier auf den Armen zurück zur Herde. Sein Gesicht war jetzt glühend heiß von der Anstrengung. Ob er seinen Eltern davon erzählen würde? Das Tier hatte glücklicherweise keine Verletzung erlitten und sprang, zwar noch zaghaft, zu seiner Mutter. Lomi fiel ein Stein vom Herzen. Erschöpft sank er im Schatten einer Weide auf die Wiese nieder. Aber seine Gedanken und seinen Herzschlag konnte er nicht beruhigen!
Er malte sich aus, was geschehen wäre, wenn nicht das Tier, sondern er in der Falle gelegen und verletzt wäre. Doch er hatte auch seine eigene Vermutung. Jemand, den weder er noch sein Vater leiden konnte, könnte es gewesen sein! Vielleicht war das ja ein Rachefeldzug, weil in seinem Revier ab und zu ein paar Hasen und Rebhühner fehlten. Zuzutrauen wäre es demjenigen. Lomis Blick verfinsterte sich und er spuckte förmlich voller Wut die Worte aus: „Das war wahrscheinlich wieder dieser neue herzogliche Jäger, der uns nicht leiden kann. Aber dem zahle ich es zurück!“
„Lothar-Michael“ – diesen Namen benutzte Lomis Mutter immer, wenn sie ärgerlich und wütend war auf ihn. Es waren die Namen seiner Großväter, nach denen er benannt war. Aber außer seiner Mutter verwendete diesen niemand. Er war einfach immer nur Lomi. Bei allen und jedem hieß er nur so. Gerade aber war seine Mutter so sauer darüber, dass er auch auf die dritte Aufforderung, endlich aufzustehen, nicht reagierte. Wenn sie aber seinen Taufnamen verwendete, wusste Lomi, dass die Situation ernst wurde. Eigentlich war Lomi schon ein Frühaufsteher, aber ihm saß der Schrecken des Vortages noch so in den Knochen. Seine Gedanken kreisten um die Erlebnisse des gestrigen Tages. Müde reckte und streckte er sich und langsam räkelte sich bis er sich schließlich doch aus dem Strohsack schälte, der ihm als Schlafstätte diente. „Guten Morgen“, raunte er in die Stube. Aber außer seiner kleinen Schwester Irmi war niemand da. Sie war erst 8 Jahre alt, hockte in ihrem beigen Leinenkleid barfuß auf dem Boden und kaute gelangweilt an einem Stück harten Brot herum. Seine Mutter war schon aus der Hütte in den kleinen Garten zum Unkrautjäten verschwunden. Da er mit seiner Schwester nicht viel gemeinsam hatte – sie war rotblond, hatte braune Augen und war noch etwas pummelig – gab Lomi sich auch nicht gern mit ihr ab. Sie war ihm noch zu „kindlich“. Er aber wollte schon erwachsen sein – obwohl er mit seinen 11 Jahren noch weit davon entfernt war. Gesprächig war Lomi am Morgen nie. Außer einem Morgengruß oder „ja“ und „nein“ konnte man ihm nicht viel entlocken. Auch Irmi, die sonst munter drauf los plapperte, war still. Nachdem die Mutter nicht im Haus war und ihn nicht ermahnen konnte, verzichtete Lomi auch auf die Morgenwäsche. Mit seinen langen Fingern fuhr er sich durch die Haare, schüttelte diese und rieb sich mit etwas Spucke die Augen aus. Das sollte als Morgentoilette genügen. Schnell zog er sein langes Leinennachthemd aus und schlüpfte in seine Hose und sein Oberteil. Den Gürtel mit der Messertasche umgeschnallt, durchschritt er die Stube. Irmi sah zu ihm auf:„Vergiss nicht wieder den Brotbeutel“, rief ihm seine Schwester nach, während er schon an der Brettertüre stand. Sie deutete auf den Tisch, auf dem sein Jutebeutel lag. Rasch griff Lomi danach und hängte ihn sich über die Schulter, ohne einen Blick hinein zu werfen. Es würde eh nur wieder das gleiche darin sein, wie immer: etwas Gemüse, ein alter Apfel und hartes Brot. Aber immerhin besser als gar nichts. Lomi schlüpfte durch die Türe.
Jetzt wurde es aber wirklich Zeit, denn die Ziegen waren schon ungeduldig und scharrten mit den Hufen. Vom Vater bereits gemolken, standen sie vor der Hütte zum Abmarsch bereit. Doch sein Vater war nicht zu sehen. Als herzoglicher Gärtner ging er schon früh morgens nach der Melkarbeit seinem Beruf nach. Er war sehr geschickt im Umgang mit Blumen und der Landschaftspflege. Der Herzog konnte sich keinen besseren Mann vorstellen, dennoch war er ein Knecht. Der Morgen war wieder extrem kühl und in diesem Jahr wollte es einfach nicht Frühling werden. Wenn es gerade mal nicht regnete, war der Himmel bedeckt und die Temperaturen waren nicht höher, als die im November. Die Sonne ließ sich nur selten blicken, aber wenn, dann war es gleich wieder so extrem heiß, dass einem die Schwüle den Schweiß ins Gesicht trieb. Aber aus dem Wetter machte sich Lomi nichts. Es war, wie es eben war. Da konnte er weder nachhelfen noch etwas ändern. Nach einem kurzen Gruß und einem Winken zu seiner Mutter hin, die mit ihrer Schürze und ihrem Kopftuch und den Holzpantoffeln im Gemüsebeet stand, packte Lomi seinen Hütestab und trieb die Tiere durch lautes Rufen und Pfeifen auf den Fingern an. Sie scharten sich um ihn. Wie jeden Tag machten sie sich zügig auf den Weg zu den Weidegründen. Die Tiere hatten Hunger und liefen eilig neben ihm her. Tagaus, tagein war es der gleiche Ablauf. Aber Lomi liebte diese Regelmäßigkeit. Er brauchte die frische Luft und das Gehen, er liebte die Natur und vor allem seine Ziegen. Manchmal nahm ihn sein Vater mit in die Stadt, nach Regensburg – damals Ratisbona genannt. Doch der Trubel, die vielen Leute und der Gestank in den Straßen schreckten ihn ab. Es gab zwar immer wieder Neues zu sehen und zu entdecken, da Lomi aber eher schüchtern und zurückhaltend war, stellte das immer wieder eine Herausforderung an ihn dar.
Jeden Tag suchte sich Lomi eine andere Weidestelle aus. Er war froh, heute nicht noch einmal auf „seine“ Weide am Bachufer zu gehen, denn er wollte nicht noch einmal so einen Schrecken erleben wie am Tag zuvor. Deswegen beschloss er, nach rechts Richtung Moor zu gehen. Das war zwar auch eine gefährliche Stelle, aber er konnte die Tiere in einer Senke gut beisammenhalten. Nur wer tiefer in das Moor eintrat und vom Weg abkam, musste mit den Gefahren des Moors rechnen. Die Strecke dorthin dauerte heute etwas länger, weil er einen großen Bogen um das herzogliche Schloss und die Parkanlagen machen musste. Aber es lohnte sich. Das Gras dort war sehr hoch und die Tiere konnten sich richtig satt fressen. Außerdem wuchsen hier viele Heilkräuter, die den Tieren und ihrer Milch richtig guttaten. Kaum angekommen, fingen die Ziegen auch schon an zu grasen und Lomi konnte sich beruhigt auf eine kleine Anhöhe setzen und sie beobachten. Hier drohte ihnen keine Gefahr, wenn er dafür sorgte, dass sie nicht zu weit ins Moor liefen. Auch Adler und Wölfe mieden das Moor. Er ließ sie heute kaum aus den Augen. Besonders die kleinen Zicklein behielt er ständig im Blick. Lomi liebte den Ziegennachwuchs und holte sie auch ab und zu auf seinen Schoß, um sie zu streicheln. Ganz vernarrt war er in sie und er hatte jeder seiner Ziegen einen Namen gegeben, auch wenn sein Vater fand, dass das unsinnig war. So konnte Lomi sie wenigstens gut auseinanderhalten und sie hörten tatsächlich auf ihre Namen.
Lisi, Bene, Mori, Karli, Mona und Rita nannte er die erwachsenen Ziegen und die beiden kleinen jungen Zicklein Storli und Bärli. Jede hatte ihre Eigenheiten, ihre unverwechselbare Fellfarbe und auch Horn- und Augenfarbe waren unterschiedlich.
Bei dem bedeckten Himmel an diesem Tag konnte Lomi nur schwer die Zeit feststellen – wie lange er auf der Weide war, ob es bereits Mittag war und wann es Zeit war, wieder aufzubrechen.
Da musste er sich auf die Helligkeit und die Schatten der Bäume konzentrieren.Wennaber die Sonne am Himmel stand, war die Zeitbestimmung für ihn leicht. Doch Lomi hatte Glück heute und die Wolken verzogen sich. Kaum spitzte die Sonne hindurch, schon wurde es sehr warm und der Tau und die Regenpfützen trockneten. Jetzt wusste Lomi auch, dass es gegen Mittag sein musste, denn sie stand am Zenit. Er kramte in seinem Beutel, nahm sich einen Apfel heraus und biss kräftig hinein. Nachdem seine Milchzähne ausgefallen und seine Schneidezähne nachgewachsen waren, ging das jetzt wieder leichter. Aber er hätte ja sein Messer dabeigehabt. Er verzog das Gesicht, wie wenn er eine Grimasse machen wollte, der Apfel war ziemlich sauer und hatte keinen guten Geschmack. Lomi saß in der Wiese und kaute auf dem alten Stück herum, das weder knackig noch frisch schmeckte. Richtig ledrig war die Haut und runzlig, kein Leckerbissen! Aber zumindest war es etwas Essbares, was um diese Jahreszeit nicht selbstverständlich war. Denn außer den alten Äpfeln vom Vorjahr war nichts mehr übrig an Nahrung. Sie waren froh, dass diese, bei genauer Einteilung, wenigstens bis jetzt reichten. Das Nahrungsangebot im Frühjahr war noch sehr dürftig. Es wuchs noch nichts und die Vorräte an Gemüse, sowie Wurzeln, Beeren und Kräutern waren über den Winter ziemlich aufgebraucht. Während er so dasaß und sein Obst aß, dachte er darüber nach, wie es wäre, wieder einmal auf die Jagd nach einem Rebhühnchen oder einer Wachtel zu gehen. Einen Hasen würde er auch nehmen, wenn er einen erwischen würde. Aber so einen hatte er noch nie zuvor alleine gejagt. Immer war sein Vater dabei. Außerdem müsste er sich dafür in den herzoglichen Wald jenseits des Baches schleichen. Geflügel verirrte sich schon gelegentlich auf eine seiner Weidewiesen. Wenn er sich dann einen Speer oder Pfeil und Bogen bastelte, konnte er schon mal so eine Fleischmahlzeit ergattern. Aber im verbotenen Wald jagen? Traute er sich das überhaupt alleine? Einen Versuch wäre es doch wert! Die spärliche Kost und der Hunger beflüglte seine Gedanken. Wie würde die Mutter sich freuen, endlich mal wieder eine nahrhafte Mahlzeit kochen zu können. Dann würde sie auch nicht mehr böse sein auf ihn. Er malte sich aus, wie er ohne Hilfe über den reißenden Bach balancieren könnte - stellte sich vor, wie er einen Hasen erlegen würde – oder in eine Fallgrube locken! Seine Phantasie ging mit ihm durch. In seinen Träumen war alles ganz einfach.
Abgelenkt durch seine Tagträume bemerkte Lomi nicht, dass sich die Sonne hinter die Wolken verzogen hatte und der ganze Himmel bedeckt war. Erst als es wieder kühler wurde und er eine leichte Gänsehaut bekam, bemerkte er den Wetterumschwung. Lomi schaute sich um, beobachtete den Himmel. Plötzlich sah er, dass von Westen her eine gewaltige schwarze Gewitterwolke herannahte. Auch der Wind hatte aufgefrischt und blies ihm ins Gesicht. Das bedeutete nichts Gutes. Lomi sprang auf und nahm seinen Stecken. Wenn das Gewitter auf ihn zukam, musste er sich und die Tiere in Sicherheit bringen und so schnell es ging das Weidegrundstück im Moor verlassen. Er steckte zwei Finger in den Mund und pfiff so laut er konnte. Die meisten Ziegen hörten sofort auf ihn und streckten ihre Hälse in die Höhe, aber einige, vor allem die Jüngeren, die das Signal noch nicht so gut kannten, ließen sich nicht vom Fressen abhalten. Lomi spurtete los und rannte um die Ziegen, klopfte immer wieder mit dem Stab an ihre Flanken und trieb sie an, ihm zu folgen. Der Wind hatte inzwischen an Stärke zugenommen und blies nun richtig heftig, während sich die Gewitterwolke immer weiter in eine Richtung vorwärtsbewegte. Lomis Unbehagen wurde immer größer. Er musste sich beeilen, wenn er es noch durch den Auwald schaffen wollte. ErsteBlitze durchzuckten den grauen Himmel. Das war der Augenblick, vor dem sich Lomi am meisten fürchtete. Gegen Vieles hatte er eine Strategie zur Verteidigung, aber gegen Gewitter war er machtlos. Er musste versuchen, einen Unterschlupf zu finden. Die Gefahr, ein Tier durch Blitzschlag zu verlieren oder selbst Schaden zu nehmen dadurch, trieb ihm die Angst in die Knochen. Sein Herz pochte, sein Atem ging schnell. Er scheuchte die Tiere zurück durch die moosbewachsene Au, aber im Auwald konnte und durfte er nicht Schutz suchen. Das hatte ihm der Vater eingebläut. Bei Gewitter nie unter den Bäumen Schutz suchen! Egal was für ein Baum das war - er war die höchste Stelle und würde vom Blitz als erstes getroffen. Lieber sich zusammengekauert auf die Erde legen und warten, bis das Gewitter vorbeizog. Doch was sollte er mit den Tieren machen? Lomi kannte zwar „seine“ Wiese gut genug, um zu wissen, wo so ein Unterschlupf war, aber hier an dieser Stelle war er noch nicht so oft gewesen.
Der Himmel wurde immer dunkler und der Wind zerzauste die Äste und Blätter der Bäume. Während er beruhigend zu den Tieren sprach, suchte er mit seinen Augen die Umgebung nach einer möglichen Schutzunterstelle ab. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er konnte nichts finden. Langsam wurde die Zeit knapp, denn das Unwetter war ihm jetzt erschreckend nah. Er zählte immer zwischen Blitz und Donner und konnte so abschätzen, wie lange ihm noch Zeit blieb. Eins, zwei, drei, vier …. elf – dann krachte es wieder. So nah war es schon!
Lomis Angst steigerte sich, aber er durfte nicht schwach werden! Eigentlich hatte er vor kaum etwas Angst, aber Gewitter waren ihm unheimlich. Nicht selten, dass Menschen, Tiere oder Bäume vom Blitz getroffen wurden und umkamen. Das erzählten sich die Dorfbewohner immer wieder. In seinem ersten Jahr als Hütejunge, zusammen mit seinem Vater, hatte er erleben müssen, wie eine junge Ziege vom Blitz erschlagen wurde. Das war ein grausames Erlebnis für ihn gewesen. Tagelang weigerte er sich damals, wieder mit auf die Weide zu gehen und bei Gewitter wollte er sich nicht aus der Hütte bewegen. Früher dachte man, Gewitter seien der Zorn Gottes, der die Menschen bestrafen wolle. Doch Lomi wusste inzwischen, dass es mit der kühlen und der warmen Luft zu tun haben musste, mit der Sonne, die alles plötzlich so warm und schwül machte. Am meisten Angst hatte Lomi bei Gewittern, von denen sie in der Nacht überrascht wurden. Seine Mutter zündete dann eine sogenannte „Wetterkerze“ an und betete. Aber er konnte in seinem Schrecken keinen klaren Gedanken fassen. Genau so war es jetzt. Wieder zuckte ein Blitz: eins, zwei, drei … sieben – und ein grollender, krachender Donner folgte. Nur noch am herzoglichen Schloss vorbei, dann würde er aus dem Auwald auf eine Weide kommen, die mit großen Steinbrocken und Felsvorsprüngen übersät war. Hier würde er vielleicht Schutz finden. Die Tiere kauerten sich zu einem Rudel zusammen und drückten sich gegen Lomi. Aber sie mussten weiter und durften nicht stehenbleiben. Schon wieder erhellten Blitze den Himmel, aber es regnete noch nicht. Das war ein schlechtes Zeichen. Wenn es zu regnen begann, ließ das Gewitter meist nach und zog ab. Aber so lange der Wind heftiger wurde, trieb er die schwarze Wolke auf sie zu. Endlich kamen sie aus dem dichten Auwald auf die Lichtung. Trotz der Eile, hatte Lomi im Auwald nicht rennen können, denn das Gras war so dicht gewachsen, dass die Tiere, wenn sie so nah beieinander-standen, gestolpert wären und sich gegenseitig überrumpelt hätten. Jetzt aber auf der freien Wiese angekommen, rannte er los – die Tiere hinter ihm her – und spähte unter die verschiedenen Felsvorsprünge, um zu sehen, ob sie alle Platz darunter finden würden. Der nächste Blitz zuckte und auch die ersten Regentropfen platschten auf die Wiese nieder. Lomi musste sich beeilen, gleich wäre das Unwetter direkt über ihnen. Er konnte nur noch bis fünf zählen und der grollende Donner schallte durch das Tal. Das Gewitter war fast bei ihnen angekommen. Endlich fand er einen großen Jura-Fels-Vorsprung, der an einem kleinen Abhang am Rand lag. Lomi scheuchte die Tiere darunter und trieb sie dicht an den Felsen. Er stellte sich schützend vor sie und breitete seine Arme aus, den Stab quer in den Händen, damit keines der Tiere in Panik abhauen konnte. Inzwischen trommelte der Regen stärker auf sie nieder. Lomi war schon völlig durchnässt und konnte sich auch am Rande des Felsens nicht vor dem Nass schützen. Doch das machte ihm weniger aus. Jetzt stand er mit dem Gesicht zur Felswand und zu seinen Tieren. Er wusste, hier unter dem massiven Stein wären sie in Sicherheit. Der Blitz würde nicht durch den Felsen dringen und sie könnten hier abwarten, bis das Unwetter vorbeigezogen war. Diese Stelle musste er sich merken. Aber auch wenn er jetzt einen Unterschlupf gefunden hatte, Lomis Angst war dadurch immer noch nicht besiegt. Er begann gegen sein Unbehagen zu singen. Er fing an, alle Lieder die er kannte mit seiner wunderschönen Stimme zu singen. Das beruhigte ihn und auch die Tiere. Sie waren nicht mehr so nervös und verhielten sich ruhig. Die kleinen Zicklein hatten sie in ihre Mitte genommen und sie leckten sich gegenseitig den Regen vom Fell. Lomi war inzwischen nass bis auf die Haut und er hatte „Gänsehaut“. Da er barfuß war, waren seine Füße bis zu den Knien über und über mit Schlamm bedeckt. Auch Tannennadeln und Moosreste klebten an seinen Sohlen. Er war froh, barfuß zu sein. Seine Schuhe, schnabelförmige Ungetüme, die ihm drei Nummern zu groß waren, hätten ihn auf der Weide und bei dem Gewitter nur behindert.
Inzwischen war der Regen so heftig, dass er sich wie ein Vorhang von dem Felsvorsprung ergoss. Lomi brauchte nicht mehr zu zählen, denn es blitzte und im gleichen Moment krachte es schon. Das Gewitter war jetzt über ihnen. Er sang und sang gegen das Unwetter an, immer lauter und lauter, aber der Regen und der Donner übertönten alles. Er mochte es gar nicht, wenn irgendetwas sehr laut war, denn das steigerte seine Angst noch mehr. Sein Vater hänselte ihn damit oft. „Wie willst du ein Knappe werden oder gar ein Ritter, wenn du nur die leisen Töne magst. Auf diesen Turnieren geht es immer ziemlich laut zu!“ Aber Lomi scherte sich nicht um das Geschwätz. Inzwischen waren auch Hagelkörner herunter geprasselt und bedeckten bereits die Wiese wie eine weiße Decke, während der Regen unaufhörlich stark weiterfiel. Lomi konnte die Zeit nicht abschätzen, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Endlich, endlich ließ das Geprassel und der Hagel nach und auch die Blitze wurden weniger. Der Abstand zum Donner wurde wieder länger: eins, zwei ……… einundzwanzig, zweiundzwanzig.
Es war vorübergezogen. Lomi stieß einen Dankesseufzer aus.
Es kam nicht oft vor, dass er freiwillig betete. Nicht, dass er nicht gläubig gewesen wäre, aber er wusste nicht, was er beten sollte. Seine Mutter nahm ihn zwar schon oft mit in die nahegelegene Klosterkirche – wo auch seine wunderschöne Stimme bei den Liedern erschallen ließ – aber mit den Pfarrern und Klosterbrüdern konnte er nichts anfangen. Deswegen kam es ihm auch nicht in den Sinn, bei Gefahr ein Gebet zu sprechen. Er sang lieber aus Leibeskräften. Dafür schickte er, wenn die Gefahr vorüber war, ein „Gott-sei-Dank“ zum Himmel. Lomi schloss für einen Moment die Augen und dankte dem Himmel, dass alles gut vorübergegangen war. Seiner Meinung nach, war das Gebet genug und sagte alles aus.