Losing Weight - Marina K. Lieb - E-Book

Losing Weight E-Book

Marina K. Lieb

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Beschreibung

Im Stich gelassen, depressiv und essgestört: Bei Jamie läuft gerade nichts so, wie es sollte. Als sie auch noch ihr Studium abbricht, scheint es nur eine Lösung zu geben, um glücklich zu werden. Sie meldet sich wieder in einem Forum für Essgestörte an. Dort trifft sie auf Kyle, der sich als erfahrener Fitness-Coach anbietet und ihr neue Hoffnung gibt. Während es in ihrem Leben weiterhin steil bergab geht, offenbart sich Jamie eine zweite Option: Eine Gruppentherapie. In dieser lernt sie Phil kennen, einen Künstler mit Helfersyndrom, dem viel zu viel daran zu liegen scheint, dass sie sich endgültig von ihren zerstörerischen Verhaltensmustern abwendet. ! Trigger-Warnung ! Dieses Buch behandelt sensible Themen wie Essstörungen, Gewalt, Drogenmissbrauch, Depressionen, Nennung von suizidalen Gedankengängen und emotionalen Missbrauch.

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Marina K. Lieb

Losing Weight

Ein letztes Mal

Über die Autorin

Marina K. Lieb ist 1998 in Schwäbisch Gmünd geboren. Die Leidenschaft, sich Geschichten auszudenken, begleitet sie schon seit ihrer Kindheit. Immer öfter schrieb sie ihre Ideen in Form von kürzeren Texten nieder, bis sie 2023 beschloss, ihr erstes Buch zu veröffentlichen. Im Vordergrund steht für sie das Ansprechen von aktuellen und lebenseinschränkenden Themen wie psychischen Krankheiten, sowie das Darstellen ihrer eigenen Erfahrung mit diesen. Dabei zeichnen sich ihre Texte besonders durch Emotionen und gesellschaftskritische Authentizität aus. Mit ihren Büchern möchte sie einen Rückzugsort schaffen, in dem die Lesenden urteilsfrei und bis zur letzten Seite lachen, weinen oder mitfiebern können.

Marina K. Lieb

Losing Weight

Ein letztes Mal

Inhalt

Prolog 10

Kapitel 1 14

Kapitel 2 41

Kapitel 3 77

Kapitel 4 113

Kapitel 5 147

Kapitel 6 182

Kapitel 7 221

Kapitel 8 248

Kapitel 9 282

Kapitel 10 316

Epilog 345

Nachwort 360

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 Marina K. Lieb

Herstellung und Verlag:

Buchsatz: Annina Anderhalden

BoD – Books on Demand, Norderstedt

ISBN: 978-3-7578-1300-0

Für alle, die nur so Phasen haben.

! Trigger-Warnung !

Dieses Buch behandelt sensible Themen wie Essstörungen, Gewalt, Drogenmissbrauch, Depressionen, Nennung von suizidalen Gedankengängen und emotionalen Missbrauch.

Falls du oder jemand in deinem Bekanntenkreis von diesen Themen betroffen ist, wende dich bitte an eine Vertrauensperson, einen Arzt oder melde dich bei einer Beratungsstelle wie zum Beispiel der Telefonseelsorge.

www.telefonseelsorge.de

Telefonnummer: 0800/1110111

Die medizinischen Fakten wurden fiktionalisiert und entsprechen nicht unbedingt der Wahrheit. Des Weiteren verhalten sich die in dem Buch auftretenden Figuren teilweise unmoralisch bzw. unethisch. Der Roman soll keine der oben aufgeführten Themen verherrlichen, sondern auf derartige Phänomene aufmerksam machen.

Die in diesem Buch vertretenen Meinungen spiegeln nicht unbedingt die der Autorin wider.

Prolog

„Forum fürs Abnehmen.“

Der Klick, der die Seite erneut aufrief, war alles gewesen, was es gebraucht hatte. Der Stein, der die Sache erneut ins Rollen gebracht hatte.

Jetzt war sie wieder in diesem blöden Forum gelandet.

Mit bedeutungslosen Usernamen.

Die Geschichten dahinter waren schwerwiegender, als das Internet eigentlich tragen konnte. Eigentlich. Da die Anonymität des Netzes aber jegliche Bedeutung der getippten Wörter verschwinden ließ, blieb nichts von der realen Schwere der geposteten Aussagen zurück.

Mit Sätzen wie »Ich habe einen Donut gegessen, reicht eine Stunde joggen gehen?« und »Ich wiege 48 Kilogramm bei einer Größe von 170 cm, bin ich zu dick?« wurde so selbstverständlich um sich geworfen, als ob es sich um Gebote bei einer Auktion handeln würde. Jamie fragte sich, wer hier das größere Problem hatte: Die Person, die wusste, dass sie absolut nichts zu bedenken hatte und nur Bestätigung suchte, oder die, die sich wirklich den Kopf zerbrach. Doch eigentlich war der Unterschied egal.

Jeder hier krank war. Das war klar. Aber Jamie war in dem Forum. Also war sie es doch auch. Allein der Fakt, dass sie es bis zu der Seite geschafft hatte, war dafür Beweis genug. Sie kannte dieses noch von früher. Damals hatte sie allerdings nur rumgesurft und sich Abnehm-Tipps geholt. Zuerst war sie lediglich auf diverse Diätseiten gegangen, dann auf Posts für „Abnehm-Inspiration“, wo Mädels abgebildet wurden, die offensichtlich ins Untergewicht retuschiert worden waren. Später hatte sie das Forum entdeckt. All das hier war ihr nur allzu bekannt. Dass sie sich wieder dorthin verirrt hatte, unterstrich nur die Dringlichkeit ihrer Situation. Initiative zu ergreifen, war ihr lange als unnötig erschienen. Sie war ja nicht verzweifelt gewesen. Bis jetzt.

Jamie zuckte mit den Schultern. Und wenn schon. Es waren immer nur so Phasen; da ging jedes junge Mädchen durch. Also kein Grund zur Sorge.

Natürlich wusste sie, dass sie schon den dubiosen Link, der in den VIP-Bereich des Forums führte, nicht hätte anklicken sollen. Auf das rote Kreuz klicken, die Notbremse ziehen und den Laptop wieder schließen. Das wäre besser gewesen. Im Nachhinein hätte sie viel Leid vermeiden können. Dann wäre sie jedoch weiterhin dieser Mensch geblieben, der im Halbdunkeln auf das blaue Rechteck starrte, in der verzweifelten Hoffnung, dort die Antwort auf all seine Probleme zu finden.

‚Twinbörse‘ nannte es sich. Es war wohl dem Forum-Standard geschuldet, dass jedes zweite Wort Englisch war. Eine Fremdsprache, anstatt der Muttersprache zu verwenden, half dabei, die Realität weniger real wirken zu lassen.

Zu diesem Zeitpunkt wusste Jamie noch nicht, dass der freie Fall keine Haltestationen hatte. Letzten Endes hatte sie sich aber diesen Weg ausgesucht, wenn auch unterbewusst. Also musste sie erst unten aufschlagen und vom Boden abprallen, bevor sie die Möglichkeit hatte, mühsam wieder aufzustehen.

Sie kauerte sich auf ihrem Schreibtischstuhl zusammen, während sie einen Schluck ihrer Diät-Soda nahm. Den Strohhalm ließ sie nachdenklich zwischen den Lippen hängen. Der Grund für die leeren drei Ein-Liter-Flaschen Diätgetränk war nicht der, den man vermuten würde. Jamie hatte aufgehört, zu rauchen. Sie war selbst überrascht davon, doch während andere auf Nikotinpflaster zurückgriffen oder einen Kaugummi nach dem anderen kauten, hatte ihre Sucht entschieden, dass Diät-Soda mit Röhrchen aufzusaugen das Einzige war, was sie davon abhielt, durchzudrehen.

Der neue „gesunde“ Lebensstil und die Magensäure, welche sie nun ständig im Hals spürte, waren ein aufregender Kontrast. Genauso, wie durch das Forum zu stöbern. Dort kam sie an den verschiedensten Skurrilitäten vorbei. Regeln. Struktur. Kontrolle. Vielleicht war das die Erklärung dafür, warum sie dem qualmenden Stängel abgeschworen hatte. Das war es, was sie wollte. Endlich ihr Leben in den Griff bekommen. Sich nicht fahren zu lassen, sondern selbst hinter dem Steuer zu sitzen.

So weit war sie aber noch nicht. Für jeden Schritt vorwärts machte sie drei zurück.

Die Kontrolle über ihr Leben zu erlangen war auch der Grund, warum sie ein letztes Mal versuchen wollte, abzunehmen.

Disziplin stand an oberster Stelle; sie konnte jeden ihrer Fehler wieder in ein besseres Licht rücken, wenn sie sich jetzt reinhängte. Jede Faulheit geradebiegen und jedes dazugehörige schlechte Gewissen im Keim ersticken und mit Stolz ersetzen.

Jamie könnte vielleicht endlich etwas in ihrem Leben richtig machen.

Sie schluckte ihre Magensäure wieder runter und stellte das Glas langsam ab, als sie sich näher zum Bildschirm beugte. Das Problem war, dass niemand so richtig ihren Vorstellungen entsprach. Entnervt schnaubte Jamie. Sogar hier hatte sie das gleiche leere Gefühl wie bei einem Tinder-Match. Erst passte es, aber bei genauerem Betrachten eigentlich so gar nicht.

Ein Match hatte sie bisher nicht gefunden. Aber ein User fiel ihr auf. Der einzige Grund dafür war, dass er in seinem Profil ‚Male‘ angekreuzt hatte. Er war die einzige männliche Person im Forum. Sie wollte den Gedanken schon wieder verwerfen, aber ein Satz tauchte in ihrem Sichtfeld auf, als sie hochscrollte, der sie letztlich überzeugte, ihn doch anzuschreiben.

‚Mit der richtigen Motivation kann man alles schaffen.‘

Kapitel 1

»Hallo?! Ich rede mit dir, Jamie!«

»Ich höre doch zu! Meine Güte …«

»Ja, den zynischen Tonfall kannst du schön sein lassen. Außerdem-«

Jamie war schlichtweg genervt. Zugegeben, sie hatte nicht zugehört, da sie von dem offenen Umzugskarton auf dem Boden neben sich abgelenkt war. Auf dem angezogenen Bein balancierte Jamie ihr Handy, während sie ihre Augen verdrehte und weiter Bücher und andere Habseligkeiten in die passenden Kisten verfrachtete.

Ja, sie hatte wirklich Wichtigeres zu tun, als sich die zehnte, immer gleiche Predigt anzuhören. Zum Beispiel, ihr Zimmer des Studentenwohnheims, in dem sie offiziell noch bis morgen früh wohnte, räumen. Und zwar vollkommen. Keiner würde mehr darauf schließen können, dass die Zwanzigjährige bis vor Kurzem noch hier gelebt hatte. Der Beweis, dass sie nun nicht mehr alles im Griff hatte und ihre Mutter kurz vor einem Herzkasper stand, weil sie Jamie wieder bei sich aufnehmen musste, würde spurlos verschwunden sein.

Vielleicht war ihr Nachmieter ja besser im Student-Sein als sie. War jemand, der seine Ziele verwirklichen konnte. War nicht so ein Versager wie Jamie. Nun ja, sein Studium abzubrechen war kein Weltuntergang, auch wenn alle um sie herum so reagierten, als ob es das wäre. Es war vermutlich eher Sorge, die vor allem bei den Fragen ihrer Mutter mitschwang, weil Jamie keinen Plan hatte, was sie jetzt mit ihrem Leben anfangen sollte. Sorge empfand sie jedoch als ein ekelhaftes Gefühl. Eines, welches sie immer mit Schuld in Verbindung brachte.

»Mir wird schon etwas einfallen …«

Wenig überzeugt von ihren eigenen Worten strich sie sich müde über das Gesicht.

»Mach dir keine Sorgen und ja, ich weiß es.«

Dass die Rückkehr in ihr Jugendzimmer keine Dauer-Option war, wusste sie. Es war bereits für ihren kleinen Bruder reserviert, welcher in ein paar Monaten das Licht der Welt erblicken würde. Schon komisch. So spät noch ein Kind zu bekommen. Anscheinend war es nicht geplant gewesen, aber auch nicht mit großem Widerwillen verbunden. Ihre Mutter hatte sich fest dazu entschlossen, die ganze Prozedur noch einmal zu durchleben. All das Leid und die Liebe, welche ein Kind mit sich bringen würde. Wobei die Liebe wohl eher ihrem neuen Bruder zuflog. Alles, was Jamie momentan in ihrer Mutter auslöste, war Kummer.

Ihre Mutter und Dave – Jamies Stiefvater – waren glücklich über die Schwangerschaft, was Jamie zwar freute, aber bei ihr blieb trotzdem eine gewisse Unsicherheit bezüglich der baldigen Erweiterung des Stammbaums zurück. Was sollte sie tun, wenn vor lauter Baby-Glück kein Platz mehr für sie in der Familie war? Jamie verzog ihr Gesicht bei dem Gedanken. Ein kurzer Aufenthalt in ihrem Zuhause wäre ohnehin besser für sie, da sie eigentlich aus dem Alter raus war, in dem ihr Babygeschrei nichts ausmachte. Ihre Mutter meinte, das würde irgendwann wiederkommen. Da sie sich bei dem Thema Kinder absolut nicht festlegen wollte, wusste sie nicht, ob das stimmte. Sie wusste nicht einmal, wie ihr Leben in einem Monat aussehen würde.

Wieder zuhause einzuziehen, fühlte sich sehr nach einem Rückschritt an, obwohl sie eigentlich unbedingt einen nach vorne gehen wollte.

Mit dem Handy in der Hand stand sie vom Boden auf und warf sich auf ihr Bett. Es war alles gepackt. Na ja, fast alles; ihr Laptop stand noch wie gestern Abend aufgeklappt auf dem Schreibtisch. Sehnsüchtig schaute sie auf den Desktop, in der Hoffnung, eine neue Nachricht aufleuchten zu sehen.

»Dave kommt morgen früh und holt dich ab. Ein Führerschein wäre jetzt nicht schlecht, aber … na ja.«

»Ja, ich weiß.«

Jamie schloss die Augen. »Dann bis morgen.«

Die Stimme ihrer Mutter wurde sanfter.

»Ich freue mich sehr auf dich. Wir bekommen das schon hin, mein Schatz. Huch! Es ist wirklich spät. Bei uns gibt es schon Abendessen; hast du schon gegessen?«

Ihr Herz schlug schneller.

»Ja, habe ich schon.«

»Was gab es denn? Bei uns gibt es gleich Pasta und-«

Der Bildschirm ihres Laptops erhellte sich.

»Mama, ich bin echt kaputt. Wir können morgen wieder mehr reden, ja?«

Geistesabwesend ging Jamie auf den Schreibtisch zu.

»Ähm, natürlich.«

Das Chatfenster stand nun im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit.

»Okay. Bis morgen.«

Kurz angebunden verabschiedete sie sich von ihrer Mutter und setzte sich, ohne die Augen vom Bildschirm zu nehmen, auf ihren Schreibtischstuhl. Es war tatsächlich die Nachricht, auf die sie den ganzen Tag schon gewartet hatte. Genervt von der Abendsonne, welche ihr die Sicht nahm, knickte sie den Laptop etwas ein, um besser lesen zu können.

Hallo Jamie,

schöner Name. Echt cool, dass du mich angeschrieben hast. Du bist tatsächlich die Erste hier in diesem Forum, die Interesse hat. Ich glaube, die anderen Mädels hier wollen lieber allein arbeiten, echt schade. Aber toll, dass du da offener bist. Sorry für die späte Antwort, aber ich kann meistens erst abends schreiben. Das geht hoffentlich klar? Solltest du es dir anders überlegt haben, sag bitte schnell Bescheid. Ich möchte mich momentan nur auf eine Person konzentrieren, wenn du verstehst, was ich meine ;)

Liebe Grüße

-Fitboy

Ihr Herz raste. Langsam lehnte sie sich zurück. Er hatte tatsächlich zurückgeschrieben. Die einzige männliche Person im Forum hatte ihr geschrieben. Natürlich war Jamie nicht dumm. Ihr war klar, dass diese Person auch ein Perverser oder Massenmörder sein könnte. Sie sah schon ihren Namen in einer dieser True Crime Serien. Von dem Gedanken wurde ihr mulmig, sie behielt ihn aber im Hinterkopf. Ganz weit hinten. Dann schüttelte sie über sich selbst und ihre Spinnerei den Kopf. Das hier war ihre Chance.

Es war komisch. Jamie war schon oft in solchen Foren unterwegs gewesen. Üblicherweise gab es aber eher weibliche Accounts und dass sich jemand als Coach anbot, hatte sie bis jetzt auch noch nie gesehen. Vorerst ging sie davon aus, dass er wirklich derjenige war, der er zu sein schien.

Ein Coach.

Neunundzwanzig Jahre.

… falls die Angaben in seinem Profil der Wahrheit entsprachen. Er war zwar etwas älter als sie, aber er sollte ja nur ein Personal Trainer sein. Ein Fitnessberater. Natürlich hoffte Jamie darauf, sich trotzdem gut mit ihm zu verstehen. Vielleicht könnte ja auch eine Freundschaft mit dem mysteriösen Typen aus dem Internet entstehen. Denn Freunde könnte sie echt gut gebrauchen. Genau genommen hatte sie nur eine. Jamie wusste nicht, was sie ohne Nancy machen würde. Ihre bisherige Zimmernachbarin fehlte ihr jetzt schon. Männliche Freunde hatte sie noch nie wirklich gehabt, was das Ganze nicht besser machte. Schon sein Profil hatte ihr Interesse geweckt, aber ausschlaggebend war nur eines gewesen: Jamie mochte die Art, wie er schrieb. Als ob das hier wichtig wäre. Als ob sie wichtig wäre.

Sie versuchte die Nervosität an ihrer Hose abzuwischen. Er war noch immer online, was sie unter Druck setzte. Ohne groß nachzudenken, tippte sie ihre Antwort.

Hallo Fitboy,

ich würde echt gerne dein Coaching in Anspruch nehmen … Also, ich habe nach wie vor Interesse. Das meine ich …

Frustriert schüttelte Jamie den Kopf. Da könnte sie sich ja gleich in Miss Unsicherheit umbenennen. Kurzerhand löschte sie den Text wieder. Das Ganze war schwieriger, als sie gedacht hatte. Vielleicht war eine entschlossene Herangehensweise doch besser. Schließlich wollte sie auf keinen Fall durchsickern lassen, wie sehr sie das alles hier wollte. Nein, sogar brauchte. Mehr, als ihr eigentlich lieb war. Verzweiflung hatte sich in ihr breit gemacht. Sie wusste nicht, was es genau war. Einfach nur Kontakt zu jemand Neuem? Oder wollte sie nur eine Person haben, die sie verstand? Die untergehende Sonne gab ihr Bestes, um Jamie in den Wahnsinn zu treiben. Konzentriert richtete sie erneut ihren Laptop aus.

Hey Fitboy,

es besteht auch weiterhin noch Interesse.

LG

-Jamie

Tief atmete sie durch. Würde schon schiefgehen. Ohne noch länger darüber nachzudenken, klickte sie auf ‚Senden‘. Scheiße war ihr schlecht. Um nicht die Nerven zu verlieren, stand sie auf und lief sinnlos durchs Zimmer, nur um sich doch wieder hinzusetzten, weil ihr davon schwindelig wurde. Ihr Herz machte erneut einen Satz, als sie bemerkte, wie sich das „online“ in ein „schreibt“ verwandelte. Jamie war so angespannt, dass sie es kaum ertragen konnte. Der Drang nach einer Zigarette war groß. Sie seufzte schwer. Blöde Sucht. Erneut griff sie nicht zum Feuerzeug. Zigaretten waren sowieso aus diesem Zimmer verbannt. Stattdessen holte Jamie sich etwas zum Trinken. Das Gefühl, wie das Wasser in ihren leeren Magen platschte, fühlte sich absolut ekelhaft an. Sie liebte es.

Hey Jamie,

super. Wenn du magst, kannst du mich unter folgender Nummer erreichen, dann können wir besser reden:

0152 28895456

Schreib mich einfach an.

LG

-Kyle

Sein Name war also Kyle. Diese kleine Information schaffte es schon, Jamie ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Sein Name stach neben Kai (Schule) und Kevin (Lerngruppe) wirklich heraus. Dieses Mal war es auch nicht irgendein Kerl, den sie nur zufällig kannte, weil es die Situation nicht anders zuließ oder weil sie in ihrer Verzweiflung doch versucht hatte, auf Dates zu gehen. Nein. Es war jemand, der wirklich Interesse an ihr zeigte und sie nicht drei Monate ignorierte, bis die Antwort „Sorry, habe vergessen zu schreiben“ kam. Zumindest machte er momentan den Eindruck. Als sie den neuen Chat öffnete, hielt sie kurz den Atem an. Er hatte ein Profilbild. Das Erste, was ihr auffiel, waren seine rot gefärbten Haare, dann sein unverschämtes Grinsen und zu guter Letzt sein durchtrainierter Körper. Das Bild war offensichtlich in einem Fitnessstudio gemacht worden. Jamie rümpfte die Nase. Kyle war echt der Bilderbuch-Fuckboy schlechthin. „Lass bloß die Finger von dem!“ würde Nancy sagen, wenn sie hiervon wüsste. Aber sie wusste nichts und würde es auch nicht erfahren. Sonst müsste Jamie nämlich erklären, dass er nur ihr Coach war und warum sie überhaupt in einem Forum unterwegs war, wo sich Leute mit Essstörungen weiter in ihrer Krankheit suhlten.

Hey, hier ist Jamie.

-Jamie

Hey. Dann würde ich sagen, fangen wir mal an, oder? Zuallererst, bist du schon volljährig?

-Kyle

Irritiert sah sie auf das Geschriebene. Zugegeben, in ihrem Profil vom Forum stand eigentlich nur, dass sie vorhatte abzunehmen. Also keine persönlichen Angaben. Warum aber sollte ihr Alter wichtig sein? Irgendwie war sie jetzt etwas verunsichert.

Ja, bin ich. Warum fragst du?

-Jamie

Ah, weil‘s einfacher ist, sonst müsste ich nachher noch deine Eltern um Erlaubnis bitten ;)

-Kyle

Hm. Vielleicht ist das alles doch keine gute Idee …

-Jamie

Das war nur Spaß gerade. Sorry. Es kam wohl falsch an. Ich bin ja schon etwas älter im Vergleich. Also, wenn ich mir die Mädels in den Foren so ansehe… Ich will mich einfach nicht mit Minderjährigen unterhalten, das wäre echt komisch. Verstehst du? Wenn du magst, können wir telefonieren. Ich habe gerade Zeit. Dann können wir Missverständnisse vielleicht auch eher vermeiden.

-Kyle

Nachdenklich kaute Jamie auf der Innenseite ihrer Wange herum. Er klang doch eigentlich ganz nett. Vielleicht machte sie sich einfach zu viele Gedanken. Das alles schien zu schön, um wahr zu sein. Das negative Bauchgefühl war vermutlich ihren schlechten Erfahrungen der Vergangenheit zuzuschreiben. Neue Leute kennenzulernen war immer etwas beunruhigend für sie gewesen. Wenn sie telefonierten und alles abklärten, könnte Jamie sich schnell versichern, ob es mit ihnen passte oder nicht. Nancy würde sowieso erst spät in der Nacht wiederkommen, was auch hieß, dass sie nicht gestört werden würde. Von ganz allein fand ihre Hand den Anruf-Button. Das Handy wählte und Jamie war schon jetzt kotzübel. Vom plötzlichen Bewegungsdrang getrieben, stand sie auf und lief ohne Ziel durch ihr Zimmer. Drei Sekunden Herzrasen, dann nahm Kyle den Anruf an.

»Hey.«

Seine Stimme war tief, aber nicht zu tief. Es war eine angenehme Stimmfarbe, welche ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Sie räusperte sich, da sie nicht riskieren wollte, dass ihre Stimme versagte. »Hallo«

Am anderen Ende der Leitung war ein leises Lachen zu hören.

»Tut mir echt leid, wenn ich komisch rüberkam.«

»Schon gut …«, lächelte Jamie und stützte sich am Schreibtischstuhl ab. »Aber die Frage ist ja berechtigt. Immerhin bin ich neun Jahre jünger als du …«

Es herrschte eine angespannte Stille am anderen Ende. Sie war sich nicht sicher, ob sie es sich einbildete, aber die Stimme von Kyle klang fast schon zögerlich.

»Stört dich das?«

»Nein. Dich? Du meintest ja, dass du nicht mit Jüngeren schreiben willst.«

»Hm. Zwanzig geht so gerade noch.«

Wieder spürte Jamie sein Grinsen durchs Telefon, was ihr ein wenig die Anspannung nahm. Doch eine Frage brannte ihr, schon seit sie sein Profil angesehen hatte, auf der Seele.

»Warum machst du das?«

»Was meinst du?«

»Na ja, wenn du einfach nur ein Fitnesscoach oder Ernährungsberater sein willst, gibt es bestimmt bessere Orte als ein Forum, wo sich Essgestörte gegenseitig motivieren.«

Kyle lachte nur. »Da hast du vermutlich recht. Sagen wir es so, der Ansatz ist gar nicht so falsch. Nur die Umsetzung ist etwas zu extrem. Ich biete Erfahrung, was Fitness betrifft, und habe früher auch einige Kurse im Studium zum Thema Ernährung belegt. Ich bin zwar etwas eingerostet, aber kann mit professionellen Informationen dienen. Wo wir gerade dabei sind. Ich habe zwei Regeln, wenn das hier funktionieren soll.«

Jamie leckte sich nervös über die Lippen.

»Ja?«

»Also, ich mische mich nicht dabei ein, wie viel du isst. Alles unter 1000 Kalorien am Tag ist aber echt dämlich. Erlaube ich also nicht. Kotzen, nach zu viel essen, ist auch nicht drin. Erstens denke ich, dass es sowieso nicht viel bringt und zweitens finde ich es echt ekelhaft.«

»…«

»Was ist? Habe ich etwas Falsches gesagt?«

Sein Tonfall klang nun etwas besorgt.

»Hast du etwa Bulimie?«

Die Falte auf ihrer Stirn vertiefte sich. Sicher, solche Fragen wurden in Foren oft gestellt. Trotzdem hatte sie nicht damit gerechnet. Zumal das ihr erstes richtiges Gespräch war.

»Warum fragst du? Ist doch eigentlich nicht wichtig, oder?«

»Für mich schon«, kam es unnachgiebig vom anderen Ende der Leitung.

»Wieso?«

Genervt seufzte er.

»Du stellst echt viele Fragen. Okay, dann komm ich dir entgegen. Ich habe mit Leuten, die diese Art von Essstörung haben, keine gute Erfahrung gemacht. Das ist einer meiner Grundsätze. Wenn du Bulimie hast, dann kann ich mit dir nicht zusammenarbeiten und das hier ist beendet.«

Nachdenklich kaute sie auf ihrer Lippe herum. Wer wusste, wie schnell sie jemand anderen finden würde, der sich zurückmeldete. Sie hatte schon ein paar Leute angeschrieben; bis auf ein »Hey, wie geht‘s« war nichts mehr zurückgekommen.

»Also ich hatte früher Phasen. Jetzt aber nicht mehr«, antwortete sie ehrlich.

»Okay … Dann ist ja gut.«

»Es ist nur …«

»Ja?« Er ließ Jamie kurz Zeit, als aber keine Antwort kam, redete er in einem sanften Tonfall weiter. »Du musst mir nichts erzählen, was du nicht erzählen willst. Es ist deine Entscheidung, okay?« Jamie krallte ihre Hand noch stärker in die Lehne des Schreibtischstuhls.

»Ich schäme mich ein wenig dafür.«

»Es gibt nichts, wofür du dich schämen musst«, versicherte Kyle ihr erneut.

»Okay … Also, ich habe öfter Probleme mit Binge-Eating. Das ist vermutlich auch der Grund, warum ich so … aussehe.«

»Ich weiß nicht, wie du aussiehst. Aber zurück zum anderen Thema, das bekommen wir schon hin. Mit meinem Plan sollte es so laufen, dass du nicht das Bedürfnis verspürst, einem ungesunden Essverhalten nachzugehen.«

»Ich kann dir ein Bild schicken, also nachher.«

Sie könnte sich für den hoffnungsvollen Tonfall eine klatschen. Als ob es ihn interessierte, wie sie aussah. Auf ihrem Profilbild waren, im Gegensatz zu Kyles, nur irgendwelche Blumen zu sehen, die sie auf dem Weg zu ihrem Wohnheim fotografiert hatte. Der Grund war offensichtlich. Schon seit Monaten hatte sie kein Bild mehr von sich gemacht, welches sie auch nur ansatzweise mochte. Nicht mehr in ungesunde Verhaltensmuster zurückzufallen und ihr Wunschgewicht zu erreichen, klang zu gut, um wahr zu sein. Sie ließ ihm aber seinen Optimismus.

»Kannst du machen. Schick mir dann am besten auch gleich dein Wunschgewicht, das aktuelle und deine Größe, ja?«

»O-okay.«

Kyle ließ sich von ihrer unsicheren Zustimmung nicht beirren und fuhr sachlich fort: »Ich erstelle dir einen Work-out-Plan und schick dir für die Ausführung ein paar Videos, die ich passend finde. Regeln schicke ich auch später, die liest du bitte sorgfältig durch, dann können wir sie morgen Abend besprechen. Passt das so für dich?«

»Ähm, also ich weiß nicht. Ab morgen bin ich wieder bei meiner Familie. Ich glaube, es ist besser, wenn die hiervon nichts mitbekommen …«

Ihre Mutter würde durchdrehen, wenn sie herausfand, wo sich Kyle und sie kennengelernt hatten. Verstehen würde sie es auf keinen Fall. Das gäbe nur wieder eine Predigt.

»Du kannst doch einfach sagen, dass ich ein Freund oder Arbeitskollege bin. Das ist kein Problem für mich.«

»Okay. Ja, du hast recht, das müsste gehen.«

Ironischerweise wäre es für ihre Mutter genauso auffallend und seltsam, wenn Jamie plötzlich mit einem männlichen Freund telefonieren würde, das musste Kyle aber ja nicht wissen. Sie würde es schon irgendwie gedeichselt bekommen.

»Na dann, bis morgen Abend. War echt schön, dich kennenzulernen. Hast eine süße Stimme.«

»Danke.« Ihr Gesicht war knallrot. »Du auch. Eine schöne Stimme, meine ich und einen schönen Körper-«

Blitzschnell schlug sie sich die Hand vors Gesicht. Kyle lachte nur, während ihre Wangen immer mehr glühten.

»Danke. Wirst du auch bald haben. Glaub an dich, dann wird das. Mit der richtigen Motivation-«

»Kann man alles schaffen«, unterbrach sie ihn grinsend.

»Genau. Wir telefonieren dann morgen?«

»Ja. Bis morgen!«

Mit schwitzenden Händen legte sie auf. Ihre Beine fühlten sich an wie nach einem Dauerlauf. Gedankenverloren suchte sie in ihrer Galerie ein Bild. Sie wollte schon aufgeben, als sie auf ein Foto vom letzten Sommer stieß. Tatsächlich mochte sie es. Natürlich war sie da auch mindestens drei Kilo leichter als jetzt. Aber insgesamt fand sie ihren Körper in der Pose, die sie auf dem Bild machte, ganz okay. Ihr Gesicht war von der Linse leicht weggedreht und der riesige Sommerhut verdeckte es auch etwas. Somit schickte sie es einfach ab, bevor sie müde ihr Handy auf den Nachttisch legte. Am liebsten würde sie liegen bleiben. Erstaunt stellte sie fest, dass es tatsächlich schon dunkel war. Ihr Magen knurrte. Eisern stand sie auf und machte das Licht an. Um sich von dem Hungergefühl abzulenken, ging sie in die Küche und machte sich einen Tee. Das Grummeln in ihrem Magen wurde leiser, verstummte aber nicht ganz.

Es war schon nach null Uhr, als Jamie merkte, wie ihre Augen zufielen. Sie schaltete die Lampe aus, als ihr Handy-Display aufleuchtete. Mit einem Schlag war sie wieder hellwach.

Angespannt öffnete sie Kyles Chat. Zuerst kam ein Text mit Regeln, welche sie jetzt nur überflog. Die Antwort zu dem Bild fand sie wichtiger.

Ist doch gar nicht so schlimm, wie du behauptest! Hast ein süßes Gesicht ;)

Bis morgen Abend. Ich rufe dich um 20:00 Uhr an.

-Kyle

Erleichtert atmete sie aus. Seit langer Zeit fühlte sie wieder so etwas wie Hoffnung. Als ob nun alles besser werden würde.

Dave stand am nächsten Morgen pünktlich um 10 Uhr vor ihrem Wohnheim. Pünktlichkeit war schließlich sein zweiter Vorname. Nancy half ihr, alles im Auto zu verstauen. Immer wieder kam ein Fluchen vom Fahrersitz. Offensichtlich hatte ihr Stiefvater alle Hände voll zu tun, die Adresse ins Navigationssystem einzugeben. Mit dem Schließen des Kofferraums wurde Jamie plötzlich ganz flau im Magen. Sie fühlte sich nicht wie jemand, der gerade dabei war, ein neues Kapitel im Leben zu starten. Eher wie ein kleines Kind, das vorzeitig vom Kindergarten abgeholt werden musste, weil es sich beim Spielen verletzt hatte. Nur leider konnte sie keine Verletzung vorweisen, mit der sie den Abbruch ihres Studiums hätte rechtfertigen können.

»Hey. Mach nicht so ein Gesicht. Das ist nicht das Ende der Welt und wir bleiben auf jeden Fall in Kontakt!«

Strahlend drehte Nancy sie zu sich. Jamie hätte schwören können, dass in ihren Augen Tränen funkelten.

Trotzdem sah sie Nancy nachdenklich an. »Wirklich?«

Bist du dir sicher, dass wir in Kontakt bleiben? Dass du keine besseren Freunde findest, die mehr zu dir und dem Studentenleben passen? Freunde, die nicht aufgaben, sie nicht zurückhielten. Die einfach alles waren, nur nicht Jamie.

»Natürlich!«, schüttelte Nancy sie leicht und lachte.

»Nur deinetwegen habe ich es doch erst so weit geschafft. Ich weiß echt nicht, was ich ohne dich machen soll …« Gegen Ende des Satzes wurde ihre Stimme leiser.

Nun war es an Jamie, sie aufzumuntern.

»Du schaffst das schon.«

Immerhin hast du dein Leben doch voll im Griff.

Bevor Nancy etwas erwidern konnte, warf sich Jamie in ihre Arme.

»Ich werde dich echt vermissen.«

»Ich dich auch.«

Mit einem traurigen Lächeln löste ihre ehemalige Mitbewohnerin sich. »Wir schreiben.«

»Ja.«

Damit verabschiedete sich Jamie und stieg zu Dave ins Auto. Wie immer trug er weite Jeans und ein Shirt mit einem lockeren offenen Hemd darüber. Als sie jünger gewesen war, hatte sie gedacht, dass er ein gruseliger Riese war, dabei bemerkte sie mit der Zeit und der eigenen wachsenden Körpergröße, dass Dave einfach ein durchschnittsgroßer Teddybär war. Über die Fahrt hinweg wechselten sie vereinzelt ein paar Worte. Aber im Vergleich zu ihrer Mutter hatte er Erbarmen mit ihr. So war er einfach. Natürlich waren Streitereien in der Vergangenheit auch hier und da mal vorgekommen, aber Dave hatte sich nie wie ihr Vater aufgeführt. Die aktive Elternteil-Rolle wurde immer von ihrer Mutter übernommen. Manchmal griff Dave zwar ein, meist aber als Schlichter. Tatsächlich schlug er sich nicht automatisch, nur weil er mit ihrer Mutter verheiratet war, auf ihre Seite. Meistens war er eine neutrale Person und sie war dankbar, dass er da war. Er bot ihrer Mutter Halt und Jamie hatte zumindest über ihre Teenagerjahre hinweg eine männliche Bezugsperson in ihrem Leben gehabt, was sie nach dem Tod ihres Vaters tatsächlich dankend angenommen und nicht abgelehnt hatte. Insgesamt hatte diese Patchworkfamilie bis jetzt wohl besser funktioniert als die meisten. Doch das sich nähernde Unheil am Horizont war nicht zu übersehen. Bald schon würde der Titel ‚Einzelkind‘ durch ‚große Schwester‘ ersetzt werden. Jamie fragte sich, ob sie nicht eigentlich zu alt war, um Angst vor Konkurrenz zu haben. Tja, offensichtlich nicht.

Während sie aus dem Fenster sah, fragte sie bemüht beiläufig: »Und, muss ich im Kinderbett schlafen oder steht meins noch?«

Dave seufzte schwer und wechselte die Spur. »Ach, Jamie. Natürlich steht dein Bett noch. Du wohnst ja jetzt auch wieder zu Hause.«

Schnaubend schielte sie zu ihm. »Ja. Mama klang so, als ob die ganze Welt deswegen einstürzt. Die hat geatmet, als ob das Baby schon auf dem Weg wäre.«

»Jamie!«

Nun sah er tatsächlich etwas wütend aus.

»Du musst deiner Mutter auch gestatten, etwas ratlos zu sein. Dein Abbruch hat uns eben überrascht. Sie macht sich Sorgen, weißt du?«

»Ja. Nachdem sie es zum hundertsten Mal wiederholt hat, habe ich es, glaube ich, verstanden.«

Ihr Stiefvater schüttelte nur den Kopf. Sie wusste, dass sie sich kindisch verhielt, aber von der sogenannten Sorge fühlte sie nichts. Die erste Reaktion ihrer Mutter war Wut gewesen, dann war Entsetzen gefolgt. Als Jamie ihr auch noch beichtete, dass sie keine Ahnung hatte, was sie jetzt mit ihrem Leben anfangen sollte, war ihre Mutter verwirrt gewesen. Die Antwort war doch klar: Eine Ausbildung machen. Denn ohne Studium war nur das die einzige vernünftige Wahl. Dass Jamies Mutter immer wieder nur enttäuscht seufzte und wiederholte, dass sie absolut nicht verstand, warum so eine Chance von Jamie weggeworfen wurde, gab ihr auch nicht gerade das Gefühl von Sorge. Dabei war die Sache doch nicht schwer zu verstehen. Sie hatte sich das Studieren anders vorgestellt. Es machte sie nicht glücklich. Schon komisch, dass es immer hieß, man solle sich ausprobieren, wenn man jung war. Aber sobald der Lebenslauf von der Norm abwich, wurde man im Arbeitsmarkt als Mangelware angesehen. Als jemand, der die Dinge nicht durchzog. Deshalb durfte Jamie es ja nicht riskieren, eine zu große Lücke zu haben. Das war ebenfalls etwas, was ihre Mutter bestimmt zehnmal pro Telefonat erläuterte. Als ob Jamie nicht selbst wüsste, wie beschissen ihre Lage war.

Nein. Abgesehen von Vorwürfen kam nichts bei ihr an. Natürlich hatte ihre Mutter recht, trotzdem könnte sie wenigstens versuchen, so zu tun, als ob Jamie in ihren Augen mehr als nur eine Enttäuschung wäre.

Für eine Weile herrschte Stille im Auto, bis sie es nicht mehr aushielt und ihr Bestes versuchte, um die Lage wieder zu entschärfen.

»Tut mir leid. Ich weiß, dass die Situation blöd ist, aber das Ganze war mir einfach zu viel … Ich denke, dass es besser so ist.«

»Wir machen dir ja keinen Vorwurf wegen des Abbruches an sich, aber so kurzfristig und ohne Plan … Na ja, du bist erwachsen. Also musst du auch deine eigenen Entscheidungen treffen. Das müssen wir respektieren. Wir können dich aber nicht ewig bei uns zuhause wieder aufnehmen-«

»Das weiß ich ja«, murmelte Jamie. Dave schielte zu ihr, als ob er sich versichern wollte, dass sie weiter gewillt war, ihm zuzuhören.

»Deine Mutter macht sich einfach Sorgen. Sie hat Angst. Meint, dass du das Ganze nicht ernst nimmst. Sie hat nicht das Gefühl, dass du wirklich aktiv versuchst, eine Lösung zu finden.«

Erneut schloss Jamie die Augen. Sie fragte sich, seit wann sich Worte so schmerzhaft anfühlten. Egal was gesagt wurde, es war einfach wie ein erneuter Schlag ins Gesicht.

Natürlich hatte Dave recht.

Jamie war schon nach einer Woche klar gewesen, dass Studieren nichts für sie war. Aber was hätte sie denn sagen sollen? Dass nicht alles okay war und sie das Gefühl hatte, einen völlig falschen Weg eingeschlagen zu haben? Wie hätte sie das beichten können, wenn ihre Mutter dauernd wiederholt hatte, wie stolz sie doch auf sie war, weil Jamie es endlich geschafft hatte, ihr Leben in den Griff zu bekommen?

Ihre Mutter meinte es auch so. Denn Jamies Leben war noch nie das von einem Vorzeigekind gewesen.

Während ihre Klassenkameraden in den letzten Schuljahren mit dem Lernen beschäftigt gewesen waren, hatte ihr Ziel darin bestanden, zu überleben. In Bezug auf Themen wie Therapie und stationäre Aufenthalte war sie ein Profi gewesen und durch die Krankheit namens Depressionen hatte sie sich schon auf etliche Kriegsgebiete begeben, von denen niemand gewusst hatte. Jamie war also eine Überlebenskünstlerin. Tja, dafür gab es aber eben von niemandem Auszeichnungen, außer vielleicht von sich selbst. Denn nur man selbst wusste, wie oft Situationen gewonnen wurden, die für andere so alltäglich waren wie das Zähneputzen am Morgen. In diesem Kontext konnte Jamie wirklich sagen, dass sie viel geschafft hatte. Bezüglich ihrer Depression war sie weit gekommen. Es bestand eine Art Selbstakzeptanz. Sie wusste, was sie in solchen Situationen tun musste, kannte sich mittlerweile recht gut. Der Chatverlauf mit Kyle, welcher ihr Handy in der Hosentasche schwer werden ließ, war zwar ein klarer Beweis, der dagegensprach, dass es ihr gut ging. Aber Jamie fiel es einfacher, es zu ignorieren.

Es war ihr egal, ob es ‚gut‘ war, was sie tat. Sie wollte wenigstens eine Sache im Leben haben, die ihr vertraut war, wenn der Rest einem Scherbenhaufen glich.

Diäten. Ihr Essen zu kontrollieren, nur um die Kontrolle zu verlieren und sie dann wiederzubekommen. Darin war sie gut. Es war ein Teufelskreis. Sie hatte ein paar ruhigere Monate mit dem Thema gehabt, aber mit dem Abbruch kamen die alten Verhaltensmuster wieder ans Licht. Mit Kyle könnte sie es vielleicht endlich schaffen, da herauszukommen. Vielleicht war das auch gar nicht ihr Ziel. Sie wollte endlich irgendwo ankommen. Wollte ein Gewicht, mit dem sie sich nicht mehr schlecht fühlte. Innerlich sowie äußerlich. Euphorie spielte ebenfalls eine Rolle. Es war ein vergängliches Gefühl, aber sie jagte allem nach, was sie für einen Moment lebendig fühlen ließ.

»Jamie?«

»Ja, ich weiß. Ich gebe mir ab jetzt mehr Mühe.«

Irgendwie sah ihr Stiefvater mit der Aussage nicht zufrieden aus. Aber zumindest ließ er sie vorerst in Ruhe und konzentrierte sich aufs Fahren. Ihr Handy gab einen Benachrichtigungston von sich. Dass Nancy sie wohl jetzt schon vermisste, brachte sie zum Lächeln. Die Nachricht war jedoch nicht von ihr.

Ich kann erst gegen 22 Uhr. Es tut mir so verdammt leid! Ist das okay für dich? Sag ruhig, wenn es nicht passt. Vergiss die Regeln nicht. Überleg dir, ob du selbst noch etwas hinzufügen willst. Wir sind ein Team, ja?

Bis später.

P.S.: Kommt wirklich nicht mehr vor!

-Kyle

Automatisch zogen sich Jamies Mundwinkel noch ein Stück nach oben. Es war echt süß, dass er sich den Kopf zerbrach, nur weil er erst später telefonieren konnte. Die Regeln würde sie sich später genauer ansehen. Mit mehr Ruhe und geschützt vor unerwünschten Blicken.

»Da freut sich eine aber ganz schön; mit wem schreibst du denn?«

Gott, Dave war neugieriger als ihre Mutter. Jamie versuchte deshalb, schnell das Thema zu wechseln.

»Nur mit Nancy. Sie meint, dass sie mich jetzt schon vermisst. Find das nur echt lieb.«

Lügen war erschreckend einfach. Er nickte nur. »Da hast du echt eine aufmerksame Freundin. Verlier die nicht.«

»Ja. Ja, da hast du recht.«

Lügen fühlte sich ausnahmsweise gut an.

Erschöpft warf sich Jamie auf ihr Bett in ihrem alten Zimmer. Ihre Mutter hatte es sogar schon bezogen. Trotz der netten Geste war ihr einfach nur zum Heulen zumute.

Ab heute Abend würde sie mit ihren Eltern essen müssen. Von Jamies eher schwierigem Verhalten zu Lebensmitteln und zu ihrem Körper wussten Dave und ihre Mutter nichts. Es war von ihrem Therapeuten damals nicht als bedenklich angesehen und einfach auf ihre Depressionen geschoben worden. Da es auch immer nur Phasen gewesen waren, die nie über längere Zeit ein Problem darzustellen schienen, hatte Jamie irgendwann beschlossen, aufzuhören, darüber zu reden, weil sie sich bei dem Thema Essstörungen selbst nicht mehr hatte ernst nehmen können. Sie hatte Probleme damit, aber sie war nicht essgestört. Die nicht vorhandene Diagnose auf ihrem letzten Arztbrief bestätigte dies schwarz auf weiß.

Warum ging Jamie jetzt nicht mehr zur Therapie? Weil es sich damals um einen Jugendtherapeuten gehandelt hatte. Sie hatte auch mit gutem Gewissen alle Therapiestunden aufgebraucht. Ihr Therapeut hatte im Abschlussgespräch nur betont, welch wahnsinnige Fortschritte sie gemacht habe und dass sie jetzt mit gutem Gewissen auf beiden Beinen stehen könne. Sehr lustig.

Ihre Mutter würde erst heute Abend heimkommen. Zurzeit arbeitete sie noch normal und Dave war wieder losgefahren, um Einkäufe zu tätigen. Eine Weile blieb Jamie unmotiviert im Bett liegen. Der Gedanke, sich an ihren alten Schreibtisch zu setzen und nach Ausbildungsstellen zu suchen, war deprimierend. Um sich davon abzulenken, fischte sie ihr Handy aus der Tasche.

Haha. Kein Problem, mach dir keinen Kopf.

Bis heute Abend.

-Jamie

Da sie gerade sowieso den Chat offen hatte, nahm sie sich die Zeit, die Regeln, welche Kyle aufgestellt hatte, genauer anzusehen.

1. Kein Kotzen

2. Kein Telefonieren über den Tag, nur wenn ich anrufe und zu ausgemachten Zeiten am Abend. Schreiben geht natürlich immer ;)

3. Nicht unter 1000 Kalorien. Das ist mir sehr wichtig.

4. Mindestens 10.000 Schritte am Tag (bestenfalls mehr). Wenn das nicht klappt, melde dich, dann überlegen wir uns zusammen etwas.

5. Dreimal die Woche Work-out. (Schick dir noch Videos, der Plan ist dann auf dich abgestimmt, sollte kein Problem sein)

6. Wenn ein Problem auftritt, immer darüber miteinander reden. Kommunikation ist das A und O.

Jamie schluckte. Die Schritte und das Work-out bereiteten ihr die meisten Sorgen. Die Übungen in dem Video sahen wirklich anspruchsvoll aus. Sie war nicht die sportlichste Person und eine Work-out-Routine hatte sie in der Vergangenheit nie länger als drei Monate aufrechterhalten können. Aber sie würde es schon hinbekommen. Dieses Mal auf jeden Fall. Entschlossen nickte sie sich selbst zu. Immerhin war sie jetzt nicht mehr durchs Studium beansprucht. Als Ausgleich zur nervenaufreibenden Jobsuche wäre es nicht schlecht. Abgesehen davon konnte sie so ihren Stoffwechsel ankurbeln und würde bestimmt schneller Gewicht verlieren. Mühsam begann Jamie, ihre Habseligkeiten auszupacken. Sie war immer noch erstaunt, dass alles in ihrem Zimmer so aussah wie immer. Neben dem Schreibtisch stand ihr altes Keyboard und sammelte ordentlich Staub an. Irgendwo in ihren Schränken war auch noch ihre Blockflöte aus Grundschulzeiten. Hobbies, die sie angefangen und dann wieder in den Sand gesetzt hatte, aus dem einfachen Grund, dass sie nie gut genug in etwas gewesen war. Zumindest war es ihr nie schnell genug gegangen bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie nicht mehr als peinlicher Anfänger zählte. Somit hatte sie auch das Studium schon in der Anfangszeit abgebrochen. Seufzend drehte sie sich zu ihrem ausgepackten Laptop. Da war ja etwas gewesen.

Damit ihre Mutter sie nicht gleich zur Begrüßung anmeckerte, machte sie sich daran, nach einem Job zu suchen. Es war einfacher, sich festzulegen, da es sich dabei, im Vergleich zu einer Ausbildung, nur um eine vorübergehende Verpflichtung handelte.

Das Abendessen verlief problemlos, bis ihre Mutter wieder damit anfing, ihr Druck zu machen und meinte, dass sie keine Zeit verschwenden und sich aufs Wesentliche konzentrieren sollte. Jamie riss sich zusammen und nickte nur alles ab, was ihr wieder an den Kopf geknallt wurde. Das »Ich habe dich lieb« und »bleib positiv« danach fühlte sich wie ein Witz an.

Nach dem Duschen setzte sie sich gedankenverloren auf ihren Schreibtischstuhl. Das negative, allzu bekannte Gefühl von Schuld, welches sie hatte wegspülen wollen, war immer noch genauso präsent. Jamie musste sich eingestehen, dass sie es mal wieder übertrieben hatte. Jetzt musste sie die Zähne zusammenbeißen und nicht darüber nachdenken. Ab morgen früh würde ihr Training mit Kyles Unterstützung anfangen und alles besser werden.

Na? Wie war der erste Tag allein? Furchtbar? Schrecklich! Ich weiß. Ohne mich ist es der absolute Horror!

-Jamie

Sie schnaubte kurz belustigt, bevor sie die Nachricht absendete. Oft genug war sie von dem Gefühl, zu viel für ihr Umfeld zu sein, begleitet worden. Also hatte sie sich verbogen, angepasst, war zu dem „normalen“ Durchschnitts-Teenager geworden.

Das hatte zumindest etwas in Bezug auf Probleme wie Mobbing gebracht, eine Erfahrung, die in der Schulzeit jeder durchmachen durfte, der anders war und von der Norm des Mainstreams abwich. Nancys Antwort traf sie wie ein dumpfer Schlag in die Magengrube. Wieder zu viel.

Sorry Jamie, heute war echt stressig.

Ich habe gerade keinen Kopf zu antworten. Ich hoffe, du verstehst das :(

Knuddel dich

-Nancy

Na ja, so war es halt, redete sie sich schulterzuckend ein und unterdrückte das ungute Gefühl. Die nächsten Stunden verbrachte sie sinnlos auf Social-Media-Seiten und damit, diverse Diät-Tipps durchzulesen, bis ihr Handy erneut klingelte.

»Hallo.«

Zufrieden stellte Jamie fest, dass ihre Stimme schon viel selbstsicherer als am Vortag klang.

»Hey. Und? Bist du gut zu Hause angekommen? Hast du die Regeln schon gelesen?«

Sie nickte motiviert, dann schüttelte sie den Kopf über ihr Verhalten. Als ob er sie sehen könnte. Bei der Realisation lief sie schon wieder rot an.

»Ja. Danke und ja, habe ich.«

»Passt es so für dich?«

Seine Stimme klang ernst. »Sag ruhig Bescheid, wenn du etwas ändern oder hinzufügen willst. Ja?«

»Es passt alles, nur …«

»Ja?«

»Also, ich habe mir die Videos und deinen Work-out-Plan angesehen und weiß nicht, ob ich das hinbekomme.«

Dass Kyles Antwort alles andere als begeistert klang, verunsicherte sie.

»Hmm. Ich habe extra einfache Übungen herausgesucht. Für eine, wie soll ich es sagen, für eine Anfängerin sollte es eigentlich genau richtig sein.«

Das saß. Am liebsten wäre Jamie im Erdboden versunken. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass es besser wäre, ihre Gedanken zukünftig lieber für sich zu behalten. Kyle war doch wie alle anderen. Enttäuscht von ihr. Sie wollte auflegen. Ihr Handy an die Wand werfen. Ihr ganzes Zimmer zerlegen, nur um das Gefühl von Scham und Schuld nicht mehr fühlen zu müssen.

»Jamie?«

»Ja?«

»Ich habe gefragt, ob ich es kürzen soll… Wenn es dir zu viel ist, dann-«

»Ich versuch‘s!«

Überrascht lachte er auf.

»Wow, okay. Na dann, du schaffst das schon. Ich glaube an dich! Wirklich.«

Sofort entspannte sie sich wieder. Gerade noch so die Kurve gekriegt.

»Und? Willst du noch etwas hinzufügen, zu den Regeln? Ich bin ganz Ohr. Meine Zeit ist gerade nur für dich reserviert.«

Jamie lachte. »Nein, ich habe sonst echt nichts.«

»Bist du dir sicher, ganz sicher?«

Seine Stimme klang schon wieder so, als würde er grinsen. Jamie setzte sich auf ihr Bett.

»Ich will gelobt werden! Also, wenn ich mein erstes Gewichtsziel erreicht habe.« Es war offensichtlich nur ein Scherz. Kyles Stimme nahm wieder einen ernsteren Tonfall an. Er nahm sie beim Wort.

»Was möchtest du zur Belohnung haben, wenn du es erreicht hast?«

»Ich, also …«

»Such es dir aus. So eine Leistung muss schließlich… belohnt werden.«

Und auf Wiedersehen Entspannung. Jamie war froh, im Moment allein zu sein, so musste sie sich wenigstens keine Sorgen machen, dass jemand mitbekam, wie perplex sie gerade war. Es klang fast so, als würde Kyle mit ihr flirten. Was natürlich nicht der Fall war. Niemand hatte jemals mit ihr geflirtet. Warum auch? Sie versuchte sich schnell wieder zu sammeln.

»Kaffee.«

Ja, bravo Hirn! Könnte sie sich bitte nicht blamieren?

Er klang sehr amüsiert. »Was?«

»Lass uns einen Kaffee trinken gehen.«

»Okay.«

Es war kurz still. Jamie fühlte sich so wohl, dass sie einfach darauf losredete. »Und sonst so?«

»Hm?«

»Wie war dein Tag? Stressig?«

»Ja, kann man so sagen. Und du bist jetzt wieder bei deinen Eltern?«

Tief seufzte Jamie. »Ja, ich habe mein Studium abgebrochen. Jetzt muss ich erst mal schauen, wie es weitergeht.«

»Keine Idee?«

»Nein. Vielleicht fange ich eine Ausbildung an oder so.«

»Das funktioniert schon. Wenn wir fertig sind, wird dich jeder mit Handkuss einstellen wollen. Versprochen!«

»Ja, nur leider brauche ich jetzt schon einen Job. Aber was quatsch ich dich voll. Sorry fürs Nerven.« Nervös kratzte sie ihr Kinn und zog ihr Oberteil zurecht.

»Ach was, dafür bin ich doch da.«

Jamie prustete. »Um dir meine Probleme anzuhören?«

Kyle lachte nicht. Er räusperte sich und sagte mit einer absoluten Selbstverständlichkeit: »Ich bin dein Coach, oder nicht? Natürlich ist es mir wichtig, wie es dir geht.«

Überrascht schloss sie die Augen und atmete tief durch. Sie war unglaublich dankbar. Ihm war wichtig, wie es ihr ging. Nicht wie ihr Leben momentan aussah, wie es weitergehen würde. Nein. Wie. Es. Ihr. Ging. Nachdem Jamie immer wieder das Gefühl bekommen hatte, dass ihr Wohlbefinden egal war, fühlte es sich verdammt gut an, so etwas zu hören.

»Danke.«

»Wofür denn?«

Kyle war echt perfekt. Grinsend schüttelte sie den Kopf.

»Ach egal.«

»Wenn du meinst. Ich rufe morgen wieder um 21.00 Uhr an. Hast du schon Work-out-Zeiten für dich festgelegt?«

»Ja. Montags, mittwochs und freitags. Ich fange damit erst nächste Woche an. Aber mit den Schritten starte ich ab morgen.«

»Sehr schön. Schick mir auch noch dein Gewicht. Wenn etwas ist, einfach schreiben.«

Beim Gedanken an ihr Gewicht wurde ihr unwohl, aber das gehörte eben dazu.

»Okay. Mach ich.«

»Dann schlaf schön, Süße.«

»D-Du auch, bis morgen.«

Kapitel 2

Jamie war dabei, sich die Turnschuhe zu binden, als ihr einfiel, dass ihre Mutter vorgekocht hatte. Schnell rannte sie in die Küche. Die Prozedur war ihr nur allzu bekannt. Zuerst etwas vom Essen auf den Teller. Dann wieder runterkratzen. Fehlte nur noch die Beweisbeseitigung. Schnell machte sie sich auf den Weg nach draußen zur Mülltonne. Erleichtert schloss sie den Deckel. Ein weiterer Tag des Kalorien-Einhaltens war gesichert. Kyle meinte zwar, sie habe Freiheit nach oben, aber Jamie war sofort klar, dass sie so niemals schnell genug ihr erstes Gewichtsziel erreichen würde. Außerdem war sie stolz darauf, gerade so ihre eigene kleine Regel einhalten zu können, nicht die 1000 Marke zu übertreten. Und bis jetzt ging es ihr ja super damit, warum es also ändern?

Sie war wirklich ganz gut gelaunt und hatte beschlossen, das Joggen wieder aufzunehmen. So würde sie schneller auf ihre Schritte kommen und sich nicht so sinnlos vorkommen wie beim Spazierengehen. Tatsächlich hatte sie am kommenden Dienstag ein Jobinterview. Die Bewerbung hatte sie noch gestern Nacht geschickt und heute Morgen schon eine Antwort bekommen. Das Beste war, dass sie den Laden mit nur zwei Haltestellen erreichen konnte. Es war irgendein Bastelladen, der seit zwei Jahren existierte. Dieser war mittlerweile auch sehr gut besucht, zumindest laut Bewertungen im Internet. Die Geschäftsführung suchte nun dringend einen neuen Mitarbeiter, da der Vorige wohl gekündigt hatte. Es war fast schon zu einfach und Jamie fragte sich, wo der Haken war.

Sie war jetzt schon nervös, aber sie hatte ja Gott sei Dank genug Ablenkung. Wie zum Beispiel durch das Kalorien-zählen. Jamie wusste nicht, ob es ihr wirklich so wichtig war, oder ob es der vertraute Gedanke war, dass es ihr wichtig sein sollte. Jedenfalls gab es ihr ein Glücksgefühl. Genauso, wie auf ihre Schritte zu kommen es tat, da sie dies Kyle am Abend stolz mitteilen konnte. Natürlich hatte er auch großen Einfluss auf ihre Laune. Es war einfach schön, jemanden zu haben, mit dem sie offen und ehrlich reden konnte. Sicher, sie hatte auch Nancy. Irgendwie reichte das Jamie, seit sie mit ihm in Kontakt war, jedoch nicht mehr. Ihre Lauf-Routine ging nach einem Kilometer ein Stück in die Stadt rein, bevor sie wieder in die andere Richtung umdrehte. Mit Musik auf den Ohren konnte sie wenigstens so tun, als würde sie die starrenden Blicke nicht aggressiv machen. Ob Jamie dick war? Ihr BMI stand im leichten Übergewicht. Das der BMI-Rechner nur ungefähre Angaben machte, welche sehr stark variierten, war ihr egal. Immerhin gab es Leute, die laut diesem im Normalgewichtbereich waren und nur das zählte für sie. Sie wollte einfach wie die anderen sein. Dazu gehören. Vielleicht könnte sie dann ihr zwanghaftes Vergleichen einstellen und Frieden mit dem Thema finden. Mit dem Gedanken rannte sie etwas schneller. Es war ein zauberhafter Frühlings-Vormittag. Das Wetter war perfekt, aber ihre Musik passte nicht ganz. Fluchend suchte sie nach einem geeigneten Lied. Stehen bleiben war keine Option, da sie schon drei Mal hatte Pause machen müssen, weshalb sie zügig weiterlief. Als sie um die Ecke schnellte, stieß sie mit vollem Karacho mit jemandem zusammen. Der Aufprall war so stark, dass es sie umwarf. Dankend nahm sie die Hand an, welche ihr vom Boden aufhalf.

»Tut mir echt leid. Ich habe nicht aufgepasst.«

Gequält klopfte sie den Dreck ab und verstaute Handy und Kopfhörer in ihrer Hosentasche.

»Habe ich gemerkt!«

Die Person klang belustigt, aber doch besorgt. »Bei dir ist alles okay?«

Jamie sah den jungen Mann vor sich genauer an. Er schien ungefähr in ihrem Alter zu sein. Was aber ihre Aufmerksamkeit komplett einnahm, war der große Kaffeefleck auf seinem T-Shirt. Geschockt riss sie die Augen auf und hob unbeholfen den leeren Mehrwegbecher von der Straße auf. Ein starkes Schuldgefühl überkam sie. Es war ein Bandshirt, welches vor sieben Jahren noch in nahezu jedem Klamottenladen verkauft worden war. Mit der Auflösung besagter Band waren nicht nur die meisten Fanartikel vom Markt verschwunden, sondern auch die Band schnell in Vergessenheit geraten.

»Oh mein Gott, es tut mir so leid! Ich kauf dir einen neuen Kaffee! Und dein T-Shirt-«

Beschämt biss sie sich auf die Lippe. Ihre Stimme war nur ein Flüstern.

»Ich weiß nicht, vielleicht kann ich es mit irgendwas anderem wieder ersetzen.«

»Hey, hey. Kein Stress! Es ist nur ein T-Shirt.«

»Welches man nicht mehr kaufen kann«, meinte sie schuldbewusst. Jamie sah ihn betroffen an, während ihre Ohren rot anliefen. Ihr Gegenüber grinste nur und nahm ihr den Becher ab.

»Deshalb habe ich auch zwei davon, alles gut.«

Sein Lächeln verschwand, als er sie erneut besorgt musterte.

»Aber ist bei dir wirklich alles okay? Dich hat es ordentlich hingehauen …«

Nervös lachend winkte sie ab.

»Alles okay.«

»Gut.«

»Ja.«

Die peinliche Stille wurde von dem Kerl unterbrochen, bevor sie zu lange andauern konnte.

»Du kennst die Band also?«, fragte er neugierig und strich sich seine schwarzen Haare aus dem Gesicht.

»Ja«, bestätigte sie. »Die waren echt gut damals. Es tut mir nur leid, dass du jetzt so rumlaufen musst.«

»Muss es nicht, ist doch nichts passiert! Ich bin auf den Weg zur Arbeit und muss mich dann sowieso umziehen. Oh, ich bin Phil.«

Sie nahm seine ausgestreckte Hand und schüttelte sie ungeschickt.

»Jamie. Was arbeitest du denn?«

Phil starrte sie weiter nur dümmlich grinsend an, was sie irritierte. Unsicher räusperte Jamie sich, woraufhin dieser kaum merklich die Augen aufriss. Seine Worte überschlugen sich fast.

»Sorry, ich arbeite als Koch!«

Erst nickte er ernst, um seine Aussage zu untermalen, lachte bei ihrem Blick aber laut auf. »Ja, wirklich, ich verarsch dich nicht!«

Sie betrachtete Phil nochmal genauer.

»Sorry. Du siehst nicht aus wie ein Koch. Eher wie-«

»Ein arbeitsloser Hippie?«

»Oh Gott, nein! Das meine ich nicht-«

»Ich veräpple dich doch nur! Und? Was schätzt du?«

Seine Hose war verwaschen und ging nur bis zum Knöchel, seine Socken waren eindeutig zu lang und er trug Schuhe, die aussahen wie die, die Dave als Hausschuhe trug. Über dem Bandshirt trug er einen Cardigan mit Dreiviertelarm. Jamie fragte sich, ob dieser nicht sogar aus einer Frauenabteilung stammte. Seine Frisur war das Einzige, was durchschnittlich wirkte. Fast kinnlange Haare, aber keine abrasierten Seiten oder Ähnliches. Insgesamt passte keine Beschreibung so wirklich, weshalb sie ihn nachdenklich ansah und grinste. »Nicht ganz. Ich habe absolut keine Ahnung. Meine erste Theorie war Kunststudent, oder so…«

Phil grinste und kratzte sich verlegen am Kinn.

»Ich bin tatsächlich Künstler.«

»Oh! Was zeichnest du so?«, fragte Jamie von Neugier getrieben, während in ihrem Inneren sämtliche Alarmglocken losgingen.

Innerlich schrie Jamie sich an, aufzuhören, Fragen zu stellen. Sie war nicht selbstbewusst, was machte sie hier also gerade? Einfach so mit einem Fremden plaudern, den sie gar nicht kannte … Sie konnte sich nicht erinnern, sowas jemals in ihrem Leben getan zu haben. Zumindest nicht freiwillig. Phil zuckte mit den Schultern.

»Alles Mögliche. Landschaften. Dinge. Menschen.« Schief grinsend sah er zu ihr. »Was mich so gerade inspiriert. Und du? Sportlich unterwegs?«

»Ja … schon.«

Machte er sich gerade über sie lustig? Oder war er nur freundlich? Der Kommentar hatte es geschafft, sie so in Verlegenheit zu bringen, dass sie beschämt zur Seite schaute.

Auf der anderen Seite des Bürgersteigs rannte ein kleines Kind begeistert hin und her, bis es über seine kleinen Beine stolperte und losplärrte. In Windeseile nahm die Mutter das Kind auf den Arm, flößte ihm tröstende Worte ein und ging weiter.