Lovecrafts Monster - H. P. Lovecraft - E-Book

Lovecrafts Monster E-Book

H. P. Lovecraft

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Beschreibung

Eine gruselige und liebevolle Hommage an H. P. Lovecraft, den Meister des modernen Horrors. 16 spannende Geschichten mit Lovecrafts legendären Monstern: Der mächtige Cthulhu, der blinde Idiotengott Azathoth oder die Tiefen Wesen, die aus dem Meer kriechen, um sich mit Sterblichen zu paaren ... Kreaturen, die seit Generationen die albtraumhafte Inspiration für unzählige Autoren sind. Seltsam, eindringlich und monströs. Das ist Lovecraft, wie du ihn noch nie gelesen hast. Inhalt: Stefan Dziemianowicz: VORWORT Ellen Datlow: EINLEITUNG Neil Gaiman: BLOSS WIEDER MAL DAS ENDE DER WELT Laird Barron: DAMPFWALZE Nadia Bulkin: ROTE ZIEGE SCHWARZE ZIEGE Brian Hodge: IN DEN GLEICHEN TIEFEN WASSERN WIE IHR Kim Newman: VIERTEL VOR DREI William Browning Spencer: DAS GESPRENKELTE DING Elizabeth Bear: ELASTISCHE STÖSSE Fred Chappell: ÜBERLEBENDE Caitlín R. Kiernan: LIEBE IST VERBOTEN, SO KRÄCHZEN UND JAULEN WIR Thomas Ligotti: DIE SEKTE DES IDIOTEN Gemma Files: DAS SALZGEFÄSS (Gedicht) Howard Waldrop & Steven Utley: SCHWARZ WIE DIE HÖLLE, VON POL ZU POL Steve Rasnic Tem: WARTEN IM CROSSROADS MOTEL Karl Edward Wagner: »I'VE COME TO TALK WITH YOU AGAIN« Joe R. Lansdale: DER BLUTENDE SCHATTEN Nick Mamatas: DAS, WOVON WIR SPRECHEN, WENN WIR ÜBER DAS UNSAGBARE SPRECHEN Gemma Files: HARUSPEX (Gedicht) John Langan: KINDER DES REISSZAHNS MONSTERVERZEICHNIS Washington Post: »Einige der besten lovecraft'schen Geschichten der letzten 30 Jahre.« Rue Morgue: »Man muss Lovecrafts Werk nicht gelesen haben, um diese Erzählungen zu genießen.« Geek Smash: »Ein Must-Read für alle Fans des Cthulhu-Mythos.« January Magazine: »Datlow hat einige der modernen Top-Autoren der SF, Fantasy und des Horrors in Lovecrafts bizarrer Welt spielen lassen. Und das ist ein echtes Vergnügen.«

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Seitenzahl: 702

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Aus dem Amerikanischen von Manfred Sanders

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Lovecraft’s Monsters

erschien 2014 im Verlag Tachyon Publications.

Copyright © 2014 by Ellen Datlow

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: www.bookcoversart.com

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-852-0

www.Festa-Verlag.de

Inhalt

Impressum

STEFAN DZIEMIANOWICZ

Vorwort

ELLEN DATLOW

Einleitung

NEIL GAIMAN

Bloß wieder mal das Ende der Welt

LAIRD BARRON

Dampfwalze

NADIA BULKIN

Rote Ziege Schwarze Ziege

BRIAN HODGE

In den gleichen tiefen Wassern wie ihr

KIM NEWMAN

Viertel vor drei

WILLIAM BROWNING SPENCER

Das gesprenkelte Ding

ELIZABETH BEAR

Elastische Stöße

FRED CHAPPELL

Überlebende

CAITLÍN R. KIERNAN

Liebe ist verboten, so krächzen und jaulen wir

THOMAS LIGOTTI

Die Sekte des Idioten

GEMMA FILES

Das Salzgefäß

HOWARD WALDROP & STEVEN UTLEY

Schwarz wie die Hölle, von Pol zu Pol

STEVE RASNIC TEM

Warten im Crossroads Motel

KARL EDWARD WAGNER

»I’ve Come to Talk with You Again«

JOE R. LANSDALE

Der blutende Schatten

NICK MAMATAS

Das, wovon wir sprechen, wenn wir über das Unsagbare sprechen

GEMMA FILES

Haruspex

JOHN LANGAN

Kinder des Reißzahns

Monsterverzeichnis

Entdecke die Festa-Community

STEFAN DZIEMIANOWICZ

Vorwort

Cthulhu! Yog-Sothoth! Azathoth! Shub-Niggurath! Nyarlathotep! Gibt es in der Horrorliteratur Wesenheiten, die provokativer benannt sind? Allein die Orthografie ihrer Namen suggeriert das Außerweltliche und Fremdartige. Die Zungenverrenkungen, die erforderlich sind, um sie laut auszusprechen, setzen das Unartikulierbare mit dem Unaussprechlichen gleich.

Dies sind die Monster von H. P. Lovecraft, die zu den fantastischsten und erschreckendsten Schöpfungen in der Literatur des Übernatürlichen gehören. Diese gigantischen, biologisch unmöglichen Wesenheiten aus Dimensionen außerhalb der unseren tauchen in Lovecrafts Geschichten nur selten direkt auf, doch wenn, dann wischen sie menschliche Wesen wie lästige Mücken beiseite und hinterlassen in ihrem Kielwasser eine Spur der Zerstörung und des Chaos. Und diese fünf sind nur die bekanntesten von Lovecrafts Monstern. Das vollständige Bestiarium umfasst abscheuliche Schneemenschen, menschlich-amphibische Mischwesen, stumpfsinnige Berge aus Protoplasma, die Schoggothen heißen, Leichen fressende Ghoule, fledermausflügelige Dunkeldürre, intelligente Pilze und vieles mehr. Einige seiner Monster existieren nur als Bewusstseine in den menschlichen Körpern, die sie reihenweise in Besitz nehmen und dann achtlos wegwerfen. Andere besitzen keine feste Gestalt oder Substanz und machen sich nur durch ihren verderblichen Einfluss auf organische und anorganische Materie in ihrer Umgebung bemerkbar.

Lovecrafts Monster sind das Markenzeichen, an dem heutzutage die meisten Leser – innerhalb wie außerhalb des Genres – seine Geschichten wiedererkennen. Aber es steckt noch sehr viel mehr hinter ihnen und hinter dem, was Lovecraft durch sie auszudrücken hoffte, mehr als hinter den meisten anderen Monstern der Horrorliteratur. In einem Brief an seinen Freund Frank Belknap Long im Jahre 1931 bezeichnet Lovecraft die monsterbasierte Pseudomythologie, die er in seinen Geschichten ausarbeitete, als »Yog-Sothothery« und beschreibt sie als ein Werkzeug zur Überwindung »persönlicher Unzulänglichkeiten, was die Schaffung einer Atmosphäre der Andersartigkeit angeht«, die er in seinen Geschichten heraufzubeschwören hoffte. Lovecraft verschmähte traditionelle, auf folkloristischen Mythen basierende Gruselgeschichten wegen ihrer »vielen offenkundigen Albernheiten & Widersprüche zur Erfahrung, die abgeschwächt oder überspielt werden könnten, wenn das Übernatürliche dem jeweiligen Fall entsprechend gestaltet wäre«. Für Lovecraft waren die »neuen, künstlich erschaffenen Mythen« der Yog-Sothothery eine Möglichkeit der »ästhetischen Kristallisierung dieser eindringlichen & unauslöschlichen Mischung aus Staunen & Bedrücktheit, die das empfindsame Vorstellungsvermögen erlebt, wenn es sich selbst & seine Einschränkungen an dem gewaltigen & provokativen Abgrund des Unbekannten misst«.

Die eigentliche Herausforderung beim Schreiben von Gruselliteratur ist nach Lovecrafts Ansicht die Aufgabe, dem Unbekannten eine Gestalt zu verleihen, aber auf eine Weise, die es nicht verringert und – buchstäblich – auf den Boden der Tatsachen holt. In seinem Essay Supernatural Horror in Literature umreißt er die Voraussetzungen für die »wahre Schauergeschichte«, wie er sie sah: »Eine gewisse Atmosphäre des atemlosen und unerklärlichen Grauens gegenüber äußeren, unerklärlichen Kräften muss vorhanden sein; und es muss einen Hinweis oder eine Andeutung geben, ausgedrückt mit einer dem Gegenstand gebührenden Ernsthaftigkeit und Bedrohlichkeit, auf jene entsetzlichste aller Vorstellungen des menschlichen Geistes – einer bösartigen und gezielten Aufhebung oder Niederwerfung all der unveränderlichen Naturgesetze, die unser einziger Schutz gegen die Übergriffe des Chaos und der Dämonen des unergründlichen Alls sind.« Und wie könnte man besser eine »Niederwerfung all der unveränderlichen Naturgesetze« andeuten als durch die Beschreibung furchterregender Wesenheiten, deren bloße Existenz eine Verspottung dieser Gesetze darstellt?

Lovecraft beschwor praktisch seit Beginn seiner literarischen Karriere Monster herauf. In seiner ersten professionell veröffentlichten Geschichte Dagon stößt ein schiffbrüchiger Seemann, der auf einer verlassenen Insel strandet, auf einen Monolithen, dessen Flachrelief groteske aquatische Gestalten abbildet: »… wirkten ihre groben Umrisse verdammt menschlich, trotz der Schwimmhäute an Händen und Füßen, bestürzend großer und schwammähnlicher Lippen, glasiger, hervortretender Augen und weiterer Eigenheiten, an die ich mich nicht erinnern möchte«. Der Mann hält sie fälschlicherweise für Darstellungen eines Gottes, der von einem prähistorischen Seefahrerstamm angebetet wurde – um dann voller Grauen zuzusehen, wie ein lebendes Exemplar dieser grauenhaften Wesen dem Meer entsteigt.

Fünf Jahre später veröffentlichte Lovecraft Der Ruf des Cthulhu, die Geschichte, die am besten seine ästhetischen Vorstellungen von der wahren Schauergeschichte zum Ausdruck bringt. Die Handlung entwickelt sich aus einer Reihe scheinbar unzusammenhängender Ereignisse, die der Erzähler zusammenführt, um die Existenz von Cthulhu zu belegen, einem grauenerregenden Wesen aus einer fremden Dimension, dessen Existenz so weit über jegliche menschliche Vorstellungskraft hinausgeht, dass ihm von Menschen die Attribute eines Gottes zugeschrieben werden. Eine bildliche Darstellung Cthulhus offenbart es als eine Kreatur, die nicht von unserer Erde stammt:

Es schien eine Art Ungeheuer zu sein, oder ein Sinnbild für ein Ungeheuer, mit einer Gestalt, wie sie sich nur eine kranke Einbildungskraft einfallen lassen kann. Wenn ich sage, dass meine ausschweifende Fantasie zur gleichen Zeit Bilder eines Tintenfisches, eines Drachen und das Zerrbild eines Menschen hervorbrachte, so komme ich dem Geist des Dinges nahe. Ein aufgeschwemmter Kopf mit Fangarmen krönte einen grotesken und schuppigen Leib, der Ansätze von Schwingen zeigte; doch es war der allgemeine Umriss des Ganzen, der es so bestürzend scheußlich erscheinen ließ.

Aber dieses Miniaturabbild kann der Realität des Monsters, das es darstellt, nur ansatzweise gerecht werden, und als der Koloss Cthulhu am Ende der Geschichte in Fleisch und Blut (sozusagen) erscheint, greift Lovecraft zum Äußersten, um seine Botschaft zu übermitteln:

Das Ding kann nicht beschrieben werden – es gibt keine Worte für solche Abgründe kreischenden und uralten Wahnsinns, solch grausigen Widerspruch zu aller Materie, Energie und kosmischer Ordnung. Ein Berg, der ging oder wankte.

Der Ruf des Cthulhu ist die Geschichte, die den Grundstein für Lovecrafts spezielle Art der kosmischen Horrorliteratur legte. Als der Herausgeber Farnsworth Wright sie für Weird Tales annahm (nachdem er sie bereits einmal abgelehnt hatte), äußerte Lovecraft seinen heute berühmten Satz: »Alle meine Geschichten basieren auf der fundamentalen Prämisse, dass die gewöhnlichen menschlichen Gesetze, Interessen und Emotionen im unermesslichen Ganzen des Kosmos keine Gültigkeit oder Bedeutung haben.«

Wenn Der Ruf des Cthulhu die erste von Lovecrafts Geschichten war, in denen sich der kosmische Horror in der Gestalt eines außerirdischen Monsters inkarniert, so war sie doch beileibe nicht seine bildlichste. Diese Ehre gebührt dem Grauen von Dunwich, 1929 in Weird Tales veröffentlicht. In dieser Geschichte wird der junge Wilbur Whateley von der entkräfteten Tochter von Wizard Whateley zur Welt gebracht, Nachkomme einer degenerierten Neuengland-Ahnenreihe und amateurhafter Erforscher des Okkulten. Niemand kennt die Identität von Wilburs Vater, aber schon von frühem Alter an weist Wilbur eine anormal beschleunigte körperliche Entwicklung auf und wächst zu einer Größe heran, die weit über das hinausgeht, was man für sein Alter erwarten sollte. Eines Abends, während er versucht, aus der benachbarten Miskatonic University eine Kopie des Necronomicon zu entwenden (jenes uralten Buches voll verbotenen Wissens, das in etlichen von Lovecrafts Geschichten auftaucht), wird er von einem Wachhund zu Tode gebissen, der einen großen Teil seiner Kleidung zerfetzt. Die Enthüllung von Wilburs zerfleischten Überresten ist eine der spektakulärsten aller grausigen Szenen in Lovecrafts Werk:

Es klänge abgedroschen und wäre nicht ganz korrekt, wollte man sagen, dass keine menschliche Feder es beschreiben könne, doch darf man getrost behaupten, dass niemand es sich leibhaftig vorzustellen vermag, dessen Begriffe von Aussehen und Gestalt den gewöhnlichen Lebensformen dieses Planeten und der drei uns bekannten Dimensionen zu eng verhaftet sind. … Oberhalb der Hüfte war das Ding halbwegs menschenförmig; die Brust jedoch, auf der die Pfoten des Hundes noch wachsam ruhten, wies die lederige, netzförmig gemusterte Haut eines Krokodils oder Alligators auf. Der Rücken war gelb und schwarz gescheckt und erinnerte schwach an die schuppige Haut gewisser Schlangen. Von der Hüfte abwärts jedoch wurde es entsetzlich, denn hier fehlte jede Ähnlichkeit mit einem Menschen, und ein schierer Albtraum begann. Die Haut war dicht bedeckt mit rauem schwarzen Fell, und vom Bauch hing eine Vielzahl langer grünlich-grauer Tentakel mit roten saugenden Mündern schlaff herab. Ihre merkwürdige Anordnung schien einer kosmischen Geometrie zu folgen, die auf der Erde oder in diesem Sonnensystem unbekannt ist. Auf jeder der Hüften befand sich tief in einer rosafarbenen mit Wimpern besetzten Höhle etwas, das ein rudimentäres Auge zu sein schien; anstelle eines Schwanzes wuchs dort eine Art Rüssel oder Fühler mit purpurroten ringförmigen Streifen, bei dem es sich allem Anschein nach um einen unterentwickelten Mund oder einen Hals handelte. Die Beine glichen, abgesehen vom schwarzen Fell, vage den Hinterläufen der gewaltigen prähistorischen Saurier. Sie endeten in venenüberzogenen Pfoten, die weder Hufe noch Klauen waren. Atmete das Ding, so wechselten der Schwanz und die Tentakel rhythmisch die Farbe, was wohl durch die Zirkulation seines grünlichen nicht menschlichen Blutes verursacht wurde. Im Schwanz wich zwischen den purpurroten Ringen die gelbliche Färbung einem kränklichen Grauweiß. Es war kein richtiges Blut, sondern eine stinkende grünlich-gelbe Flüssigkeit, die sich um die klebrige Masse herum ausbreitete und den gestrichenen Boden entfärbte.

Aber Lovecraft wäre nicht Lovecraft, wenn er nicht ein Grauen erdenken könnte, das noch schlimmer ist als dieses abscheuliche Zerrbild organischen Lebens. Kurz nach Wilburs Tod beginnt ein unsichtbares Monster in den ländlichen Regionen Neuenglands zu wüten. Es macht Häuser dem Erdboden gleich, verschlingt Landbewohner und hinterlässt riesige Fußabdrücke in der Erde. Erst nachdem dieses wahre Grauen von Dunwich losgelassen wurde, wird enthüllt, dass Wilbur und das unsichtbare Monster Zwillinge waren, entsprungen aus einer Vereinigung einer menschlichen Mutter und des Monsters Yog-Sothoth – und dass unvorstellbarerweise von den dreien Wilbur derjenige war, der am meisten menschlich aussah.

So eindrucksvoll die Monster in diesen Geschichten auch sind und so lebhaft sie die Atmosphäre der Andersartigkeit vermitteln, die Lovecraft durch seine Gruselgeschichten auszudrücken versuchte, sind sie doch nicht so typisch für Lovecrafts Geschichten, wie man meinen sollte. Viele der sogenannten Monster in Lovecrafts Werken sind weitaus subtiler und tückischer und manifestieren ihr Grauen auf einer intimeren Ebene. In Die Farbe aus dem All besudelt ein unsichtbarer außerirdischer Einfluss in einem Meteoriten, der auf die Erde stürzt, die umliegende Landschaft und bringt eine langsame und unentrinnbare Degenerierung über die Flora, Fauna und die Menschen der Farm, auf der er landet. Der Schatten über Innsmouth beschreibt eine Kleinstadt, deren etwas absonderlich aussehende Bewohner sich als hybride Abkömmlinge von menschlichen Wesen und amphibischen Tiefseebewohnern entpuppen. In einer ganzen Reihe von Lovecrafts besten Geschichten – darunter Das Ding auf der Schwelle, Der Schatten aus der Zeit und Jäger der Finsternis – findet das Entsetzliche seinen Ausdruck in Gestalt einer Kraft oder eines Einflusses, der von einem menschlichen Bewusstsein Besitz ergreift oder einen Menschen seines Körpers beraubt.

Lovecraft liebte es nicht nur, seine eigenen Monster immer wieder in seinen Geschichten zu erwähnen, sondern auch die, die ganz im Geiste seines Werkes von Clark Ashton Smith, Robert E. Howard, Frank Belknap Long, Robert Bloch, August Derleth, Henry Kuttner und anderen Zeitgenossen erdacht wurden. Diese gemeinsame Welt der Monster, verbotenen Bücher und gruseligen Schauplätze wurde nach Lovecrafts Tod als der Cthulhu-Mythos bezeichnet, ein lockeres und offenes Subgenre von Lovecraft-Hommagen und -Nachahmungen, das in seiner Treue zu den lovecraftschen Ideen sehr variabel sein kann und durch die Beiträge immer neuer Autorengenerationen kontinuierlich wächst. Auch Lovecrafts Monster ist eine Sammlung von Tributen an Lovecraft, die alle direkt oder indirekt auf Lovecrafts furchterregendste Schöpfungen und die Geschichten voller kosmischem Horror, die sie hervorbrachten, zurückgreifen. Howard Waldrops und Steven Utleys Schwarz wie die Hölle, von Pol zu Pol verwendet Elemente von Lovecrafts Berge des Wahnsinns für seine Monsterparade im Inneren einer hohlen Erde. Neil Gaiman liefert mit Bloß wieder mal das Ende der Welt einen Beitrag zu Lovecrafts Innsmouth-Mythologie, eine Geschichte, in der auf Volksmythen basierende Schrecken gegen das lovecraftsche Grauen stehen. Kim Newmans Viertel vor drei betrachtet Lovecrafts Innsmouth in einer augenzwinkernden Popkultur-Variation einmal von der anderen Seite. Thomas Ligottis Die Sekte des Idioten beschwört den lovecraftschen Kosmizismus in seiner abstraktesten Form herauf, während Laird Barrons Dampfwalze ihm irdische Körperlichkeit verleiht. John Langans Kinder des Reißzahns erzählt ein neues Kapitel zu Lovecrafts Geschichte Stadt ohne Namen. Und Fred Chappells Überlebende vermittelt durch die ›Falschheit‹ der außerirdischen Architektur, die sich immer mehr der eroberten Erde einverleibt, die Atmosphäre der Andersartigkeit, die Lovecraft als so entscheidend für Gruselliteratur betrachtete. Vielfalt und Eklektizismus der in diesem Buch gesammelten Geschichten hätten Lovecraft sicherlich erfreut und er wäre zweifellos überrascht, dass seine Geschichten über Monster und das Monströse so viele heutige Autoren dazu inspiriert haben, die darin erschlossenen Höhen der Vorstellungskraft zu erklimmen.

Stefan Dziemianowicz

New York, 2013

ELLEN DATLOW

Einleitung

Das Interesse an H. P. Lovecrafts Werk scheint nie zu erlahmen. Sein Einfluss auf seine Zeitgenossen und viele weitere Autoren nach seinem Tod ist ein Zeugnis für die Macht seiner Fantasie. Woran kann das liegen? Vielleicht an der Reichhaltigkeit des Mythos, den er erschuf, an den Monstern, der unsichtbaren Welt hinter dem dünnen Schleier der Normalität in unserer Welt.

Zum ersten Mal kam ich im frühen Teenageralter mit dem Mythos in Kontakt. Damals las ich jede Menge Science-Fiction, und meine Erfahrung mit Lovecraft stellte einen starken Kontrast zum Staunen und der Ehrfurcht vor dem Unbekannten, das der Science-Fiction zu eigen ist, dar. H. P. Lovecrafts verborgene Welten und der Mythos, den er erschuf, vermittelten vielmehr ein Gefühl der Angst und des Grauens vor dem Unbekannten.

Im Laufe der Zeit habe ich viele von Lovecraft inspirierte Geschichten gelesen, aber die meisten sind – jedenfalls für meinen Geschmack – zu offensichtlich und bringen wenig Neues auf den Tisch.

Weit mehr beeindruckt und oft auch überrascht haben mich Autoren, die in ihren Geschichten den Mythos auf eine Weise verwenden, die sich sein Schöpfer wohl nie hätte träumen lassen (und die ihn möglicherweise manchmal auch im Grab rotieren lässt).

Dies ist bereits das zweite Mal, dass ich eine Anthologie mit lovecraftschen Geschichten herausgebe. Die erste war Lovecraft Unbound, die überwiegend neue von Lovecraft inspirierte Geschichten enthielt. Wie Leser, die meine Anthologien kennen, wissen, versuche ich immer, die thematischen Grenzen bis an den Rand der Belastbarkeit auszuloten. Das bedeutet: Wenn ich vor mir selbst rechtfertigen kann, dass eine Geschichte, auf die ich stoße (indem ich Originale in Auftrag gebe oder mich selber auf die Suche mache oder Vorschläge für Nachdrucke erhalte), zum Thema meines Buches passt und mich diese Geschichte begeistert, dann erwerbe und veröffentliche ich sie.

Für Lovecrafts Monster habe ich bei der Auswahl der Geschichten drei Ziele verfolgt: Das erste war, wie üblich, die Vermeidung bloßer Nachahmungen; das zweite war, Geschichten zu verwenden, die noch nicht zu oft in den Anthologien der jüngeren Zeit veröffentlicht wurden; und drittens wollte ich von Lovecraft inspirierte Geschichten zumindest einiger Autoren präsentieren, die normalerweise nicht für diese Art von Geschichten bekannt sind. Und so haben wir in diesem Fall Gedichte von Gemma Files und Geschichten von Steve Rasnic Tem, Karl Edward Wagner, Joe R. Lansdale, Brian Hodge und Nadia Bulkin sowie eine Gemeinschaftsarbeit von Howard Waldrop und Steven Utley.

Ich glaube, dass es mir gelungen ist, alle drei Ziele zu erreichen, und ich hoffe, dass Sie beim Lesen von Lovecrafts Monster genauso viel Spaß und Freude haben wie ich bei der Arbeit daran.

NEIL GAIMAN

Bloß wieder mal das Ende der Welt

Es war kein guter Tag: Ich wachte im Bett auf, nackt und mit Bauchkrämpfen, und fühlte mich einfach nur höllisch schlecht. Die Art, wie das Licht ins Zimmer fiel, lang gezogen und metallisch, in der Farbe eines Migräneanfalls, verriet mir, dass es Nachmittag war.

Der Raum war eiskalt – und wirklich, eine dünne Eiskruste bedeckte die Fenster von innen. Das Bettzeug um mich herum war zerrissen wie von Krallen und im Bett lagen überall Tierhaare. Das juckte.

Ich dachte darüber nach, die gesamte Woche im Bett liegen zu bleiben – nach einer Verwandlung bin ich immer müde –, aber eine Welle der Übelkeit schwappte in mir hoch und zwang mich dazu, mich vom Bettzeug zu befreien und eiligst in das winzige Badezimmer der Wohnung zu stolpern.

Die Krämpfe überfielen mich erneut, als ich die Badezimmertür aufriss. Ich hielt mich am Türrahmen fest und begann zu schwitzen. Vielleicht hatte ich Fieber; hoffentlich hatte ich mir nichts eingefangen.

Meine Eingeweide zogen sich mit scharfem Schmerz zusammen. Mein Kopf schwamm. Ich sackte zu Boden und fing schon an zu speien, bevor ich den Kopf anheben konnte, um die Toilettenschüssel zu erreichen.

Ich erbrach eine eklig stinkende, dünne gelbe Flüssigkeit, in der eine Hundepfote schwamm. Für mich sah sie aus, als gehörte sie zu einem Dobermann, aber ich bin kein Hundekenner. Dazu kamen noch ein Stück Tomatenschale, ein paar gewürfelte Karotten und etwas Mais, ein paar Brocken halb zerkautes, rohes Fleisch. Und einige Finger. Sie waren ziemlich klein und blass, offenbar Kinderfinger.

»Scheiße.«

Die Krämpfe ließen nach und die Übelkeit sank auf ein erträgliches Maß. Ich lag auf dem Boden, stinkender Sabber lief mir aus Mund und Nase, und die Tränen, die man weint, wenn es einem dreckig geht, trockneten langsam auf meinem Gesicht.

Als ich mich ein wenig besser fühlte, fischte ich die Pfote und die Finger aus der Kotzpfütze und warf sie ins Klo, spülte sie runter.

Ich drehte den Wasserhahn auf und wusch mir den Mund mit dem brackigen Innsmouther Leitungswasser aus, spuckte es anschließend ins Becken. Den Rest des Erbrochenen wischte ich auf, so gut es mit einem Waschlappen und Toilettenpapier eben ging.

Dann machte ich die Dusche an und stand wie ein Zombie in der Wanne, während das warme Wasser über meinen Körper floss.

Ich seifte mich gründlich ein, den Körper und die Haare. Der spärliche Schaum färbte sich grau, also musste ich wirklich dreckig gewesen sein. Meine Haare waren mit etwas verklebt, das sich wie getrocknetes Blut anfühlte. Ich schrubbte sie mit dem Seifenstück, bis alles herausgewaschen war. Dann blieb ich unter der Dusche stehen, bis das Wasser eiskalt wurde.

Die Vermieterin hatte einen Zettel unter der Tür durchgeschoben. Darauf stand, dass ich ihr zwei Wochen Miete schuldig sei. Darauf stand, dass alle Antworten im Buch der Offenbarungen zu finden waren. Darauf stand, dass ich eine Menge Lärm gemacht hatte, als ich in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen war, und sie wäre mir dankbar, wenn ich in Zukunft leiser sei. Darauf stand, wenn die Ältesten Götter aus dem Ozean emporstiegen, dann würden der Abschaum der Erde, die Ungläubigen, der menschliche Unrat und der Ausschuss und alle Faulpelze weggeschwemmt werden und die Welt würde mit Eis und Wasser von alledem gereinigt. Darauf stand, dass sie mich wohl daran erinnern sollte, dass sie mir bei meiner Ankunft ein Fach im Kühlschrank zugewiesen hatte und dankbar wäre, wenn ich in Zukunft auch nur dieses eine Fach benutzen würde.

Ich zerknitterte den Zettel, ließ ihn auf den Boden fallen, wo er sich zu den Verpackungen von Big Macs und leeren Pizzakartons und zu den vertrockneten toten Pizzastücken gesellte.

Es war Zeit, zur Arbeit zu gehen.

Ich lebte jetzt seit zwei Wochen in Innsmouth und es gefiel mir überhaupt nicht. Es roch fischig. Es war eine Kleinstadt, in der man sich eingesperrt fühlte: im Osten Marschland, im Westen Klippen und dazwischen ein Hafen, in dem nur ein paar verrottende Fischerboote lagen. Nicht einmal bei Sonnenuntergang war es malerisch. Dennoch waren die Yuppies in den 80ern nach Innsmouth gekommen und hatten auch hier ihre idyllischen Fischerhütten gekauft, mit Blick auf den Hafen. Die Yuppies waren schon seit geraumer Zeit wieder fort und die Hütten an der Bucht waren verlassen und verfielen zusehends.

Die Einwohner von Innsmouth lebten hier und dort, in der Stadt oder im Umland, in den Wohnwagensiedlungen am Stadtrand, die voll von feuchten großen Wohnwagen waren, die niemals irgendwohin fuhren.

Ich zog mich an, stieg in meine Stiefel, schlüpfte in den Mantel und verließ das Zimmer. Meine Vermieterin war nirgends in Sicht. Sie war eine kleine Frau mit Glupschaugen, die wenig sprach, mir aber langatmige Nachrichten hinterließ, an die Tür gepinnt oder abgelegt, wo ich sie bemerken sollte. Sie sorgte dafür, dass das Haus immer nach kochendem Meeresgetier roch: Ständig köchelten riesige Töpfe auf ihrem Herd, die mit Dingen gefüllt waren, die zu viele Arme hatten, oder mit Dingen, die keinerlei Arme hatten.

Es gab noch weitere Zimmer im Haus, aber keine weiteren Mieter. Kein vernünftiger Mensch besuchte Innsmouth im Winter.

Draußen roch es nicht viel besser als drinnen. Allerdings war es kälter, sodass mein Atem in der salzigen Luft Dampfwölkchen hinterließ. Der Schnee auf den Straßen war schmutzig und knirschte unter den Füßen. Die Wolken versprachen weiteren Schneefall.

Ein kalter, salziger Wind blies von der Bucht herauf. Die Möwen schrien schlecht gelaunt. Ich fühlte mich beschissen. In meinem Büro war es sicher auch arschkalt. An der Ecke Marsh Street und Leng Avenue gab es eine Kneipe, The Opener. Es war ein flaches Gebäude mit kleinen dunklen Fenstern, an dem ich in den letzten Wochen zwei Dutzend Mal vorbeigekommen war. Ich war noch nie drin gewesen, aber ich brauchte wirklich einen Drink, und außerdem mochte es dort drinnen wärmer sein. Ich drückte die Tür auf.

In der Kneipe war es tatsächlich warm. Ich stampfte ein paarmal fest auf, um den Schnee von meinen Stiefeln zu klopfen, und trat dann ein. Der Raum war fast leer und roch nach alten Aschenbechern und abgestandenem Bier. Ein paar ältere Männer saßen an der Theke und spielten Schach. Der Barmann las in einer abgestoßenen alten Ausgabe der Gedichte von Alfred Lord Tennyson. Das Buch war in grünes Leder gebunden und mit Goldschnitt versehen.

»Hallo. Wie wäre es mit einem Jack Daniel’s, pur?«

»Sicher. Sie sind neu in der Stadt«, sagte er, während er das Buch aufgeschlagen auf den Tresen legte und mir ein Glas Whiskey eingoss.

»Merkt man das?«

Er lächelte und schob mir den Jack Daniel’s rüber. Das Glas war schmutzig; es trug einen fettigen Daumenabdruck auf einer Seite, aber ich zuckte die Achseln und schüttete mir den Drink trotzdem in den Hals. Ich schmeckte ihn kaum.

»Ein Schluck gegen den Kater, bei diesem Hundewetter?«, fragte er.

»Kann man so sagen.«

Der Barmann, dessen fuchsrotes Haar mit Pomade straff nach hinten gekämmt war, fuhr ungerührt fort: »Manche glauben, dass man die Lykanthropoiden in ihre ursprüngliche Form zurückverwandeln kann, wenn man sich bei ihnen bedankt oder sie beim Namen ruft. Während sie in Wolfsgestalt unterwegs sind.«

»Ist das so? Na dann, danke sehr.«

Er goss mir das Glas erneut voll, ohne dass ich ihn darum gebeten hätte. Er sah ein bisschen aus wie Peter Lorre, aber eigentlich sahen fast alle Leute in Innsmouth aus wie Peter Lorre, selbst meine Vermieterin.

Ich schluckte den Jack Daniel’s herunter und fühlte ihn diesmal brennend durch meinen Hals rinnen, ganz so wie es sein sollte.

»Na ja, das sagt man jedenfalls. Ich habe nie gesagt, dass ich das glaube.«

»Und was glauben Sie dann?«

»Verbrennen Sie den Gürtel.«

»Wie bitte?«

»Die Lykanthropoiden haben Gürtel aus menschlicher Haut, die ihnen bei ihrer ersten Verwandlung von ihren Meistern in der Hölle übergeben werden. Verbrennen Sie den Gürtel.«

Einer der alten Schachspieler wandte sich zu mir um. Seine Augen waren riesig und blind und quollen aus dem Schädel hervor. »Wenn man das Regenwasser aus dem Pfotenabdruck eines Werwolfs trinkt, dann wird man bei Vollmond selbst zum Wolf«, erklärte er. »Die einzige Heilmöglichkeit besteht darin, den Wolf, von dem der Abdruck stammt, zu finden und ihm dann mit einem Messer, das aus jungfräulichem Silber geschmiedet wurde, den Kopf vom Rumpf zu trennen.«

»Soso, jungfräulich«, lächelte ich.

Sein Schachpartner schüttelte den faltigen, glatzköpfigen Schädel und stieß einen einzigen, traurig klingenden Laut hervor. Ein Quaken. Dann machte er einen Zug mit seiner Königin und quakte erneut.

Leute wie ihn gibt es viele in Innsmouth.

Ich bezahlte die Drinks und ließ einen Dollar Trinkgeld auf dem Tresen liegen. Der Barmann hatte sich bereits wieder in sein Buch vertieft und beachtete den Schein gar nicht.

Draußen hatte es zu schneien angefangen; fette Schneeflocken wie feuchte Küsse, die auf meine Haare und Wimpern fielen. Ich hasse Schnee. Ich hasse Neuengland. Ich hasse Innsmouth: Es ist kein Ort, an dem man allein sein möchte. Aber falls es einen guten Ort zum Alleinsein gibt, habe ich den sowieso noch nicht gefunden. Dennoch bin ich geschäftlich schon mehr Monde unterwegs, als mir lieb ist. Ich mag gar nicht darüber nachdenken. Das Geschäft und andere Dinge.

Ich ging ein paar Blocks auf der Marsh Street entlang – eine unattraktive Mischung aus im gotischen Stil erbauten Häusern des 18. Jahrhunderts, krüppeligen Sandsteinhäusern des späten 19. Jahrhunderts und Fertighäusern des späten 20. Jahrhunderts, die wie graue Schachteln aussahen – bis ich zu einem vernagelten Hühner-Schnellimbiss kam. Dort ging ich die Steinstufen neben dem alten Laden hoch und schloss die rostige Sicherheitstür aus Eisen auf.

Gegenüber war ein Schnapsladen und im ersten Stock wartete ein Handleser auf Kundschaft.

Jemand hatte etwas mit schwarzem Edding auf die Eisentür gekritzelt: STIRB DOCH EINFACH, stand da. Als ob das so einfach wäre.

Die Treppe nach oben bestand aus nacktem Holz und der Putz im Flur war fleckig und bröckelte von den Wänden. Mein Ein-Zimmer-Büro lag oben.

Ich bleibe nirgendwo lange genug, um mir ein vergoldetes Namensschild an die Tür zu hängen. Hier war es ein handgeschriebenes Schild aus einem Stück Pappe, das ich mit einem Reißnagel an der Tür befestigt hatte.

LAWRENCE TALBOT

ERMITTLER

Ich schloss die Bürotür auf und trat ein.

Ich sah mich in meinem Büro um, während mir Adjektive wie schäbig,ranzig und armselig durch den Kopf gingen. Dann gab ich auf, denn es übertraf all das. Es war ziemlich reizlos – ein Schreibtisch, ein Bürostuhl, ein leerer Aktenschrank und ein Fenster, von dem aus man eine grandiose Aussicht auf den Schnapsladen und den leeren Handleserladen hatte. Der Geruch alten Bratfetts drang von unten zu mir hoch und ich fragte mich, wie lange der Schnellimbiss wohl schon geschlossen war. Ich stellte mir die Armee der schwarzen Kakerlaken vor, die in der Dunkelheit einen Stock tiefer über alle Oberflächen schwärmte.

»Was du dir da vorstellst, ist der Zustand der Welt«, sagte eine tiefe, dunkle Stimme. Tief genug, dass ich sie in meinem Bauch vibrieren fühlte.

In einer Ecke des Büros stand ein alter Sessel. Die Überreste eines Musters konnte man gerade noch unter der speckigen Schicht sehen, die die Jahre auf ihm hinterlassen hatten. Der Sessel hatte die Farbe von Staub.

Der dicke Mann saß mit geschlossenen Augen im Sessel und fuhr fort: »Wir sehen mit verwirrten Augen auf diese unsere Welt und spüren Unbehagen und Rastlosigkeit. Wir halten uns für Gelehrte, die sich mit geheimen Liturgien auskennen, alleinstehende Männer, gefangen in Welten, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegen. Aber die Wahrheit ist viel einfacher: In der Dunkelheit um uns gibt es Dinge, die uns Böses wollen.«

Sein Kopf war nach hinten gesunken und die Zungenspitze schaute aus seinem Mundwinkel heraus.

»Haben Sie meine Gedanken gelesen?«

Der Mann im Sessel machte einen langen, tiefen Atemzug, der in seinem Rachen rasselte. Er war wirklich extrem fett, mit Stummelfingern, die aussahen wie verfärbte Würste. Er trug einen schweren alten Mantel, der einmal schwarz gewesen sein musste, aber nun eine undefinierbare graue Farbe hatte. Der Schnee auf seinen Stiefelspitzen war noch nicht ganz geschmolzen.

»Vielleicht. Das Ende der Welt ist ein seltsamer Begriff. Das Ende der Welt steht uns ständig bevor, aber dann wird das Ende immer wieder abgewendet, mithilfe von Liebe, Narretei oder ganz einfach durch das gute alte, sinnlose Glück.

Ach ja, aber nun ist es zu spät: Die Ältesten Götter haben ihre Gefäße erwählt. Wenn der Mond aufgeht …«

Ein dünner Speichelfaden floss aus seinem Mundwinkel und tropfte silbrig in den Kragen hinein. Etwas huschte in den Schatten seines Mantels hinab.

»So? Was geschieht, wenn der Mond aufgeht?«

Der Mann im Sessel rührte sich, öffnete seine kleinen Augen, die rot und geschwollen waren. Er blinzelte ein paarmal, als er wach wurde.

»Ich habe geträumt, dass ich viele Münder hätte«, sagte er. Seine neue Stimme war seltsam dünn und gehaucht für einen solchen Berg von einem Mann. »Ich habe geträumt, dass sich jeder Mund unabhängig vom nächsten öffnete und schloss. Einige Münder redeten, manche flüsterten, andere aßen und einige warteten stumm auf etwas.«

Er sah sich um, wischte sich die Spucke aus dem Mundwinkel und setzte sich im Sessel auf. Nun war sein Blinzeln verwirrt. »Wer sind Sie?«

»Ich bin der Typ, der dieses Büro gemietet hat«, erklärte ich.

Er rülpste laut und unvermittelt. »Es tut mir leid«, sagte er mit seiner seltsam gehauchten Stimme und erhob sich schwerfällig aus dem Sessel. Er war kleiner als ich, als er aufrecht stand. Verschlafen musterte er mich von oben bis unten. »Silberne Kugeln«, sagte er nach einer kurzen Pause. »Altmodisches Gegenmittel.«

»O ja … Das ist doch offensichtlich – deshalb bin ich da auch noch nicht drauf gekommen. Mensch, dafür könnte ich mich selbst ohrfeigen. Ehrlich.«

»Jetzt machen Sie sich über einen alten Mann lustig«, warf er mir vor.

»Nicht wirklich. Es tut mir leid. Nun aber raus mit Ihnen. Einige von uns müssen arbeiten.«

Er trottete hinaus. Ich setzte mich auf den Drehstuhl, der hinter dem Schreibtisch am Fenster stand, und fand nach einigen Minuten durch fleißiges Ausprobieren heraus, dass der Sitz vom Fuß fiel, wenn ich mich auf dem Stuhl nach links drehte. Also saß ich danach ganz still und wartete darauf, dass das staubige Telefon auf dem Schreibtisch klingelte, während sich das Licht langsam immer weiter aus dem Winterhimmel verabschiedete.

Klingeling.

Eine Männerstimme: Ob ich schon mal an eine Aluminiumverkleidung gedacht hatte? Ich legte den Hörer wieder auf die Gabel.

Es gab keine Heizung im Büro. Ich fragte mich, wie lange der fette Mann im Sessel geschlafen hatte.

20 Minuten später klingelte das Telefon erneut. Eine weinende Frau bat mich, ihr dabei zu helfen, ihre fünf Jahre alte Tochter zu finden. Sie werde seit vergangener Nacht vermisst, gestohlen aus ihrem Bettchen.

Der Hund der Familie sei ebenfalls verschwunden.

Fälle von vermissten Kindern übernehme ich nicht, sagte ich zu ihr. Es tut mir leid: zu viele böse Erinnerungen. Ich legte auf und spürte, wie die Übelkeit wieder in mir aufstieg.

Es wurde langsam dunkel, und zum ersten Mal, seit ich in Innsmouth war, flackerte das Neonschild gegenüber auf und dann leuchtete es hell. Es teilte mir mit, dass Madame Ezekiel TAROT UND HANDLESEN anbot. Das rote Neonlicht färbte den fallenden Schnee, sodass er wie frisches Blut aussah.

Armageddon wird durch kleine Taten abgewendet. Das war schon immer so. Das muss immer wieder so sein.

Das Telefon klingelte zum dritten Mal. Ich erkannte die Stimme wieder; es war der Mann mit der Aluminiumverkleidung. »Wissen Sie«, begann er im Plauderton, »da die Transformation vom Mann zum Tier und wieder zurück per definitionem unmöglich ist, müssen wir nach anderen Lösungen suchen. Entpersönlichung, so viel ist klar, ebenso eine Art Projektion. Ein Gehirnschaden? Vielleicht. Pseudoneurotische Schizophrenie? Aber eine lächerliche Art davon. Einige Fälle wurden mit intravenöser Gabe von Thioridazin-Hydrochlorid behandelt.«

»Erfolgreich?«

Er lachte in sich hinein. »Das mag ich. Ein Mann mit Sinn für Humor. Ich bin sicher, dass wir ins Geschäft kommen.«

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich keine Aluminiumverkleidung benötige.«

»Unser Geschäft ist weit beachtlicher und dazu noch von weit größerer Bedeutung. Sie sind neu in der Stadt, Mr. Talbot. Es wäre zu schade, wenn wir uns, wie soll ich sagen, in die Haare geraten würden.«

»Sie können sagen, was immer Sie wollen, Kumpel. Auf meiner Liste sind Sie nur eine weitere Anpassung, die darauf wartet, umgesetzt zu werden.«

»Wir bringen die Welt an ihr Ende, Mr. Talbot. Die Wesen der Tiefe werden aus ihren Meeresgräbern emporsteigen und den Mond wie eine reife Pflaume verschlingen.«

»Dann muss ich mir ja über Vollmonde ab jetzt keine Gedanken mehr machen, nicht wahr?«

»Versuchen Sie nicht, sich uns in den Weg zu stellen«, begann er, aber ich knurrte ihn an und er verstummte.

Vor meinem Fenster fiel der Schnee weiterhin unablässig.

Auf der anderen Seite der Marsh Street, am Fenster, das meinem genau gegenüberlag, stand die schönste Frau, die ich je gesehen hatte, im rubinroten Licht ihres Neonschildes und starrte mich an.

Sie winkte mich mit einem Finger zu sich.

Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag legte ich den Hörer auf, als der Aluminium-Mann dran war. Dann ging ich die Treppe hinunter und überquerte die Straße im Laufschritt. Immerhin sah ich kurz nach rechts und links, bevor ich hinüberging.

Sie trug Seide. Das Zimmer wurde nur von Kerzen beleuchtet und stank nach Räucherstäbchen und Patschuliöl.

Sie lächelte mich an, als ich hereinkam, winkte mich zu sich, zu ihrem Platz am Fenster. Sie spielte ein Kartenspiel mit ihren Tarotkarten, eine Art Solitär. Als ich vor dem Tisch stand, schob sie mit einer eleganten Hand die Karten zusammen, wickelte sie in einen seidenen Schal und legte sie sanft in ein Holzkästchen.

Die Düfte im Zimmer ließen meinen Kopf pochen. Ich hatte an diesem Tag noch nichts gegessen, fiel mir jetzt ein. Vielleicht war das der Grund, wieso ich mich schwindlig fühlte. Ich setzte mich ihr gegenüber auf einen Stuhl. Das Kerzenlicht erhellte den Tisch.

Sie streckte ihre Hand aus und nahm meine Handfläche in ihre.

Sie starrte meine Handfläche an und berührte sie sanft mit den Fingern.

»Haare?« Sie schien verwirrt.

»Ja, nun ja. Ich bin viel allein.« Ich grinste. Ich hoffte, dass es ein freundliches Grinsen war, aber sie zog dennoch die Augenbrauen hoch.

»Wenn ich Sie ansehe«, begann Madame Ezekiel, »dann sehe ich Folgendes: Ich sehe das Auge eines Mannes. Ich sehe aber auch das Auge eines Wolfes. Im Auge des Mannes sehe ich Ehrlichkeit, Anstand, Unschuld. Ich sehe einen aufrechten Mann, der das Tageslicht nicht scheut. Und im Auge des Wolfes sehe ich Stöhnen und Knurren, nächtliches Geheule und Gewimmer; ich sehe ein Monster, das mit bluttriefenden Lefzen im Dunkeln am Stadtrand entlangrennt.«

»Wie können Sie denn das Knurren oder Wimmern sehen?«

Sie lächelte. »Das ist nicht schwer.« Ihr Akzent war nicht amerikanisch. Er war russisch oder maltesisch oder vielleicht ägyptisch. »Vor unserem geistigen Auge sehen wir viele Dinge.«

Madame Ezekiel schloss ihre grünen Augen. Sie hatte auffallend lange Wimpern, ihre Haut war blass und ihr schwarzes Haar lag niemals still – es glitt sanft um ihren Kopf, über die Seide ihrer Gewänder, so als ob es auf weit entfernten Gezeiten schwebte.

»Es gibt einen traditionellen Weg«, sagte sie. »Einen Weg, eine böse Gestalt wegzuwaschen. Man muss in einem fließenden Gewässer stehen, im reinen Wasser einer Quelle, und dabei weiße Rosenblätter essen.«

»Und dann?«

»Die Gestalt der Dunkelheit wird weggewaschen.«

»Sie kehrt zurück«, erklärte ich ihr, »sobald der nächste Vollmond aufgeht.«

Madame Ezekiel erwiderte: »Dann muss man es so machen: Sobald die Gestalt weggewaschen ist, öffnet man seine Adern im fließenden Wasser. Es brennt natürlich mächtig, aber der Fluss wird das Blut davontragen.«

Sie trug Seide; Schals und Gewänder in hundert verschiedenen Farben, jede einzelne leuchtend und intensiv, selbst im gedämpften Licht der Kerzen.

Ihre Augen öffneten sich.

»Und nun zum Tarot«, sagte sie. Sie wickelte den Kartenstapel aus dem schwarzen Schal und reichte mir die Karten, damit ich sie mischen konnte. Ich fächerte sie auf, ließ sie durch meine Hände gleiten und einen neuen Stapel bilden.

»Langsamer, langsamer«, sagte sie. »Lassen Sie ihnen Zeit, Sie kennenzulernen. Lassen Sie ihnen Zeit, Sie zu lieben, wie … wie eine Frau Sie lieben würde.«

Ich hielt die Karten fest in meiner Hand, dann gab ich sie ihr zurück.

Sie drehte die erste Karte um. Darauf stand Der Kriegswolf. Das Bild war dunkel mit bernsteingelben Augen und einem Lächeln in Weiß und Rot.

Ihre grünen Augen zeigten Verwirrung. Sie waren grün wie Smaragde. »Das ist keine Karte aus meinem Stapel«, sagte sie und drehte die nächste Karte um. »Was haben Sie mit meinen Karten gemacht?«

»Nichts, Ma’am. Ich habe sie nur festgehalten. Sonst nichts.«

Die Karte, die sie umgedreht hatte, war Das Wesen der Tiefe. Sie zeigte etwas Grünes, das einem Oktopus glich. Die Münder des Wesens – wenn es denn Münder waren und keine Tentakel – fingen an, sich zu winden, während ich auf die Karte starrte.

Sie bedeckte sie mit einer weiteren Karte und noch einer und wieder einer. Der Rest der Karten zeigte keinerlei Bilder; sie waren weiß und leer.

»Haben Sie das getan?« Sie klang, als ob sie gleich in Tränen ausbrechen würde.

»Nein.«

»Gehen Sie jetzt«, sagte sie.

»Aber …«

»Gehen Sie.« Sie sah zu Boden, so als wollte sie sich selbst überzeugen, dass ich nicht länger existierte.

Ich stand auf in dem Zimmer, das nach Räucherstäbchen und Kerzenwachs roch, und schaute aus dem Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite. Ein Licht blitzte kurz im Fenster meines eigenen Büros auf. Zwei Männer mit Taschenlampen liefen hindurch. Sie öffneten den leeren Aktenschrank, sahen sich um und nahmen dann ihre Stellungen ein, einer im Sessel, der andere hinter der Tür, um auf meine Rückkehr zu warten. Ich lächelte in mich hinein. Es war kalt und ungemütlich in meinem Büro, und mit etwas Glück würden sie dort stundenlang warten, bis sie endlich darauf kamen, dass ich nicht zurückkehren würde.

Also verließ ich Madame Ezekiel, die die Karten einzeln umdrehte, eine nach der anderen, und auf die Vorderseite starrte, als ob das die Bilder zurückbringen würde. Ich stieg die Treppe hinunter und ging die Marsh Street entlang, bis ich die Kneipe erreichte.

Der Schankraum war jetzt leer. Der Barmann rauchte eine Zigarette, die er ausdrückte, als ich eintrat.

»Wo sind die Schachmeister?«

»Ein großer Abend für die beiden heute. Sie werden unten an der Bucht sein. Mal sehen … Sie sind ein Jack Daniel’s, nicht wahr?«

»Hört sich gut an.«

Er goss mir wieder ein Glas ein. Ich erkannte den Daumenabdruck vom letzten Mal auf dem Glas. Ich hob die Tennyson-Ausgabe vom Tresen.

»Ein gutes Buch?«

Der fuchsrote Barmann nahm mir das Buch ab, schlug es auf und las vor:

»Unter dem Donner der Oberfläche,

in den Tiefen des abgründigen Meeres

schläft der Krake seinen uralten,

traumlosen, ungestörten Schlaf …«

Ich hatte ausgetrunken. »Und? Worauf wollen Sie hinaus?«

Er kam um den Tresen herum und zog mich mit sich ans Fenster. »Sehen Sie das? Da draußen?«

Er zeigte nach Westen, zu den Klippen am Rand der Stadt. Während ich hinausstarrte, wurde auf den Klippen ein Leuchtfeuer entzündet. Die Flammen schlugen hoch und brannten kupfergrün.

»Sie wecken die Wesen der Tiefe«, erklärte der Barmann. »Die Sterne und Planeten und der Mond stehen alle am rechten Platz dafür. Es ist so weit. Das trockene Land wird hinabsinken und die Meere sollen sich erheben …«

»Denn die Welt wird reingewaschen durch Eis und Flut, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie nur das Ihnen zugewiesene Fach im Kühlschrank benutzen würden«, fügte ich hinzu.

»Wie bitte?«

»Nichts. Wie komme ich am schnellsten auf diese Klippen hinauf?«

»Die Marsh Street wieder rauf. Links ab an der Kirche des Dagon, dann weiter bis zum Manuxet Way und den immer entlang.« Er nahm einen Mantel vom Haken an der Hintertür und zog ihn an. »Na los. Ich begleite Sie. Wäre eine Schande, den ganzen Spaß zu verpassen.«

»Sind Sie sicher?«

»Niemand in der Stadt kommt heute zum Trinken hierher.«

Wir traten auf die Straße hinaus und er schloss die Tür hinter uns ab.

Es war kalt auf der Straße und der gefallene Schnee blies wie weißer Dunst über den Boden. Von hier aus konnte ich nicht länger sehen, ob Madame Ezekiel noch in ihrer Behausung über dem Neonschild saß oder ob meine Gäste noch immer im Büro auf mich warteten.

Wir senkten die Köpfe gegen den Wind und machten uns auf den Weg.

Über das Brausen des Windes hinweg hörte ich den Barmann mit sich selber sprechen. Er deklamierte:

»… versetzen mit riesenhaften Armen

die grünliche Stille in Aufruhr.

Seit Jahrhunderten ruht er dort,

und er wird weiterruhen,

wobei er sich im Schlafe

von gigantischen Meerwürmern nährt,

bis das Feuer des Jüngsten Gerichts

den Abgrund erwärmt.

Dann wird er brüllend heraufkommen,

ein einziges Mal vor den Augen der Menschen

und der Engel erscheinen …«

Dort brach er ab und wir gingen schweigend nebeneinanderher und der Schnee brannte auf unseren Gesichtern.

Um an der Wasseroberfläche zu sterben, dachte ich, aber laut sagte ich gar nichts.

20 Minuten Fußmarsch, und wir befanden uns außerhalb von Innsmouth. Der Manuxet Way hörte an der Stadtgrenze auf und ging in einen schmalen Feldweg über, der teilweise von Schnee und Eis bedeckt war, sodass wir im Dunkeln den Weg hinaufschlitterten und immer wieder ausglitten.

Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber die Sterne standen bereits zahlreich am Himmel. Es waren so viele, wie Diamantstaub und zerdrückte Saphire, die man am Nachthimmel verstreut hatte. Nahe der Ozeanküste sieht man so viel mehr Sterne, als das je in der Stadt möglich ist.

Oben auf der Klippe warteten zwei Gestalten hinter dem Leuchtfeuer – eine riesig und fett, die andere sehr viel kleiner. Der Barmann verließ mich und ging hinüber, um sich zu ihnen zu stellen und mich anzusehen.

»Seht«, sagte er, »der Wolf, der geopfert werden wird.« Seine Stimme kam mir auf einmal sehr bekannt vor.

Ich gab keine Antwort. Das Feuer brannte in grünen Flammen und beleuchtete die drei Männer von unten; die klassische Gruselbeleuchtung.

»Weißt du, warum ich dich hierhergebracht habe?«, fragte der Barmann, und jetzt wusste ich auch, wieso mir seine Stimme so bekannt vorkam: Es war die Stimme des Mannes, der mir die Aluminium-Verkleidung verkaufen wollte.

»Um das Ende der Welt aufzuhalten?«

Er lachte mich aus.

Die zweite Gestalt war der fette Mann, den ich schlafend in meinem Bürosessel gefunden hatte. »Nun, wenn Sie uns hier mit Eschatologie kommen wollen …«, murmelte er, und nun klang seine Stimme wieder tief genug, um Wände zum Wackeln zu bringen. Seine Augen waren geschlossen und er schlief tief und fest.

Die dritte Gestalt war in dunkle Seide gehüllt und roch nach Patschuliöl. Sie hielt ein Messer in der Hand und schwieg.

»Heute Nacht«, begann der Barmann, »gehört der Mond den Wesen der Tiefe. Heute Nacht stehen die Sterne in der gleichen Konstellation, in den Formen und Mustern der alten, dunklen Zeiten. Heute Nacht werden sie kommen, wenn wir sie rufen. Wenn unser Opfer würdig ist. Wenn unsere Rufe erhört werden.«

Der Mond ging auf, riesig und bernsteinfarben und schwer. Er hing über der anderen Seite der Bucht und ein Chor leisen Quakens stieg mit ihm aus dem Ozean, der tief unter uns lag.

Mondlicht, das auf Schnee und Eis herabscheint, ist noch längst kein Tageslicht, aber es genügt. Meine Augen wurden schärfer im Mondlicht: Im kalten Wasser dort unten tauchten Männer, die wie Frösche aussahen, auf und wieder unter; ein langsamer Tanz im Wasser. Männer, die Fröschen ähnelten, und auch Frauen: Mir schien es, als könnte ich meine Vermieterin dort unten erkennen, wie sie sich in der Bucht mit den anderen wand und quakte.

Es war zu früh für eine weitere Verwandlung; ich war immer noch erschöpft von der vorangegangenen Nacht. Aber ich fühlte mich seltsam unter dem bernsteinfarbenen Mond.

»Armer Wolfsmann«, flüsterte es aus den seidenen Gewändern. »Von all seinen Träumen ist nicht mehr geblieben als ein einsamer Tod auf einer fernen Klippe.«

Ich träume, wann es mir passt, erwiderte ich. Und mein Tod ist meine eigene Sache. Aber ich zweifelte, ob ich das laut gesagt hatte.

Die Sinne werden vom Mondlicht geschärft. Ich hörte immer noch das Brüllen des Ozeans, aber jetzt konnte ich außerdem jede einzelne Welle hören, die sich aufbäumte und wieder zusammenfiel. Ich hörte das Platschen der Froschmenschen, ich hörte das ertrunkene Flüstern der Toten in der Bucht und ich hörte das Knacken der grünen Schiffswracks tief unter dem Meer.

Auch der Geruchssinn wird feiner. Der Aluminium-Mann war menschlich, während der fette Mann anderes Blut in seinen Adern trug.

Und die Gestalt in den Seidengewändern …

Als ich noch meine Menschengestalt hatte, hatte ich ihr Parfüm gerochen. Jetzt konnte ich etwas anderes darunter riechen, etwas weniger Berauschendes. Einen Verwesungsgeruch, wie von verfaulendem Fleisch, verrottenden Leichen.

Die Seide flatterte, als sie sich auf mich zubewegte. Sie hielt das Messer in der Hand.

»Madame Ezekiel?« Meine Stimme wurde rauer und unschicklicher. Bald würde ich nachgeben. Ich begriff nicht, was geschah, aber der Mond stieg immer höher, verlor seine bernsteingelbe Farbe und erfüllte meinen Verstand mit seinem blassen Licht.

»Madame Ezekiel?«

»Du verdienst den Tod.« Ihre Stimme war jetzt kalt und leise. »Schon allein für das, was du mit meinen Karten gemacht hast. Sie waren alt.«

»Ich sterbe nicht«, belehrte ich sie. »Selbst ein Mann, der reinen Herzens ist und am Abend seine Gebete spricht. Erinnern Sie sich?«

»Das ist Blödsinn«, erwiderte sie. »Wissen Sie, was die älteste Art ist, den Fluch des Werwolfs zu beenden?«

»Nein.«

Das Signalfeuer brannte jetzt heller; es brannte so grün wie die Welt unter dem Meer, so grün wie Algen, wie Seetang, der langsam im Wasser treibt. Es brannte in der Farbe von Smaragden.

»Man wartet einfach, bis der Wolf wieder seine menschliche Gestalt angenommen hat, genau einen Monat vor der nächsten Verwandlung. Dann nimmt man das Opfermesser und bringt ihn um. Das ist alles.«

Ich drehte mich um und wollte fortrennen, aber der Barmann stand hinter mir und zog mir die Arme auf den Rücken, verdrehte mir die Handgelenke. Das Messer glitzerte blass silbern im Mondlicht. Madame Ezekiel lächelte.

Sie schnitt mir quer über den Hals.

Das Blut quoll hervor und dann floss es. Und dann versiegte es und die Blutung stoppte …

– Das Pochen hinter meiner Stirn, der Druck am Hinterkopf. Ein Aufruhr eine Verwandlung eine wild rudernde Wende eine rote Wand kommt aus der Nacht auf mich zu

– ich schmeckte Sterne auf meiner Zunge, in Brackwasser aufgelöst, sprudelnd und weit entfernt und salzig

– meine Finger spürten die Nadelstiche und meine Haut wurde von Flammenzungen gepeitscht meine Augen waren gelb wie Topase ich schmeckte die Nacht

Mein Atem blies Dampfwölkchen in die eisige Luft. Unwillkürlich knurrte ich ganz tief in meinem Rachen. Meine Vorderpfoten berührten den Schnee. Ich setzte an, spannte mich und sprang sie an. Eine Spur von Verfall und Verderbtheit lag wie Dunst um mich herum in der Luft. Mitten im Sprung schien ich zu verharren, und dann platzte etwas wie eine Seifenblase …

Ich befand mich tief, tief in der Dunkelheit unter dem Meer, wo ich auf allen vieren auf glitschigem Felsboden stand, am Eingang einer Art Zitadelle, die aus riesigen, roh behauenen Steinen erbaut war. Die Steine strahlten ein blasses Glühen aus, wie Leuchtsterne im Kinderzimmer; ein geisterhaftes Leuchten wie die Zeiger einer Armbanduhr.

Eine Wolke schwarzen Blutes tröpfelte aus meinem Hals.

Sie stand im Eingang, direkt vor mir. Sie war nun eins achtzig, vielleicht sogar zwei Meter groß. Sie hatte zwar Fleisch auf den Skelettknochen, löchrig und angenagt, aber die Seidengewänder waren bloß Seetang, der im kalten Wasser trieb, hier unten in den traumlosen Tiefen. Der Tang verbarg ihr Gesicht wie ein schwerfälliger grüner Schleier.

Napfschnecken wuchsen auf den Oberseiten ihrer Arme und auf dem Fleisch, das ihr von den Rippen hing.

Ich fühlte mich, als würde ich zerdrückt. Ich konnte nicht mehr denken.

Sie bewegte sich auf mich zu. Der Tang um ihr Gesicht verschob sich. Sie hatte ein Gesicht wie das Zeug, das man an der Sushi-Theke nicht essen will, lauter Saugnäpfe und Dornen und schwebende Anemonenwedel; und ich wusste, dass sie irgendwo inmitten all dessen lächelte.

Ich stieß mich mit den Hinterbeinen ab. Wir trafen dort in der Tiefe aufeinander und wir kämpften. Es war so kalt, so dunkel. Ich schloss meinen Kiefer um ihr Gesicht und spürte, wie etwas riss und nachgab.

Es war beinahe ein Kuss, dort unten in der abgrundtiefen Ferne …

Ich landete im weichen Schnee, mit einem seidenen Schal zwischen meinen Fängen.

Die restlichen Tücher flatterten zu Boden. Madame Ezekiel war nirgends zu sehen.

Das silberne Messer lag auf dem Boden, im tiefen Schnee. Ich wartete auf allen vieren im Mondlicht, völlig durchnässt. Dann schüttelte ich mich und verspritzte das Salzwasser um mich herum.

Es zischte und spuckte, wenn die Tropfen ins Feuer trafen.

Mir war schwindlig und ich fühlte mich schwach. Ich sog die Luft tief in meine Lunge.

Weit unter mir in der Bucht sah ich die Froschmenschen an der Wasseroberfläche treiben wie tote Gegenstände; mehrere Sekunden lang schwebten sie mit der Flut hin und her, dann drehten sie sich um und vollführten einen Sprung, und einer nach dem anderen hüpfte mit lautem Platschen ins Wasser und verschwand unter der Oberfläche.

Dann erschreckte mich ein lautes Geräusch. Es war der fuchsrote Barmann und er starrte in den Nachthimmel, dessen Sterne nun von heranwehenden Wolken verdeckt wurden. Er schrie. In seinem Schrei lagen Wut und Frustration, und das machte mir Angst.

Er hob das Messer vom Boden auf, wischte mit den Fingern den Schnee vom Griff und mit seinem Mantel das Blut von der Klinge. Dann sah er zu mir herüber. Er weinte.

»Du Bastard«, sagte er. »Was hast du mit ihr gemacht?«

Ich hätte ihm ja gerne geantwortet, dass ich ihr gar nichts getan hatte, dass sie immer noch weit unten am Meeresgrund Wache stand, aber ich vermochte nicht mehr zu sprechen, nur noch zu knurren, zu jaulen und zu heulen.

Er weinte. Er stank nach Wahnsinn und Enttäuschung. Er hob das Messer und rannte auf mich zu, aber ich bewegte mich zur Seite.

Manche Menschen können sich nicht einmal an die kleinsten Veränderungen anpassen. Der Barmann stolperte an mir vorbei, stürzte von der Klippe hinunter ins Nichts.

Im Mondlicht ist Blut schwarz, nicht rot, und so waren die Spuren, die er an der Felswand hinterließ, als er fiel und abprallte und weiterfiel, schwarze und dunkelgraue Flecken. Dann lag er endlich still auf den eisbedeckten Felsen am Fuß der Klippe, bis ein Arm aus dem Wasser ragte und ihn ins dunkle Meer zog; so langsam, dass es fast schmerzte zuzusehen.

Eine Hand kraulte meinen Hinterkopf. Das fühlte sich gut an.

»Was war sie? Nur eine Offenbarung der Wesen der Tiefe, Sir. Ein Trugbild, eine Manifestation, wenn Sie so wollen, aus den tiefsten Abgründen zu uns emporgesandt, um das Ende der Welt herbeizuführen.«

Ich sträubte mein Fell.

»Nein, es ist vorbei, für diesmal jedenfalls. Sie haben sie unterbrochen, Sir. Und das Ritual muss sehr genau vollzogen werden. Drei von uns müssen nebeneinanderstehen und die heiligen Namen rufen, während das Blut eines Unschuldigen pulsierend zu unseren Füßen fließt.«

Ich sah zu dem fetten Mann hinauf und jaulte eine Frage. Er klopfte mir schläfrig auf den Nacken.

»Natürlich liebt sie dich nicht, mein Junge. Sie existiert ja kaum auf dieser Ebene, jedenfalls nicht im materiellen Sinne.«

Der Schnee begann von Neuem zu fallen. Das Leuchtfeuer erstarb langsam.

»Ich würde vermuten, dass deine Verwandlung heute Nacht zufällig ein direktes Ergebnis ebenjener himmlischen Konstellationen und Mondkräfte ist, die die heutige Nacht zur perfekten Nacht gemacht hätten, um meine alten Freunde von unterhalb ans Licht zu bringen …«

Er redete weiter mit seiner tiefen Stimme und vielleicht erzählte er mir wichtige Dinge. Ich werde es nie erfahren, denn der Appetit in mir wuchs immer stärker an und seine Worte hatten ihre Bedeutung bis auf einen schwachen Schatten verloren: Das Meer und die Klippe und der fette Mann interessierten mich nicht länger.

In den Wäldern hinter der Wiese rannten Rehe umher: Ich konnte sie in der Luft der Winternacht riechen.

Und vor allen anderen Empfindungen spürte ich den Hunger in mir.

Ich war nackt, als ich früh am nächsten Morgen zu mir kam. Ein halb gegessenes Reh lag neben mir im Schnee. Eine Fliege kroch über sein offenes Auge und die Zunge hing ihm aus dem toten Maul, sodass es gleichzeitig komisch und erbärmlich aussah, wie ein Tier in einer Zeitungskarikatur.

Der Schnee war leuchtend rot gefärbt, wo der Bauch des Tieres aufgerissen worden war.

Mein Gesicht und meine Brust waren klebrig und rot von demselben Zeug. Mein Hals war verkrustet und vernarbt und er brannte, aber beim nächsten Vollmond würde er wieder intakt sein.

Die Sonne war noch lange nicht aufgegangen; klein und gelb wartete sie am Horizont, aber der Himmel war bereits blau und wolkenlos und es wehte kein Wind. Ich hörte das Brüllen der See ein gutes Stück weit entfernt.

Mir war kalt, ich war nackt und blutig und allein. Nun ja, dachte ich: Das passiert uns allen zu Beginn. Mir passiert es eben einmal im Monat.

Ich war so erschöpft, dass mein Körper schmerzte, aber ich würde durchhalten, bis ich eine verlassene Scheune oder eine Höhle fand, und dann würde ich erst einmal ein paar Wochen schlafen.

Ein Falke flog in geringer Höhe über den Schnee auf mich zu und von seinen Krallen hing etwas herab. Der Vogel verharrte einen Herzschlag lang über mir und ließ dann einen kleinen grauen Tintenfisch vor meinen Füßen in den Schnee fallen.

Dann schraubte er sich wieder in die Höhe. Das schlaffe Ding lag bewegungslos und stumm und mit vielen Tentakeln im blutigen Schnee.

Ich nahm es als Omen, konnte aber kaum sagen, ob es ein gutes oder schlechtes Omen war, und das war mir inzwischen auch völlig egal. Ich wandte dem Meer den Rücken zu und ebenso dem im Schatten liegenden Städtchen Innsmouth. Dann machte ich mich auf den Weg.

LAIRD BARRON

Dampfwalze

1.

… und dann beißt Er meine Schusshand ab.

Jesus Christus auf einem Pony, das ist mal eine ganz neue Dimension von Schmerz.

Das Universum lodert weiß. Ein Sturm von Löwenzahnsamen, ein Zyklon aus Feuer. Tosender Applaus im voll besetzten Kolosseum, ein ausgewachsenes Sinfonieorchester, Kanonendonner im Inneren meines Schädels, meine Schädeldecke detoniert.

Ich sollte besser die Zähne zusammenbeißen, sonst war’s das.

Ich bin ein Pinkerton-Mann. Das heißt schon was. Ich habe die Knarre, einen kalten blauen Colt, und eine Karte mit meinem Namen, eingraviert unter dem unermüdlich wachenden Auge. Ich bin ein Pinkerton-Mann, wie er im Buche steht. Ein Mordsschütze, treffe unfehlbar ins Schwarze. Ich war in Baltimore zur Stelle, als Attentäter es auf Abe Lincoln abgesehen hatten. Hab mein Schießeisen gezogen und die Halunken durchlöchert. Abe hätte mich ins Theater mitnehmen sollen. Dann wäre er vielleicht noch am Leben. Würde vielleicht in einem Schaukelstuhl sitzen und aufschreiben, wie er den Süden besiegt hat.

Jetzt kann ich keinen Abzug mehr drücken, was? Ich kann meine Initialen an die Decke spritzen.

Ich bin ein Pinkerton bin ein Pinkerton ein gottverdammter Pinkerton.

Richtig so du jämmerlicher Hurensohn kau drauf rum verschluck es wie eine Python und ich werde es weiter skandieren, während ich diese Wände rot bemale.

Belphegor ist nicht mein Vatermutter Vater der du bist im Himmel Jesus liebt mich.

Jesus Christus.

Meine Eier scheppern, wenn ich gehe.

Ich gehe zum Fenster.

Na gut, ich krieche.

Wenn ich es zum Fenster schaffe, schlage ich die Scheibe ein und lass mich rausfallen.

Muss mich beeilen, die Schatten kippen von links nach rechts.

Die Erde auf ihrer Achse neigt sich nach schwarz-schwarz-schwarze Iris verdreht sich in ihrer Höhle nach hinten.

Ich bin froh, dass das Mädchen den letzten Zug erwischt hat.

Hoffe, dass sie jetzt in Frisco ist und sich für mehr Geld verkauft, als sie hier in der Pampa je gesehen hat.

Ich schmecke harten irischen Whiskey, süß in ihrem Nabel. Sie hat was auf dem Kasten, sie hat phänomenale Beine, sie hat blaue Augen wie der Lauf der Knarre auf dem Boden unter der Kommode ich kann gar nicht glauben wie viel Blut aus einem Stumpf spritzen kann ich kann nicht glauben dass es so weit gekommen ist ich höre Ihn kommen schwer auf den sich durchbiegenden Bodendielen Er hat Blut geleckt Er will mehr Fleisch.

Heb das Schießeisen auf, Linkshänder-Pinkerton, heb es auf und ziel damit wie ein Mann mit Mumm in den Knochen nicht wie ein Besoffener der alles doppelt sieht.

Halleluja.

Wer lacht jetzt du sabberndes Dreckstück ich hab dir gesagt dass ich immer ins Schwarze treffe jetzt weißt du es jetzt wo es zu spät ist.

Ich sage einfach mal: peng peng.

Damit schließe ich meine Beweisführung ab, meine Damen und Herren Geschworenen. Ich bin

2.

»Ein Pinkerton-Mann. Da brat mir einer ’nen Storch.« Der Lokführer, ein rußverschmierter, grobschlächtiger Kerl, musterte mich von oben bis unten. Dann spuckte er einen Strahl Kautabak aus und beugte den Rücken, um den Kessel zu beheizen.

Nie gehört von diesem Rueben Hicks, sagte er. Er sprach kein weiteres Wort, bis die Schmalspurbahn in die tristen Ausläufer von Purdon hineinrollte.

Hässlich wie ein verfaulter Backenzahn lag nach etlichen Meilen Weiden und Hügeln mit Stacheldraht-Steppnähten die Stadt vor uns.

Primitive Holzhütten kauerten im stinkenden Alkalischlamm neben dem Fluss. Regen prasselte herab wie Gottes Nadelstiche, stand in orangefarbenen Pfützen entlang des Ufers, sammelte sich in Fahrspuren unter den Vordächern. Trübes Lampenlicht wärmte koksbereifte Fenster. Schatten flatterten wie Motten an Fensterscheiben. Und über dem Zischen und Trommeln des Regens hörte man leise Schreie, Rufe, Klaviermusik.

Es war eine dieser wilden und ungezügelten kalifornischen Goldgräberstädte, die rasend schnell aus dem Boden schossen und noch schneller zerfielen, sobald das Gold versiegt war. Drei Jahrzehnte waren wie der Tag einer Eintagsfliege angesichts der gewaltigen, unüberschaubaren Geografie eines uralten Kontinents, der gerade erst für den weißen Mann erschlossen wurde.

Geschäfte drängten sich an der Main Street: Bank. Hotel. Bordell. Reitbedarf. Lebensmittel und Kurzwaren. Knochensäger. Sheriff. Eine ganze Reihe Spelunken. Tempel der Light-of-the-Lord-Baptisten in einer Seitenstraße. Der Friedhof von Purdon. Unterstände, Hütten, Baracken ohne Ende. Schlaksige Männer in Flanellhosen. Magere Säue mit quiekenden Ferkeln. Ein Rattengehege.

Der kränkliche Nebel hielt eine Wildnis aus Kiefern und krummen Hügeln zurück. Das Ende der Welt, in jeder Hinsicht.

Ich stand auf dem triefenden Bahnsteig und fühlte mich von der Welt beschissen. Es war mir egal, ob der Zirkus-Kraftmensch hinter einer dieser pissegebleichten Saloonfassaden hockte, Whiskey in sich reinkippte und die Beine irgendeines pferdezähnigen Revuemädchens befummelte. Mit dem ersten süßlich-ranzigen Hauch von Pulverdampf und offener Jauchegrube hatte ich vorübergehend mein brennendes Verlangen nach seinem Skalp verloren. Plötzlich war ich alles so leid.

Aber ich hatte keine andere Wahl, als es zu tun. Ich warf mir das Gewehr über, nahm meine Taschen und trottete los.

3.

Ich unterschrieb als Jonah Koenig im Register des Riverfront Hotels – ein ausladender Monolith im Kolonialstil mit Ölgemälden von Andrew Jackson, Ulysses S. Grant und dem erst kürzlich gesalbten Grover Cleveland, die wie bedrohliche Götzenbilder in der Lobby hingen. Es war nicht das erste Mal, dass ich seit der Geschichte in Schuylkill meinen richtigen Namen benutzte, aber das erste Mal, dass es sich natürlich anfühlte. Ein Gefühl der Endgültigkeit hatte sich in meinen Knochen eingenistet.

Hicks wusste sicherlich, dass ich ihm dicht auf den Fersen war. Ehrlich gesagt interessierte es mich nach elf Monaten des Kohlenstaubfressens von Boston bis nach San Francisco nicht sonderlich. Was mich interessierte, waren ein Whiskey, ein Bad und ein ausgiebiger Fick. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.

Der Rezeptionist, ein Veteran seines Gewerbes, verstand perfekt, was ich wollte. Er quartierte mich im zweiten Stock ein, in einem Zimmer mit Hausbar, Himmelbett und Blick auf die Berge. Die Präsidentensuite. Ein Junge schleppte eine Wanne mit lauwarmem Wasser herein und nahm meine Reisekleider mit, um sie reinigen zu lassen. Wenig später kam eine junge Frau mit einnehmendem Wesen, blauen Augen und tief dekolletiertem Kleid ohne Klopfen herein. Sie entkorkte eine Flasche Bourbon, holte zwei Gläser und bot an, mir den Rücken zu schrubben.

Sie sagte, ich solle sie Violet nennen, und wirkte nicht besonders beeindruckt davon, dass ich splitternackt war oder ihr fast den Kopf weggepustet hätte. Ich grinste und hängte Revolver und Gurt über eine Stuhllehne. Morgen war es noch früh genug, um mit dem Sheriff zu reden.

Violet tänzelte herüber und nahm ohne große Vorrede die Sache in die Hand. Sie war klug genug, nicht die Brandnarbe an meiner linken Schulter, die alten Nadeleinstiche oder die knotigen Narben, die sich über meinen Rücken zogen, zu erwähnen.

Und dann waren wir so beschäftigt, dass ich ganz vergaß, sie zu fragen, ob sie mit einem alten Kumpel von mir gevögelt hatte, der sich Rueben Hicks nannte. Oder Tom Mullen oder Ezra Slade. Später war ich zu angeschickert, und als ich aufwachte, war sie weg.

Ich bemerkte einen Riss im Putz. Eine blutende Verwerfungslinie.

4.