Loslassen und Leben aufräumen - Christina Erdkönig - E-Book

Loslassen und Leben aufräumen E-Book

Christina Erdkönig

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Beschreibung

Schon bald nach dem Tod der Mutter oder des Vaters müssen die "Kinder" die Wohnung oder das Haus des Verstorbenen - diesen besonderen Ort der Erinnerung - auf- und ausräumen: ein schwieriger Prozess des Loslassens. Die Erzählungen der Frauen und Männer, die Christina Erdkönig dazu befragt hat, zeigen, wie vielschichtig das Geschehen sein kann und sie geben Betroffenen hilfreiche Hinweise und Orientierung. Der Psychologe Emir Ben Naoua erläutert zudem, wie man mit den oft verwirrenden Gefühlen umgehen kann.

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Seitenzahl: 191

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Christina Erdkönig mit Emir Ben Naoua

Loslassen und Leben aufräumen

Was mit uns geschieht, wenn wir die Wohnung unserer Eltern auflösen

Impressum

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Vogelsang Design

Umschlagmotiv: © Eric Simard – fotolia.com

Autorenfoto: © privat

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book) 978-3-451-80104-4

ISBN (Buch) 978-3-451-61248-0

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Das Elternhaus – Ort des Gedenkens

Der grüne Ohrensessel als Erinnerungsort – Barbara

Der Tod und die Veränderung des Elternhauses – Claudia

Das Ritual im Hauseingang – David

Aus Sicht des Psychologen – Das Elternhaus

Kapitel 2: Entscheidung

Darf man den Traum der Eltern begraben? – Karin

Das Elternhaus als Quelle des Lebens – Rocco

Die Tragik der eigenen Familiengeschichte – Joachim

Aus Sicht des Psychologen – Entscheidung

Kapitel 3: Überwindung

Ein langsames Herantasten – Sigrid

Die Zwischenphase in der Küche – Joachim

Endlich Ordnung ins Chaos! – Thomas

Aus Sicht des Psychologen – Überwindung

Kapitel 4: Spurensuche

Das fehlende Puzzlestück – Katharina

Der Schatten der Vergangenheit – Claudia

Späte Auseinandersetzung mit dem Übervater – Rolf

Aus Sicht des Psychologen – Spurensuche

Kapitel 5: Reise in die Kindheit

Zurück zum Kind unter der warmen Bettdecke – Marietta

Heintje, aber bitte mit Wunderkerze! – Thomas

Mutter, die nie »Mama« war – Rolf

Das perfekte Küchenteam – David

Der Duft nach Honig und Weihnachten – Rocco

Aus Sicht des Psychologen – Reise in die Kindheit

Kapitel 6: Geschwisterdynamiken

»Meine Schwester gönnt mir einfach überhaupt nichts!« – Claudia

Die Schwester als Bremsklotz – Claus

Das Misstrauen des Bruders – Clara

Das Haus schweißt die Geschwister zusammen – David

Das gemeinsame Räumen als eine Art Therapie – Katharina

Aus Sicht des Psychologen – Geschwisterdynamiken

Kapitel 7: Ein neues Zuhause für die Dinge, oder: Wohin mit all dem »Krempel«?

100 Tage 47&11 – Rolf

Warum will keiner diese schönen Schränke? – Marietta

Wut im Bauch – Barbara

Aus Sicht des Psychologen – Ein neues Zuhause für die Dinge

Kapitel 8: Der Entrümpler

Ich will mich nicht für die alten Sachen entschuldigen müssen – Ingo

Der Schock über die Schrankwand der Eltern – Karin

Magengrimmen am Tag X – Marietta

Aus Sicht des Psychologen – Der Entrümpler

Kapitel 9: Loslassen als Befreiung

Endlich die Vergangenheit abschließen – Claus

Ausmisten als Reinigung für die Seele – Sigrid

Der Geist der Eltern ist weg – Ingo

Aus Sicht des Psychologen – Loslassen als Befreiung

Kapitel 10: Gibt es den endgültigen Abschied?

Aufbruch und Befreiung – Karin

Trauer über den alten Apfelbaum – Joachim

Der innere Abschied am Telefon – Clara

Der Alptraum vom leeren Elternhaus – Katharina

Aus Sicht des Psychologen – Der endgültige Abschied?

Schlusswort

Kurzporträts der 14 Gesprächspartner

Literaturempfehlungen

Vorwort

Wenn die Eltern sterben, geht ein Teil der eigenen Familiengeschichte zu Ende. Die Generation vor uns ist plötzlich weg. Das Wissen und die Erfahrung, auf die man bauen konnte, scheinen für immer verloren. »Wir Kinder« können die Eltern nicht mehr um Rat fragen, können uns nicht mehr darauf verlassen, dass »Mutter es schon richten wird«, dass »Vater da noch Hand anlegt«. Wir Kinder sind jetzt die »Großen« und in jeder Hinsicht auf uns selbst gestellt. Auch wer eigenständig ist, fest im Leben steht, selbst schon Familie hat, empfindet den Tod der Eltern häufig als schweren Verlust. So ging es auch mir, als mein Vater 2010 nur zwei Jahre nach meiner Mutter an Krebs starb. Obwohl ich schon 40 war und selbst Kinder habe, wurde eine große Lücke in mein Leben gerissen, worauf ich nicht annähernd vorbereitet war. Meine Eltern waren die große Konstante in meinem Leben gewesen.

Der Verlust der Eltern ist das eine, was materiell übrig bleibt, ist das andere: das Haus oder die Wohnung der Eltern, mit all den Dingen, die ihr Leben begleitet haben – die Hausschuhe, der Rasierapparat, die Teekanne.

In einer Wohlstandsgesellschaft ist das Wegwerfen von Dingen zwar normal geworden. Doch wie schwer kann es sein, bei den alten Schallplatten des Vaters und Mutters Tassensammlung eine Entscheidung zu treffen! Was soll mit den Perserteppichen, dem Mahagonischränkchen oder der alten Nähmaschine von Oma passieren? Was kann man in der Familie behalten, ohne sich selbst damit zu belasten? Neben der Trauer und dem Abschiednehmen lautet also eine wichtige Frage: Was tun mit dem Nachlass von Vater und Mutter? In den Müll werfen? Darf man überhaupt die Sachen der Eltern einfach so entsorgen? Fragen wie diese verunsichern die Hinterbliebenen nach dem Tod der Eltern. Ich selbst stand 2011 vor dieser Frage gemeinsam mit meinen beiden Schwestern. Eine intensive Räumphase nahm ihren Anfang, in der wir uns auch auf eine Spurensuche begeben haben und viel Neues über unsere Eltern erfahren konnten, in der wir aber auch körperlich und seelisch an unsere Grenzen gelangten.

Es gibt Menschen, die einfach den Schlüssel im Schloss umdrehen und einen Entrümpler kommen lassen. Doch das ist meiner Erfahrung nach eher die Ausnahme. Die meisten Menschen, mit denen ich über dieses Thema gesprochen habe, nutzten das Ausräumen, um ihre Trauer zu verarbeiten, sich noch einmal mit ihren Eltern zu beschäftigen, die Vergangenheit Revue passieren zu lassen, Ballast abzuwerfen. Auch meine Schwestern und ich hatten uns vorgenommen, alles in unserem Elternhaus noch einmal durchzuschauen, alles noch einmal in die Hand zu nehmen. Ein zu ambitioniertes Vorhaben, wie sich später zeigen sollte.

Für dieses Buch habe ich sieben Männer und sieben Frauen zu ihren Erfahrungen mit der Auflösung ihres Elternhauses nach dem Tod von Vater und Mutter befragt. Dabei handelt es sich um Menschen zwischen 40 und 63 Jahren unterschiedlichster Herkunft und Prägung. Auf ihren Erfahrungen baut dieses Buch auf. Ihre große Offenheit und das Vertrauen, das sie mir entgegengebracht haben, machten das Buch erst möglich.

In den zehn vorliegenden Kapiteln erfährt der Leser viel über die Familiengeschichte und Lebensumstände der einzelnen Interviewpartner. Deshalb werden Gesprächspartner, wenn sie das erste Mal im Buch erscheinen, zunächst kurz vorgestellt. Zum Schutz der Privatsphäre habe ich die Namen mancher Gesprächspartner anonymisiert und Ortsnamen geändert. Sieben der vierzehn Befragten äußerten diesen Wunsch.

So unterschiedlich die Betroffenen, so unterschiedlich die Reaktionen und so vielfältig die Wege des Loslassens. Viele der Befragten waren erleichtert, ausführlich über diese Phase in ihrem Leben reden zu können. Nach wie vor ist der Tod ein Tabu in unserer Gesellschaft und damit auch das Auflösen des Haushalts nach dem Tod von Vater und Mutter. Es ist ein Thema, das vielen unangenehm ist. Mitleidsvolle Blicke und Bemerkungen wie »Oh, das erwartet mich auch einmal« sind häufige Reaktionen. Dann wird schnell das Thema gewechselt. Die Auflösung einer vertrauten Umgebung wegen des Verlusts der Eltern macht Angst. Viele weichen dem Thema aus Selbstschutz aus. Man vermeidet es, sich damit zu konfrontieren. Umso wichtiger ist es, dass darüber geschrieben wird, denn viele Betroffene fühlen sich mit ihren Problemen und in ihrer Lebenssituation alleingelassen. Dieses Buch soll Menschen nach dem Tod ihrer Eltern Mut machen, das Ausräumen ihrer Wohnung als Chance zu begreifen. Denn durch diesen Prozess kann Trauer besser verarbeitet werden, können »alte Geschichten« und mögliche Ungereimtheiten in der Familie neu reflektiert werden.

Ich freue mich sehr, den Diplom-Psychologen und Psychotherapeuten Emir Ben Naoua als beratenden Psychologen für dieses Buch gewonnen zu haben. Er verfügt über jahrelange Erfahrung als Psychotherapeut in seiner Privatpraxis in Stuttgart. Es gelingt ihm, anschaulich und ohne den »erhobenen Zeigefinger« Verhaltensmuster nachvollziehbar zu machen. Seine abschließenden Kommentare zu jedem Kapitel helfen dem Betroffenen, sich selbst besser zu verstehen und das Erlebte aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Man erfährt zum Beispiel, welche Verhaltensweisen durchaus »normal« sind und wo sie herrühren. Auch mir hat er wiederholt die Augen geöffnet, was während des Ausräumens mit mir passiert ist und wie die eine oder andere hochemotionale Situation entstehen konnte.

Eines erzählen alle, die ich befragt habe, ganz gleich, ob sie ein gutes oder schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern hatten: dass die Zeit des Räumens im Elternhaus sehr intensiv und wichtig für sie war. Aufreibend und aufwühlend, schwer und bewegend, anstrengend und ermüdend, spannend und schön – Ich wünsche Ihnen, dass mein Buch ein hilfreicher Begleiter wird in dieser Phase Ihres Lebens.

Kapitel 1: Das Elternhaus – Ort des Gedenkens

Nach dem Tod eines geliebten Menschen ist es wichtig, einen Ort für die eigene Trauer zu finden. Viele Hinterbliebene zieht es zum Grab, um dort Ruhe zu finden und an den Verstorbenen zu denken. Das Anzünden einer Kerze kann heilsam sein.

Viele erzählen auch, dass das Bepflanzen des Grabes ihnen hilft: die Blumen aussuchen, sorgfältig die Farben zusammenstellen, die Pflänzchen auf dem Grab anordnen. Manche empfinden diese praktische Arbeit mit den Händen als eine Art Meditation. Durch das Berühren der Erde, das Graben und Schaufeln kommen sie zu sich, verlieren sich nicht mehr in abschweifenden Gedanken. Sie können dem Toten durch die nützliche Beschäftigung nah sein, können so noch etwas Gutes für ihn tun, an seiner letzten Ruhestätte sein Andenken bewahren.

Meine ältere Schwester beispielsweise nimmt sich mehrere Stunden Zeit, um in einer Gärtnerei die richtigen Pflanzen für das Doppelgrab unserer Eltern auszuwählen. Meistens kauft sie auch Stiefmütterchen in violetten Farbtönen, weil unsere Mutter genau diese Blumen so sehr mochte. Am Grab selbst verbringt sie dann mehrere Stunden, um die Farben zu komponieren, besondere Formen mit den Blumen zu bilden, zum Beispiel ein Herz. Diese kreative Arbeit mit den Händen verschafft ihr Trost. Sie besteht darauf, die Grabbepflanzung selbst zu machen. Einen Gärtner zu beauftragen kommt für sie nicht infrage.

Um den Verstorbenen zu gedenken, gehen andere wiederum an besondere Orte, die für die Verstorbenen von Bedeutung waren. Das kann eine Waldlichtung sein, eine Anhöhe mit alten Bäumen, ein Strand an der Ostsee. Es werden Orte wieder aufgesucht, an denen man gemeinsam glücklich war, intensive Gespräche führte und sich dem anderen eng verbunden fühlte.

Mir persönlich hilft der Besuch am Grab viel weniger als meiner Schwester. Im Gegenteil, der Friedhof war mir phasenweise richtiggehend verhasst. Dort wurde mir vor allem in den ersten Monaten nach dem Tod der Eltern der Verlust in seiner Härte wieder extrem deutlich. Ja, manchmal konnte ich es schlicht nicht ertragen, am Grab zu stehen. Mein Ort des Gedenkens ist ein Spaziergang über einen Feldweg bei uns in der Nähe. Dort steht auf einer Wiese ein alter Mirabellenbaum. Immer wenn ich an seinem knorrigen Stamm vorbeigehe, denke ich an meinen Vater, wie er damals, schon vom Krebs gezeichnet, voll kindlicher Freude die gelben Früchte pflückte. Er konnte sich immer an kleinen Dingen erfreuen – das halte ich so in Erinnerung.

Wenn beide Eltern gestorben sind, spielen auch das Haus beziehungsweise die Wohnung der Eltern eine große Rolle. Sie können ein Erinnerungsort werden, denn sie bieten eine Rückzugsmöglichkeit für die Trauernden. Für die meisten Familien war die Wohnung oder das Haus jahrelang Zentrum ihres Lebens gewesen, war für die Kinder Treffpunkt und Konstante, vergleichbar mit einer Insel, auf der man im Fluss des Lebens andocken konnte. Hier war man in der Regel willkommen und erwünscht. Sicherlich handelte es sich nicht immer um einen Ort reiner Harmonie. In jeder Familie gibt es Höhen und Tiefen, Streit und Entfremdung, Verletzungen und Verfehlungen. Dennoch ist es für viele ein wichtiger Ort der Trauerverarbeitung. Die Eltern sind nicht mehr da, aber es existiert noch alles, was ihr Leben ausgemacht hat: ihre Bücher, ihre Bilder, ihre Möbel. Wie eine Aura, die weiterlebt.

Auch Barbara, eine meiner ersten Gesprächspartnerinnen, kehrt immer wieder in ihr Elternhaus zurück, um intensiv an ihre Mutter und vor allem ihren Vater zu denken.

Der grüne Ohrensessel als Erinnerungsort – Barbara

Barbara war 45 Jahre alt, als ihre Mutter starb. Ihr Tod traf sie völlig unerwartet. Es war ein großer Schock, denn ohne jede Vorwarnung erlitt die Mutter einen Herzinfarkt. Mit ihren 69 Jahren war sie eine rüstige Oma und Mutter gewesen. Sie war schlank und bewegte sich gerne. Herzprobleme hatte sie keine gehabt – nur manchmal einen erhöhten Blutdruck. Zwei Tage vor ihrem Infarkt hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann noch eine Partie Tennis gespielt. Auch bei der Einschulungsfeier von Barbaras ältestem Sohn eine Woche zuvor war sie noch dabei gewesen: hellwach und vital. Barbaras Mutter wollte an wichtigen Schritten im Leben ihrer Enkel teilhaben. Es war ein Samstag im Hochsommer, als es passierte. Hilflos musste Barbaras Vater mitansehen, wie seine Frau das Bewusstsein verlor. Als der Rettungswagen dann endlich kam, war sie längst nicht mehr ansprechbar. Der Notarzt konnte nur noch ihren Tod feststellen.

An die Wochen nach dem Tod der Mutter erinnert sich Barbara noch genau – auch drei Jahre später, als wir unser Gespräch führen. Die große, sportliche Frau mit dem dunkelbraunen Pagenschnitt hat Tränen in den Augen, als sie darüber spricht. Jeden Morgen, wenn sie wach wurde, erzählt sie mir, blitzte der Gedanke in ihr auf: Mama ist tot. Diese Minuten im Bett waren wie ein Übergang aus einer sanften Traumwelt in den grausamen Albtraum der Wirklichkeit. Konnte das wirklich sein? Mama tot? Der Schlaf hatte ihr ein paar Stunden Vergessen, Frieden und Ruhe gegeben. Kaum wurde sie wach, musste sie sich erneut mit dem schrecklichen Verlust befassen. Der Schmerz suchte sich seinen Raum.

In den Monaten danach kam zur Trauer um die Mutter die Sorge um den Vater hinzu. Er fühlte sich anfangs schuldig: Wieso konnte der Notarzt nicht schneller kommen? Warum konnte man ihr nicht mehr helfen? Er wollte noch so viel mit seiner Frau besprechen und war verzweifelt, weil er sich nicht richtig verabschieden konnte. Barbara und ihre Schwester versuchten den Vater abzulenken, luden ihn zum Essen ein, unternahmen gemeinsame Reisen. Eineinhalb Jahre nach dem Tod seiner Frau schien er wieder neuen Lebensmut gefasst zu haben. In diese positive Aufbruchsstimmung hinein fiel die Diagnose eines inoperablen Tumors. Für einen chirurgischen Eingriff war es zu spät. Vielleicht hat der Vater noch sechs bis sieben Monate, sagten die behandelnden Ärzte. Es folgten Monate zwischen Hoffen und Bangen. Obwohl Barbara wusste, dass medizinisch keine Hilfe mehr möglich war, lebte in ihr die Hoffnung, dass vielleicht doch ein Wunder geschehen könnte. Möglicherweise hilft die Chemotherapie ja doch? Vielleicht bringt sie ihm noch ein paar Jahre? Nach einer ersten Besserung baute der Vater allerdings sehr schnell ab und starb mit 74 Jahren. Barbara findet es ungerecht, dass sie ihre Eltern, die ihr so wichtig waren, binnen so kurzer Zeit verlor. Sie kann den Tod des Vaters nur schwer akzeptieren.

Bald stellte sich die Frage: Was soll mit der großen Wohnung der Eltern passieren? Gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Fiona war Barbara schnell klar: Sie muss verkauft werden. Keine der beiden konnte die Wohnung in Franken beziehen. Barbara wohnt 300 Kilometer entfernt an der Grenze zur Schweiz, ihre Schwester in Nordrhein-Westfalen. Der Lebensmittelpunkt der beiden hatte sich schon mit dem Studium verlagert. Ein Problem war, wie zügig die Wohnung verkauft werden sollte. Barbaras Schwester wollte gerne innerhalb des nächsten halben Jahres verkaufen, damit es über die Bühne war. Das war für Barbara eine ganz furchtbare Vorstellung, die ihr beinahe Übelkeit bereitete. Sie hing mehr an der großen Wohnung mit Garten als die Schwester. Am liebsten wollte Barbara sie noch länger halten: »Einfach abschließen und alles so lassen, dann alles sacken und ruhen lassen, und frühestens ein Jahr nach dem Tod des Vaters mit dem Ausräumen beginnen. Das konnte ich mir vorstellen. Zu mehr war ich eigentlich nicht in der Lage«.

Barbaras Herz sagte: behalten. Der Verstand sagte: Es muss sein. Natürlich wusste sie, was mit einer unbewohnten Wohnung alles passieren kann. Im Winter etwa können Leitungen und Rohre einfrieren und platzen. Ständig muss jemand danach schauen.

Schweren Herzens willigte Barbara schließlich doch ein. Die Schwestern einigten sich darauf, dass die Wohnung binnen eines Jahres verkauft werden soll. Weil sie aber so sehr am Wohnzimmer hing und die »Eltern-Aura« vorerst erhalten bleiben sollte, schloss Barbara eine Vereinbarung mit ihrer Schwester: Überall darf geräumt werden, nur im Wohnzimmer wird vorerst nichts angerührt. Dort steht der grüne Sessel, in dem der Vater immer saß. Wenn Barbara zu Besuch war, saß sie ihm gegenüber auf dem beigen Sofa. Seit sie denken kann, saß der Vater in seinem olivgrünen Ohrensessel mit den breiten Armlehnen: beim Fernsehen, beim Lesen oder wenn sie sich unterhielten. Der Sessel war auch sein Rückzugsort, wo er abends nach einem anstrengenden Arbeitstag oft einschlief. Immer noch hängt sein Geruch in dem weichen olivgrünen Velours-Stoff. Anders als im Rest der Wohnung riecht es hier nicht abgestanden und schal nach Krankheit. Wie durch einen Zauber blieb hier der »Kindheits-Vatergeruch« konserviert, freut sich Barbara.

Alle paar Wochen fährt Barbara die 300 Kilometer zur Wohnung ihrer Eltern. Sie kommt dann nicht, um Aktenordner zu sichten oder auszuräumen. Sie kommt vor allem, um sich in den alten Ohrensessel ihres Vaters zu setzen. Das ist ihre Zeit – eine Zeit der Trauer für ihren Vater. Sie empfindet diese Stunden als reinigend und wohltuend. Bei all dem Alltagstrubel und den beiden Kindern gönnt sie sich diese Stunden im Wohnzimmer ihrer Eltern. Nicht einmal der Schwester erzählt sie von diesen Nostalgie-Ausflügen. Sie will diese Art der Erinnerung an ihren Vater ganz für sich haben: »Ich sitze da drin und fühle mich mit Papa sehr verbunden. Ich brauche diese Zeit, um mich zu verabschieden. Dafür muss ich ganz alleine dort sein.«

Der Sessel ist für Barbara ein Ort des Gedenkens. Hier kann sie sich an die Gespräche erinnern, die sie führten, an die Vertrautheit und das Verständnis ihres Vaters. Barbara hatte ein Leben lang auf ihren Vater zählen können. Er hatte auch in schwierigen Lebenssituationen zu ihr gehalten, für sie gekämpft. Es war der Vater, der ihr letztlich ermöglicht hatte, aufs Gymnasium zu gehen. Barbaras Grundschullehrerin hatte ihr das nicht zugetraut. Der Vater aber glaubte fest an seine älteste Tochter und ihre Fähigkeiten. Er kämpfte für Barbaras Recht, einen Aufnahmetest am Gymnasium zu machen, den sie erfolgreich absolvierte. Später legte sie eine gute Abiturprüfung ab und beendete ihr Architekturstudium mit Auszeichnung. Im grünen Ohrensessel kann sie ihrem Vater, der immer rückhaltlos hinter ihr stand, sie unterstützte, noch einmal nahe sein. Sie vermisste ihn sehr.

Auch Claudia hatte eine enge Bindung zu ihrem Vater, aber das Wohnzimmer der Eltern wurde nach seinem Tod kein Ort des Gedenkens. Claudias Vater starb mit 72 Jahren ebenfalls an einem Krebsleiden. Ihre Mutter war schon Jahre zuvor gestorben.

Der Tod und die Veränderung des Elternhauses – Claudia

Claudia ist heute 46 Jahre alt und wohnt mit ihren drei Kindern und ihrem Mann in Tübingen. Obwohl das Auflösen des Elternhauses bei ihr schon einige Jahre zurückliegt, kann sich die Sozialpädagogin noch gut an die Phase in ihrem Leben erinnern: »Es war eine anstrengende Zeit, aber eine anstrengend schöne Zeit. Ich konnte von meinem Vater in seinen letzten Krankheitsmonaten gut Abschied nehmen. Wir hatten sehr viel besprechen können und ich habe sehr viel Nähe gespürt.«

In unserem Gespräch lässt sie die letzten Lebenstage ihres Vaters Revue passieren. An einem Donnerstag – drei Tage vor seinem Tod – hatten sie noch telefoniert. Der Vater wohnte nach dem Tod der Mutter alleine in dem großen Bungalow nördlich von Stuttgart, etwa 50 Kilometer von Claudia entfernt. Mit der Krankheit war er sehr tapfer umgegangen, fand sie. Er klagte kaum. Es fiel ihm sehr schwer, um Hilfe zu bitten. Umso überraschter war Claudia, als sie an jenem Donnerstag von ihrem Vater hörte, dass er langsam zu schwach sei, um alleine in dem Bungalow zu leben.

Es musste ihn viel Überwindung gekostet haben, das zu offenbaren. Ihr Vater wollte immer stark sein.

An diesem Donnerstag redeten sie lange am Telefon. Claudia wollte ihren Vater zu sich nehmen. Weil das aber erst vorbereitet werden musste, verblieben sie so, dass er in etwa zehn Tagen zu ihnen nach Tübingen ziehen sollte. Nach dem Telefonat war Claudia nicht weiter beunruhigt. Mit ihrem Mann fuhr sie in die Schweiz zu einem befreundeten Ehepaar. »Das war schon lange ausgemacht gewesen und wir haben auch nicht damit gerechnet, dass er so schnell stirbt.« Am Sonntag erreichte sie ein Anruf auf dem Mobiltelefon. Ein Mann aus der Kirchengemeinde ihres Vaters war am Apparat und teilte ihr mit, dass ihr Vater gestorben war. Der Vater war gläubiger Katholik, ging früher regelmäßig sonntags in den Gottesdienst. Weil er dann zu schwach war, um den Weg in die Kirche auf sich zu nehmen, wurde ihm die Eucharistie nach Hause gebracht. Als an diesem Sonntag niemand öffnete, waren alle sehr beunruhigt. Ein Nachbar, der einen Schlüssel hatte, öffnete schließlich die Wohnungstür. Der Vater lag leblos am Boden. Er war sitzend am Esstisch umgekippt.

Als Claudia und ihr Mann am Abend den Bungalow erreichten, lag er auf dem Sofa, blass und schmal. Er hatte die Augen geschlossen, sodass man denken konnte, er schläft, aber Claudias Vater war tot. Der tote Vater auf dem Sofa – dieses Bild lässt sie bis heute nicht los: »Den Anblick hatte ich immer wieder im Kopf. Dieses Bild verfolgte mich. Immer wenn ich in das Haus kam, um mit meiner Schwester zu räumen, und die Wohnzimmertür öffnete, sah ich wieder meinen Vater vor mir: tot auf dem Sofa liegend. Das hätte ich nicht gewollt, dass das Haus so bleibt, wie es war.« Nach etwa einem Monat begann Claudia gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester, das Haus auszuräumen. Seit der Vater tot ist, empfindet sie den Bungalow als kalt und unwohnlich. Auch ihre Kinder sagen immer wieder, wenn sie in das Haus kommen, dass es sich nicht mehr »richtig« anfühlt, seit Opa tot ist. Seine Aura scheint mit seinem Tod gegangen zu sein.

Das Ritual im Hauseingang – David

Davids Elternhaus steht am Rand einer mittelgroßen Stadt in Hessen. Ein parkähnlicher Garten umgibt das zweistöckige Haus mit Flachdach. Davids Eltern hatten immer einen Gärtner, der die Beete und Blumenrabatten pflegte. Auch nach dem Tod des Vaters kümmert sich der Mann um die Rhododendren und pflegt den Rasen. David kehrt gerne in sein Elternhaus zurück. Er mag das Haus mit dem Rundblick auf das Umland und die alten Bäume. Auch wenn jetzt beide Eltern tot sind, wirkt das Gebäude auf ihn keineswegs bedrückend. Im Gegenteil, wenn er es alle paar Wochen betritt, um aufzuräumen oder Kisten zu packen, hat er ein Ritual:

»Ich komme in das Haus rein, dann spüre ich gleich diesen Stimmungswechsel. Das Haus dämpft mich ein bisschen. Wir haben im Eingangsbereich eine große Truhe stehen. Da sind Bilder von Vater und Mutter aufgestellt. Dort zünde ich immer eine Kerze an und denke intensiv an meine Eltern. Ich werde dann ganz ruhig. Ich sammle mich erst mal. Das tut gut. Auch mein Bruder und meine Schwester zünden immer Kerzen an, wenn sie zum Räumen ins Haus kommen.«

Davids Vater starb 2012 mit 90 Jahren. »Er hatte einen schönen Tod«, erzählt David. Zwar starb er nicht zu Hause, sondern im Krankenhaus, aber David hatte ihn am Abend zuvor noch zusammen mit seiner Frau und den beiden Söhnen besucht. In der Nacht ist er dann friedlich eingeschlafen. David ist froh, dass er mit seinem Vater im Reinen war. Das war nicht immer selbstverständlich gewesen. Mehrere Jahre hatte er ein sehr schlechtes, beziehungsweise überhaupt kein Verhältnis zu seinem Vater gehabt.