Lore. Die Spiele haben begonnen. Sie kämpft um ihr Leben - Alexandra Bracken - E-Book + Hörbuch

Lore. Die Spiele haben begonnen. Sie kämpft um ihr Leben Hörbuch

Alexandra Bracken

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Beschreibung

Actionreiche Götter-Fantasy mit starker Heldin von #1-New-York-Times-Bestsellerautorin Alexandra Bracken. Lore versucht, einfach nur normal zu sein und zu vergessen, dass sie dazu ausgebildet wurde, griechische Götter zu jagen. Doch dann steht die nächste Jagd bevor und jemand sucht ihre Hilfe, der sie und ihresgleichen eigentlich hasst: Athene. Die Göttin bietet Lore ein Bündnis gegen den neuen Ares an, der vor Jahren Lores Familie ermordet hat - und seitdem noch mächtiger geworden ist. Sieben Tage ist Ares sterblich und die Rache für ihre Familie in greifbarer Nähe für Lore. Doch reicht das Bündnis mit Athene aus, um Ares aufzuhalten, der die menschliche Welt in Schutt und Asche legen will? Die Jagd auf die Götter ist eröffnet!   "Ein Epos vom Anfang bis zum Ende. Bracken webt gekonnt einen Wandteppich voll neuer Mythologie, durchzogen von antiken Legenden - eine Geschichte über Macht, alte Wunden und Liebe, getragen von einer Protagonistin, die ich von der ersten Seite an, als sie kampfbereit und mutig aufgetreten ist, angefeuert habe." Marie Lu, New-York-Times- & Spiegelbestsellerautorin

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Zeit:17 Std. 12 min

Sprecher:Irina Salkow

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Alexandra Bracken

ist in Arizona geboren und aufgewachsen und hat Geschichte sowie Englisch studiert. Nachdem sie mehrere Jahre im Verlagswesen gearbeitet hat, schreibt sie inzwischen in Vollzeit. Ihre Bücher sind weltweit in über 15 Sprachen erschienen und ihre »The Darkest Minds«-Serie wurde verfilmt. Besuche die Autorin unter www.alexandrabracken.com und auf Twitter und Instagram unter @alexbracken.

Sabine Schilasky

hat Anglistik, Amerikanistik und Germanistik studiert und ist seit über zwanzig Jahren mit großer Begeisterung freie Übersetzerin. Sie hat drei mittlerweile erwachsene Kinder und lebt mit Mann, Hund und Katze in Hamburg. Neben dem Übersetzen kocht und backt sie leidenschaftlich gern und weiß zu schätzen, dass ihr Hund sie regelmäßig vor die Tür scheucht.

Ein Verlag in der Westermann Gruppe

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »LORE«bei Hyperion, ein Imprint von Buena Vista Books, Inc.

1. Auflage 2022

© für die deutschsprachige Ausgabe: 2022 Arena Verlag GmbH

Rottendorfer Str. 16, 97074 Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Published by Arrangement with Alexandra Cayley Bracken

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Aus dem Amerikanischen von Sabine Schilasky

Text © 2021 Alexandra Bracken

Covergrafik © 2021 Billelis

Innenillustrationen © 2021 Keith Robinson

Reprinted by permission of Disney • Hyperion Books.

All rights reserved.

Lektorat: Laura Held

E-Book ISBN 978-3-401-81024-9

Besuche den Arena Verlag im Netz:

www.arena-verlag.de

HINWEIS

Dieses Buch kann sensible Themen enthalten. Weitere Informationen dazu auf Seite 583. (Achtung: Diese Hinweise enthalten Spoiler!)

Für meine griechische Familie.

Σας αγαΠώ óλους.

NOCH EXISTIERENDE BLUTLINIEN

DAS HAUS KADMOS – Die Kadmiden

Träger des Schlangenzeichens Angeführt von Wrath, Wiedergeburt des Ares

DAS HAUS ODYSSEUS – Die Odysseiden

Träger des Zeichens des Trojanischen Pferdes Angeführt von Heartkeeper, Wiedergeburt der Aphrodite

DAS HAUS THESEUS – Die Thesiden

Träger des Minotauruszeichens

DAS HAUS ACHILLES – Die Achilliden

Träger des Kriegerzeichens

DAS HAUS PERSEUS – Die Perseiden

Träger des Gorgonenzeichens Angeführt von Tidebringer, Wiedergeburt des Poseidon

AUSGESTORBENE BLUTLINIEN

DAS HAUS MELEAGROS – Die Meleagriden

Träger des Zeichens des Kalydonischen Ebers

DAS HAUS BELLEROPHON – Die Bellerophoniden

Träger des Pegasuszeichens

DAS HAUS JASON – Die Jasoniden

Träger des Widderzeichens

DAS HAUS HERAKLES – Die Herakliden

Träger des Zeichens des Nemeischen Löwen Angeführt von Reveler, Wiedergeburt des Dionysos

Der Herr des Himmels stand strahlend vor dem einsetzenden Zwielicht und sprach: Hört mich an, Erben jener stolzen Männer, die sich in die Finsternis wagten, um Ungeheuer und Könige der Vergangenheit zu töten. Ich rufe euch zu einem letzten Agon auf, um euren eigenen ewigen Ruhm zu erlangen.

Neun Götter haben mich verraten und verlangen grausame Rache.

Alle sieben Jahre werden sie für sieben Tage als Sterbliche erscheinen, damit ihr Männer und all eure künftigen Nachfahren von eurem vorbestimmten Weg abweichen und den Faden eures Lebens in unsterbliches Gold verwandeln könnt.

Beweist eure Stärke und euer Geschick, und ich werde euch mit der Unsterblichkeit und der Macht des Gottes belohnen, dessen Blut eure kühne Klinge befleckt. Für diese Chance fordere ich viel.

Versammelt euch am Nabel der Welt und beginnt eure Jagd, wenn der Tag anbricht.

So soll es bis zum letzten Tag sein, wenn einer bleibt, der neu erschaffen wird.

Zeus in Olympia,

übersetzt von Kreon von den Odysseiden

Beim Aufwachen spürte er harten Boden unter sich und nahm den Gestank vom Blut Sterblicher wahr.

Sein Körper erholte sich nicht so schnell wie sein Verstand, und unerwünschte Empfindungen loderten in ihm, als sich seine Haut anspannte wie frisch gebrannter Ton.

Der Tau im Gras sickerte hinten durch seine dünne blaue Tunika, und er spürte den Schmutz auf seinen nackten Beinen und Füßen. Ein beschämender Schauer durchfuhr ihn von Kopf bis Fuß. Zum ersten Mal seit sieben Jahren fror er.

Das Sterblichenblut, das ihn durchströmte, war wie zäher Sirup verglichen mit dem flüssigen Sonnenschein des Ichors, der sämtliche Spuren seiner Sterblichkeit verbrannt hatte. Sieben Jahre lang war er nah und fern durch die Lande gestreift, hatte das Böse in Mörderherzen geschürt, die Glut von Konflikten zu Flammen genährt. Er war die Wut selbst gewesen.

Die Beschränkungen eines Körpers wieder zu fühlen … zurück in diesem schwachen Gefäß zu sein … es war Qual genug, dass er Mitleid mit den alten Göttern empfand. Sie hatten diese Grausamkeit zweihundert-zwölfmal so oft durchlebt.

Er würde es nicht. Dies würde seine letzte Kostprobe von Sterblichkeit sein.

Seine Sinne waren benommen, doch er erkannte die Stadt und ihren prächtigen Park. Der Geruch frisch gemähten Grases vermischte sich mit einer schwachen Note von Kanalisation. Verkehrslärm in der Ferne.

Seine Mundwinkel bogen sich linkisch nach oben, als er sich zwang zu erinnern, wie man lächelte. In seinem sterblichen Leben hatte diese Stadt ihm gehört. Die Straßen hatten ihm Reichtümer geboten, und die Gierigen hatten ihm Macht verkauft. Manhattan hatte einmal vor ihm gekniet und würde es wieder tun.

Er rollte sich auf die Seite und richtete sich zum Hocken auf. Sobald er sich seiner Gliedmaßen gewiss war, erhob er sich zur vollen Größe.

Dunkles Blut floss in Bächen um ihn herum. Ein junges Mädchen, dem die Maske vom Gesicht gerissen worden war, starrte ihn mit blinden Augen vom Rand des Kraters an. Ein Messer steckte noch in ihrem Hals. Der abgetrennte Kopf eines Mannes trug eine Pferdemaske. Ein Dolch lag in einer schlaffen Hand, der Finger fehlten.

Rechts von ihm war ein leises Schlurfen zu hören. Er griff nach einem Schwert, das nicht mehr an seiner Seite war. Drei Gestalten traten aus dem Schatten naher Bäume. Sie überquerten den gepflasterten Weg zwischen ihnen, die Gesichter hinter Bronzemasken mit dem Bild einer Schlange verborgen.

Seine sterbliche Blutlinie. Das Haus Kadmos. Sie waren gekommen, um ihn, ihren neuen Gott, zu holen.

Er dehnte seinen Nacken, bis es knackte, und beobachtete, wie sie sich näherten. Die Jäger waren voller Ehrfurcht, und das gefiel ihm. Sein Vorgänger, der letzte neue Ares, war des Amtes eines Kriegsgottes unwürdig gewesen. Es war ein großes Vergnügen gewesen, ihn vor sieben Jahren zu töten und sein Geburtsrecht zu erhalten.

Der größte der drei Jäger trat vor. Belen. Der neue Gott sah amüsiert zu, wie der junge Mann ungerührt die Pfeile aus den Leichen rupfte.

Ein Jammer, dass sein einziger noch lebender Spross als Bastard geboren wurde. Er kam nicht als Erbe von Aristos Kadmou infrage, der einstigen sterblichen Form des neuen Gottes. Trotzdem lächelte er vor Stolz beim Anblick des jungen Mannes.

Belen hob seine Maske und senkte respektvoll den Blick. Der Gott streckte eine Hand aus und malte mit den Fingern die Linien seines Gesichts nach. Der Junge war ihm so ähnlich. Aristos’ vernarbte Hülle von Jahrzehnten war weggeschält worden, als er zum Gott aufgestiegen war, sodass er wieder jung wurde. Für immer in der Blüte seines Lebens.

»Verehrtester von uns allen«, sagte Belen und kniete sich hin. Er bot dem neuen Gott ein Bündel aus der Tasche an seiner Hüfte an – eine dunkelrote Seidentunika als Ersatz für die hässliche himmelblaue, die er trug. »Wir heißen dich willkommen und bieten dir das Blut deiner Feinde zu deinen Ehren, als Zeichen unserer unsterblichen Treue. Wir sind hier, um dich mit unserem Leben zu schützen, bis die Zeit für dich kommt, in Macht wiedergeboren zu werden.«

»Und darüber hinaus.« Die Worte klangen rau aus der Kehle des neuen Gottes.

»Ja, mein Herr«, antwortete Belen.

Mehr Jäger kamen hinter Belen heran, alle im Schwarz der Jäger. Sie zogen eine Gestalt mit sich, die ebenfalls eine himmelblaue Tunika trug.

»Bring ihn zu mir«, sagte er zu Belen.

Zwei schwarze SUVs mit ausgeschalteten Lichtern kamen von einer nahen Straße herbei und fuhren über das Gras zu ihnen. Die Kadmiden begannen mit ihrer Arbeit. Sie breiteten Planen auf dem Rasen des Central Park aus und rollten die toten Jäger auf sie. Sie gruben den Boden um, ersetzten das blutgetränkte Gras. Dann luden sie die verstümmelten Leichen in einen weiteren SUV, der ihnen gefolgt war.

Dasselbe Ritual wurde von den anderen Blutlinien im Park vollzogen, wie er wusste.

Der Gefangene schlug aus, als er nach vorn gezerrt wurde, rammte seinen Schädel gegen die Jäger in seiner Nähe wie ein tollwütiges Tier. Sie hatten ihm die Fußsehnen zerschnitten, damit er seine Schnelligkeit nicht zur Flucht nutzen konnte. Gut.

Die Jäger zwangen ihn auf die Knie. Der neue Gott griff nach unten und riss ihm die Kapuze vom Kopf.

Goldene Augen glühten, als sie zu ihm aufblickten, und die Funken der Macht in ihnen glommen vor Zorn. Blut rann aus einer Wunde an seiner Stirn; es befleckte seine einst leuchtende Haut und seine Tunika.

»Deine letzte nützliche Kraft ist dir genommen«, sagte der neue Gott. Er packte ein Büschel des lockigen braunen Haars und riss den Kopf nach hinten, sodass der alte Gott zu ihm aufschauen musste.

»Ich weiß, wonach dir verlangt, Göttermörder«, sagte der alte Gott in der alten Sprache. »Und du wirst es niemals finden.«

Er musste nur wissen, dass es nicht vernichtet worden war. Die Rage des neuen Gottes war auf ihre eigene Art euphorisch. Er legte seine scharfe Klinge an das weiche, sterbliche Fleisch des alten Gottes.

Der neue Gott lächelte.

»Betrüger. Bote. Reisender. Dieb«, sagte der neue Gott, bevor er die Klinge durch die Wirbelsäule des Gefangenen stieß. »Nichts.«

Blut barst aus der Wunde. Der neue Gott genoss es, die Furcht des alten Gottes zu sehen – den Schmerz und die Fassungslosigkeit –, als seine Macht schwand. Ein Jammer, dass der neue Gott sie nicht zu seiner eigenen hinzufügen konnte.

»Es ist der Lauf der Dinge, nicht wahr?«, fragte der neue Gott. Er beugte sich nach unten, um genau zu beobachten, wie das Licht in den Augen des alten Gottes erlosch. »Wie es schon bei deinem Vater und seinem Vater vor ihm war. Die alten Götter müssen sterben, damit die neuen aufsteigen können.«

Der Park um sie herum war still bis auf das schmatzende Geräusch der Sägeklinge des neuen Gottes und das belebende Knacken, als er schließlich den Kopf vom Körper abtrennte. Der neue Gott schleuderte Hermes’ Kopf weit genug in die Höhe, dass seine Gefolgsleute ihn sehen konnten.

Die Jäger zischten erfreut und schlugen sich mit den Fäusten auf die Brust. Nach einem letzten Blick auf ihn warf der neue Gott den Kopf auf die nächstgelegene Plane zu den anderen Überresten. Am nächsten Morgen wäre keine Spur mehr von den acht Göttern, die blitzartig an den Rändern des Central Park erschienen waren, zu finden – ebenso wenig von den Jägern, die bei ihrem Versuch, sie zu töten, umgekommen waren.

Die Stadt pulsierte um ihn herum, ächzte vor kaum gebändigtem Chaos. Sie sang ihm ein Lied vom bevorstehenden Schrecken.

»Ich bin Wrath. Ich bin der Zorn.« Der neue Gott kniete sich hin und tauchte die Finger in den blutigen Schlamm. »Ich bin euer Meister.« Er fuhr mit den Fingern über seine Wangen. »Ich bin eure Herrlichkeit.«

Die Jäger um ihn herum nahmen ihre Masken ab, um es ihm gleichzutun, und schmierten sich feuchte, blutgetränkte Erde ins Gesicht.

Ein neues Zeitalter war zum Greifen nah, wartete darauf, von dem einen erobert zu werden, der stark genug war, es zu wagen.

»Jetzt«, sagte der neue Gott, »beginnen wir.«

TEIL 1

STADT DER GÖTTER

1

Ihre Mutter hatte ihr einmal gesagt, um jemanden richtig kennenzulernen, muss man gegen ihn kämpfen. Lores Erfahrung nach enthüllte Kämpfen jedoch nur die Stelle am Körper anderer, auf die sie am wenigsten getroffen werden wollten.

Bei ihrem Gegner war dies eindeutig das neue Tattoo links auf seiner Brust, das noch von einem Verband bedeckt war.

Lore hob ihre Hände in den Handschuhen an, um einen weiteren schlaffen Treffer abzufangen. Ihre Turnschuhe quietschten auf den billigen blauen Matten, als sie einen Schritt zurücksprang. Das silberne Klebeband, von dem der improvisierte Ring zusammengehalten wurde, löste sich nach fünf Kämpfen an diesem Abend in der feuchten Wärme allmählich auf. Lore knurrte, als sie einen Streifen nahe ihren Beinen platt stampfte.

Schweiß lief ihr übers Gesicht, bis sie nichts außer Salz schmeckte. Sie weigerte sich, ihn wegzuwischen, sogar noch, als er in ihren Augen brannte. Der Schmerz war gut. Er sorgte dafür, dass sie sich konzentrierte.

Das Kämpfen war bloß eine neue schlechte Angewohnheit, die ihr nach Gils Tod vor sechs Monaten das Ventil bot, das sie dringend brauchte. Doch ihr ursprünglicher Vorsatz von nur dieses eine Match war vergessen, sobald sie den vertrauten Adrenalinschub fühlte.

Ein Kampf war genug gewesen, um die lähmende Trauer zu durchbrechen, sie aus ihrem Kopf zu befreien und zurück in ihren Körper zu bringen. Der zweite hatte den tiefen Schmerz in ihrem Herzen abgeklemmt. Der dritte hatte ihr eine verblüffende Menge Geld eingebracht.

Und jetzt, Wochen später, gab ihr das Kämpfen gegen fünfzehn Gegner genau das, was sie unbedingt wollte: Ablenkung.

Lore sagte sich, dass sie jederzeit aufhören könnte. Wenn es sich nicht mehr gut anfühlte. Oder wenn es zu viel von dem aufwühlte, was sie in sich vergraben hatte.

Aber so weit war es nicht. Noch nicht ganz.

Im engen Keller vom Red Dragon – Fine Chinese Food herrschte eine drückende Hitze. Zu viele Körper standen um die Matten herum. Die Menge bewegte sich mit den Kämpfern, bildete eine inoffizielle Ringgrenze. Alle hielten ihre Plastikbecher fest und bemühten sich, nichts von dem teuren Alkohol zu verschütten. Scheine und Wettzettel wechselten um Lore herum die Hände, bis sie bei Frankie ankamen, dem Organisator. Lore blickte zu ihm, als er die Wetten für die nächsten zwei Kämpfe annahm. Ihn interessierten die Gewinne grundsätzlich mehr als der Gewinner.

Dampf waberte aus der Küche über ihnen die Treppe herunter, was der Luft etwas Seidiges verlieh. Das Aroma von Kung-Pao-Hühnchen war eine herrliche Abwechslung zum Gestank nach altem Erbrochenem und Bier in den verrammelten Nachtclubs, in denen sie sonst die Kämpfe abhielten.

Der Menge schien es nichts auszumachen; sie nahmen, was sie kriegen konnten, wenn sie dafür den Reiz des Verbotenen bekamen. Frankies exklusive Liste schien dieser Tage merklich weniger exklusiv zu sein: Zu den Models, Typen aus der Kunstszene und Geschäftsleuten, die ihre kleinen Tüten mit weißem Pulver herumreichten, gesellten sich neuerdings häufiger Kids von den Privatschulen, die austesteten, wie weit die Gleichgültigkeit ihrer Eltern reichte.

Ihr Gegner war ein Junge ungefähr in ihrem Alter – ganz weiche, makellose Haut und ungerechtfertigtes Selbstbewusstsein. Er hatte gelacht und sie mit dem Finger gelockt, als er sie unter Frankies verfügbaren Kämpfern auswählte. Lore hatte schon beschlossen, ihn und jeden Funken seines Stolzes zu vernichten, bevor er sie Baby Girl nannte und ihr einen betrunkenen Kuss zublies.

»Lass mich raten«, sagte sie um ihren Mundschutz herum und nickte zu dem Verband auf seiner Brust. »Lebe, liebe, lache? Rosé rund um die Uhr?«

Er runzelte die Stirn, als die Zuschauer lachten. Dann schwang er eine Hand nach ihrem Kopf, wobei er vor Anstrengung schnaufte. Die Bewegung, zusammen mit seiner schwindenden Kraft, ließ seine Brust ungeschützt. Lore hatte ein offenes Ziel, als sie ihren Handschuh auf seine empfindliche Stelle knallte.

Die Augen des Jungen quollen hervor. Mit einem Pfeifen wich die Luft aus seiner Lunge, und er sank auf die Knie.

»Steh auf«, sagte Lore. »Du blamierst deine Freunde.«

»Du … du blöde Schl…« Er würgte ein bisschen in seinen Mundschutz.

Lore hatte sich gefragt, wie lange es dauern würde, bis er einknickte. Jetzt wusste sie es: fünf Minuten.

»Ich bin mir sicher, dass du mich nicht so nennen willst«, sagte sie und umrundete ihn. »Wenn du derjenige auf allen vieren bist.«

Wütend rappelte er sich auf, und Lore verdrehte die Augen.

Nicht mehr so witzig, oder?, dachte sie.

Gil hätte ihr gesagt, sie solle den dämlichen Typen vergessen. Er hatte sie stets auf seine sachliche, großväterliche Art ermahnt, sich nicht in jeden sich bietenden Kampf zu stürzen. Tatsächlich hätte er dies hier gehasst, und Lore hatte auch ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn enttäuschte.

Dabei hatte sie ja andere Sachen ausprobiert, doch die halfen ihr nicht so über den erdrückenden Verlust hinweg, wie es ein guter Kampf tat. Und jetzt musste sie nicht bloß Gils Tod entkommen; noch eine neue Bedrohung wütete in ihr.

Es war August, und die Jagd war in ihre Stadt zurückgekehrt.

Obwohl sie sich bemühte, nach vorn zu schauen und das Schattenleben hinter sich zu lassen, den Sonnenschein eines neuen, besseren Lebens zu genießen, war ein Teil von ihr immer noch auf den Countdown bis zum nächsten Agon abgestimmt. Ihr Körper war angespannter geworden, ihr Instinkt schärfer, als würde sich alles an ihr für das wappnen, was kam.

Seit zwei Wochen bemerkte sie vertraute Gesichter in der Stadt, die letzte Vorbereitungen für heute Nacht trafen. Der Schock war ihr wie ein Messerstich in die Brust gefahren; jede Sichtung war ein Beweis, dass all ihre Hoffnung, all ihr stummes Flehen vergeblich gewesen waren. Bitte, hatte sie in den letzten Monaten wieder und wieder gedacht, lass es in diesem Zyklus London sein. Oder Tokio.

Egal wo, nur nicht New York City.

Lore war klar, dass sie heute Abend gar nicht hätte aus dem Haus gehen dürfen, weil nachts das Morden auf dem Höhepunkt wäre. Sollte sie auch bloß ein Jäger erkennen, würden die Blutlinien nicht nur Götter jagen. Sie hätten es auch auf sie abgesehen.

Aus dem Augenwinkel sah sie Frankie auf seine lächerliche Taschenuhr blicken und das Schluss für heute-Signal geben. Seine Miene sagte deutlich, dass er noch woanders hinwollte, mehr Geld abgreifen.

»Schon fertig?«, fragte Lore.

Anscheinend hatte der Alkohol entschieden, seine Wirkung auf einen Schlag bei dem Jungen zu entfalten. Er scheuchte Lore mit seinen ungeschickt schwingenden Fäusten über die Matten und wurde beständig wütender, je lauter die Menge lachte.

Als Lore sich umdrehte, um einem Hieb auszuweichen, rutschte ihre Kette aus dem Shirt. Der Anhänger, eine goldene Feder, blitzte im gedämpften Licht auf. Und die Faust ihres Gegners traf ihn. Irgendwie musste er sich an der dünnen Kette verfangen haben, denn als Lore sich abermals bewegte, gab sie nach und landete zu ihren Füßen.

Mit den Zähnen löste Lore den Klettverschluss ihres Handschuhs und streifte ihn ab. Sie wich dem nächsten Schlag ihres Gegners aus, hob blitzschnell die Kette auf und steckte sie in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Als sie ihren Handschuh wieder anzog, überkam sie frische Wut.

Gil hatte ihr die Kette geschenkt.

Lore drehte sich wieder zu dem Jungen und sagte sich, dass sie ihn nicht töten durfte. Allerdings könnte sie ihm seine hübsche kleine Nase brechen.

Was sie auch tat, zum Jubel der Menge.

Blut strömte über sein Gesicht, als er fluchte.

»Ich würde sagen, Zeit für die Heia, Baby Boy.« Sie blickte zu Frankie, ob er den Kampf abpfiff. »Es ist sogar …«

Am Rand ihres Sichtfelds sah sie den Schlag kommen und rührte sich gerade rechtzeitig, dass er sie seitlich am Kopf und nicht ihr Auge traf. Die Welt wurde kurz schwarz, ehe sie in lauter grellen Farben explodierte, aber Lore schaffte es, auf den Beinen zu bleiben.

Der Junge grölte siegesgewiss und warf die Arme in die Höhe, während seine Nase immer noch blutete. Er machte einen Satz auf Lore zu, und der Moment, in dem sie begriff, was passierte, war der einzige, der ihr blieb.

Instinktiv hob sie die Hände, um ihre Brust zu schützen, nur hatte er es auf die gar nicht abgesehen. Stattdessen schlang er einen Arm um sie und presste seine Lippen auf ihre.

Lores blanke Panik war wie ein Eisschauer auf ihrer Haut und blockierte ihren Verstand. Der Junge drückte sich fester an sie, und leckte unbeholfen mit der Zunge an ihr, was die Menge mit einem Riesengeheul quittierte.

Etwas in ihr barst, und der Druck, der sich seit Wochen in ihrer Brust aufgebaut hatte, brach in einem wütenden Brüllen aus ihr heraus. Sie rammte ihr Knie zwischen seine Beine. Er fiel um, als hätte sie ihm die Kehle aufgeschlitzt, wobei er ununterbrochen quiekte. Dann stürzte sie sich auf ihn.

Das Nächste, was Lore wahrnahm, war, wie sie fauchend und tretend hochgehoben wurde. Ihre Handschuhe waren voller Blut, und was von seinem Gesicht übrig war, war nicht mehr zu erkennen.

»Hör auf!« Big George, einer von Frankies Sicherheitsleuten, schüttelte sie leicht. »Süße, er ist es nicht wert!«

Lores Herz hämmerte gegen ihre Rippen, viel zu schnell, als dass sie zu Atem kommen konnte. Ihr Körper zitterte, als Big George sie hinstellte und festhielt, bis sie ihm mit einem Nicken bedeutete, dass alles in Ordnung war. Nun ging Big George zu dem Jungen, der stöhnend auf der Matte lag, und tippte ihn mit dem Fuß an.

Als das Wummern in Lores Ohren verebbte, fiel ihr auf, dass es vollkommen still im Raum geworden war. Einzig das Klappern aus der Küche oben war zu hören.

Entsetzen durchfuhr sie und umschlang ihr Herz. Sie hatte nicht nur die Kontrolle verloren, sondern war zu jemandem geworden, von dem sie geglaubt hatte, ihn vor Jahren getötet zu haben.

Das bin ich nicht, dachte sie und wischte sich den Schweiß von der Oberlippe. Nicht mehr.

Es gab mehr im Leben als das hier.

Weil sie unbedingt die Bezahlung für heute Abend retten wollte, ignorierte Lore die Übelkeit und den rasenden Hass auf das wimmernde Stück Dreck auf dem Boden. Sie lächelte verlegen, hob die Hände und zuckte mit den Schultern.

Die Zuschauer belohnten sie mit Jubelrufen und reckten ihre Becher in die Höhe.

»Du hast nicht gewonnen«, beschwerte sich der Junge. »Du hast geschummelt. Es war nicht fair – du hast geschummelt!«

Es war immer dasselbe mit Jungen wie ihm. Was er jetzt empfand, diese Wut, kam nicht daher, dass die Welt sich gegen ihn wandte. Sie rührte von der platzenden Illusion, die ihm einredete, dass er alles verdiente, auf alles Anspruch hatte, bloß weil er existierte.

Lore zog ihre Handschuhe aus und beugte sich über ihn. Die Menge verstummte und beäugte sie so gebannt wie ein Schwarm hungriger Krähen.

»Vielleicht sollte dein nächstes Tattoo lauten: Kann vor lauter Verlieren nicht gewinnen?«, sagte sie süßlich und drückte fest auf seinen Verband, diesmal mit ihrer bloßen Hand. Die Glocke übertönte seinen empörten Schrei und beendete das Match. Big George zerrte den Jungen zurück zu seinen Freunden.

Lore ging zu Frankie. Es war ein Fehler gewesen, heute Abend herzukommen. Immer noch konnte sie nicht entscheiden, ob sie losrennen oder schreien wollte.

Sie schaffte es bis zum Rand des Rings, als Frankie rief: »Nächstes Match: die Goldene gegen Gemini.«

Lore warf ihm einen genervten Blick zu, den er mit seinem üblichen, unbekümmerten Lächeln beantwortete. Und er hielt fünf Finger in die Höhe. Sie schüttelte den Kopf, und er fügte noch drei hinzu. Um sie herum wurde mit zerknüllten Geldscheinen gewedelt und geraschelt, als sich alle beeilten, ihre Wetten zu platzieren.

Sie musste nach Hause gehen. Das wusste sie. Aber …

Lore hielt alle zehn Finger in die Höhe. Frankie runzelte die Stirn, winkte sie aber zurück zum Ring. Sie zog die Handschuhe wieder an und drehte sich um. Falls es ein Freund von dem Jungen war, könnte sie sich wenigstens amüsieren.

War es nicht.

Lore wich zurück. Ihr Gegner stand direkt außerhalb des Lichtkegels von oben. Der junge Mann machte einen Schritt vorwärts, gerade weit genug, dass sich der schwache Lichtschein in der Bronzemaske spiegelte, die sein Gesicht verdeckte.

Der Atem in ihrer Lunge wurde bleischwer.

Jäger.

2

Ein einziges Wort hallte durch ihren Kopf. Lauf!

Doch ihr Instinkt verlangte etwas anderes, und dem gehorchte ihr Körper. Sie nahm eine Verteidigungshaltung ein und schmeckte Blut, als sie sich innen auf die Wange biss. Alles an ihr schien zu vibrieren, elektrisiert von Furcht und Kampfgeist.

Du bist bescheuert, sagte Lore sich. Sie müsste ihn vor all diesen Leuten umbringen oder den Kampf irgendwie nach draußen verlagern, um es dort zu tun. Das waren die einzigen Optionen, die sie sah. Lore war nicht bereit, auf schnapsgetränkten Matratzen im Keller eines Chinarestaurants zu sterben, in dem nicht mal Mapo Tofu serviert wurde.

Ihr Gegner überragte Lore deutlich, doch sie versuchte, es nicht Angst einflößend zu finden. Er war mindestens fünfzehn Zentimeter größer als sie, und sie war selbst alles andere als klein. Sein schlichtes graues T-Shirt und die Jogginghose waren ihm zu kurz und spannten sich über seinem athletischen Körper. Jeder seiner Muskeln war so ausgeprägt wie bei den Männern, die sie von den antiken Vasen ihres Vaters kannte. Und seine Maske stellte die Fratze eines zornigen Mannes dar, der einen Kriegsschrei ausstieß.

Das Haus Achilles.

Tja, dachte Lore matt. Mist.

»Ich kämpfe nicht gegen Feiglinge, die ihr Gesicht nicht zeigen«, sagte sie kühl.

Die Antwort wurde von einem unterdrückten Lachen untermalt: »Dachte ich mir.«

Er nahm die Maske ab und ließ sie am Ringrand fallen. Der Rest der Welt rückte in den Hintergrund.

Du bist tot.

Die Worte blieben ihr im Hals stecken und drohten, sie zu ersticken. Die Menge drängte sie weiter auf die Matte, als sie einen Schritt zurückwich und nach Luft rang, die nicht kommen wollte. Die Gesichter um sie herum wurden zu einem verschwommenen Schatten am Rande ihres Sichtfelds.

Du musst tot sein, dachte Lore. Du bist gestorben.

»Überrascht?«, fragte er, was beinahe hoffnungsvoll klang. Zugleich war sein Blick unsicher. Nervös.

Castor.

Seine Züge waren strenger geworden, alles Jugendliche aus ihnen verschwunden. Und es war erschreckend, wie viel tiefer seine Stimme klang.

Einen entsetzlichen Moment lang war Lore überzeugt, in einem Traum zu sein. Der genauso enden würde wie immer, wenn sie träumte, dass ihre Eltern und ihre Schwestern noch lebten. Sie war nicht sicher, ob sie sich übergeben oder losschluchzen würde. Druck baute sich in ihrem Schädel auf, lähmte sie und erdrückte jede Freude, die sich in ihren Schock hätte mischen können.

Doch Castor Achilleos verschwand nicht. Die Schmerzen von Lores vorherigen Kämpfen pochten noch. Der Geruch nach Alkohol und Frittiertem war überall, und Lore spürte jeden einzelnen Schweißtropfen, der an ihrer Haut klebte, ihr über das Gesicht und den Rücken rann. Dies hier war real.

Nach wie vor konnte sie sich nicht bewegen und nicht aufhören, sein Gesicht anzustarren.

Er ist real.

Er lebt.

Als sich endlich ein Gefühl den Weg durch die Benommenheit bahnte, war es nicht das, mit dem sie gerechnet hatte. Es war Wut. Keine wilde, alles verschlingende Wut, aber dennoch so scharf und gnadenlos, wie es ihre Trainingsklingen einst gewesen waren.

Castor lebte und hatte sie sieben Jahre lang um ihn trauern lassen.

Lore wischte sich mit einem Handschuh übers Gesicht, versuchte, sich wieder zu konzentrieren, obwohl sich ihr Körper anfühlte, als würde er sich gleich auflösen. Dies war ein Kampf. Er hatte schon den ersten Treffer gelandet, doch dieser Mensch war einst ihr bester Freund gewesen, und sie wusste, wo sie ihn am wirksamsten traf.

»Warum soll ich überrascht sein?«, brachte sie mühsam heraus. »Ich habe keinen Schimmer, wer du bist.«

Nur kurz schien Castor unsicher, dann zog er eine Augenbraue hoch und warf ihr ein kleines, vielsagendes Lächeln zu. Um Lore herum ging ein aufgeregtes Flüstern durch die Menge.

Unmöglich könnte sie ihn rausjagen, ohne eine Szene zu machen, und genauso wenig würde sie ihn nach allem, was geschehen war, unversehrt aus diesem Keller kommen lassen. Lore wandte sich zu Frankie, um ihm das Zeichen zu geben, und hoffte, dass niemand bemerkte, wie ihr Herz in ihrer Brust hämmerte.

Die Glocke ertönte. Die Menge grölte. Und Lore ging in Kampfposition.

Geh weg, dachte sie, als sie Castor über ihre Handschuhe hinweg ansah. Lass mich in Ruhe.

Sieben Jahre lang war es ihm nicht wichtig genug gewesen, sie zu finden, also was sollte das hier? Verhöhnte er sie? Wollte er sie zwingen, zurückzukommen?

Von wegen!

»Sei bitte sanft.« Castor hob die Hände und betrachtete einen Riss in einem der geliehenen Handschuhe. »Ich habe schon länger kein Sparring mehr gemacht.«

Nicht nur war er am Leben, er hatte scheinbar auch seine Ausbildung als Heiler anstelle eines Kämpfers abgeschlossen, wie es geplant war. Sein Leben war exakt so verlaufen, wie es sein sollte, ohne sie darin, die es störte.

Und er war nie zurückgekehrt, um sie zu finden. Nicht einmal, als sie ihn am dringendsten gebraucht hätte.

Lore tänzelte leichtfüßig um ihn herum, und zwischen ihnen breiteten sich sieben Jahre wie ein tiefrotes Meer aus.

»Keine Sorge«, sagte sie frostig. »Es wird schnell vorbei sein.«

»Hoffentlich nicht zu schnell«, erwiderte er, und erneut war da die Andeutung eines Grinsens.

Das Licht einer der über ihnen schwingenden Birnen fing seine dunklen Augen ein, und es war, als würde seine Iris Funken sprühen. Seine Nase war lang und vollkommen gerade, obwohl sie beim Sparring so oft gebrochen worden war. Sein Kinn war kantig, und die Wangenknochen stachen wie Klingen hervor.

Lore schlug das erste Mal zu, und er wich zur Seite aus. Er war schneller, als sie es erinnerte, trotzdem wirkten seine Bewegungen schlingernd. So stark er scheinen mochte, war Castor definitiv aus der Form. Lore musste an eine rostige Maschine denken, die Mühe hatte, wieder richtig in Gang zu kommen. Und als wollte er Lores Verdacht bestätigen, neigte er sich ein wenig zu weit vor, sodass er sich ausbalancieren musste, um nicht zu stolpern.

»Willst du jetzt kämpfen oder nicht?«, knurrte sie. »Ich werde pro Match bezahlt, also verschwende nicht meine Zeit.«

»Das würde mir nicht im Traum einfallen«, antwortete Castor. »Übrigens lässt du immer noch die rechte Schulter hängen.«

Lore sah ihn finster an, weigerte sich aber, ihre Position zu ändern. Schon jetzt verloren sie ihr Publikum. Der Kellerboden erbebte unter dem Stampfen der Leute, die sie antreiben wollten, das Tempo zu steigern.

Castor schien die Atmosphäre richtig einzuschätzen – oder er war von zu vielen Drinks besprüht worden. Jedenfalls schien er sich endlich zu konzentrieren. Die Glühbirnen schwankten weiter an ihren Kabeln und warfen bizarre Schatten. Castor bewegte sich in das Licht rein und wieder raus, als wüsste er, wie er selbst zur Dunkelheit wurde.

Er täuschte nach rechts an und landete einen halbherzigen Treffer an Lores Schulter.

Wut explodierte in Lore. So wenig also achtete er sie jetzt. Er sah sie nicht mal als würdige Gegnerin. Eher als Witz.

Lore schmetterte ihm die Faust in die Niere, und als er sich krümmte, hieb sie mit der Linken auf sein Ohr. Er torkelte und sank auf ein Knie, als er das Gleichgewicht nicht mehr halten konnte.

Sie hieb noch einmal nach ihm, diesmal direkt in sein Gesicht, doch er war geistesgegenwärtig genug, ihre Hand zu blockieren. Die Wucht, mit der sie gegen seinen Arm schlug, hallte als Surren ihren Arm hinauf.

»Spiel weiter mit mir«, warnte sie. »Und finde raus, wie das für dich ausgeht.«

Castor hing das dunkle, unbändige Haar ins Gesicht, als er zu ihr aufblickte, und seine helle Haut war gerötet. Sie sah ihn an. Schweiß tropfte von Lores Kinn, und ihr Körper pulsierte noch von dem Sturm, der in ihrem Innern tobte. Wieder tanzten die Lichter der schwingenden Glühbirnen in Castors Augen, dass es beinahe hypnotisch wirkte. Jeder Anflug von Humor war aus seinem Gesicht gelöscht, als hätte sie ihn selbst da rausgekratzt.

Er machte einen Satz nach vorn, schlang einen Arm um ihre Knie und riss ihr die Beine weg. Eben stand sie noch, und im nächsten Augenblick lag sie flach auf dem Rücken und rang nach Luft. Das Publikum jubelte.

Sie hob ein Bein, um ihn von sich wegzustoßen, da erklang Frankies Stimme: »Kein Treten!«

Klar.

Lore rollte sich schwungvoll nach links, sodass sie an den Rand der Matte und wieder auf die Beine kam. Bei ihrer nächsten Salve war Castor bereit und parierte jeden ihrer Schläge. Sie duckte sich, wich aus, tauchte in den Fluss des Kampfes ein. Und unwillkürlich musste sie lächeln.

Jemand kam die Treppe herunter und schob sich durch die Menge. Der eine Blick kam Lore teuer zu stehen – Castor holte mit dem Arm aus und landete einen heftigen Treffer in ihren Bauch.

Sie rang nach Luft und versuchte, sich nicht zu krümmen.

Castor riss beinahe ängstlich die Augen auf. »Alles o…?«, begann er.

Doch Lore senkte den Kopf und rammte ihn geradewegs in seine Brust. Es war, als würde sie gegen eine Betonwand laufen. Sämtliche Nerven in ihrem Körper litten, und schwarze Punkte tanzten vor ihren Augen. Castor ging zu Boden, und sie mit ihm.

Castor rollte sie beide so, dass er oben war, wobei er aufpasste, sie nicht mit seinem Gewicht zu erdrücken, sehr wohl aber auf der Matte festzuhalten. Es tröstete Lore, dass er ebenso schwer atmete wie sie.

»Du bist gestorben«, keuchte sie, während sie sich gegen ihn stemmte.

»Ich habe nicht viel Zeit«, sagte er und wechselte ins Altgriechische. »Ich brauche deine Hilfe.«

Bei seinen Worten gefror ihr das Blut in den Adern. Diese Sprache hatte sie unbedingt vergessen wollen.

»Etwas geschieht«, fuhr er fort. Der Kampf hatte ihn erhitzt, sodass er fast glühte. »Ich weiß nicht, wem ich trauen kann.«

Lore wandte das Gesicht ab. »Und wieso ist das mein Problem? Ich bin raus.«

»Weiß ich, aber ich muss dich warnen – verdammt.« Castor fluchte auch noch in der alten Sprache. Er veränderte ihre Position, sodass Lore sich auf ihn rollte. Sie war sich vage bewusst, dass das Publikum laut bis acht zählte. Zu spät wurde ihr klar, dass er sie gewinnen ließ.

»Du Idiot«, hob sie an.

Doch sein Blick war auf die Gestalt gerichtet, die Lore vorhin bemerkt hatte. Evander – Castors Verwandter und ihr gelegentlicher Spielkamerad, als sie noch Kinder waren.

Van trug eine schlichte schwarze Jägerrobe mit einem goldenen Anstecker über seinem Herzen. Seine dunkle Haut glänzte in der Wärme der erhitzten Zuschauer. Sein kurz geschorenes Haar hob besonders hervor, wie umwerfend gut er aussah. Irgendetwas bedeutete er Castor mit einem strengen Blick.

»Die Zeit ist um«, sagte Castor. Lore war nicht sicher, ob er das Match meinte oder etwas anderes.

»Warte«, sagte Lore, ohne zu wissen, warum. Doch Castor hatte sie bereits von sich gehoben. Seine Hände blieben eine Sekunde länger an ihrer Taille als nötig, ehe er aufstand.

»Er sucht nach etwas, und ich weiß nicht, ob du es bist«, sagte Castor.

Lore wurde schwindlig. Es gab nur einen er, der eine Rolle spielte. Sie kämpfte um den nächsten Atemzug und gegen das Rauschen in ihren Ohren.

»Du bist vielleicht fertig mit dem Agon, aber ich glaube nicht, dass er mit dir fertig ist. Sei vorsichtig.« Castors Blick wurde intensiver, bevor er sich vorbeugte und ihr zuflüsterte: »Du kämpfst immer noch wie eine Furie.«

Er wich zurück, verneigte sich und nahm die Buhrufe der Zuschauer genauso gelassen an wie den roten Becher, der ihm gereicht wurde. Dann bahnte er sich seinen Weg durch die Menge. Als Castor bei ihm war, packte Evander seinen Arm, und gemeinsam verschwanden sie in der Küche oben.

Jemand griff nach Lores Handgelenk, wollte ihren Arm in die Höhe reißen, aber Lore schüttelte ihn ab und drängte sich ebenfalls durch die Menge.

Was machst du denn?, schrie es in ihrem Kopf. Lass sie gehen!

Nahe der Treppe stieß sie fest genug mit jemandem zusammen, dass der andere rückwärts gegen die Wand stolperte. Lore drehte sich um, wollte sich schon entschuldigen, da sah sie, wer es war.

Mist.

Seine Haut war kreidebleich, und als er sie ansah, riss er die Augen so weit auf, dass es beinahe komisch wirkte. Er hatte einen kurzen Hipster-Haarschnitt, seine dünnen Beine steckten in einer knallengen Jeans, und er trug eine Kette aus geflochtenem Pferdehaar.

Miles.

Unglaublich, dachte Lore. Wie zur Hölle konnte diese Nacht noch schlimmer werden?

»Warte hier!«, befahl sie ihm.

Als er benommen nickte, rannte Lore hinauf in die Küche und eilte zwischen den verärgerten Köchen und dem Dampfschleier hindurch, bis sie die kaputte Brandschutztür erreichte und auf die dunkle Straße stürmte.

Die Luft schimmerte rot von den Rücklichtern eines davonbrausenden SUVs. Ein roter Plastikbecher kullerte ihr vor die Füße, auf den etwas geschmiert war.

Tinte.

Sie drehte den Becher im matten Licht über der Tür und entzifferte mühsam die gekrakelten Buchstaben. Ihr Puls hämmerte in ihren Schläfen.

Apodidraskinda.

Ein Kinderspiel. Verstecken.

Und eine Herausforderung. Komm und such mich.

Lore ließ den Becher in einen Mülleimer in der Nähe fallen und ging weg.

3

Die Hitze in ihrem Körper war verebbt, als sie wieder nach unten in den Keller ging. Auf dem Weg durch die Menge konnte sie Miles nicht sehen, also holte sie ihren Rucksack und ihr Geld von Frankie. Sie hörte nur halb zu, als er ihr sagte, wo die Matches nächste Woche stattfinden würden, und zählte die Scheine nach, falls er sie übers Ohr hauen wollte. Das Pochen in ihren Adern versuchte sie zu ignorieren.

Er sucht nach etwas, und ich weiß nicht, ob du es bist.

Ein kalter Schauer durchfuhr sie. Sie schüttelte den Kopf, um Castors Stimme und Gesicht aus ihren Gedanken zu vertreiben. Sie musste sich für das bereit machen, was kam.

Miles wartete draußen auf sie. In den wenigen Minuten, die Lore gebraucht hatte, um wieder auf die Straße zu kommen, hatte er es geschafft, sich außer Atem zu bringen – ob durch Auf- und Ablaufen, Proben dessen, was immer er ihr sagen wollte, oder einer Mischung aus beidem. Er rührte sich jedoch nicht, als sie durch die Tür trat, und gab vor, die ganze Zeit auf sein Handy gestarrt zu haben.

Zwar wusste Lore nicht, was sie erwartet hatte zu hören, doch es war nicht: »Wollen wir uns bei Martha’s was zu essen holen?«

Lore zögerte. Sie wollte nach Hause, duschen und die nächsten sechs Tage schlafen, bis diese widerliche Jagd vorbei war und der nächste Sieben-Jahres-Zyklus begann. Aber Miles hatte eine beruhigende Wirkung auf sie.

»Klar«, antwortete sie gekünstelt lässig. Es fühlte sich immer noch an, als würden Blitze unter ihrer Haut zucken. »Hört sich gut an.«

Er hob eine Augenbraue. »Diesmal zahlst du definitiv.«

»Ach ja?« Sie ließ sich in ihren wohltuenden Rhythmus fallen. »Ich könnte auch mit den Wimpern klimpern und wir bekommen unser Essen umsonst.«

»Wann in deinem ganzen Leben«, fragte Miles ehrlich neugierig, »hat das jemals funktioniert?«

»Ich muss doch sehr bitten, ja? Ich bin verdammt überzeugend.«

Sie klimperte mit den Wimpern, doch ihr Gesicht tat weh von den Schlägen, die sie kassiert hatte, und die Schwellungen machten es nur noch schwieriger.

Miles öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch gleich wieder.

»Was?«, fragte Lore.

»Nichts. Also, wollen wir essen, bevor wir die Dusche nehmen, die nur eine von uns braucht?«

Die feuchtschwüle Luft roch nach den Müllsäcken, die überall für die Abholung am nächsten Morgen bereitlagen. Ein Taxi raste vorbei und sprühte Wasser aus dem Rinnstein auf. Seit Tagen regnete es immer wieder, und Lore wusste, dass noch mehr kommen würde.

»Ich trage einen Duft aus besten Bratnudeln und Körpergeruch«, entgegnete Lore. »Du hast einfach keinen Geschmack.«

Was selbstverständlich nicht stimmte. Miles behandelte seinen Körper wie ein Kunstwerk und ließ ihn für sich sprechen – für seine Stimmungen, seine Interessen und die Menschen, die ihm am Herzen lagen. Er hatte diverse Tattoos, von wunderschönen Blumen und Ranken, die sich um seinen Oberkörper wanden, über moderne Kunstgesichter, die er selbst entworfen hatte, Berge und Augen bis hin zu Formen, von denen nur er wusste, was sie bedeuteten. Lore gefielen die schlichten koreanischen Schriftzeichen an seinem Hals am besten, weil sie die Geschichte hinter ihnen kannte. Was dort stand, hatte seine Großmutter früher zu ihm gesagt, wenn er sie und seine Eltern sonntags in Florida anrief: Mit jedem Sonnenaufgang liebe ich dich mehr. Als er es ihr zeigte, hatte seine Großmutter mit ihm geschimpft, weil er noch ein Tattoo hatte, sich den Finger angeleckt und getan, als wollte sie es wegwischen. Doch zugleich hatte sie den Rest des Abends gestrahlt vor Stolz.

Sie gingen zur U-Bahnstation in der Canal Street, um den A-Train rauf zur 125th Street zu nehmen. Lore war halb die Treppe hinunter, als sie die Bahn kommen hörte und den Luftschwall spürte, der aus dem Tunnel durch den Bahnhof blies. Sie rannte los, holte ihre MetroCard aus der Gesäßtasche und zog sie durch den Leseschlitz. Miles, der nie bereit war, gab einen erstickten Laut von sich und kramte in seiner Brieftasche.

»Warte, nein – Mann!« Miles zog seine Karte durch und bekam eine Fehlermeldung.

Es war halb vier Uhr morgens, aber weil die Bahnen um diese Zeit seltener fuhren, waren sie trotzdem voll. Lore fing die sich schließende Tür mit dem Unterarm ab, als Miles praktisch hindurchsprang.

Er klopfte ihr auf die Schulter, als die Bahn anfuhr.

»Zu Martha’s«, sagte sie. »Hunger.«

»Taxi«, sagte er. »Easy.«

»Geld«, sagte sie. »Verschwenderisch.«

Die Bahn leerte sich am Columbus Circle, und die Plätze vor ihnen wurden frei. Miles setzte sich hin und holte sofort sein Handy raus. Lore atmete tief ein und rieb sich die Stirn. Da ihr Körper nicht in Bewegung war, dominierte das Chaos in ihrem Kopf.

Er sucht etwas, und ich weiß nicht, ob du es bist.

Die Jäger in der Stadt zu sehen, hatte Lore beunruhigt. Sie hatte gewusst, dass sie befürchten musste, Aristos Kadmou – oder wer immer er als Gott war – würde sie finden. Jetzt müsste sie noch vorsichtiger sein und die Stadt heute noch verlassen, einen großen Bogen um die Kämpfe und ihn machen. Um sie alle.

Aber nicht Furcht war das stärkste Gefühl in ihr. Lore wusste, dass sie sich verstecken konnte, denn das hatte sie die letzten drei Jahre schon erfolgreich getan. Stattdessen empfand sie eine Rastlosigkeit, die sie nicht kontrollieren konnte, und eine Enge in der Brust, sobald sie sich Castors Gesicht in Erinnerung rief.

Er lebt, dachte sie. Es war immer noch schwer zu begreifen.

Miles neben ihr stieß einen verzweifelten Laut aus. Lore schaute zu ihm, als er gerade eine seiner Dating-Apps schloss.

»Was ist mit dem Typen, mit dem du Freitag aus warst?«, fragte sie. Die Ablenkung tat gut. »Ich dachte, er hätte Potenzial. Nick?«

»Noah«, korrigierte Miles und schloss die Augen, als müsste er Kraft sammeln. »Ich war bei ihm zu Hause und habe seine vier Hamster kennengelernt.«

Lore wandte sich ihm zu. »Ist nicht wahr!«

»Er hat sie nach den First Ladys benannt, die er am liebsten mochte«, fuhr Miles hörbar gequält fort. »Jackie hatte einen kleinen Filzhut auf und lackierte Krallen. Ich musste sie füttern, mit winzigen Salatstreifen. Salat, Lore. Salat!«

»Hör bitte auf, Salat zu sagen. Du könntest mal eine Datingpause einlegen.«

»Und du könntest es mal damit probieren«, entgegnete er und rutschte auf dem Sitz umher. »Ich habe dich das bisher nicht gefragt, weil ich nicht neugierig wirken will.«

»Aber …?«

»Aber dieser eine Typ und wie du auf ihn reagiert hast …«

Sie umklammerte den Riemen ihres Rucksacks fester. »Was sollte ich denn machen, wenn der so auf mich losgeht? Er hatte verdient, dass sein Gesicht neu gestaltet wird. Vielleicht überlegt er es sich in Zukunft zweimal, ob er so was noch mal mit Frauen macht.«

»Oh ja, der hatte es garantiert verdient«, sagte Miles hastig. »Wahrscheinlich hätte er sogar noch dreißig Sekunden mehr davon gebrauchen können. Aber ich meinte den anderen.«

»Den anderen«, wiederholte sie, und ihr Herz setzte einen Schlag aus.

»Den Typen, der aussah, als wäre er direkt meinen Pubertätsfantasien entsprungen«, erklärte Miles.

Castors Stimme in ihrem Kopf klang warmherzig. Du kämpfst immer noch wie eine Furie.

»Was ist mit dem?«, fragte Lore.

»Du schienst ihn zu kennen.«

»Tue ich nicht«, entgegnete sie schroff. Nicht mehr.

Um weitere Fragen zu verhindern, lehnte sie ihren Kopf an Miles’ Schulter und ließ sich vom Rumpeln der Bahn einlullen, bis sie zum ersten Mal in dieser Nacht tief durchatmen konnte. Doch sie wagte es nicht, die Augen zu schließen, weil sie dann vielleicht Castors Gesicht sah, strahlend und hoffnungsvoll, und es sie zurückführen würde zu Erinnerungen an die Welt, die sie hinter sich gelassen hatte.

Uptown war es still, als sie schließlich aus der U-Bahn kamen und in Richtung Martha’s Diner abbogen.

Für Lore hatte sich Harlem wie ein fremdes Land angefühlt, als sie in Gils gemütliches Haus in der 120th Street zog. Ihre Familie hatte immer in Hell’s Kitchen gelebt und Lore nie einen Grund gehabt, weiter als bis zur 96th Street nach Norden zu fahren. Allerdings war ihre Familie zu dem Zeitpunkt seit vier Jahren tot und Lore viel im Ausland gewesen. In die Stadt zurückzukehren, hatte sich angefühlt, als würde sie alte Kleider gereicht bekommen, die sie an jemand anderen verschenkt hatte. Nichts passte. Alles war gleich und dennoch irgendwie anders.

Die drei Jahre danach hatte Lore genossen, bis zu jenem schicksalhaften Moment vor sechs Monaten, als Gil starb – überfahren, als er die Straße überquerte. Danach war ihr erster Impuls gewesen, zu packen und wegzugehen, was sich als nicht ganz so einfach erwies. Gil hatte ihr das Haus mit allem darin vermacht.

Lore hätte ohne Weiteres verkaufen und fortgehen können. Für Miles wäre es okay gewesen, auch wenn eine neue Wohnung in der Stadt zu finden ein Albtraum war. Doch jedes Mal, wenn sie ernsthaft darüber nachdachte, schienen die Straßen sie förmlich zu umfangen. Die vertrauten Läden, die Kinder, die auf der Treppe zwei Türen weiter spielten, Mrs Marks, die jeden Montagmorgen um zehn Uhr den Gehweg abspritzte … all das beruhigte Lore. Und es linderte das Gefühl, sie würde unter dem Gewicht von Schock und Trauer zusammenbrechen.

Also war sie geblieben. Allen ermüdenden Komplikationen und aller Enge zum Trotz war die Stadt immer ihr Zuhause gewesen. Sie verstand deren schwierige Persönlichkeit und war dankbar, dass sie ihr eine eigene verliehen hatte, denn in den finstersten Momenten ihres Lebens hatte allein ihr Durchhaltevermögen sie gerettet.

In gewisser Weise schien ihr neues Viertel sie ausgesucht zu haben und nicht umgekehrt. So war New York. Es hatte stets mitzureden, und hatte man nur genug Geduld, führte es einen dahin, wo man hinmusste.

Es war vier Uhr morgens, trotzdem wunderte es Lore nicht, dass noch jemand ein sehr frühes Essen bei Martha’s genoss.

»Hi, Mr Herrera!«, rief sie und putzte sich die Schuhe an der alten Fußmatte ab.

»Selber hi, Lauren Pertho«, antwortete er mit dem Mund voller Sandwich.

Den Namen benutzte Lore seit Jahren, und immer noch erwischte er sie manchmal unvorbereitet. »Wie geht’s, Mel?«, wandte sie sich an die Frau hinter dem Tresen.

»Endlich hat der Regen aufgehört«, sagte Mel. Sie blickte von der Kasse auf, die sie abrechnete. »Wollt ihr beide das Übliche zum Mitnehmen?«

»Gewohnheitstiere«, bestätigte Miles. »Ist zufällig ein Koffeinfreier da?«

»Ich setze dir welchen auf«, antwortete sie. »Schlagsahne?«

Miles hatte die Vorlieben eines Kindes, das zu jeder Mahlzeit Nachtisch aß. »Schokostreusel?«

»Sollst du haben, Süßer«, sagte Mel und ging in die Küche, um ihre Bestellung zuzubereiten. Einen dreifachen Holzfäller-Teller für Lore und Mickey-Mouse-Pfannkuchen mit Schokostücken, extra Schlagsahne und Ahornsirup für Miles.

»Wie?«, fragte Miles. »Keine spitze Bemerkung zu meinem Zuckerkonsum?«

Lore begriff erst verzögert, dass er mit ihr sprach, denn sie hatte den Fußboden angestarrt.

»Ich werde schon Bauchweh bekommen, wenn ich dir bloß beim Essen zusehe«, antwortete sie und lehnte sich mit dem Rücken an eine der vinylbezogenen Sitznischen. Ihr Puls war schneller geworden, als hätte Miles sie bei etwas Verbotenem ertappt.

Er betrachtete sie einen Moment und sagte dann munter: »Ganz schön frech von jemandem, der Essen für drei verputzt.«

»Gesunder Appetit, gesundes Mädchen«, sagte Mr Herrera, der seine Rechnung bezahlte.

»Genau«, stimmte Lore ihm zu und versuchte, sich auf ihn zu konzentrieren. »Wie geht es meinem süßen Bo?«

Bo, der Bodega-Kater, war vor zwei Jahren aufgekreuzt, hatte Mr Herreras Laden zu seinem Königreich erklärt und war nie wieder gegangen. Als Lore ihn das erste Mal sah, hatte sie ihn für eine extrem große Ratte gehalten und sich gefragt, ob er aus der Unterwelt stammte. Inzwischen war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen am Sonntagvormittag, auf der Bank vor dem Laden zu sitzen und sich den Räucherlachs auf ihrem Bagel mit ihrem launischen Kumpel zu teilen.

»Er hat zwölf Schokoriegel gefressen, auf die Ware gekotzt und ein ganzes Regal Küchentücher vernichtet«, erzählte Mr Herrera und nickte zur Tür. »Und jetzt muss ich den Teufel zum Tierarzt bringen.«

»Soll ich für Sie auf den Laden aufpassen?«, fragte Lore. Das tat sie gern, vor allem nachdem die Rushhour-Kunden ihren Kaffee geholt hatten und sie in Ruhe ein Buch lesen konnte, bis die Mittagskunden anrückten, um den Vorrat an abgepackten Sandwiches und Sushi zu dezimieren.

»Diesmal nicht«, sagte Mr Herrera. »Mein Neffe ist zu Besuch. Möchtest du ihn vielleicht kennenlernen? Er ist ein Jahr jünger als du, kluger Junge …«

»Kann er Wäsche waschen?«, fragte Miles ernst. »Oder kochen? Sie braucht jemanden, der die Lücken in ihren Alltagsfertigkeiten füllt.«

Mr Herrera winkte lachend ab, als er ging, um seinen Laden zu öffnen.

Lore war unsicher, warum sie es angeboten hatte, wo sie heute wahrscheinlich die Stadt verlassen wollte. Castors Anwesenheit, ganz zu schweigen von seiner Warnung, sollte sie umgehend zur Flucht bewegen, mit oder ohne Proviant.

Sie rieb sich die Arme, wo er sie berührt hatte, und war überrascht, wie warm sich ihre Haut anfühlte, obwohl sie ein Kälteschauer durchfuhr. Sie hatte ihn eben nicht … erwartet. Nichts an ihm. Nicht diese vertrauten sanften Augen. Nicht seine Größe. Nicht seine physische Stärke.

Nicht, wie er sie anlächelte.

»Lore … Lore«, sagte Miles energisch.

Sie blickte erneut auf. »Was?«

»Ich habe gefragt, ob es um Geld geht.«

Lore sah ihn verwirrt an. »Ob es wobei um Geld geht?«

Miles verdrehte die Augen. »Falls es daran liegt, kann ich anfangen, dir Miete zu zahlen. Aber ich dachte, Gil hat dir auch Geld hinterlassen …«

Entsprechend seinem überaus freundlichen Naturell und seinem Faible für Überraschungen hatte Gil seinen beiden »Ehrenenkeln« eine großzügige Summe vermacht, die Lore bisher außer für die Instandhaltung des Hauses nicht angerührt hatte. Es fühlte sich falsch an, das Geld für anderes auszugeben.

»Es ist Gils Geld«, sagte sie.

Miles schien es zu verstehen. »Du könntest dir einen Teilzeitjob als Barista suchen, wie alle anderen auch. Es ist quasi ein Initiationsritus. Und du könntest Gebühren für deine Selbstverteidigungskurse verlangen.«

Sie schüttelte den Kopf und versuchte, ihre verworrenen Gefühle und Gedanken auf diese Unterhaltung zu lenken.

»Ich verlange kein Geld von Leuten, die lernen möchten, sich selbst zu schützen«, sagte sie leise. Der Besitzer des Fitnesscenters in der 125th ließ sie einiges von seinem Equipment benutzen, wenn es zu kalt war, um draußen zu trainieren; im Gegenzug gab sie umsonst Stunden, und das war mehr als genug für sie. »Und es geht nicht ums Geld.«

»Bist du sicher? Denn du benutzt dieselben drei ekligen Gefrierbeutel seit einem Jahr.«

Sie reckte einen Finger in die Höhe. »Die sind nicht eklig, weil ich sie jedes Mal auswasche. Was machst du denn, um die Umwelt zu retten?«

Miles zog die Augenbrauen hoch. Er machte diesen Sommer ein Praktikum in der Stadtverwaltung und studierte nachhaltige Stadtentwicklung an der Columbia.

»Nein, sag nichts«, meinte Lore.

Miles machte diese Sache, die sie hasste: Er wartete, dass sie redete, während er sie mitfühlend und verständnisvoll ansah.

»Außerdem habe ich einen Job«, sagte sie. »Ich bin die Hausmeisterin, schon vergessen?«

Ursprünglich hatte Lore als Pflegerin für Gil angefangen, war jedoch befördert worden, nachdem sie die Batterien in den Rauchmeldern ausgetauscht hatte – was anschaulich illustrierte, wie viel technisches Know-how damals verlangt wurde.

»Apropos, Hausmeisterin, kannst du vielleicht vor dem Winter mal raufkommen und mein Fenster reparieren?«

Lores Miene verfinsterte sich, während sie mit einer Hand ihr vom Regen krauses Haar nach hinten strich.

»Okay, ein bisschen geht es ums Geld«, gestand sie, »aber auch um anderes.«

»Gil?«, hakte Miles nach.

Sie zog die Kette aus ihrer Tasche und inspizierte die Stelle, an der sie gerissen war. Ohne sie fühlte sich ihr Hals komisch an. Gil hatte ihr die Kette vor drei Jahren zu ihrem ersten Geburtstag seit der Rückkehr in die Stadt geschenkt, und seitdem hatte Lore sie nie abgenommen.

Eine Feder, die von einem Flügel abfällt, ist nicht verloren, hatte Gil zu ihr gesagt, sondern frei.

Die Kette erinnerte Lore jeden Tag daran, wie viel sie gewonnen hatte, als sie anbot, für Gil zu arbeiten. Sie war eingestellt worden, um ihm nach einem üblen Sturz zu helfen, da klar war, dass er nicht mehr allein zurechtkäme. Aber er hatte so viel mehr für sie getan als sie für ihn. Er war ihr Freund, Mentor und eine Erinnerung daran gewesen, dass nicht alle Männer so hart und grausam waren wie die, mit denen sie aufgewachsen war.

»Es ist inzwischen einige Monate her …«, begann Miles.

»Sechs«, sagte Lore scharf.

»Sechs.« Er nickte. »Wir reden wirklich selten darüber …« Lore öffnete den Mund, doch er hielt eine Hand in die Höhe. »Ich will nur sagen, dass ich da bin und immerzu über ihn reden will.«

»Tja, ich nicht«, erwiderte Lore. Gil hatte ihr gesagt, dass man schlimme Dinge manchmal von sich schieben musste, bis sie einen für immer in Ruhe ließen. Eines Tages würde sein Verlust nicht mehr so sehr schmerzen.

»Übrigens …«, sagte Miles in einem vertrauten Tonfall.

»Schule interessiert mich nicht.« Das hatte sie ihm schon hundertmal gesagt. »Sie scheint ja nicht mal dir zu gefallen.«

»Was man braucht, muss einem nicht zwangsläufig gefallen«, sagte Miles.

»Man braucht nichts, was einem keinen Spaß macht«, konterte Lore.

Miles stieß einen Seufzer aus. »Ich finde bloß … was immer dir auch passiert sein mag, du musst anfangen, an deine Zukunft zu denken. Sonst wird dich deine Vergangenheit ewig ausbremsen.«

Lore schluckte, was nichts gegen die Enge in ihrem Hals ausrichten konnte. »Wie hast du überhaupt das mit den Kämpfen rausbekommen? Bist du mir gefolgt oder so?«

»Ich war gestern Abend mit einem Freund von der Uni unterwegs, und er fing an, von diesen supercoolen, supergeheimen Kämpfen zu erzählen. Dabei hat er ein Mädchen mit einer Narbe von ihrem äußeren Augenwinkel bis runter zu ihrem Kinn erwähnt, und ich habe gesagt: ›Wow, das hört sich an wie meine Freundin Lore‹ …«

Unwillkürlich rieb sie die Seite ihres Gesichts an ihrer Schulter. Die Narbe war dünn, aber nie verblasst.

»Das war nicht dein Freund, den ich verprügelt habe, oder?«, fragte sie.

»Nein, aber ich war in meinem ganzen Leben noch nie gleichzeitig so fasziniert und so entsetzt.«

Sein Handy klingelte schrill, und beide zuckten zusammen.

»Ist das dein Wecker?«, fragte Lore. Seit Jahren wohnten sie im selben Haus, und diesen Klingelton hatte sie bisher nicht gehört.

»Sozusagen«, antwortete er, nahm das Gespräch an und sagte: »Ma, wieso bist du auf? Es ist erst vier Uhr morgens … Du musst diese Formulare nicht jetzt ausdrucken. Schreib dir auf einen Zettel, dass du es noch machen musst … Nein, du gehst wieder ins Bett … Na, wäre ich nicht auf, hättest du mich geweckt … Ma. Geh wieder schlafen!«

Mrs Yoons gedämpfte Worte waren von einer Energie, die niemand um diese Uhrzeit besitzen sollte. Lore beobachtete, wie Miles die Augen schloss und tief durchatmete.

»Uff, na gut. Hast du die Kabel überprüft?«, fragte er. »Nachgesehen, ob keins locker ist?«

Miles warf Lore einen entschuldigenden Blick zu, dabei störte es sie nicht. Er war ein Einzelkind, und manchmal, wie jetzt zum Beispiel, merkte man das deutlich.

Miles holte wieder tief Luft. »Hast du den Drucker eingeschaltet? Er muss unten leuchten.«

Lore hörte Mrs Yoons verlegenes Lachen und ihr liebevolles »Danke, Michael«.

Miles presste sich genervt eine Hand ans Gesicht, ob wegen ihrer Frage oder seines Geburtsnamens, den ausschließlich seine Familie benutzte, konnte Lore nicht sagen. Er sagte seiner Mutter, dass er sie liebte, auf Koreanisch und auf Englisch, bevor er das Gespräch beendete.

»Sie hat mich gezwungen, den Klingelton zu ändern, als ich letzten Monat zu Hause war«, erklärte Miles. »Sie hat gedacht, ich wäre nie rangegangen, weil der Ton zu leise war, und jetzt habe ich solch ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht wage, ihn wieder zu ändern.«

Lore lächelte, auch wenn sie einen Stich in ihrer Brust verspürte. Solche Anrufe fehlten einem erst, wenn sie nicht mehr kamen. »Sie will nur deine Stimme hören.«

Sie möchte, dass du dich an sie erinnerst, dachte Lore. Ihre Gedanken drifteten ab. Die Welt schrumpfte auf einen schwarzen Ring zusammen, bis sie nur noch Castors Gesicht sah, von den Schatten gestreichelt.

»Hey«, sagte Miles. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Mir geht es gut«, beharrte Lore.

Würde es. Um ihret- und um seinetwillen.

Um Gils willen.

»Bereit zu gehen?«, fragte sie, als Mel mit ihren Bestellungen aus der Küche kam.

»Versprich mir, dass du auf dich aufpasst«, sagte Miles und drückte ihre Hand, ehe Lore sie wegzog. »Mir ist egal, ob du weiter kämpfen musst. Ich will nur nicht, dass du verletzt wirst.«

Dazu ist es zu spät, dachte Lore.

Mit ihrem Frühstück und den Kaffees traten sie hinaus auf die spärlich beleuchtete Straße. Der Regen war zu einem Schleier aus feinem Nebel verebbt. New York City war einer der wenigen Orte auf der Welt, die nach einem Regen dreckiger aussahen, aber Lore liebte es.

Auf dem Heimweg beschloss sie, Miles zu erzählen, dass sie einige Tage verreisen würde, selbst wenn das womöglich hieß, einen Bus zu nehmen und im Wald zu schlafen, wo sie niemand fand.

Im Moment jedoch klang nichts verlockender, als den Sonntagmorgen im Bett zu verbringen. Lore hakte sich bei Miles ein, als sie die verschlafene Straße entlanggingen, und er summte einen Song, den sie nicht erkannte. Sie versuchte, überhaupt nicht zu denken.

Sie waren einen Block von ihrem Haus entfernt, als Miles abrupt stehen blieb und Lore einen Schritt zurückriss.

»Was ist?«, fragte sie.

Er beugte sich näher an die Mauer von Martin’s Deli, wo Lore Hausverbot hatte, seit sie sich über die unglaublich alten Bagels beschwert hatte, und strich mit den Fingern durch eine dunkle Substanz an dem Stein. Entsetzt zog Lore ihn zurück.

»Okay, du brauchst wohl eine Auffrischung der New-York-Regeln. Erstens, nimm nichts an, was dir jemand am Times Square geben will. Zweitens, fass keine mysteriösen Substanzen auf dem Boden oder an Wänden …«

»Ich glaube, das ist Blut«, unterbrach Miles sie.

Lore ließ ihn los.

Er drehte sich um und betrachtete den Boden. »Ach du Scheiße, ist das viel …«

War es. Lore hatte die vielen Flecken für Regen gehalten, doch jetzt konnte sie das dunkle Blut erkennen, das den Rinnstein hinuntergespült wurde, als der Regen wieder einsetzte.

Miles wollte losrennen und blickte sich hektisch nach der Person um, die so viel Blut verlor. Mit einer Hand packte Lore sein Shirt hinten, und nachdem sie ihm ihr Essen und den Kaffee gegeben hatte, holte sie mit der anderen Hand das Taschenmesser an ihrem Schlüsselbund hervor.

»Bleib hinter mir«, befahl sie.

Es war, als würde man einer verwundeten Beute folgen. Das Opfer schien getorkelt zu sein, hatte sich offenbar immer wieder irgendwo abgestützt – an einem Laternenpfahl, einem Geländer, einem geparkten Wagen. Mit einem zunehmend mulmigeren Gefühl wurde Lore bewusst, dass die Spuren in Richtung ihres Hauses verliefen.

Lore umfasste ihr stumpfes Messer fester, als sie sich dem Haus näherten. Die Blutspur bog zu ihrer Haustür und den bunten Blumentöpfen ab, die Gil neben die Eingangstreppe gestellt hatte.

Miles rang hörbar nach Luft, und Lore folgte seinem Blick.

Eine Frau saß mit dem Rücken an den Treppenabsatz gelehnt neben den leeren Mülltonnen. Ihr himmelblaues Gewand war vom Regen durchnässt.

Lore fühlte, wie sich die Luft um sie herum auflud, ähnlich wie unmittelbar vor einem Blitz.

»Zeig mir deine Hände«, würgte Lore hervor und hob ihr erbärmliches Messer an.

Die Augen der Göttin hatten die Farbe von Opferrauch mit wirbelnden Sprenkeln von Gold in der Iris. Der einzige Hinweis auf ihre göttliche Macht.

Sie nannten sie die grauäugige Göttin, doch jetzt verstand Lore, dass damit nicht die Augenfarbe gemeint war. Es bezog sich darauf, wie sich ihr wahres Alter in der Art enthüllte, mit der sie einen ansah. Kriege, Zivilisationen, Monster, Tod, Technologie, Forschung – diese Augen hatten Jahrtausende vorbeiziehen gesehen und so beiläufig zur Kenntnis genommen wie Lore die Tageszeit.

Strähnen von dunkelgoldenem Haar fielen ihr wie Narben ins Gesicht. Selbst in ihrer gegenwärtigen Gestalt war sie verstörend makellos mit klaren, perfekt symmetrischen Zügen.

Die Göttin zog die Hand von der Stelle an ihrer Hüfte, auf die sie gepresst gewesen war. Als sie auf ihren Schoß fiel, krümmte sie die langen, eleganten Finger wie Krallen.

Die Hand war leer, aber blutbefleckt.

Lore starrte hin und nahm nur halb wahr, dass sie ihren Arm gesenkt hatte.