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Über ein Jahrzehnt ist bereits vergangen, seitdem die Diamantene Hexe Reane mit ihrer Armee den Großteil der Königreiche Lorandors erobert und die Bewohner ihrem Willen unterjocht hat. Die wenigen freien Königreiche und Völker leben in ständiger Angst und die einzige Hoffnung ruht in der Prophezeiung, die das Orakel von Gark vorhergesagt hat. Die junge Elfe Asyra ist fest davon entschlossen, den Erwählten der Prophezeiung zu finden, den sie immer und immer wieder in ihren Träumen gesehen hat. Doch nicht einmal Ansatzweise hatte sie sich vorstellen können, wie mächtig und tödlich Reane ist. Eher sie sich versieht, steht sie Aufgaben und Gefahren gegenüber, von deren Existenz sie nicht einmal ahnte. Ein Kampf auf Leben und Tod für die Freiheit des gesamten Kontinents beginnt.
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Seitenzahl: 516
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Jan Michel Kühn
Lorandor – die Macht des Fayriaths
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
1. Auflage, 2014
Lektorat, Satz und Layout:
Lamont GmbH, Sonja Reiche
Textfeder GbR, Dr. Stephanie Bergold
Umschlaggestaltung:
Bennet Constantin Sroka
Made in Germany
ISBN 978-3-8442-9360-9
Copyright: © Jan Michel Kühn, Suderburg 2014
Alle Rechte vorbehalten.
Karte. 1
Prolog. 1
Kapitel 1: Der Anfang. 5
Kapitel 2: Durch die Augen einer Hexe. 13
Kapitel 3: Illusionen und Verwandlung. 18
Kapitel 4: Die Fragen des Bösen. 29
Kapitel 5: Vorboten des Grauens 33
Kapitel 6: Feenzauber 40
Kapitel 7: Auf der Blau Pfeil 54
Kapitel 8: Drachenfels 69
Kapitel 9: Unerwünschter Besuch. 79
Kapitel 10: Die Attentäterin. 86
Kapitel 11: Spinnennetze. 102
Kapitel 12: Drachenstatur 119
Kapitel 13: Drachendruide. 137
Kapitel 14: Geschichtsstunde. 151
Kapitel 15: Narben des Kampfes 159
Kapitel 16: Unterricht 170
Kapitel 17: Schwarzmagie. 189
Kapitel 18: Doppelgängerin. 195
Kapitel 19: Wie neugeboren. 204
Kapitel 20: Pflanzenkunde. 214
Kapitel 21: Der Schwur 227
Kapitel 22: Blutdurst 237
Kapitel 23: Dummheit, Zorn und Gnade. 244
Kapitel 24: Hexe und Druide. 253
Kapitel 25: Wahrheit 266
Kapitel 26: Abschiedsgeschenke. 281
Kapitel 27: Die Hexengeschichte. 293
Kapitel 28: Dornenhexe. 303
Kapitel 29: Tas 320
Kapitel 30: Informationsaustausch. 333
Kapitel 30: Sechs gegen den Rest 340
Kapitel 31: Ubrithil Nera’Telarth. 353
Kapitel 32: Nesrim.. 360
Kapitel 33: Der Kampf beginnt 370
Kapitel 34: Der vierte Ring. 377
Kapitel 35: Untergang. 388
Kapitel 36: Fayriath. 404
Ein dichter Nebel umhüllte das kleine Boot, das mühsam versuchte, die Drachenzacken zu umschiffen. Die zehn Seeleute waren müde und angespannt. Sie waren auf dem Weg zum Orakel von Gark, um den mächtigen namenlosen Drachen zu befragen. Seinen Name hatte er im Laufe der Zeitalter vergessen, ebenso wie sein Alter. Die alten Geschichten erzählen von seinem göttlichen Blut und seiner Gabe, die Zukunft vorherzusehen. Normalerweise spräche er nicht mit gewöhnlichen Menschen, sondern nur mit Auserwählten. Jahrhunderte lang respektierte man dies, doch die Ereignisse der letzten Monate erforderten einfach eine Frage an das Schicksal.
Plötzlich rief einer der Männer: „Dort! Ich seh das Licht!“ Ein lauter Tumult brach an Deck aus. Befehle wurden gebrüllt. Sie steuerten langsam auf das rote Licht zu, das nun deutlich aus dem Nebel schien. Es ragten keine Felsen mehr aus dem Wasser und sie konnten an dem kleinen, primitiven Steg halten. Die gesamte Besatzung verließ das Schiff. Bewachen brauchten sie es an diesem abgelegenen Ort nicht.
Der Steg führte auf einen Weg, der sich im Nebel verlor. Die gesamte Mannschaft ging zusammengedrängt den Weg entlang. Immer wieder schauten sie nach links und rechts. Jeder der Matrosen hielt eine Waffe fest in der Hand. Der Weg war viel länger als erwartet. Sie gingen über drei Meilen durch den Urwald, bis es langsam bergauf ging. Sie wanderten einen schmalen Pass entlang eines Berges. Die Mannschaft war durch den Nebel und den eigenen Schweiß komplett durchnässt. Am anderen Ende des Berges führte der Weg nicht wieder ins Tal, sondern in eine Höhle, aus der ein gleichmäßiges Keuchen und ein beißender Gestank zu ihnen drangen. Einige der Männer blieben stehen, andere wichen zurück. Nur eine Frau und zwei Männer führten ihren Weg fort, die anderen folgten ihnen mit großem Abstand. Die Höhle war spärlich durch blaue Diamanten beleuchtet, die an der fünf Schritt hohen Decke angebracht waren. Je tiefer sie in die Höhle eindrangen, umso lauter wurde das Keuchen und umso intensiver der Gestank. Die gesamte Mannschaft konnte nur noch durch den Mund atmen. Sie hielten sich ihre Gewänder über die Nasen, der Gestank war bereits zu intensiv.
Sie mussten mittlerweile im Herzen des Berges sein, denn sie waren schon ein gutes Stück gegangen. Als sie um eine Ecke bogen, zeigte sich das wohl sonderbarste Bild, das sie je gesehen hatten: Ein grüner Drache saß sieben Schritt hoch auf einem goldenen Podest, welches mit Diamanten und anderen Edelsteinen besetzt war. Vor dem Podest befanden sich einige Knochen, die um eine große blaue Schale lagen. In der Mitte des Raumes stand, auf einem kunstvoll geschmiedeten Ständer aus Bronze, eine riesige Kristallkugel. Die Wände waren übersät mit roten Glyphen und blauen Runen.
Die Mannschaft schaute sich angsterfüllt um, staunte aber trotzdem über die Pracht des Raumes. Auf einmal hörten allesamt eine laute, dröhnende Stimme in ihren Köpfen: „Da seid Ihr ja endlich, ich habe Euer Kommen schon gesehen. War es vor einem oder zwei Jahrzehnten? Ich weiß es nicht mehr. Doch sagt, seid Ihr hier, um das zu fragen, was ich vermute?“ Alle schauten den Drachen an, der schwer atmend von seinem Podest in die Kugel schaute. Niemand vermochte etwas zu sagen. Nach langem Schweigen stolperte ein junger Bursche, der Jüngling der Gruppe, vor und schaute den Drachen mit weit aufgerissenen Augen an. Er schwieg kurz und stotterte dann: „Wi ... Wir sind hier, um zu fragen, was aus den verlorenen Königreichen wird. Die Diamantene Hexe kam über Nacht und eroberte in nicht einmal drei Monaten viele Königreiche! Sie hält zur Zeit noch inne, doch die wenigen Regionen, die noch den freien Reichen unterliegen, werden bei einem erneutem Angriff nicht standhalten. Wird die Diamantene Hexe je besiegt und die Königreiche befreit werden? Werden wir sie je besiegen? Oh bitte, weiser Drache, sag es uns.“ Erneut trat Schweigen ein. „Nein“, drang die Stimme des Drachen wieder in die Köpfe der Mannschaft ein. „Ihr werdet es nicht sein. Die Legende wird es sein, die den Frieden über Lorandor bringen wird. Die Legende wird nicht nur ihre mächtigsten Diener, ihre gigantische Armee und ihre gefürchtetsten Monster, sondern auch die Herrin selbst bezwingen. Doch fragt Euch: Werden jene der Legende beistehen, die sich nun feige verstecken?“
Der Junge blickte sich um. Er schien nicht der Einzige zu sein, der nicht wusste, was der Drache mit der Legende meinte, denn auch die anderen schauten sich fragend um.
„Jedoch müsst Ihr noch etwas wissen. Selbstvertrauen und der Mut, eigene Fehler einzugestehen, können entscheidend sein. Versucht niemals etwas bei anderen zu finden, solange Ihr nicht sicher seid, dass Ihr es nicht selbst habt. Wissen ist Macht, doch Macht reicht nicht für den Sieg, es braucht viel mehr! Und nun geht, ich habe Euch Eure Frage beantwortet“, vollendete der Drache seine Prophezeiung. Kaum hatte er den letzten Satz ausgesprochen, wich die gesamte Mannschaft aus dem Raum, mit mehr Fragen, als sie hergekommen war.
Die Jahre vergingen, doch niemand konnte etwas mit der Prophezeiung anfangen. Jedes Volk, von den Triliten im Südwall über die Elfen im Ewigwald bis hin zu den Zwergen in der Donnernden Faust und den Kobolden im Grolmischenbergland, versuchte verzweifelt den Sinn der Prophezeiung zu entschlüsseln. Die Legende jedoch wurde nicht gefunden. Viele machten sich auf den Weg, die Legende selbst zu suchen. So auch Asyra, die Elfe aus Symaya, die sich elf Jahre nach der Prophezeiung auf den Weg machte.
Der Abend brach an und Asyra freute sich über die kühle Luft, die nach dem heißen Sommertag ihr Gesicht kühlte. Auch wenn der Elfe mit dem langen nussbraunem Haar die Aussichten, bald neue Lebewesen zu töten, so wenig gefiel wie die Landschaft, in der sie sich befand. Ihre blassgrüne Kleidung, die ihr wie angegossen passte, war einer der wenigen grünen Flecken in dieser Steppe.
Diese war der totale Gegensatz zu den blühenden Wäldern von Symaya, die Stadt, welche die Elfe über alles liebte. Dort wuchsen die Bäume so hoch, dass man vom Boden nicht einmal mehr die Baumkronen sehen konnte. Hunderte Elfen und Tiere lebten hier, alle in Harmonie und ohne Streit. In Symaya machte man sich keine Gedanken darüber, dass die Diamantene Hexe ihre Armee wieder zusammenrief, um mit ihr in den Krieg zu ziehen. Aber sie hatte einen anderen Weg eingeschlagen, sie wollte nicht tatenlos die Menschen sterben sehen, sich in den Bäumen verstecken und warten, bis sich alles legte.
Schon seit langem sah sie ihre Berufung in den Träumen, die Berufung, den Jungen zu finden, der das Fayriath in sich trug.
Jetzt war sie hier, weit weg von zu Hause, mitten in der Welt der Menschen, um irgendwo einen Jungen zu finden, von dem sie nicht mal wusste, wo er lebte. Sie wusste nur von seinem Aussehen und dass sein Name Zoran war. Dazu musste sie sich ständig mit Trupps der Diamantenen Hexe herumschlagen, die ihre Reise nicht nur erheblich verlängerten, sondern auch an ihren magischen Kräften zehrten.
Sie ging weiter durch die trockene Landschaft, die sich nicht sehr veränderte, nur hier und da war ein kleiner Strauch noch an einer Stelle grünlich oder ein kleines Bäumchen rankte aus der Erde. Asyra begriff nun, wieso die alten Geschichten, dies den Zyala’ari val’aye nannten, was in ihrer Sprache soviel bedeutete wie Der tote Wald. Die Sonne tauchte das Land in einen roten Glanz, was dieser trostlosen Gegend etwas Schönheit verlieh, denn es sah so aus, als ob sich die Sonne mit der Erde vereinte.
Je mehr die Sonne verschwand, um so mehr eroberte die Nacht den Himmel. Die Sterne leuchteten ihr wenigstens etwas den Weg in dieser Neumondnacht. Die Menschen mit ihren schlechten Augen würden hier wohl nichts sehen können, doch mit den wachsamen Augen einer Elfe konnte sie alles genau erkennen. Endlich konnte sie in einiger Ferne das sehen, worauf sie die letzten drei Tage zugesteuert war: Ein Dorf, mit nicht mehr als 200 Einwohnern, irgendwo im Nichts und abgeschnitten vom Rest der Welt, primitive Bauernhäuser, jedoch unter der harten Knute der Diamantenen Hexe. Asyra wusste nicht genau, was sie veranlasste, genau diesen Ort anzulaufen. Warum sollte der legendäre Krieger in so einem Dorf nicht auffallen? Sie hatte sich schon so oft Gedanken über dieses Thema gemacht, aber nun interessierte sie nur noch, wie lange sie noch bis zum Dorf brauchen würde. Sie schätzte, dass es nur noch fünf oder sechs Meilen waren.
Dann sah sie etwas, was ihr ganz und gar nicht gefallen wollte: eine Gruppe aus fünf Menschen mit zwei Fackeln, wahrscheinlich Straßenräuber, vielleicht auch Späher, Asyra konnte sie nicht unterscheiden. Alles, was sie wusste, war, dass diese Männer bestimmt nicht nur nett mit ihr reden wollten. Sie alle hatten ihre Schwerter, Knüppel und Säbel bereits gezogen. Nur einer hatte einen Stab. Er schien ein Magier zu sein. Nun meldete sich etwas Warmes an ihrer Brust. Die Kette, die ihre Mutter ihr vor ihrem Abschied geschenkt hatte, die sich immer dann erhitzte, wenn ein Magier in ihrer Nähe den Geist zu ihr ausschickte. „Was macht Ihr reizende Dame noch um diese Zeit hier draußen? Wisst Ihr nicht, dass es gefährlich ist, sich außerhalb des Dorfes aufzuhalten?“, neckte einer der Männer sie. Auch wenn sie jetzt noch zutraulich wirkten, Asyra wusste, dass sie vorhatten, sie zu töten.
Da spürte sie auch schon, wie ein fremder Geist probierte, in den ihren zu dringen. Der Mann tastete sich – wie ein Blinder an einer Panzerglaswand – an ihrem Geist entlang, ohne einen Halt zu finden, und doch unermüdlich eine Schwachstelle suchend. Asyra war so konzentriert, dass sie nicht mehr hörte, was der Mann mit dem Langschwert und dem Schild sagte. Plötzlich und ohne Vorwarnung rief einer der Männer, wahrscheinlich der Magier: „Sie ist es! Schlagt sie nieder!“
Asyra blieb nicht viel Zeit. Sie sammelte einen Teil der Kraft, die ihren Körper durchströmte, in ihrer linken Hand und zog mit der Rechten blitzschnell ihren Säbel. Die meisten Menschen würden alle ihre Konzentration darauf aufwenden müssen, die Kraft zu bündeln, sie jedoch nicht. Mit ihrem Säbel blockte sie den einen Schlag eines der Männer, den zweiten ließ sie mit einem Gedanken die Beine, Arme und den Mund fesseln. Sie kickte dem Mann das Schwert aus der Hand und stieß ihren Säbel durch den Hals des Kämpfers. Sie spürte, wie die Muskeln und Adern aufrissen. Es widerte sie an, so etwas zu tun. Blut spritzte ihr ins Gesicht und auf ihren Arm, als sie den Säbel aus dem Hals des Kriegers zog, um den kommenden Schlag abzublocken. Sie sammelte ihre Kraft erneut und zeigte mit zwei Fingern auf den Mann, der einen schweren Knüppel und ein Schild trug. Ein heller Blitz erfüllte die Nacht und sofort fiel der Mann stöhnend zu Boden. Doch bevor dieser anfangen konnte zu schreien, war er bereits tot. Er hatte ein breites Loch im Bauch, aus dem es schwer rauchte. Ein Krieger mit Säbel sprang sie von der Seite an und ließ eine Salve von Angriffen auf Asyra niederprasseln. Für einen Menschen war er bestimmt ein guter Kämpfer, doch Asyra konnte seine Schläge ohne Probleme abwehren. Kaum hatte der Mann seine Salve beendet, bückte sich Asyra und gab dem Mann einen Fußfeger. Dieser verlor den Halt, sodass er auf den Rücken fiel. Ohne zu zögern, stieß sie den Säbel durch seinen Brustkorb, wobei das Knacken der Knochen unüberhörbar war. Das Blut floss rasend schnell aus dem Körper. Asyra schloss die Augen für einen Moment, denn ihr wurde schlecht, als sie daran dachte, was sie gerade tat.
Als sie die Augen öffnete, war einer der beiden letzten Männer genau vor ihr und ließ sein Schwert auf sie niederfahren. Überrascht sprang sie einen Schritt zur Seite. Dabei vernachlässigte sie kurz ihre mentale Schutzmauer, was der feindliche Magier sofort nutzte, um ihr einen Zauber aufzuerlegen. Anscheinend war es ein ungeübter Zauberkundiger, denn Asyra spürte, dass der Zauber den Mann anstrengte, obwohl es kein schwerer Spruch war.
Doch er zeigte Wirkung, denn Asyra wurde jäh in ihrem Ausweichmanöver unterbrochen. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihren Körper, als das Schwert ihr die Schulter aufriss. Asyra schrie auf, auch wenn die Wunde nicht sehr tief war. Dabei merkte sie, wie der Lähmzauber seine Wirkung verlor, und setzte zum Gegenangriff an. Sie sammelte die Kraft, während ihr Widersacher zum zweiten Schlag ansetzte.
Diese nutzte sie, um selbst einen Zauber zu sprechen, der sie unglaublich leicht werden ließ. Sie schnellte an ihm vorbei und bevor der Krieger wusste, wie ihm geschah, war er bereits tot. Der Säbel steckte ihm im Rücken und die Spitze ragte aus seinem Bauch.
Asyra überlegte nicht lange, sondern ließ ihren Säbel im toten Körper stecken, blies den Geist des Magiers mit einem geistig erzeugten Windstoß von sich weg und ging zu einem brutalen Gegenangriff über. Der Magier, der mit dieser Aktion überhaupt nicht gerechnet hatte, schaffte es nicht, seinen Geist vor ihrem zu verschließen. Asyra, die nun im Geist des Mannes war, las all seine Gedanken und spürte seine Emotionen. Die Angst, die sie ihm bereitete, das Grauen vor dem Tod und die Panik, die ihm das Denken vernebelten.
Asyra sprach direkt in seinen Geist hinein und der Magier zuckte zusammen: „Für wen arbeitet Ihr? Warum greift Ihr eine Wehrlose an?“ Er sank auf die Knie und fing an zu wimmern, antwortete dann aber: „Unsere Herrin ist die Diamantene Hexe, ihr gehört unser Gut, unser Dorf, unser Land! Sie weiß, dass Ihr jenen aus der Legende sucht. Sie will es verhindern und hat ein Kopfgeld in Höhe einer Grafschaft auf Euch ausgesetzt.“
Asyra war sichtlich überrascht. Sie war nicht davon ausgegangen, dass dieser Magier alle Informationen bereitwillig preisgeben würde und hatte eigentlich damit gerechnet, dass sie magische Mittel benutzten müsste.
„Ja, das ist mein Belangen. Ihr könnt Euch zwar gegen die Kraft von Reane verteidigen, doch wenn Ihr wirklich Eure Reiche erhalten wollt, braucht Ihr das Fayriath.“ Es war sehr unüblich und galt in diesen Regionen als mutig, den Namen der Diamantenen Hexe auszusprechen. „Wenn Ihr mir helfen wollt, sagt mir, ob ich hier einen Jungen mit eigenartigen Kräften, nussbraunem Haar und blonden Strähnen finde.“ Der Mann war sichtlich verdutzt. Sie sah, wie in rascher Bildabfolge Jugendliche und junge Erwachsene in seinen Gedanken erschienen, doch keines der Bilder wollte auf die Beschreibung passen. Mittlerweile hatte er sich wieder erhoben, schaute aber immer noch starr auf den Boden. „Nein, hier im Dorfe kenne ich keinen Jungen, der auf Eure Beschreibung zutrifft. Aber Ihr könnt ja versuchen, die Bauernhöfe im Süden des Dorfes aufsuchen.“ Er zeigte in Richtung des Dorfes. „Es sind in dieser Gegend natürlich nicht viele, aber einige werden es schon sein.“
Asyra schaute an ihm vorbei. Der Mann log nicht, dafür hatte er zu viel Angst. Sie hatte zwar damit gerechnet, aber es war trotzdem eine Enttäuschung, zu erfahren, dass sie wieder mehrere Tage gegangen war, nur um dies zu erfahren.
„Danke für diese Informationen, sie waren sehr hilfreich. Nun ...“
Jetzt spürte sie wieder ein neues Gefühl im Geiste des Mannes. Die Angst, ja die pure Panik vor dem Kommenden. Er glaubte fest daran, dass er den folgenden Tag nicht mehr erleben würde. Doch Asyra zog sich aus dem Geist des Mannes zurück und zog den Säbel aus dem Körper, dem sie vor einigen Minuten das Leben entrissen hatte. Sie machte ihre Klinge an der Hose einer der Männer sauber, während sie ihre Wunde nebenbei heilte, und lief dann weiter, an dem verdutzten Magier vorbei, in die Dunkelheit.
Im Dorf angekommen, suchte sie eine Schlafmöglichkeit. Sie entdeckte eine Taverne, doch dort schienen zu viele Leute zu feiern. Sie mochte diese Enge nicht. Außerdem würde sie als Fremde bestimmt eine Menge Aufmerksamkeit erregen, aber sie musste unentdeckt bleiben. Je weniger Reane etwas über sie wusste, desto sicherer war sie. Ausgelaugt und müde wie sie war, ging sie weiter und entdeckte eine weitere Taverne, deren Name auf einem kleinen Holzschild neben dem Eingang stand: Zur grünen Wiese.
Asyra schmunzelte. Der Optimismus der Menschen hatte sich hier von Kleinigkeiten wie unfruchtbarem Land nicht erschüttern lassen. Sie überlegte kurz und hatte dann ihren Entschluss getroffen.
In der Hoffnung, gleich einen erholsamen Schlaf zu genießen, stieß sie die Tür auf. Es roch nach Schweiß, altem Stroh und Bier. Anscheinend lagen die besten Zeiten dieser Taverne schon einige Jahre zurück, denn hier saßen nur ein oder zwei junge Burschen. Eine Frau mit blonden Haaren und einem für einen Menschen hübschen Gesicht eilte herbei: „Ihr wünscht?“
„Ich würde hier gerne für ein oder zwei Nächte verweilen“, beantwortete Asyra die Frage der Wirtin. Die Frau schaute an Asyra hinunter und schien kurz zu überlegen, nickte dann und fragte: „Wünscht Ihr den Schlafsaal oder ein Zimmer für Euch allein?“ Asyra war es eigentlich egal. Da sie aber befürchtete, dass wieder ein Soldatentrupp mitten in der Nacht erscheinen würde, erwiderte sie: „Das Einzelzimmer wäre mir recht. Für meine Mahlzeiten werde ich selbst sorgen.“ Sie war in den Geist der Frau eingedrungen und wusste daher schon, dass sie dies als Nächstes gefragt hätte. Nach dem Bezahlen bekam sie einen Schlüssel für ihre Tür und einen weiteren für die Truhe, die wie bei den meisten Gasthäusern in Einzelzimmern stand. Asyra hatte nie verstanden, warum die Menschen immer so viel Wert auf ihren Besitz legten. Wenn sie wirklich etwas bräuchten, könnten sie es doch bei sich tragen oder sich eben nicht an so viele Sachen binden.
Die Dame führte sie nach oben zu einem kleinen Zimmer: „So, da wären Ihre Gemächer. Sagt, wo kommt Ihr her und was macht Ihr in so einer trostlosen Gegend? Ich will ja nicht aufdringlich sein, aber neugierig bin ich schon.“ Asyra lächelte sie an: „Ich bin auf der Durchreise und komme aus dem Westen Boaniens. Meine Verwandten, zu denen ich reise, leben in Salumarien.“ Diesen Satz hatte sie gut einstudiert. Da Boanien an der Küste lag und Salumarien mitten im Herzen von Lorandor und der kürzeste, wenn auch gefährlichste Weg durch die Steppe ging, würde es wohl niemandem verdächtig vorkommen. Die Frau lächelte zurück und ging dann wieder, drehte sich noch mal um, hob die Brauen und schüttelte den Kopf. Asyra wusste nicht, was es war, aber irgendwas sagte ihr, dass sie diese Frau nicht zum letzten Mal gesehen hatte.
Die Frau mit den langen grauen Haaren, welches glatt von ihren Schultern hing, ging eine der vielen Treppen ihres Palastes hinunter. Neben ihr wand sich ein smaragdgrünes Krokodil. Sie schaute auf die Stadt, die sich am Fuße des Palastes befand, in der um diese Zeit nur noch die wenigsten Wesen auf der Straße unterwegs waren. Die Häuser waren aus einfachem, wenn auch wunderschönem rotem Backstein und zählten einst zu den schönsten Gebäuden Lorandors. Doch seit dem Bau oder besser dem Erschaffen der Kristallburg verblasste ihre Schönheit vor dem Glanz des riesigen Palastes.
Dieser Palast und ihre Vorliebe für wertvolle Edelsteine waren der Grund, warum ihre Untertanen sie nur noch die Diamantene Hexe nannten. Ihr gefiel der Name. So lernte das mindere Volk wenigstens, sich vor ihr zu fürchten und andere Völker einzuschüchtern. Die Menschen waren schwach und zerbrechlich. Die wenigen Freien, die es noch gab, waren in den Süden oder den Nordwesten zu den restlichen freien Königreichen geflohen, einige zu den Elfen in die Ewigen Wälder im Norden, der Rest zu den Kobolden oder den letzten Zwergen in die Berge.
Reane lachte laut. Ja, sie war die mächtigste Frau von Lorandor und weder Elfen, Triliten, Zwerge noch die Kobolde konnten ihr was anhaben.
„Ralosch!“ Sie schickte ihren Geist nach dem Zwergen-Diener aus, der das Eindringen seiner Herrin in seinen Geist gar nicht bemerkt hatte. „Warum bist du nie zur Stelle, wenn man dich braucht? Los, komm her!“ Sie merkte, wie der Zwerg vor Angst bebte, als sie ihn im Geist förmlich anbrüllte. Es machte ihr Spaß, zu sehen, wie die Schwächeren den Mächtigeren unterlagen. Erneut lachte sie laut.
Nach kurzer Zeit kam der Zwerg herbeigeeilt. Mit weiten Augen und in Lumpen gewickelt, stand er vor ihr. Er schnaufte heftig, ließ aber das Ritual der Treue nicht aus. Er verbeugte sich, stand wieder auf, ballte beide Hände zur Faust und drückte sie gegeneinander. „Ihr habt mich gerufen, Herrin?“ Der Zwerg hatte eine feste Stimme, doch Reane wusste, dass ihn die Ruhe sehr viel Konzentration kostete. Die Hexe lächelte ihn an: „Du weißt, was mir in letzter Zeit große Sorgen bereitet?“ Ralosch nickte. „Nun, ich will sie endlich aus dem Weg geräumt haben! Ich will, dass nichts von ihr übrig bleibt, überhaupt nichts! Asyra läuft nun schon seit einigen Wochen in meinem Reich herum und schwächt nicht nur unsere Garnisonen, sondern erweckt bei den Menschen wieder das Gefühl, dass sie sich MIR widersetzen können!“ Reane sagte dies alles im ruhigen Ton, doch je mehr sie darüber nachdachte, um so mehr stieg der Zorn in ihr auf. Was dachte sich die Elfe überhaupt dabei, einfach durch ihr Reich zu spazieren und all ihre Mühen, die Widerstände im Volk einzudämmen, zu zerstören?
Der Zwerg, der noch immer darauf wartete, dass sie weitersprach, schaute ihr weiterhin fest in ihre eisblauen Augen, vor denen das gesamte Volk panische Angst hatte. Sie wandte sich um und sah wieder auf die Stadt. Ein Lächeln zuckte durch ihre Mundwinkel, als ihr ein vorzüglicher Gedanke kam, den sie Ralosch sofort mitteilte: „Nun, wieso sollten wir unsere Kräfte nicht wirklich mal messen? Soll sie es doch mit der aufnehmen, die sie glaubt, schwächen zu können. Ralosch, bereite mir ein Bad vor! Ich werde mich gleich entspannen wollen!“ Der Zwerg verbeugte sich so tief, dass sein langer Bart den Boden berührte. Dann eilte er rasch die Treppe hinauf und verschwand in den großen Kristallen des Palastes.
Reane beugte sich zu dem Krokodil herunter und berührte dessen Geist. Die wenigsten wussten, was für ein mächtiges Wesen es war. „Willst du diese Aufgabe für mich erledigen, mein Kleiner?“ Reane spürte, wie Freude und Dankbarkeit durch den Geist des Krokodils gingen. Zu lange war er schon in dieser Form gewesen und hatte sich nicht mehr auf Jagd begeben. „Herrin,Ihr seid zu gnädig. Ich werde diese Aufgabe mit Freude beenden.“ Kurz blickte er nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn sah. Kein dummer Mensch oder törichter Zwerg sollte sehen, was er wirklich konnte.
Er konzentrierte sich auf die Kraft in seinem gesamten Körper und im nächsten Moment löste sich sein Körper in grauen Nebel auf und wirbelte in einem kleinen Sturm umher. Kurz darauf verschwand der graue Nebel und ein großer, schwarzer Falke mit blutroten Augen war nun dort, wo vorher noch das Krokodil stand. Dies war nicht seine wahre Form, aber es war die praktischste Form zum Reisen. „Wo werde ich sie finden?“ Der Falke sprach zu seiner Herrin im Geist. Reane formte die Hände zu einer Schale und hielt diese weit vom Körper entfernt. Kurz schloss sie die Augen. Die Kraft, die sie in den Handflächen sammelte, wurde zu einer Kugel, die sich zu einer winzigen Karte formte. Es war die Karte von Boanien, eine Provinz, die an Salumarien grenzte. Boanien war eine Region mit vielen Gold- und Marmorminen, aber der Rest der Provinz war größtenteils von einer Steppe bedeckt.
„Sie hat Schutzzauber um sich gewoben. Genau kann ich daher nicht sagen, wo sie ist,“ Der Zorn in Reanes Stimme war begründet, denn immerhin hatte die Elfe es schon wieder gewagt, sie herauszufordern. Zwar hätte sie wohl kein großes Problem, einen Gegenzauber zu finden, doch war sie jetzt nicht in der Stimmung dazu und außerdem wollte sie ihren Diener nicht warten lassen. Der Falke sprang aufs Geländer und drehte sich noch mal um. „Quäle sie ruhig. Die Menschen sollen sehen, wozu ich in der Lage bin.“ Mit einem gellenden Schrei spreizte er die Flügel und flog in die Nacht hinein.
Reane lächelte, wie sie es so gerne tat. Jetzt wird diese törichte Elfe endlich ihr gerechtes Schicksal erleiden. Außerdem hatte sie ihrem Diener und alten Freund auch mal einen Gefallen getan. Sie schaute noch etwas auf die Stadt hinunter. Nur zum Spaß schickte sie ihren Geist aus und drang in das Unterbewusstsein eines Mannes unten in einer Gasse ein.
Dieser war gerade dabei, eine Frau in die Enge zu drängen, um das Geld der törichten Dame an sich zu nehmen. Ohne große Probleme wob sie einen Zauber, denn nun wusste sie, wo sich der Mann befand. Sie hob die rechte Hand, ballte sie zur Faust und drehte diese in Richtung des Diebes. Als sie nach einigen Sekunden endlich bereit für den Zauber war, ließ sie diesen aus ihrer Hand schießen. Eine unsichtbare Welle flog auf den Mann zu. Der Zauber ließ alle Knochen im Körper des Mannes zerbersten, wodurch der eben noch so lebendige Geist nur noch einmal kurz aufflammte und danach nicht mehr da war. Das Lächeln auf Reanes Gesicht wurde breiter.
Sie drehte sich um, ging die Treppe langsam hinauf und durchschritt die Diamantenen Hallen ihres Palastes. Ja, so wie dieser Mann würden nicht nur die Elfe und ihre Probleme ausgelöscht werden, sondern auch die letzten Hoffnungen der Menschen und der Glaube an das Fayriath, denn Reane wusste schon längst, was die Elfe wollte. In ihrem Bad angekommen, schloss sie die Augen. Nicht mehr lange und sie würde die unumstrittene Herrscherin Lorandors sein!
Asyra wachte auf. Sie wusste nicht, wie spät es war, da das Tavernenzimmer keine Fenster hatte. Müde stand sie auf und zog sich ihre Kleidung an.
Nach zwei Stunden stand sie auf dem belebten Marktplatz, in Gedanken versunken. Der Mann gestern hatte sie nicht angelogen, das wusste sie. Trotzdem konnte es sein, dass der Mann sich nur in diesem Moment vor Aufregung und Angst nicht an den Jungen erinnert hatte. Natürlich konnte er sich auch nicht alle Gesichter merken. Für Asyra war das Dorf noch nicht abgeschlossen, sie musste vollkommen sicher sein, dass der Junge hier nicht lebte. Jedoch konnte sie mit ihrer notdürftigen Verkleidung nicht irgendwelche Dörfler ausfragen. Dafür war sie zu auffällig. Mit ihrem Stirnband, das halbwegs ihre Ohren verdeckte, und ihren schiefen Augen müssten selbst diese Hinterwäldler schon von ihr gehört haben. Ihr fielen gleich mehrere Zauber ein, die ihr in dieser Lage helfen könnten. Um kein Risiko einzugehen, entschloss sie sich für die sicherste, aber leider auch Kräfte zehrendste Variante.
Sie ging aus dem Dorf hinaus und setzte sich ungefähr eine Meile entfernt auf einen grauen, aus dem Boden ragenden Felsen. Sie schloss die Augen und ließ ihre Kraft durch ihren Körper strömen. Mehrere Minuten saß sie regungslos da. Plötzlich spürte sie, wie die benötigte Kraft von ihren Reserven entrissen wurde. Ein Gefühl von Luftleere breitete sich in ihrem Körper aus. Asyra musste einige Male tief einatmen, dann war wieder alles beim Alten. Es war ihr Glück, dass sie als Elfe große Mengen an Kraft besaß, auch wenn ihr diese aufgrund ihres Alters und ihrer unvollendeten Ausbildung noch nicht komplett zur Verfügung stand. Die meisten anderen Elfen hätten kein Problem mit diesem Zauber gehabt.
Wie gewöhnlich schickte sie ihren Geist aus, um die Geiste der Bewohner zu erforschen. Durch den Zauber war sie dabei viel unauffälliger und kräftiger als gewöhnlich.
Unbemerkt drang sie in den Geist einer Frau ein.
Bei ihr wäre dieser Zauber nicht vonnöten gewesen. Diese einfache Schneiderin hatte keine Ahnung von ihrem Geist oder gar davon, wie sie diesen schützten konnte. Asyra hatte auch nichts anderes erwartet. Dennoch war es eine reine Vorsichtsmaßnahme. Überall konnten Spione oder Magier der Diamantenen Hexe lauern und ihr Eindringen bemerken.
Asyra, die noch immer im Geist der Frau war, suchte in ihren Gedanken nach dem Jungen.
Nach kurzer Zeit jedoch zog sie sich enttäuscht zurück. Immerhin wollte Asyra nicht wissen, ob Onkel Garond nicht vielleicht doch lieber den roten Mantel hätte kaufen sollen. Ihr Interesse galt ganz dem Jungen, nicht den Privatangelegenheiten der Personen.
Asyra suchte noch drei weitere Geiste ab, bis sie endlich einsah, dass sie sich schon wieder geirrt hatte.
Sie öffnete die Augen und musste sich erst an die grelle Sonne gewöhnen, die mittlerweile schon weit ihren Lauf genommen hatte. Dann sprang sie auf und lief in Richtung Süden, wo sich die Bauernhöfe befanden. Ihre Sachen hatte sie schon am Morgen gepackt. Sie würde nicht wieder zurückkommen, denn falls die toten Wachen gefunden werden würden, wäre sie wohl als einzige Besucherin die Hauptverdächtige.
Lange lief sie nicht. Kaum hatte sie das Dorf aus den Augen verloren, sah sie schon einen Schäfer, der einige Schafe zu einer kleinen, kläglichen Grasfläche führte. Asyra hielt an und schaute dem Jungen zu, wie er sich mit den Schafen abmühte, die einfach nicht zu der Wiese gehen wollten.
Obwohl Asyra nichts am Aussehen der Menschen fand, musste sie doch zugeben, dass er ungewöhnlich hübsch war. Der Junge hatte lange braune Haare und für diese Region ganz untypische Augen. Die meisten Menschen hatten hier dunkelbraune, einige hellbraune, die wenigsten blaue Augen. Doch seine waren von einem glänzenden Grasgrün und der innerste Rand war sonnengelb. „Lasst Euch helfen.“ Asyras Stimme war ganz ruhig. Der Junge blickte auf, lächelte sie an und antwortete: „Ich kann doch keine Dame wie Euch für mich arbeiten lassen!“ Asyra kicherte. Die Menschen probierten doch immer wieder, sich mit einigen schmeichelnden Wörtern bei Ihresgleichen eine Gefährtin zu suchen. Doch da Asyra wissen musste, ob der Junge, den sie suchte, sich hier befand, durfte sie es sich mit diesem Jungen nicht verscherzen, darum machte sie bei seinem Spiel mit. „Ach, Ihr seid so reizend.“ Doch sie hatte keine Lust, hier ewig zu verweilen, sie musste weiter, denn die Hexe würde immer mächtiger werden.
Daher wollte sie in seinen Geist einbrechen, um die nötigen Informationen zu suchen. Sie berührte seinen Geist. Gerade wollte sie weitersprechen, als sie merkte, dass der Junge einen geistigen Schutzwall gebildet hatte. Doch nicht nur das, er schien auch noch gemerkt zu haben, dass Asyra seinen Geist abtastete.
Seine Augen richteten sich direkt auf Asyras Kopftuch und seine Augen weiteten sich.
Sie sammelte ihre Kraft und machte sich kampfbereit, blieb sonst aber ruhig und gelassen. Der Junge blickte sich um. Asyra fragte sich, was er suchte. Wartete er auf Verstärkung? Auch Asyra blickte sich jetzt um, konnte aber niemanden sehen.
Sie schaute den Jungen erneut an. „Ihr seid es!“, flüsterte der Kobold und im nächsten Moment hüllte sich sein Körper in grauen Rauch.
Schnell sprang Asyra einige Schritte zurück. Ihre Gelassenheit fiel von ihr ab.
Langsam löste sich der graue Dunst. Und als Asyra erkannte, was vor ihr stand, atmete sie erleichtert auf. Es war ein Kobold, gerade mal anderthalb Schritt hoch, mit von Narben übersäter Haut und großen, hängenden Ohren. Schief grinsend schaute er sie an.
Asyra war sprachlos, aber keinesfalls verängstigt. Immerhin hatte sie mit Schlimmerem gerechnet. Der Kobold schaute aus kleinen, schwarzen Augen zu ihr hoch. „Ihr müsst die Elfe sein, von deren Anwesenheit im Hoheitsgebiet uns erzählt wurde.“ Die Stimme des Kobolds war leicht höher als sie es in Menschengestalt war. „Man sagt, Ihr kommt, um Tod und Verwüstung zu hinterlassen und die Menschen zu versklaven. Ihr seid eine Gefahr in den Augen der Hexe.“
Asyra grinste. Der ironische Unterton war ihr nicht entgangen. Die Kobolde waren ebenso wenig am Krieg interessiert wie die Elfen.
Dennoch war bekannt, dass Kobolde sich aufgrund ihrer Verwandlungs- und Illusionsmagie öfter als jemand anderes ausgaben. Man munkelte, dass die Kobolde ihre Augen und Ohren überall hätten. Selbst hochrangigen und hoch angesehenen Persönlichkeiten wurde vorgeworfen, Kobolde zu sein.
„Der Mut war nicht das Ausschlaggebende, wohl eher der Wille, die letzten freien Reiche zu schützen. Aber verzeiht, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt“, sie hielt ihm die Hand hin. „Asyra Tre’latha. Geboren in Symaya, der Stadt des Waldes. Meine Beweggründe habt Ihr ja bereits erwähnt.“
Auch Asyra sprach mit leichter Ironie. Der Kobold packte mit festem Griff ihre Hand und sagte: „Zuprecht Silberzunge. Geboren in Wertesch, in den Bergen im Grolmischenbergland. Krieger und Gesandter der Kobolde.“
Asyra war beeindruckt. Koboldkrieger waren eine Seltenheit. Die Kobolde hatten längst dem Kämpfen abgesagt und Kriege führten sie ebenfalls ewig nicht mehr. Umso mächtiger jedoch sind ihre Krieger, welche die uralten und perfektionierten Kampftechniken ihrer Ahnen beherrschen. Selbst in Symaya waren sie für ihre Magie bekannt und sogar Zwerge bewunderten ihre unglaubliche Stärke im Kampf mit dem Stahl.
„Nun, verlässlichen Quellen zufolge sucht Ihr etwas. Genauer gesagt, jemanden“, Zuprecht flüsterte, obwohl niemand weit und breit zu sehen war.
Asyra nickte. Sie erzählte Zuprecht von ihrem Vorhaben. Gespannt lauschte dieser.
Kaum hatte sie fertig gesprochen, sagte er: „Ihr solltet aufpassen. Euer Vorhaben ist alles andere als einfach. Spione reisen durch das Land, Schlägertrupps und Kopfgeldjäger suchen Euch. Reane will kein Risiko eingehen. Sie fürchtet Euch, ansonsten würde sie niemals ein solch hohes Kopfgeld aussetzen.“
„Ihr erzählt mir nichts Neues“, entgegnete Asyra kühl.
Zuprecht schüttelte den Kopf: „Ihr versteht nicht. Allein, dass Ihr mir schon anvertraut habt, was Ihr vorhabt, war ein Fehler. Auch ich könnte ein Spion sein. Ihr seid zu naiv, um in der Menschenwelt überleben zu können.“
Asyra zog hörbar die Luft ein. Tatsächlich war sie etwas zu leichtsinnig mit ihrer Information umgegangen. Immerhin kannte sie Zuprecht erst seit wenigen Minuten und sie hatte ihm bereits von ihrem ganzen Vorhaben erzählt.
„Wenn Ihr so weitermacht, werdet Ihr in der Welt der Menschen nicht mehr lange überleben. Eure Verkleidung ist zu auffällig, euer Elfenhirn zu sehr auf Güte ausgerichtet. Wenn Ihr wirklich den Jungen finden wollt, braucht Ihr die Hilfe einer Person, die sich in der Welt der Menschen gut auskennt und auf dessen Hilfe Ihr zählen könnt. Ihr braucht jemanden wie mich!“ „Aber was ist, wenn Ihr ein Spion seid? Ich meine, Ihr könntet mich dann verraten.“ Asyra hoffte, dass sie ihre Ironie gut zur Geltung gebracht hatte. Als sie jedoch sah, dass Zuprecht etwas entgegnen wollte, fiel sie ihm noch einmal schnell ins Wort: „Habt Ihr Euch das denn gut überlegt?“
„Habe ich. Illusionen zu hüten macht nach so langer Zeit auch keinen Spaß mehr. Ich brauche Abwechslung!“ Und mit einem Schnippen ließ er alle Schafe verschwinden.
Asyra war erstaunt darüber, dass es sich bei den Schafen nur um Illusionen gehandelt hatte.
Ihr war das vorher gar nicht aufgefallen. Mit einem weiteren Schnippen und einem geflüsterten „Vienkombius“ kam wie aus dem Nichts ein fertig gepackter Rucksack.
Asyra grinste. Obwohl sie etwas misstrauisch war, konnte sie nicht verleugnen, wie sehr es sie freute, endlich einen Gefährten bei sich zu haben.
Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor, dass sie eine Person hatte, mit der sie sich richtig unterhalten konnte.
Endlich würde die Reise nicht mehr so einsam sein.
*
Die Steppe schien unendlich weit zu sein. Oder sie liefen einfach nur im Kreis?
Asyra und Zuprecht waren bereits den zweiten Tag unterwegs und die Steppe mit den paar Bäumen und trockenem Gras war nun wirklich kein schöner Ort, um mehrere Tage dort zu verweilen. Dazu wurden die Vorräte langsam knapp und wenn sie nicht in den nächsten Tagen eine Siedlung oder ein Dorf passieren würden, würden sie noch in dieser Einöde verhungern.
Zuprecht murrte nicht, schien aber auch nicht glücklich zu sein. Wahrscheinlich hatte er sich die Reise ganz anders vorgestellt. Die Elfe konnte es ihm nachfühlen. Auch sie wollte nicht in einer scheinbar ewig weiten Steppe herumirren, ohne Anhaltspunkte und ohne Plan. „Wir brauchen spätestens morgen frisches Wasser. Wir haben nur noch zwei Schläuche und damit es bis morgen reicht ...“, er musste nicht zu Ende sprechen. Der Junge mit den grasgrünen Augen schaute ihr tief in die Augen. Zuprecht nannte seine Verwandlung immer die Alltagsform.
Asyra musste jedes Mal bei diesem Wort lachen. Der Kobold war ein netter Begleiter und wenn alle seiner Art so waren wie er, dann musste man das Vorurteil, dass alle Kobolde grimmige, schrumplige und langweilige Wesen wären, schleunigst verbannen. Gern erzählte er Witze, wobei meist eine Fee die Dumme spielen musste. Denn mit denen – so hatte er ihr erzählt – hatten die Kobolde schon seit langem Streitigkeiten. „Wie Elfen und Zwerge“, hatte Asyra damals gesagt. Mittlerweile jedoch hatten die Zwerge Wichtigeres zu tun, als mit den Elfen über den Wert irgendwelcher Schwerter oder einer goldenen Kette zu diskutieren. Nachdem sich nach dem Streit um die Thronnachfolge eine ganze Armee unter der Leitung des zweitgeborenen Hagrosch, Sohn des Gor, unter die Führung der Diamantenen Hexe gestellt hatte, hatte ein interner Krieg die Zwerge erschüttert. Mehrere Aufstände waren ausgebrochen und der Hass zwischen den Königstreuen und den Anhängern Hagroschs hatte schon mehrere Tode gefordert. Dabei waren die kleinen, aber durchaus kräftigen Krieger eine gigantische Bereicherung für jeden Mitstreiter.
Asyra schaute gerade gedankenverloren zum Horizont, als ihr etwas ins Auge fiel: Rauch. Irgendwo dort am Horizont stieg Rauch auf. Sie sammelte ihre Kraft. Keinen Augenblick später war es, als würde sie durch ein Fernrohr schauen. Sie sah ein Dorf, gar nicht mal klein, aber noch in weiter Ferne. „Ein Dorf, ungefähr 15 Meilen und wir sind da. Dort können wir unsere Vorräte auffüllen!“, rief Asyra vor Freude und deutete in die Richtung des Dorfs. Nachdem sie den Zauber gelöst hatte, schaute sie Zuprecht an. Der Kobold in Menschengestalt freute sich nicht minder und beide beschleunigten ihre Schritte, während sie auf das Dorf zugingen.
Auf halber Strecke blieb Zuprecht jedoch stehen, hielt Asyra die Hände an die Ohren und beantwortete die Frage, bevor sie sie hätte stellen können: „Deine Ohren verraten dich, ohne das Kopftuch fällst du weniger auf. Mutandere Werdeform.“ Ein leichtes Kribbeln. Ein kurzer Stich und dann war alles vorbei. Zuprecht nahm die Hände wieder von den Ohren. Dann gingen sie weiter, bis sie zu der Palisade kamen, die das Dorf umgab. Es gab einen jungen Wachmann, der, als er die beiden Neuankömmlinge sah, eine wichtige Miene aufsetzte und mit einer tiefen Stimme, die gar nicht zu seinem jugendlichen Gesicht passte, fragte: „Was wollt Ihr in unserem schönen Dorf? Ihr seid doch nicht hier, um Ärger zu machen? Wir stehen unter dem Schutz der allmächtigen Hexe!“ Der Junge schien Reane zu verehren, denn nur die wenigsten nannten sie so, oder er war einfach nur naiv. „Wir wollen nur unsere Vorräte auffrischen“, sprachen Zuprecht und Asyra wie aus einem Munde. „Na dann ist ja gut, aber ich behalte Euch im Auge.“ Dieser Dialog spielte sich eigentlich mit fast jedem Gardisten oder Büttel ab, daher schenkten sie ihm keine große Beachtung. Es dämmerte bereits und beide waren müde vom ständigen Wandern. Sie hatten heute kein einziges Mal Pause gemacht und nur nebenbei ein Laib Brot mit etwas Schinken für Zuprecht und Käse für Asyra gegessen. Denn wie alle Elfen aß sie kein Fleisch, da ihr die Vorstellung, Tiere zu töten, nur um sich selbst zu sättigen, ganz und gar fremdartig und barbarisch vorkam.
Sie suchten sich eine Taverne, irgendwo in der Nähe des Marktplatzes. Sie bezahlten für ein Zweibettzimmer und gingen hinauf, einem alten, dicken Wirt hinterher, um ihre Sachen abzulegen. Zwar war es eine schöne Taverne, doch kostete sie auch etwas. Besonders Zuprecht hatte nur widerwillig bezahlt und damit das Vorurteil bestätigt, dass die Kobolde geizig und geldgierig waren. Asyra, die als Elfe an kaum etwas hing und schon gar nicht an so etwas wie Geld, war der Preis egal.
Da der Wirt ihnen eine warme Mahlzeit versprochen hatte, gingen sie wieder nach unten. Asyra schaute sich um und flüsterte dann: „Zuprecht? Wie lange hält die Verwandlung an?“ Sie deutete auf ihre Ohren. „Also bis heute Nacht sollte es reichen. Ich dachte, dass ich es morgen einfach erneuere. Denn so habe ich genügend Kraft für morgen und ich spare auch ein“, wisperte dieser zurück.
Sie musste unwillkürlich lächeln, noch ein Beweis für den Geiz der Kobolde. Der Wirt brachte ihnen ihr Essen, es war ein einfacher Eintopf. Einige Bohnen schwammen mit einigen Kartoffeln und Möhren zusammen im Wasser, woraus der Eintopf größtenteils auch bestand. Der Wirt lächelte sie gutmütig an und versicherte ihnen, dass sie morgen wegen des notdürftigem Abendessens auch noch das Frühstück serviert bekommen würden. Die beiden nickten freundlich und bedankten sich. Asyra aß den Teller langsam und mit Bedacht leer, während Zuprecht den Eintopf förmlich verschlang. Obwohl sie missbilligend den Kopf schüttelte, musste sie doch innerlich lachen.
In ihrem Zimmer legten sie sich auf ihre Betten, die nach den letzten zwei Nächten auf hartem Boden das Beste waren, was sie hätten bekommen können. Sie gingen den Plan für morgen noch einmal schnell durch: „Morgen Vorräte auffrischen, dann sich etwas in der Stadt umhören und dann weiterreisen.“ Asyras Hoffnung war nicht sehr groß, dass sie den Jungen hier finden würden, doch wer konnte schon genau wissen, wo sich dieser Bursche aufhielt? Während Zuprecht die Decke überwarf, pustete Asyra die Kerze aus, die die einzige Lichtquelle im Raum war, der nur ein Fenster hatte. Nun legte auch sie sich hin. Diese Reise oder eher gesagt diese Suche, war anstrengender als erwartet, auch wenn sie sich jetzt eingestand, dass sie keine allzu schwere Reise erwartet hatte. Sie legte ihren Säbel in Reichweite, so wie sie es immer tat, damit sie bei einem Angriff sofort kampfbereit war. Müde und erschöpft freute sie sich auf eine erholsame Nacht.
Der Falke flog nun schon zwei Tage über die Steppen des Landes. Er brauchte den Schlaf nicht, wieso auch? Die Kraft nährte ihn, denn er war weder ein normaler Falke, noch ein normales Krokodil, noch ein Mensch, Zwerg, Elf, Kobold, Trilit oder sonst etwas. Er war er und so was wie ihn hatte es erst wenige Male in der Geschichte der Welt gegeben. Wieso eigentlich? Wieso war seine Art nicht über allen diesen niederträchtigen und hässlichen Menschen und Elfen gestanden? Warum hatte sich sein Geschlecht nicht durchgesetzt? Er stellte sich oft diese Frage, er konnte es einfach nicht akzeptieren. Ihm stieg der Rauch eines kleinen Dorfes in die Nase, doch ihn störte es nicht. Im Gegenteil, der Rauch erinnerte ihn an Zerstörung, Wut und Hass. Diese Gefühle durchströmten ihn fast durchgehend, nur jetzt wurden sie von der Lust übertroffen, Wesen zu töten. Seine Art wurde oft als blutrünstig angesehen, doch was wussten sie schon von ihm? Gar nichts, niemand wusste, wer er wirklich war, nur seine Herrin und ihre Vertrauten wussten es. Andere sollten es auch gar nicht erfahren, nur die Elfe sollte es für kurze Zeit wissen, aber sie würde nicht die Zeit finden, es jemandem zu erzählen, denn bevor sie reden könnte, würde er sie zerfetzen!
Er wusste, wo das Dorf war, in dem die Elfe sich befand. Denn er hatte ein Geheimnis, von dem sonst niemand wusste. Durch einen der vielen Zauber, die er in seinem Repertoire hatte, konnte er jedes Wesen sehen, egal, wie viele Schutzzauber es um sich gelegt hatte. Doch dieses Wissen würde er nicht einmal mit seiner Herrin teilen, denn irgendwann würde er auch sie vom Thron stürzen und er würde ihre Position einnehmen. Er segelte langsam über die Steppe hinweg, er hatte Gegenwind, sonst wäre er viel schneller gewesen. Allerdings konnte es ihm egal sein. Er musste sich nicht hetzen, die Elfe war sowieso langsamer als er und wann sie starb war genauso unwichtig, solange sie diesen Jungen nicht fand. Dann erspähten seine scharfen Falkenaugen etwas und er gellte einen schallenden Ruf durch die Nacht. Er hatte das Dorf entdeckt, nun würde die Elfe ihr Schicksal ereilen.
Im Sturzflug schoss er auf das Dorf zu und landete auf einem Palisadenpfahl. Er musste nur noch die Tavernen durchsuchen, dann würde er seine Aufgabe erledigt haben. Für das, was er tun musste, schloss er die Augen. Mit der Kraft, die in ihm wohnte, suchte er die Elfe, sie würde sich nicht verstecken können.
Langsam wurde ihm schwarz vor Augen, dann sah er ein Bild, wie durch eine beschlagene Scheibe. Es war unscharf, wurde aber von einem Moment zum nächsten scharf. Er sah ein Haus, eine Taverne, wie er jetzt erkannte. Dann wurde das Bild immer näher an ein Fenster im obersten Stockwerk herangeführt. Als er endlich durch das Fenster sehen konnte, sah er eine Frau. Ob es wirklich die Elfe war? Sie hatte das gleiche Gesicht wie das letzte Mal, doch sie hatte keine spitzen Ohren! Und war das nicht eines der Hauptmerkmale der Elfen? Auch die schiefliegenden Augen schienen nicht mehr vorhanden zu sein und die Hautfarbe war ebenfalls dunkler. Bevor er sich noch einmal vergewissern konnte, ob er sich nicht einfach verguckt hatte, wurde das Bild wieder schwarz und langsam fand er sich auf seinem Pfahl wieder.
Diese Umstände verunsicherten ihn. Aber sein Vertrauen in seine magischen Kräfte war stärker. Noch nie hatten sie ihn enttäuscht, wieso sollten sie es jetzt tun? Und selbst wenn sie es nicht war, sondern nur ein mickriger Mensch, würde er sie einfach weiter suchen. Jetzt brauchte er nur noch nach der Taverne Ausschau halten und dann würde er wissen, ob er die Elfe gefunden hatte oder nicht.
Er schwang die Flügel und flog eine Weile über die Stadt, auf der Suche nach dem Marktplatz. Als er diesen gefunden hatte, landete er in dessen Mitte und schaute sich um. Alle Straßen und Gänge der Stadt führten hierher, also musste er nur jeden einzelnen absuchen. Zuerst nahm er einen schmalen Gang. Er flog ihn entlang, doch ohne Erfolg, denn die Taverne war nicht in dieser Gasse. Was erlaubte sich dieses Dreckstück, sich einfach in einer Taverne zu verstecken? Er durchflog alle Gassen, aber nirgendwo konnte er die Taverne finden. Dass er sich das Bild der Taverne nicht gut eingeprägt hatte, war ein großer Fehler. Wut stieg wieder in ihm auf, nun würde die Elfe richtig leiden! Er ließ sich auf einen Balken nieder, der aus einem Hausdach herausragte. Während er überlegte, ob er nicht eventuell doch noch einmal den Zauber anwenden sollte, fiel ihm etwas ins Auge. Ein Haus, das ihm sehr bekannt vorkam. Dann fiel sein Blick auf ein Fenster im oberen Stockwerk und dort sah er sie. Friedlich lag die Frau in ihrem Bett. Sie hatte das Gesicht der Elfe, doch die Augen und die Ohren schienen menschlich. Während er sich noch immer fragte, ob sie es war, fiel ihm etwas anderes auf. Ein Mensch mit langen braunen Haaren lag in einem anderen Bett. Wenn sie es war, hatte sie etwa den Jungen schon gefunden? Das konnte nicht sein, wahrscheinlich war es die falsche. Es musste die falsche sein! Er schaute noch einmal auf die Frau und hätte er in seiner jetzigen Form einen Mund gehabt, wäre ihm wohl die Kinnlade runtergeklappt. Die Augen und Ohren der Elfe wurden von grauem Rauch umgeben und als sich dieser wieder löste, waren die Merkmale der Elfen unübersehbar: die spitzen Ohren und die leicht schiefen Augen, das makellose, bleiche Gesicht und dazu die kirschroten Lippen.
Der Falke gellte einen schrillen Schrei in die Nacht hinaus, die Elfe würde den morgigen Tag nicht erleben. Er flog in die Luft, sammelte seine Kraft und ließ mit einem weiteren Schrei das Fenster zerbersten. Dann ging er zum Sturzflug über.
Das grelle Splittern des Fensters ließ Asyra und Zuprecht hochschrecken. Sie griff nach dem Säbel, Zuprecht jedoch hatte keine Waffe. Im nächsten Moment flog ein Falke in den Raum, pechschwarz und mit blutroten Augen, der Asyra direkt in die Augen blickte und sich im nächsten Moment in grauen Rauch auflöste. Star vor Schreck stand sie da, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Zuprecht kam angelaufen und zog sie mit sich, aus dem Raum hinaus. Im Vorbeilaufen murmelte er: „Rekoranek.“
Nach einem schnellen Fingerschnippen löste sich ihr Gepäck auf. Hastig liefen sie den Gang entlang. „Was war das?“ Asyra sammelte ihre Gedanken, sie brauchte einen klaren Verstand. „Keine Ahnung, aber es kann mir auch gestohlen bleiben.“ Zuprecht lief die Treppe hinunter. Er musste durchgehend seine Menschenform beibehalten, denn er lief erstaunlich sicher dafür, dass diese Beine eigentlich viel zu lang für ihn waren. Sie liefen durch den Hauptraum und aus der Tür hinaus in Richtung Marktplatz. Hinter sich hörten sie nur ein fürchterliches Brüllen, aber Asyra und Zuprecht drehten sich nicht um, sie hatten beide zu viel Angst. Sie hetzten zum Marktplatz, Zuprecht hielt noch immer Asyras Arm fest. Er zog sie in eine kleine Nebenstraße und lief diese entlang. Obwohl sie nicht wussten, ob das Etwas sie immer noch verfolgte, hielten sie nicht an. Sie bogen immer mal wieder in eine Gasse ein, ohne wirklich zu ahnen, wo sie sich befanden. Plötzlich hörten sie von hinten ein Fauchen. Instinktiv drehte sich Asyra um und im nächsten Moment wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Eine pechschwarze Gestalt, zwei Schritt hoch, in der Form eines Löwen, jedoch mit einem mächtigen Schuppenpanzer und giftgrünen Augen, war keine 15 Schritte hinter ihnen. Seine lange Mähne wehte im Wind und die rote Zunge einer Echse kam immer wieder kurz aus dem offenen Maul des Ungeheuers heraus. In beiden Händen hielt es ein Langschwert, mit ebenso pechschwarzer Klinge. Es trug keine Rüstung, doch seine kupferfarbenen Eisenhandschuhe waren kaum zu übersehen. Zuprecht zerrte die Elfe weiter, sie wäre wohl einfach stehengeblieben, denn der Anblick war zu entsetzlich. Sie kannte so ein Wesen nur aus den alten Geschichten der Ältesten, die diese damals wieder von deren Ältesten gehört hatten. Es waren Ungeheuer, die einst durch die damals ebene Region von der Donnernden Faust nach Lorandor gelaufen waren. Die Zwerge hielten sie so gut wie möglich auf und ließen die Donnernde Faust mittels eines Rituals, in dem mächtige Magie gebraucht wurde, errichten, damit nie wieder solche Wesen nach Lorandor kommen würden. Doch weniger als ein halbes Dutzend dieser Wesen konnte sich verstecken und sie tauchten innerhalb der Geschichte erst dreimal wieder auf. Sie richteten allesamt riesige Blutbäder an und konnten erst von der einzigartigen Magierin Zaida Westwind auf den Dracheninseln, von dem mächtigen Elf Feryala Sya’lerath beim Baum der Ewigkeit und dem legendären Zwergenkönig Ranlosch, Sohn des Trasch, am Salzersee erschlagen werden. Niemals hätte Asyra damit gerechnet, einem solchen mächtigen Wesen, Gartak genannt, zu begegnen. Sie waren nicht nur in der Lage, mächtige finstere Magie zu wirken, sondern dazu noch äußerst bewandert im Kampf.
Sie liefen mittlerweile fast im Sprint, doch auch der Gartak legte nach und kam immer näher. Zuprecht brüllte: „Dartenor Scharkdek.“ Er schnippte mit den Fingern und deutete im Laufen, ohne hinzuschauen, hinter sich. Ein blauer Blitz entfuhr seinen Fingern, doch Asyra wusste nicht, ob er getroffen hatte, sie war zu sehr mit Laufen beschäftigt. Sie bogen wieder in eine Seitengasse ein. Es war eine schmale, aber lange Gasse. Sie hatten aber keine Zeit, sich über die Art der Gasse Gedanken zu machen, immerhin war ihnen eines der mächtigsten Wesen von ganz Lorandor auf den Fersen.
Das Laufen war sehr anstrengend und Asyra und Zuprecht verloren schon langsam das Gefühl in den Beinen, sie wussten nicht, wie weit sie gerannt waren und wie lange schon. Asyra blickte sich wieder um, der Gartak schien sie nicht mehr zu verfolgen. Zuprecht zog sie in eine kleine Sackgasse, die voller Kisten und Fässer war. Dann streckte er seine gespreizten Hände von sich weg und murmelte die Worte: „Isularata Visonaris Finitum.“ Von den Händen nach außen breitete sich eine Wand aus, sodass die Sackgasse nicht mehr zu sehen war, jedoch konnte man aus der Sackgasse nach draußen schauen. „Ein komplizierter und kräftezehrender Zauber“, erklärte Zuprecht mit leiser Stimme auf den fragenden Blick von Asyra. Sie ruhten sich aus, doch ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Bei jedem Krächzen und Knacken schraken sie auf. Dann aber hörten sie ein leises regelmäßiges Klacken. Der Gartak kam! Langsam und leise ging er an ihnen vorbei, wobei er sich nach links und rechts umschaute. Er schien zu ahnen, dass sie hier waren. Zuprecht, der noch immer vor der Illusion stand, hielt mit weit aufgerissenen Augen die Luft an. Das Ungeheuer schnupperte und schlug mit dem langen schwarzen Schwanz eine Kiste neben der Illusion kaputt. Nun, ganz langsam, bewegte er seinen Löwenkopf in Richtung Zuprecht. Es trennten sie nur noch einige Zentimeter und eine Illusion. Asyra befürchtete, dass der Gartak jeden Moment zustechen würde. Aber dann, ganz langsam, hob Zuprecht seine Hand, die er nun zu einer Faust geballt hatte, vor sein Gesicht. Ohne Vorwarnung riss er seine Faust auf, sodass alle Finger gespreizt waren, während er schrie: „Bobartum!“
Die Wucht der Kraftwelle, die von Zuprechts Hand ausging, riss den Gartak von den Füßen, sodass es ihn durch die steinerne Wand des Hauses gegenüber schleuderte. Große Brocken fielen auf den geschuppten Löwen. Asyra, die erst jetzt realisierte, was Zuprecht da getan hatte, hob nachträglich noch beide Hände und streckte sie so weit wie möglich von sich weg. Sie sammelte die Kraft und schleuderte die Kisten, die sich in der Sackgasse befanden, auf den Gartak. Zuprecht schrie: „Komm endlich! Ein zweites Mal klappt das nicht!“ Sie nickte, warf noch mal einen Blick auf das Ungeheuer, welches vollkommen unter Schutt begraben lag und bog wieder in die schmale Gasse ein. Ob das Monster tot war, wussten sie beide nicht, sie glaubten nicht wirklich daran, doch hoffen konnten sie.
Asyra lief Zuprecht nach, ohne zu wissen, wo er hin wollte. Sie waren viel langsamer als vorher, die Zauber hatten sie viel Kraft gekostet. Die Gasse endete auf einer der zwei Hauptstraßen, die aus dem Dorf herausführten. Sie bogen in Richtung Palisade ab und liefen so schnell sie konnten auf diese zu. Dann hörten sie wieder ein Brüllen, nicht weit hinter ihnen. Im nächsten Moment erhob sich ein Stein vor Asyra. Sie konnte ihre Beine nicht rechtzeitig heben, stolperte über den Stein und stürzte. Zuprecht, der erst jetzt feststellte, dass Asyra gestürzt war, stand mittlerweile zehn Schritt von ihr entfernt. Schnell richtete sie sich auf und drehte sich um. Ihren Säbel hielt sie bereits kampfbereit in der Hand. Noch während sie sich umdrehte, sah sie, dass der Gartak schon vor ihr stand. Ohne zu zögern, machte sie einen Satz nach hinten und sah wie eine Klinge um Haaresbreite an ihrer Nase vorbei zog. Der Konter, den sie starten wollte, scheiterte, denn das zweite Langschwert rauschte bereits von der Seite an, das sie mit ihrem Säbel parierte. Ihr gesamter Körper zitterte, als das Langschwert auf ihre Waffe traf. Sie schaute ihrem Widersacher ins Gesicht. Seine giftgrünen Augen leuchteten aus den tiefen Höhlen und die gespaltene Zunge züngelte immer wieder um seine Mundwinkel. Galle tröpfelte aus dem Maul, aus dem es fürchterlich stank. Es jagte ein Schlag den anderen. Asyra wich zurück und blockte die Attacken ab, während sie ihre Kraft sammelte, um an Geschwindigkeit zu gewinnen. Endlich spürte sie, wie ihr Körper leicht wurde. Nun setzte der Gartak erneut zum Schlag an, aber jetzt war Asyra deutlich schneller als vorher. Erneut sammelte sie ihre Kraft in ihrer linken Hand, die sie einmal blitzschnell über den Kopf kreisen ließ, und drückte sie ihrem Widersacher mit einer unglaublich flinken Bewegung in den schleimigen Schuppenpanzer. Eine Efeuranke band sich um den Körper und schlängelte sich rasend um den Körper des Gartak. Bevor diese seine Arme erreichten, ließ das Monster seine beiden Schwerter auf Asyra hinab sirren. Ihre Augen weiteten sich, als die Schwerter ihr den Rücken aufrissen.
Asyra gab einen Schrei von sich, der so qualvoll war und bei dem wohl jedes andere Wesen wahnsinnig geworden wäre, aber der Gartak erfreute sich nur daran. Er wollte zum zweiten Angriff ansetzen, doch die Ranken hinderten ihn dran. Ihr komplettes Sichtfeld verdunkelte sich, sie wusste nicht mehr, wer oder wo sie war, sie wusste nicht, was sie hier machte und warum sie das tat. Alles, was sie wusste, war, dass diese unendlichen Qualen endlich ein Ende nehmen sollten. Und wie durch ein Wunder hörten die Schmerzen tatsächlich auf und sie hörte von ganz weit weg jemanden rufen. Danach ein Schrei, ein helles Licht, ein weiteres ebenso helles Licht und plötzlich spürte sie wundersam weichen Rasen. Dann einen dumpfen Aufschlag und zum Schluss merkte sie überhaupt nichts mehr.
*
„Was ist geschehen?“, sprach eine hohe Stimme zu ihr „Wie gesagt, ich weiß es nicht! Dieser Kobold scheint die beiden hergebracht zu haben.“ Die andere Stimme war noch höher als die erste. Dann fing die erste Stimme wieder an zu sprechen: „Aber wie sind sie hierher gekommen? Ich meine, es sind fast tausend Meilen von der Steppe bis hierher.“ „Sie hatten eine Träne dabei. Wo sie diese her haben, frag mich bloß nicht.“ Dies war wieder die zweite Stimme. Asyra fühlte sich ganz elend. Sie hatte fürchterliche Kopfschmerzen, sie hatte Hunger, Durst und ihr war unglaublich heiß. Dazu fühlte sie sich müde und kaputt. Sie wollte sich aufrichten, doch ihr gesamter Körper wollte sich nicht bewegen und ein stechender, fast unerträglicher Schmerz durchfuhr vom Rücken aus jeden Knochen, jeden Muskel und jede Sehne.
Ihre Augen konnte sie nur wenige Millimeter weit öffnen. Sie sah verschwommen einen runden Raum aus Holz. Ein Tisch und zwei Stühle standen mitten im Raum. „Und was machen wir jetzt mit ihr?“, meldete sich eine dritte, nicht weniger hohe Piepsstimme nun zu Wort. „Die Wunde am Rücken sieht sehr tief aus. Ob wir sie heilen können?“
Nach einer kurzen Pause sprach die dritte Stimme erneut: „Sitrana? Hol doch bitte etwas Wasser. Wenn sie aufwacht, wird sie bestimmt etwas trinken wollen.“ Nach einer erneuten Pause fing die zweite Stimme wieder an: „Der Kobold, er wacht auf.“ Asyra hörte ein lautes Stöhnen und das Plätschern von Wasser. „Wie geht es dir?“ Das war wohl wieder die erste Stimme, aber sie war nun viel aufgeregter. „Lass ihn doch erst mal zu Wort kommen, Atrina. Er fühlt sich nicht wohl“, meldete sich die dritte erneut zu Wort. Diese schien so etwas wie die Leiterin zu sein. Sie wandte sich an Zuprecht: „Wie geht es dir? Du wurdest anscheinend von einem mächtigen Zauber schwer verwundet. Deine gesamte Kraft wurde dir entrissen und irgendetwas hat ein Loch durch deine Schulter gebohrt.“ Asyra erschrak. Plötzlich waren ihre Gedanken geordnet und ihr Verstand glasklar. Zuprecht hatte ein Loch vom Gartak in die Schulter gerammt bekommen? Und wo waren sie? Hatte die eine Person nicht gesagt, sie seien fast tausend Meilen von der Steppe entfernt? Wo sie auch war, sie wusste nur, dass sie sich einen mächtigen Feind gemacht hatten, wahrscheinlich den mächtigsten. Denn nun waren sie die Beute der Diamantenen Hexe und ihres Gefolges.