Loney - Andrew Michael Hurley - E-Book

Loney E-Book

Andrew Michael Hurley

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Beschreibung

»Die Einheimischen nannten es The Loney. Niemand, der auch nur das Geringste über diesen Ort wusste, näherte sich je dem Wasser. Zumindest abgesehen von uns. Doch wahrscheinlich hatte ich stets geahnt, dass das, was dort geschehen war, nicht für immer verborgen bleiben würde, so sehr ich es mir auch wünschte.« Zwei Brüder geraten an einem gottverlassenen Küstenort immer tiefer in eine rätselhafte, unheimliche Geschichte, in der sie selbst einander der einzige Halt sind. Ein berührender, packender Roman über die Suche nach Erlösung und die Abgründe, in die sie führen kann.

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Das Buch

Loney – ein verregneter, unwirtlicher Landstrich an der nordenglischen Küste. In der Karwoche des Jahres 1976 pilgert eine brüchige kleine Glaubensgemeinschaft aus London dorthin, um in der Wallfahrtskirche der heiligen Anna für ein Wunder zu beten: möge Hanny, äußerlich schon fast ein Mann, doch von kindlichem Gemüt, von seiner Krankheit erlöst werden. Dreißig Jahre später legt ein Erdrutsch bei Loney die Leiche eines Babys frei. In Hannys jüngerem Bruder Tonto weckt dies Erinnerungen an jene Reise, die er all die Jahre tief in seinem Inneren verborgen hatte. Doch jetzt drängt die Vergangenheit mit Macht an die Oberfläche und droht, ihm den Boden unter den Füßen wegzureißen.

Dieser ungewöhnliche, faszinierende Roman steht in der Tradition der klassischen Gothic Novel und weist doch weit über das Genre hinaus. Er erweckt mit stilistischer Brillanz und einem virtuosen Gespür für Zwischentöne Charaktere und Landschaft zum Leben. Zugleich stellt er grundsätzliche Fragen nach dem Wesen von Glauben und Aberglauben, Vertrauen und Hoffnung.

Der Autor

Andrew Michael Hurley, geboren 1975, lebt nach Stationen in Manchester und London in Lancashire, wo er Englische Literatur und Kreatives Schreiben unterrichtet. Er hat bisher zwei Erzählungsbände veröffentlicht, Loney ist sein erster Roman. Zunächst in England bei einem kleinen Independent-Verlag erschienen, entwickelte sich Loney bald zum Geheimtipp und wurde im Januar 2016 mit dem Costa Award für das beste Debüt des Jahres ausgezeichnet.

Andrew Michael Hurley

Loney

Roman

Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer

Ullstein

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Loney bei John Murray, London. Die Arbeit am vorliegendem Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

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ISBN 978-3-8437-1439-6

© Andrew Michael Hurley 2014 © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Rudolf Linn, Köln nach einer Vorlage von johnmurrays www.johnmurray.co.uk. Umschlagmotiven: © shutterstock/melis und © shutterstock/Ana Gram

E-Book: L42 AG, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für Ray und Rosalie

Als sie gegangen waren, brachte man zu Jesus einen Stummen, der von einem Dämon besessen war. Er trieb den Dämon aus, und der Stumme konnte reden. Alle Leute staunten und sagten: So etwas ist in Israel noch nie geschehen. Die Pharisäer aber sagten: Mit Hilfe des Anführers der Dämonen treibt er die Dämonen aus.

Matthäus 9:32-34

Welch wüste Bestie, deren Stunde nun gekommen,

1

Der Herbst hatte jedenfalls ein stürmisches Ende genommen. In Hampstead Heath fegte ein heftiger Wind innerhalb weniger Stunden die herrliche Farbenpracht von Kenwood bis Parliament Hill von den Bäumen und ließ etliche alte Eichen und Buchen tot zurück. Nebel und Stille folgten, und ein paar Tage später war da nur noch der Geruch von Fäulnis und Feuer.

Eines Nachmittags blieb ich so lange dort und trug alles Gefallene in mein Notizbuch ein, dass ich meinen Termin bei Doctor Baxter verpasste. Er meinte, ich solle mir keine Sorgen machen. Weder über den Termin noch über die Bäume. Sowohl er als auch die Natur würden es überleben. Es sei niemals so schlimm, wie es aussah.

In gewisser Weise hatte er wohl recht. Wir waren noch glimpflich davongekommen. Im Norden waren Bahnlinien überflutet und ganze Dörfer von braunem Flusswasser überschwemmt worden. Sie hatten Bilder von Menschen gezeigt, die Wasser aus ihren Wohnzimmern schöpften, von toten Rindern, die eine Fernstraße entlangtrieben. Und neuerdings die Nachrichten über den plötzlichen Erdrutsch auf Coldbarrow und das Baby, das man am Fuß der Klippen gefunden hatte, wo es zusammen mit dem alten Haus in die Tiefe gestürzt war.

Coldbarrow. Ein Name, den ich schon lange nicht mehr gehört hatte. Seit dreißig Jahren nicht. Keiner, den ich kannte, erwähnte ihn mehr, und ich selbst hatte mir größte Mühe gegeben, ihn zu vergessen. Doch wahrscheinlich hatte ich stets geahnt, dass das, was dort geschehen war, nicht für immer verborgen bleiben würde, sosehr ich es mir auch wünschte.

Ich ließ mich aufs Bett sinken und überlegte, ob ich Hanny anrufen sollte, fragte mich, ob auch er die Nachrichten gesehen hatte und ob er irgendetwas damit anfangen konnte. Ich hatte ihn im Grunde nie gefragt, was er von diesem Ort in Erinnerung behalten hatte. Allerdings wusste ich auch nicht, was ich sagen, womit ich beginnen sollte. Abgesehen davon war es nicht leicht, ihn überhaupt zu erreichen. Die Kirche nahm ihn so sehr in Beschlag, dass er stets unterwegs war, um für die Alten und Kranken zu sorgen oder seine Pflichten gegenüber diesem oder jenem Ausschuss zu erfüllen. Ich konnte ja schlecht einfach eine Nachricht hinterlassen, nicht über diese Angelegenheit.

Sein Buch stand auf dem Regal neben den alten Taschenbüchern, die ich seit Jahren dem Charity Shop spenden wollte. Ich nahm es herunter, fuhr mit dem Finger über die geprägten Lettern und betrachtete dann die Rückseite. Hanny und Caroline im Partnerlook in weißen Hemden, die Arme um ihre grinsenden sommersprossigen Söhne Michael und Peter geschlungen. Die glückliche Familie von Pastor Andrew Smith.

Das Buch war vor nun beinahe zehn Jahren erschienen, und die Jungs waren mittlerweile groß geworden – Michael besuchte die Oberstufe der Cardinal Hume School und Peter war in seinem letzten Jahr auf dem Corpus Christi College –, doch Hanny und Caroline sahen fast genauso aus wie heute. Jugendlich, zufrieden, verliebt.

Ich wollte das Buch gerade zurück ins Regal stellen, da fiel mir auf, dass hinter dem Schutzumschlag ein paar Zeitungsausschnitte steckten. Hannys Besuch in einem Hospiz in Guildford. Eine Rezension seines Buchs im Evening Standard. Das Interview im Guardian, das ihn endgültig ins Rampenlicht befördert hatte. Und der Ausschnitt aus einer amerikanischen evangelikalischen Zeitschrift, als er hinübergeflogen war, um eine Vortragsreihe an den Universitäten im Süden des Landes zu halten.

Der Erfolg von Mein zweites Leben mit Gott hatte alle überrascht, nicht zuletzt Hanny selbst. Es war eins dieser Bücher, die – wie hatte es noch in der Zeitung gestanden? – den Leser in ihren Bann zogen und den Zeitgeist widerspiegelten. So oder so ähnlich. Irgendetwas daran muss den Leuten wohl gefallen haben. Monatelang war es unter den zwanzig meistverkauften Büchern gewesen und hatte seinem Verlag ein kleines Vermögen eingebracht.

Von Pastor Smith hatte jeder schon gehört, auch diejenigen, die sein Buch nicht gelesen hatten. Und jetzt, nach den Nachrichten aus Coldbarrow, schien es wahrscheinlich, dass sie erneut von ihm hören würden, sofern ich nicht alles zu Papier brachte und sozusagen zum ersten Schlag ausholte.

2

Ich weiß nicht, ob es noch einen anderen Namen hatte, aber die Einheimischen nannten es The Loney – dieses seltsame Nirgendwo zwischen den Flüssen Wyre und Lune, wohin Hanny und ich jedes Jahr an Ostern gemeinsam mit Mummer, Farther, Mr und Mrs Belderboss und unserem Gemeindepfarrer Father Wilfred fuhren. Es war unsere Woche der Buße und des Gebets, in der wir die Beichte ablegten, den Schrein der heiligen Anna aufsuchten und nach Gott Ausschau hielten im aufkeimenden Frühling, der dann jedoch kaum ein echter Frühling war, weder lebhaft noch überschwenglich. Es war eher die feuchte Nachgeburt des Winters.

Doch so öde und nichtssagend The Loney auch wirken mochte, es war ein gefährlicher Ort. Ein rauher, nutzloser englischer Küstenstreifen. Die tote Mündung einer Bucht, die sich zweimal täglich füllte und leerte und dabei Coldbarrow – eine einsame Landzunge, die eine Meile ins Meer ragte – in eine Insel verwandelte. Die Flut konnte schneller hereinströmen, als ein Pferd zu rennen vermochte, und Jahr für Jahr ertranken ein paar Menschen. Glücklose Fischer wurden vom Kurs abgebracht und liefen auf Grund. Glücksuchende Muschelsammler, die nicht wussten, worauf sie sich einließen, fuhren bei Ebbe mit ihren Wagen auf den Sand und wurden Wochen später mit grünen Gesichtern und Haut wie aus Mull wieder angeschwemmt.

Manchmal schafften es diese Tragödien in die Nachrichten, doch die Grausamkeit von The Loney schien so unvermeidlich, dass diese Seelen sich meist unbeachtet zu zahlreichen anderen gesellten, die im Laufe der Jahrhunderte bei dem Versuch, den Ort zu zähmen, ums Leben gekommen waren. Überall fanden sich noch Spuren der alten Industrie: Wellenbrecher waren durch Stürme zu Kies zermahlen worden, Hafenmolen im Schlamm versunken, und von dem alten Dammweg nach Coldbarrow war nur eine Reihe verrotteter schwarzer Pfosten übrig, die nach und nach im Schlick verschwanden. Dann gab es da noch andere, mysteriösere Bauwerke – Überreste von schlampig errichteten Bretterbuden, in denen einst Makrelen für die Märkte im Landesinneren ausgenommen worden waren, rostende Baken, den Stumpf eines hölzernen Leuchtturms auf der Landspitze, der einst Seeleute und Schäfer durch die launenhaften Sandverschiebungen geführt hatte.

Aber The Loney wirklich zu kennen war unmöglich. Es verwandelte sich mit jedem Einströmen und Zurückweichen des Wassers, und die Nipptiden brachten die Gerippe derjenigen zum Vorschein, die glaubten, sie hätten den Ort gut genug verstanden, um seinen heimtückischen Strömungen zu entkommen. Dabei handelte es sich um Tiere, manchmal um Menschen, einmal um die sterblichen Überreste von beiden – eines Viehtreibers und seiner Schafe, die auf dem alten Übergang von Cumbria abgeschnitten worden und ertrunken waren. Seit ihrem Tod vor über einem Jahrhundert hatte The Loney ihre Knochen immer weiter landeinwärts geschoben, als ob es damit etwas beweisen wollte.

Niemand, der auch nur das Geringste über diesen Ort wusste, näherte sich je dem Wasser. Das heißt, niemand außer uns und Billy Tapper.

Billy war ein ortsbekannter Trinker. Sein tiefer Absturz gehörte wie das Wetter fest zur Mythologie der Gegend, und er war ein gefundenes Fressen für Menschen wie Mummer und Father Wilfred, die ihn als Kürzel dafür verwendeten, was der Alkohol mit einem anstellen konnte. Billy Tapper war keine Person, er war eine Strafe.

Der Legende zufolge war er Musiklehrer an einem Jungengymnasium gewesen oder Direktor einer Mädchenschule in Schottland oder unten im Süden oder in Hull, irgendwo, überall. Seine Geschichte variierte je nach Erzähler, doch es war allgemein anerkannt, dass der Alkohol ihm den Verstand geraubt hatte, und es gab unzählige Anekdoten über seine Verschrobenheiten. Er lebte in einer Höhle. Er hatte in Whitehaven jemanden mit einem Hammer erschlagen. Er hatte irgendwo eine Tochter. Er glaubte, dass eine bestimmte Kombination aufgelesener Steine und Muscheln ihn unsichtbar machte, torkelte oft mit vor Kieseln klimpernden Taschen ins Bell and Anchor in Little Hagby und versuchte, aus den Gläsern anderer Leute zu trinken, weil er dachte, sie könnten ihn nicht sehen. Daher die verbeulte Nase.

Ich wusste nicht, wie viel davon der Wahrheit entsprach, aber das war auch nicht weiter wichtig. Wenn man Billy Tapper einmal gesehen hatte, schien alles möglich, was die Leute über ihn sagten.

Wir begegneten ihm zum ersten Mal an der Bushaltestelle aus mit Kieselrauhputz versehenem Beton an der einzigen Straße, die entlang der Küste von Morecambe nach Knott End führte. Es muss 1973 gewesen sein, als ich zwölf und Hanny sechzehn Jahre alt war. Farther war nicht bei uns. Er war früh mit Father Wilfred und Mr und Mrs Belderboss aufgebrochen, um sich die Glasmalerei in einer zwanzig Meilen entfernten Dorfkirche anzusehen, wo es anscheinend ein herrliches neogotisches Fenster gab, auf dem Jesus die Wellen besänftigt. Also hatte Mummer beschlossen, Hanny und mich nach Lancaster mitzunehmen, um Lebensmittel einzukaufen und eine Ausstellung antiquarischer Psalter in der Bibliothek zu besuchen – denn Mummer ließ sich nie eine Gelegenheit entgehen, uns über die Geschichte unseres Glaubens zu unterrichten. Dem Pappschild zufolge, das Billy sich um den Hals gehängt hatte – eines von mehreren Dutzend, mit denen er den Busfahrern zu erkennen gab, wohin er wollte –, war er in dieselbe Richtung unterwegs.

Die anderen Orte, an denen er gewesen war oder die er womöglich würde aufsuchen müssen, offenbarten sich, als er sich im Schlaf regte. Kendal. Preston. Manchester. Hull. In letzterem lebte seine Schwester, wie sich von dem leuchtend roten Pappquadrat ablesen ließ, das an einer separaten Schnürsenkelkette hing und Informationen enthielt, die sich in einem Notfall als wertvoll erweisen mochten, darunter seinen Namen, die Telefonnummer seiner Schwester und den in Blockbuchstaben vermerkten Hinweis, dass er allergisch gegen Penizillin war.

Diese spezielle Tatsache faszinierte mich als Kind, und ich fragte mich, was wohl geschehen würde, wenn man ihm trotzdem Penizillin gäbe, ob ihm das überhaupt noch größeren Schaden zufügen könnte, als er sich selbst bereits zugefügt hatte. Ich hatte noch nie einen Mann gesehen, der so lieblos mit seinem eigenen Körper umging. Seine Finger und Handflächen starrten vor Dreck. Jede Linie und Falte war braun. Zu beiden Seiten seiner gebrochenen Nase lagen seine Augen tief in den Schädel gedrückt. Sein Haar wucherte ihm über die Ohren und den Hals hinab, der von Dutzenden Tätowierungen die Farbe des Meeres angenommen hatte. Seine Weigerung, sich zu waschen, hatte in meinen Augen etwas beinahe Heroisches, wenn man bedachte, wie regelmäßig Hanny und ich von Mummer geschrubbt und frottiert wurden.

Er war auf der Bank in sich zusammengesackt, eine umgekippte leere Flasche von irgendetwas Üblem neben sich auf dem Boden und eine kleine, verschimmelt aussehende Kartoffel im Schoß, die ich auf seltsame Weise als tröstlich empfand. Es erschien mir angemessen, dass er nur eine rohe Kartoffel besaß. Diese entsprach meiner Vorstellung von dem, was Penner zu sich nahmen, wovon sie über Wochen kleine Stückchen abknabberten, während sie auf der Suche nach der nächsten die Straßen und Gassen durchstreiften. Per Anhalter fuhren. Klauten, was sie in die Finger bekamen. Züge als blinder Passagier bestiegen. Wie gesagt, die Landstreicherei hatte für mich in diesem Alter noch etwas Romantisches.

Er sprach im Schlaf mit sich selbst, schloss die Hände um seine Taschen – die klangen, als wären sie voller Steine, genau wie alle sagten – und beschwerte sich bitterlich über jemanden namens O’Leary, der ihm Geld schuldete, das er ihm nie zurückgegeben hatte, obwohl er ein Pferd besaß. Als er aufwachte und unsere Anwesenheit bemerkte, tat er sein Bestes, um höflich und nüchtern zu wirken, zeigte ein aus drei bis vier schiefen schwarzen Zähnen bestehendes Grinsen und zog seine Tellermütze vor Mummer, die kurz lächelte, ihn jedoch sofort durchschaute, was sie bei Fremden stets vermochte, und in halb angewidertem, halb ängstlichem Schweigen dasaß und den Bus durch reine Willenskraft herbeizurufen versuchte, indem sie die leere Straße hinaufstarrte.

Wie die meisten Betrunkenen verzichtete Billy auf Höflichkeitsfloskeln und klatschte mir sein blutendes, gebrochenes Herz gleich wie einen Brocken rohes Fleisch in die Hand.

»Fallt nicht auf das Teufelszeug rein, Jungs. Ich hab alles verloren deshalb«, sagte er, während er die Flasche hob und die letzten Tropfen hinunterkippte. »Seht ihr die Narbe?«

Er hielt seine Hand hoch und schüttelte den Ärmel hinunter. Eine rote Naht führte vom Handgelenk bis zum Ellbogen, wand sich durch tätowierte Dolche und Mädchen mit Melonenbrüsten.

»Wisst ihr, wie ich die gekriegt hab?«

Ich schüttelte den Kopf. Hanny starrte ihn an.

»Bin vom Dach gefallen. Der Knochen ist direkt hier durchgegangen«, erklärte er und demonstrierte mit seinem Finger den Winkel, in dem sein Unterarmknochen hervorgestanden hatte.

»Habt ihr vielleicht ’ne Kippe?«

Ich schüttelte erneut den Kopf, und er seufzte.

»Mist! Wusste doch, ich hätte in Catterick bleiben sollen«, kam es erneut völlig unvermittelt.

Es war schwer zu sagen – und er hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit den auf robuste Weise gutaussehenden Veteranen, die ständig in meinen Commando-Comics auftauchten –, aber ich nahm an, dass er vom Alter her im Krieg gekämpft haben musste. Und tatsächlich, als er sich in einem Hustenanfall krümmte und seine Tellermütze abnahm, um sich den Mund abzuwischen, blitzten an deren Vorderseite ein paar verbogene metallene Militärabzeichen auf.

Ich fragte mich, ob er wegen des Krieges trank. Dieser hatte mit manchen Menschen seltsame Dinge angestellt, sagte Farther. Hatte ihnen sozusagen den Kompass durcheinandergebracht.

Aus welchem Grund auch immer, Hanny und ich konnten unseren Blick nicht von ihm abwenden. Wir weideten uns an seiner Schmutzigkeit, seinem bestialischen Gestank. Es war dieselbe ängstliche Erregung, die wir verspürten, wenn wir durch einen Teil Londons fuhren, den Mummer als schlecht bezeichnete, und uns dort in einem Labyrinth aus Häuserreihen verloren, die sich gleich neben Industrieanlagen und Schrottplätzen befanden. Dann drehten wir uns in unseren Sitzen um und gafften den schmuddeligen Kindern nach, die wiederum uns anstarrten und dabei anstelle von Spielsachen Holz- und Metallstücke in den Händen hielten, die aus den kaputten Möbeln in ihren Vorgärten stammten, wo Frauen in Schürzen herumstanden und aus Eck-Pubs stolpernden Männern Obszönitäten zukreischten. Es war ein Safaripark der Schande. Das Bild einer Welt ohne Gott.

Billy spähte in Mummers Richtung und langte, den Blick unverwandt auf sie geheftet, in die Plastiktüte zu seinen Füßen, zog ein paar zerfledderte Seiten heraus und drückte sie mir in die Hand. Sie waren aus einem Schmuddelheft herausgerissen worden.

Er zwinkerte mir zu und ließ sich wieder gegen die Wand sinken. Der Bus erschien, und Mummer stand auf und hob einen Arm, um ihn anzuhalten, während ich die Bilder rasch einsteckte.

»Was machst du da?«, fragte Mummer.

»Nichts.«

»Dann albere nicht herum, und sieh zu, dass Andrew bereit ist.«

Ich versuchte, Hanny zum Aufstehen zu bewegen, damit wir einsteigen konnten, doch er rührte sich nicht vom Fleck. Er grinste und schaute an mir vorbei auf Billy, der unterdessen wieder eingeschlafen war.

»Was ist denn, Hanny?«

Er sah mich und dann wieder Billy an. Da verstand ich endlich, worauf er starrte: Billy hatte keine Kartoffel in der Hand, sondern seinen Penis.

Der Bus hielt an, und wir stiegen ein. Der Fahrer blickte an uns vorbei und pfiff Billy zu, der jedoch nicht aufwachte. Nach einem zweiten Versuch schüttelte der Busfahrer den Kopf und drückte auf den Knopf, um die Tür zu schließen. Wir setzten uns und beobachteten, wie sich auf Billys Hose ein dunkler Fleck ausbreitete. Mummer schnalzte mit der Zunge und zog unsere Gesichter vom Fenster weg, damit wir stattdessen sie ansahen.

»Lasst es euch gesagt sein«, warnte sie uns, als der Bus losfuhr. »Dieser Mann steckt bereits in euch. Es braucht nichts weiter als ein paar falsche Entscheidungen, um ihn zum Vorschein zu bringen, glaubt mir.«

Sie hielt ihre Handtasche auf dem Schoß fest und blickte geradeaus. Ich umklammerte mit der einen Hand die schmutzigen Bilder und steckte mir die andere unter den Mantel, wo ich mir die Fingerspitzen in den Bauch presste, um dort den Kern des Bösen ausfindig zu machen, der lediglich die richtigen Bedingungen aus Gottlosigkeit und Verderbtheit benötigte, um zu keimen und sich wie Unkraut auszubreiten.

Es ging so schnell. Der Alkohol ergriff von einem Menschen Besitz und verwandelte ihn in seinen Diener. Das sagte Father Wilfred immer.

Als Mummer ihm an jenem Abend von Billy erzählte, schüttelte er nur den Kopf und seufzte.

»Was kann man von einem Mann wie diesem schon erwarten, Mrs Smith? Einem, der sich so weit von Gott entfernt hat.«

»Ich habe den Jungs gesagt, dass sie es sich gut einprägen sollen«, sagte Mummer.

»Und das zu Recht«, versicherte er, nahm seine Brille ab und blickte Hanny und mich an, während er sie an seinem Ärmel putzte. »Sie sollten es sich zur Aufgabe machen, über all die Gifte Bescheid zu wissen, die der Satan verbreitet.«

»Mir tut er ja ein bisschen leid«, sagte Mrs Belderboss.

»Mir auch«, stimmte Farther zu.

Father Wilfred setzte seine Brille wieder auf und lächelte kurz herablassend.

»Dann geben Sie ihm nur, wovon er bereits im Überfluss besitzt. Mitleid ist das Einzige, woran es einem Trinker niemals mangelt.«

»Aber sein Leben muss doch schrecklich hart gewesen sein, dass er sich in solch einen Zustand gebracht hat«, wandte Mrs Belderboss ein.

Father Wilfred verzog spöttisch den Mund. »Meiner Ansicht nach weiß er nicht einmal, was ein hartes Leben überhaupt ist. Mein Bruder könnte Ihnen mit Sicherheit ebenso viele Geschichten über wahre Armut und wahre Not erzählen wie ich, nicht wahr, Reginald?«

Mr Belderboss nickte. »In Whitechapel hatten es damals alle schwer«, sagte er. »Keine Arbeit. Die Kinder verhungerten.«

Mrs Belderboss legte ihrem Ehemann mitfühlend eine Hand auf den Arm. Father Wilfred lehnte sich zurück und wischte sich den Mund mit einer Serviette ab.

»Nein, ein Mann wie dieser ist ein Narr der schlimmsten Sorte«, urteilte er. »Er hat alles weggeworfen. All seine Privilegien und Möglichkeiten. Soweit ich weiß, war er einst berufstätig. Als Lehrer. Was für eine furchtbare Verschwendung!«

Es klingt seltsam, aber als Kind erschienen mir manche Dinge so klar und ihr Ausgang so unausweichlich, dass ich glaubte, über eine Art sechsten Sinn zu verfügen. Die Gabe, in die Zukunft zu sehen, wie Elijah oder Ezekiel sie besaßen, die Dürre und Zerstörung mit solch beunruhigender Genauigkeit vorhersagten.

Ich erinnere mich daran, wie Hanny einmal über einen Teich in Hampstead Heath schaukelte und ich wusste, wirklich wusste, dass das Seil reißen würde, was es dann auch tat; so wie ich auch wusste, dass die streunende Katze, die er aus dem Park mitbrachte, zerhackt auf den U-Bahn-Gleisen enden würde und dass er das Goldfischglas, das er auf dem Jahrmarkt gewonnen hatte, auf den Küchenboden fallen lassen würde, sobald wir zu Hause angelangt wären.

Ebenso wusste ich nach jenem Gespräch am Abendbrottisch, dass Billy bald sterben würde. Der Gedanke kam mir wie eine feststehende Tatsache, als hätte es sich bereits ereignet. Niemand konnte lange auf solche Weise leben. Dermaßen schmutzig zu sein erforderte so viel Mühe, dass ich mir sicher war, derselbe barmherzige Gott, der einen Wal geschickt hatte, um Jonas zu retten, und Noah ein Zeichen gegeben, dass das Wetter sich ändern würde, werde ihn von seinen Qualen erlösen.

3

An jenem Ostern suchten wir The Loney für viele Jahre zum letzten Mal auf.

Nach dem Abend, an dem er uns am Esstisch im Hinblick auf Billy Tapper den Kopf zurechtgerückt hatte, veränderte sich Father Wilfred auf eine Weise, die niemand recht erklären oder begreifen konnte. Man führte es darauf zurück, dass er für die ganze Angelegenheit zu alt wurde – immerhin war es eine lange Reise von London herauf, und der Druck, seiner Gemeinde während einer solch intensiven Woche des Gebets und der Einkehr ein Hirte zu sein, mochte wohl an einem halb so alten Mann zehren. Er war müde. Das war alles.

Doch da ich die unheimliche Gabe besaß, die Wahrheit hinter den Dingen zu spüren, wusste ich, dass viel mehr dahintersteckte. Irgendetwas stimmte ganz grundlegend nicht.

Nachdem das Gespräch über Billy versandet war und alle es sich im Wohnzimmer bequem gemacht hatten, war er hinunter an den Strand gegangen und als ein anderer zurückgekehrt. Verstört. Durch irgendetwas aus der Bahn geworfen. Er beklagte sich wenig überzeugend über eine Magenverstimmung und sagte, er wolle sich hinlegen, woraufhin er seine Tür mit Nachdruck verriegelte. Ein wenig später vernahm ich Geräusche aus dem Zimmer und begriff, dass er weinte. Ich hatte noch nie zuvor einen Mann weinen hören, außer vielleicht einen der geistig Behinderten, die alle zwei Wochen ins Gemeindehaus kamen, um mit Mummer und einigen der anderen Damen zu basteln. Es war ein Laut der Angst und Verzweiflung.

Als er am nächsten Morgen endlich wieder zum Vorschein kam, zerzaust und noch immer aufgewühlt, murmelte er irgendetwas über das Meer und zog mit seinem Fotoapparat davon, ehe ihn irgendjemand fragen konnte, was los war. Es sah ihm nicht ähnlich, so kurz angebunden zu sein. Auch nicht, so lange zu schlafen. Er war wie ausgewechselt.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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