Lovecrafts Schriften des Grauens 27: Drommetenrot - Tobias Reckermann - E-Book

Lovecrafts Schriften des Grauens 27: Drommetenrot E-Book

Tobias Reckermann

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Beschreibung

Drommetenrot, das zweite Projekt des Teams Feuerernte, ist eine Hommage an Leo Perutz’ Roman Der Meister des Jüngsten Tages. Drei Novellen und eine Kurzgeschichte greifen den von Perutz geschaffenen Mythos um die Farbe der Sonne am Tag des Jüngsten Gerichts auf. Zwischen Drogenkult und Vorahnungen der Apokalypse entspinnen sich Erzählungen von Wahnwitz, Kunst und hanebüchener Lüge – mit schonungslosem Bezug zur Wirklichkeit. Die Printausgabe des Buches umfasst 248 Seiten. Die Exklusive Sammler-Ausgabe als Taschenbuch ist nur auf der Verlagsseite des Blitz-Verlages erhältlich!!!

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Tobias Reckermannn (Hrsg.)Drommetenrot

In dieser Reihe bisher erschienen:

2101 William Meikle Das Amulett

2102 Roman Sander (Hrsg.) Götter des Grauens

2103 Andreas Ackermann Das Mysterium dunkler Träume

2104 Jörg Kleudgen & Uwe Vöhl Stolzenstein

2105 Andreas Zwengel Kinder des Yig

2106 W. H. Pugmire Der dunkle Fremde

2107 Tobias Reckermann Gotheim an der Ur

2108 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Xulhu

2109 Rainer Zuch Planet des dunklen Horizonts

2110 K. R. Sanders & Jörg Kleudgen Die Klinge von Umao Mo

2111 Arthur Gordon Wolf Mr. Munchkin

2112 Arthur Gordon Wolf Red Meadows

2113 Tobias Reckermann Rückkehr nach Gotheim

2114 Erik R. Andara Hinaus durch die zweite Tür

2115 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo

2116 Adam Hülseweh Das Vexyr von Vettseiffen

2117 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 2

2118 Alfred Wallon Salzburger Albträume

2119 Arno Thewlis Der Gott des Krieges

2120 Ian Delacroix Catacomb Kittens

2121 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 3

2122 Tobias Reckermann Gotheims Untergang

2123 Michael Buttler Schatten über Hamburg

2124 Andreas Zwengel Finsternacht

2125 Silke Brandt (Hrsg.) Feuersignale

2126 Markus K. Korb Treibgut

2127 Tobias Reckermann (Hrsg.) Drommetenrot

2128 Jörg Kleudgen (Hrsg.) Cthulhu Libria Neo 4

2129 Peter Stohl Das Hexenhaus in Arkheim

Tobias Reckermann (Hrsg.)

Drommetenrot

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.© 2023 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerUmschlaggestaltung: Mario HeyerLogo: Mark FreierVignette: Jörg KleudgenSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-937-9

Dieses Buch verdankt sich dem Roman Der ­Meister des Jüngsten Tages von Leo Perutz und dem darin ­kolportierten Mythos von der Farbe der Sonne am Tag des letzten Gerichts.

Einladung

Die Gesellschaft für Sympoesie e.V.

und das Kollektiv Sinnlicher Zirkel

laden herzlich ein zur feierlichen

Eröffnung der Ausstellung

Drommetenrot

2. November 2022, 19:00 Uhr

Im Anschluss daran wollen wir uns

zum alljährlichen Serapion-Stammtisch

im Gasthaus zur Kartätsche zusammenfinden.

Ein großzügiger Tisch ist reserviert,

Voranmeldungen sind erwünscht

und alle Gäste herzlich willkommen.

Die Serenade in schillerndem Rot

oder: Wohin der Weg führt

von Christian Veit Eschenfelder

Ich bin hier schon einmal gewesen, der Geruch nach Moos, feuchtem Mauerwerk und Schutt in diesem Teil der Stadt ist zu prägnant, um ihn leicht zu vergessen. Auch glaube ich, all das schon einmal erlebt zu haben ... vor einem Haus zu stehen, diesem Haus, das sich auf den ersten Blick kaum von denen unterscheidet, die es umgeben. Dessen Mansardendach mit Grünspan besetzt ist, die rissige Fassade mit Efeu überwuchert, und vor dessen Erkerfenster im Erdgeschoss Bretter genagelt wurden, die so morsch sind wie der tote Kirschbaum, der den Vorgarten überschattet. Alles wirkt vermodert, verrottet, vergessen, und dennoch ist das Haus nicht verlassen. In den meisten seiner Fenster brennt Licht, in den Räumen dahinter bewegen sich die Silhouetten seiner Bewohner und Bewohnerinnen. In ihm wird, anders als in all den anderen, gelebt. Man kennt, respektiert und vertraut einander und an seiner Mauer steht über der Eingangstür das Wort Ankunft geschrieben, in roter, von der Witterung ausgebleichter Farbe, kaum sichtbar für die Augen derjenigen, die nicht genau hinsehen. Aus dem Schornstein steigt Rauch auf.

Sahar öffnet das Eisentor, das auf das Grundstück führt, und fordert mich mit einer Geste, die ich schon häufig an ihr beobachtet habe, auf, ihr zu folgen – eine ausdrucksstarke Geste, die Verständnis für meine Unsicherheit ausdrückt, und obwohl ich weiß, dass es sich dabei um ein einstudiertes Überbleibsel aus ihrer Zeit auf der Bühne handelt, verfehlt sie ihren Zweck nicht. Also tue ich, wie mir geheißen, und noch bevor wir das Haus betreten, glaube ich eine Melodie wahrzunehmen, leise und kaum hörbar. Sie klingt auf unerklärliche Art nicht richtig – besser weiß ich es zu jener Zeit nicht auszudrücken – und ich kann ebenso wenig erkennen, ob sie aus dem Innern des Hauses stammt oder vom Wind herbeigetragen wird, von irgendwoher hierher, in diesen Moment, in dem ich Sahar hinterherlaufe, die mich ermutigt, ihr zu folgen, immer weiter; und das tue ich, kann nun nicht mehr stehen bleiben, habe mir Dinge und Orte zeigen lassen, die nur in meinem Verstand existieren und von deren Existenz ich nichts geahnt hatte, bis ich sie traf, meine Freundin und Begleiterin, die mir versprochen hat, dass bald alles anders sein wird.

Hinter dem Haus, erzählte sie mir einmal, befinde sich ein Garten und der Grund, sich für dieses Haus entschieden zu haben, sei die Legende einer Herde und dessen Hirte, in der dort ein Engel starb, dessen Überreste den Boden düngten, und dass seitdem an dieser Stelle Blumen wüchsen, die außerhalb bekannter Taxonomien existierten. Heute erzählt sie mir die gleiche Geschichte noch einmal, nur dass es sich nun nicht um einen gefallenen Engel, sondern einen Dämon handelt, und ich frage mich, ob dieser Unterschied von Bedeutung ist. Ihr jedoch stelle ich diese Frage nicht. Vielleicht trügt mich lediglich meine Erinnerung.

Die Wärme entschwindet der Hand, mit der ich das kunstvoll verzierte Geländer umklammere, das sich einer Schlange gleich die Stockwerke nach oben windet. Ein Echo begleitet jeden unserer Schritte und ich höre die Melodie umso lauter werden, je höher wir gehen, versuche, sie zu verstehen und richtig wahrzunehmen – was auch immer richtig in diesem Zusammenhang bedeutet. Sie klingt, als würde sie auf Instrumenten gespielt, deren Saiten und Tasten nicht für die Finger eines Menschen gemacht wurden und aus denen eine menschliche Lunge niemals einen Ton hätte herausbringen können. Und als hätte man sie nicht für menschliche Ohren komponiert. Sie besteht aus wenigen, sich stets wiederholenden Klängen, die mal vorwärts, mal rückwärts ertönen, gleichermaßen schief und harmonisch, und je intensiver ich mich auf sie zu konzentrieren versuche, umso mehr entgleiten sie mir, verflüchtigen sich, als wäre mein Verstand nicht in der Lage, sie in ihrer Gänze zu verarbeiten. Ich zwinge meine Gedanken zurück in die Gegenwart. Konzentriere mich auf Sahars gleichmäßigen Gang. Auch sie umklammert das Geländer mit der Rechten, die Finger ihrer Linken zucken kaum merkbar in der Luft, als bewege sie die Fäden einer unsichtbaren Marionette. Wir gehen vorbei an nicht geschlossenen Wohnungstüren, aus manchen dringt der Geruch von Weihrauch oder weißen Salbeis, dumpfe Gesprächsfetzen, Gelächter, und aus anderen nur Stille. In eine von ihnen hineinzusehen, traue ich mich nicht. Obwohl ich neugierig bin. Menschen begegnen wir keinen.

Auf einem Treppenabsatz steht ein Gefäß, in dem eine Blume wächst. Ihre Knospen sind kurz davor, sich zu öffnen. Ich kann weder ihre Farbe noch die Form ihrer Blätter oder die Struktur der Stängel irgendeinem mir bekannten Gewächs zuordnen. Als ich Sahar danach frage, bleibt sie stehen, dreht sich zu mir um und sieht auf mich herab, enttäuscht, und ich weiß nicht, ob ihre Enttäuschung echt ist oder nur gespielt – so wie es manche ihrer Gesten sind. Anstatt mir zu antworten, stellt sie mir wiederum die Frage, ob ich das Insomnificarum gelesen habe; eins der Manuskripte, die sie mir gegeben hat. Dass ich das nicht habe, antworte ich, bin mir im nächsten Augenblick jedoch schon nicht mehr sicher, ob ich die Wahrheit gesagt habe. Zwar erinnere ich mich an den Geruch des Papiers und wie es sich unter den Fingern anfühlt, doch nicht an den Inhalt. Zur erneuten Bestätigung meiner Antwort schüttle ich den Kopf. Es ist nicht das Einzige der Werke, die ich nicht gelesen habe, denn es sind so viele gewesen, die sie mir gegeben hat, um mich – wie sie sagte – vorzubereiten; fiktive und sachliche, wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche, Poesie, Lyrik in Kreuz- und Paarreimen, ­Fachbücher, ­Traktate und Pamphlete, einzelne Seiten, auf einer Schreib­maschine oder per Hand verfasst, alte, zerbrechliche, abgegriffene und solche, auf denen die Druckerschwärze erst kürzlich getrocknet ist, von Männern und Frauen und sogar Kindern aus sämtlichen Epochen, alles – wie sie sie nennt – Heilige oder Verrückte, die über Visionen, Träume, wahre und unwahre Begebenheiten geschrieben haben. Zu viele sind es gewesen, und zu häufig haben die Worte für mich keinen Sinn ergeben, mir die Konzentration geraubt, die ich gebraucht hätte, um sie zu verstehen, und meinen Verstand an einen Ort gezerrt, der sich ähnlich dem anfühlt, an den ihn nun diese falsche Melodie zu zerren versucht. Einen Ort, der Freude und des Kummers gleichermaßen, den ich nie betreten habe, von dessen Existenz ich dennoch weiß. Doch ich habe zu widerstehen gelernt und Sahar, die sich immer wieder zu mir umdreht und mich mit ihren großen, blauen Augen ansieht, scheint die Mühe nicht zu entgehen, die mich dieses Widerstehen kostet.

Ganz am Anfang wollte ich wissen, ob all das notwendig sei und wieso sie es mir zeige. Meiner ersten Frage begegnete sie mit einem Nicken und auf die zweite antwortete sie, dass ein Geheimnis nun einmal Eingeweihte brauche, um nicht in Vergessenheit zu geraten. Und dass man dieses Spezielle erst verstehen müsse, um es erkennen zu können, und dass zu diesem Verständnis gehöre, in der Lage zu sein, ihm zu widerstehen, und dass dies nur gelänge, wenn man vorbereitet sei. Dass ohne ­Vorbereitung nichts als Wahnsinn bevorstünde, mit ihr jedoch Unendliches. Bei der Pflanze auf dem Treppenabsatz, fügt sie beiläufig hinzu, handle es sich um eines der Exemplare derer, die in dem Blumenbeet hinter dem Haus wachsen, und ein weiteres Mal zweifle ich daran, richtig vorbereitet zu sein.

Als wir die letzten Stufen der letzten Treppe erreichen, beginnen die Symbole an den Wänden, eine Schrift, die ich nicht verstehe. Erst deutlich und mit filigranen Linien gezeichnet, dann gröber, je weiter wir gehen, umso weniger detailreich. Primitiver. Sahar sagt, dies seien die Erinnerungen derer, die die Stufen wieder hinabgestiegen sind, und ich frage mich, ob ihre Verfasser und Verfasserinnen sich bei ihrem Aufstieg ähnlich fühlten, wie ich es in diesem Moment tue. Zwischen all den anderen Zeichen erkenne ich eines immer wieder. Es ist kreisförmig, eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlingt. Sahar erzählte, dass es dieses Zeichen schon immer gegeben habe und dass es unter unzähligen Namen bekannt sei, Ouroboros, Vasuki, Königin der Naga, Xiangliu, Damballah, der oberste Lwa, die Für-Immer-Schnur der Regenweber, Kukulkan, Midgardschlange, Illuyanka, Kaliya, Eglė, Python, deren Blut das Orakel erschuf, Serpentes sapiens oder die Verführerin. Ein Symbol, dessen Bedeutung trotz seiner unterschiedlichen Darstellungen immer die gleiche sei und das es immer geben werde. Und es ist dasselbe Symbol, das sie, Sahar, auf die Stirn tätowiert trägt, stolz, wenn sie sich unter ihresgleichen befindet, und verdeckt unter ihrem lockigen Haar oder einem Hut mit schmaler Krempe in der Öffentlichkeit. Im Scherz meinte ich zu ihr, dass ich befürchtete, keine weiteren Rollen mehr zu finden, trüge ich es auf ähnliche Art. Doch sie lächelte nicht einmal, entgegnete nur, dass ich das, wenn es so weit sei, auch nicht länger bräuchte, und ich etwas mehr Vertrauen in die Maske haben solle.

Vor der hintersten Tür sitzt jemand auf einem Stuhl. Das schwache Licht in dem fensterlosen Gang lässt mich keine Details erkennen, nur einen Schatten, eine Silhouette, die denen gleicht, die ich von der Straße aus sich in den Fenstern habe bewegen sehen. Nur kleiner. Sie gehört einem Kind, einem Mädchen, dessen nackte Füße nicht bis zum Boden reichen. Es trägt ein weißes Kleid, und als es uns bemerkt, springt es auf und kommt auf uns zu gelaufen. Elf oder zwölf, älter kann es nicht sein, und ich bleibe stehen und gehe nicht weiter. Sahar flüstert mir zu, ich solle versuchen, sie zu ignorieren, sie, die sich uns mit schnellen Schritten nähert und nur wenige vor uns stehen bleibt und uns mit zusammen­gekniffenen Augen von Kopf bis Fuß mustert. Erst Sahar, von der sie nach wenigen Momenten bereits den Blick wieder abwendet, dann mich. Mir gegenüber stutzt sie, scheint misstrauisch, ihr kastanienbraunes Haar glänzt trotz des schwachen Lichts, ihre Wangen sind rosig und sie wirkt, als freue sie sich trotz ihrer offensichtlichen Skepsis mir gegenüber über unseren Besuch. Sie blinzelt nicht, neigt den Kopf zur Seite, bewegt ihre Nase wie ein witternder Hund. Nach einem weiteren Augenblick lächelt sie plötzlich, ihr Misstrauen verwandelt sich in Zutrauen, und mein anfänglicher Schrecken beginnt angesichts ihrer Veränderung meinen Gliedern zu entweichen. Sie macht den Mund auf und ein hohes Lachen erfüllt den schmalen Gang. Sahar wirkt ungeduldig, rollt mit den Augen, als sei sie es leid, dieser Szene beizuwohnen. Dennoch lächelt sie schwach und ich tue es ihr gleich, mehr aus Verwirrung als aus Belustigung. Als das Mädchen sich beruhigt hat, erhebt es seine kindliche Stimme und ruft: „Keine Verbündete der Insekten! Keine der Vögel und keine, die wie die Bäume und Wiesen ist! Nur ein Mädchen, so wie ich, und meine Schwester.“ Ich sehe zu Sahar, die mit verschränkten Armen hinter dem Mädchen steht und mit den Schultern zuckt. „Hat es eine gerade Zahl schwarzer Tiere geopfert? Hat es bereits vom Kykeon gekostet? Möchte es die Haut sehen, die sich unter meinem Kleid befindet? Ist sie der Felder würdig? Ich kann ihr Heiterkeit spenden, wenn es sie danach ...“ Das Mädchen verstummt, als erneut die Musik erklingt. Lauter als zuvor, deutlich aus dem Raum hinter der Tür, der hintersten am Ende des Gangs, Levíts Tür, des Mannes, der all die Legenden erzählt und den sie den Hiero­phanten nennen. Auch Sahars Lächeln verschwindet. Sie wirkt mit einem Mal ernst, sieht erst auf, dann mich an, nickt kaum merklich, und obwohl sie mir mehrmals erzählt hat, was hinter der Tür auf mich wartet, und ich von so vielen gelesen haben, die vor mir durch sie ­hindurchgegangen sind, beginnen die Finger meiner linken Hand zu zittern. Mit denen der rechten halte ich sie fest und erwidere ihr Nicken.

„Eine erneute Ankunft!“, ruft das Mädchen und beginnt, aufgeregt in die Hände zu klatschen. „Nimm sie mit, Schwester, nimm die Keine-Verbündete mit und mach, dass sie zur Eine-Verbündete wird, auf dass sie die Mysterien empfängt! Nimm sie mit, auf dass auch ihre Erinnerungen unsere Mauern schmücken werden!“

Eine Einladung ... zu einer Serenade in schillerndem Rot? In die Alte Welt? Was Ihr nicht sagt ... Mir war nicht klar, dass sie dort wieder zu musizieren vermögen. Was hat das überhaupt zu bedeuten, in schillerndem Rot? Soll das so etwas wie eine Anspielung sein, auf ... Ihr wisst schon, damals, das mit den Feuern? Sind es nicht unsere Kunstwerke, die dieses Motiv tragen? In Liedern und Epen besungen, auf Leinwänden und in Dramen verewigt? Die Alte Welt ... Dass ich nicht lache! Bewohnt von primitiven Glockenbecherleuten. Ihr Land trägt diesen Namen nicht umsonst, wisst Ihr? Es ist alt und sämtlicher Freude und Schönheit beraubt. Die Einheimischen mögen noch so sehr darauf beharren, dass alt nicht gleich schlecht sei, doch glaubt mir, dabei handelt es sich um nicht mehr als den kläglichen Versuch, mit einer Bezeichnung umzugehen, die an ihnen haftet, wie eine zerquetschte Eidechse unter einem Wagenrad. Wirft der Doktor bereits ein Auge auf das Schreiben? Gut, gut ... Ich erwarte seinen Bericht bis zum Morgengrauen. Falls er nichts finden sollte, werft ihn zu den Schlangen.

Ich schrecke auf, bin für einen Moment orientierungslos, geblendet von der Sonne, in deren Strahlen Staubpartikel durch den stickigen Raum tanzen. Ich schwitze, die dünne Decke und das Hemd kleben an meinem Körper, und mein Kopf schmerzt. Der Traum beginnt, sich aufzulösen, der vom Faden und vom Aderlass, und von nicht geschlossenen Bildern, die aus einzelnen Linien bestehen. Er wird blasser, seine Kontur undeutlicher, Details verschwimmen miteinander. Ich spüre die Lähmungen sich umso mehr lösen, je weiter mein Bewusstsein sich aus dem Traum entfernt, und nach einem weiteren Moment bin ich in die Realität zurückgekehrt und mir bleiben nicht mehr als flüchtige Eindrücke, die vor meinem inneren Auge in Rauch aufgehen. Ich stehe auf und meine Beine drohen, unter mir nachzugeben, stütze mich auf die Lehne des Sessels, der neben der Matratze steht, und gehe zu einem der Spiegel. Das Gesicht, das mir entgegenstarrt, ist schmaler geworden, ausgedörrt, und hat immer weniger gemein mit dem, über das früher einmal gesagt wurde, es gleiche dem eines Engels. Ich wische mir eine Strähne meines Haars aus dem Gesicht und betrachte meine nackte Stirn, die Haut, die sich straff über meinen Schädel spannt. Bin ich nicht aufgewacht, wie sie aufgewacht sind? Und bin ich nicht Zeugin dessen gewesen, wovon sie Zeugen gewesen waren? Levít, der Mann, der wie das Mädchen nur weiß trägt, erzählte, wir würden wiedergeboren werden, aufwachen und nicht länger die Person sein, als die wir eingeschlafen sind. Dass die neu erlangten Erfahrungen uns zu etwas Ungewöhnlichem unter Gewöhnlichem machen würden, zu etwas Unvergleichbarem in einer Welt voller Gleichem. Doch das Gesicht, das mich ansieht, sieht nicht aus wie das einer Neugeborenen. Eher erinnert es an das einer Toten, an eine, die stirbt, jeden Tag ein wenig mehr, und die Zweifel, die ich Levít und seinen in Rätseln artikulierten Weisheiten gegenüber zu hegen begonnen habe, verfestigen sich einmal mehr. Sahar sagte, es würde alles gut werden. Ich erinnere mich nicht, wann ich zuletzt mit ihr gesprochen habe, und gehe zum Fenster. Sehe nach draußen auf die leere, im Nebel liegende Straße. Ich stelle mir vor, wie es wäre, Sanguin zu sein, der wie ich morgens aufsteht, zum Fenster seiner Gemächer geht und nach draußen sieht. Auf den im Nebel liegenden See, an dessen Ufer das Anwesen seiner Familie steht, seit Generationen bereits. Ich stelle mir vor, wie es sich anfühlen würde, eine Kammerzofe zu haben, die mich mit einem Adelstitel anredet und die mir das Feuer im Kamin anzündet. Wie es wäre, Hunde zu haben, die mir folgen, während ich durch die Wälder reite, die sich genau wie der See im Besitz meiner Familie befinden. Eine Schwester zu haben, die so klug ist wie Eritrea. Ich schließe die Augen, versuche, mir Sahars Gesicht vorzustellen. Doch in meinen Gedanken erkenne ich keine Details – als hätte ich sie vergessen. Ich kann mich nicht konzentrieren, keinen klaren Gedanken fassen, und wenn es mir doch gelingt, fühlt es sich an, als würde er mir sofort wieder weggenommen werden, gestohlen aus meinem eigenen Kopf.

In der kalten Luft, die in das geöffnete Fenster weht, liegt der Geruch des Flusses, der sich wie eine Schlange durch die Stadt zieht. Sahar erzählte mir, ein Mann habe einst ein Gedicht über ihn verfasst, Der Nebel und ein Narr namens Hex, das von alten Briefen, Wildheit und Missgunst handelt. Den Namen des Künstlers habe ich vergessen, das Stück nie gelesen. Ich verabscheue Lyrik, kann ihr nichts abgewinnen und verstehe sie nicht. Für Sahar wiederum bildet sie die höchste Form der Kunst. Dafür beneide ich sie. Sie ist klüger als ich, dafür beneide ich sie ebenfalls, scharfsinniger und besser in dem, was sie tut und sagt. Mir war versprochen worden, dass auch ich besser sein würde, als ich es bin und als ich es hätte werden können, doch ich spüre nichts. Keine Veränderung, keine Offenbarung. Nur Schmerzen im Kopf, und ich höre die Melodie, die nicht für diese Welt bestimmt ist, meine Welt, in der Träumen bedeutet, dass man nicht wach ist, und Wachsein, dass alles seine Ordnung hat. Ich reibe mir die Schläfen.

Beruhige dich, höre ich sie in meinem Kopf, und geh einfach weiter.

Bevor man mir zutraute, auf einer Bühne vor Publikum aufzutreten, wurde mir erklärt, dass es nicht von Nutzen sei, Bewegungen vor dem Spiegel zu üben. Dass ihre Abläufe nur vorhergegangenen folgen könnten, Aktionen auf Reaktionen auf Aktionen und so weiter, und dass einzelne Bewegungen innerhalb eines Stückes sich nicht sequenzieren ließen. Dass Handlungen auf diese Art aufhörten, Teil des Ganzen zu sein. Es ergab Sinn für mich, damals, und das tut es noch heute. Dennoch besitze ich vier Spiegel, die ich im Halbkreis aufgestellt habe, und wiederhole die gleichen Bewegungen wieder und wieder und kümmere mich nicht um die Worte meines damaligen Lehrers. Wäre er in meiner Lage, würde er mich verstehen, das würden sie alle. Einer der Spiegel ist zur Hälfte blind, ein anderer mehrmals gesprungen, und es fällt mir schwer, mich von vorn und den Seiten gleichzeitig zu beobachten, ohne den Blick vom Publikum zu nehmen; den ­überwältigten Blick, wenn Sanguin und die anderen der Serenade beiwohnen und der Dompteur die Cherubinen zum Singen zwingt. Sanguin beginnt während dieser Szene zu weinen, etwas, das ich nicht zu üben brauche, und er wird sich die Hände vors Gesicht schlagen, und sähe mein alter Lehrer in diesem Augenblick, wie mir vor den Spiegeln Tränen die Wangen hinunterkullern, würde er sagen, dass diese Szene, so sehr ich sie auch beherrsche, hier in meinem Zimmer nicht von Bedeutung sei und ich mich mitreißen lassen müsse von der Energie und der Spannung, die in diesem Moment im Saal herrschen werde, und ich nichts Weiteres tun müsse. Nur reagieren. Ich bin jedoch nicht gut darin, mich von Energien und Spannungen mitreißen zu lassen, und nicht gut darin, nur zu reagieren. Ich muss mich sehen und ich muss ihn sehen, Sanguin, und ihn mir vorstellen können, indem ich ihn sehe, in meinem Spiegel, und Einsicht darüber erlangen, welcher Teil von ihm diese Reaktion auf die Serenade und die Cherubinen auslöst. Doch die habe ich nicht. So häufig ich meine Bewegungen auch wiederhole und versuche, er zu sein, bleibt sein Verstand mir doch verschlossen und es gelingt mir nicht, mir Zutritt zu verschaffen. Ich bin noch immer ich, wenn die Tränen fließen, noch immer ich, wenn ich versuche, meine Augen vor dem Licht zu schützen. Nicht Sanguin, Bruder der jungen Eritrea, dem klügsten Mädchen der Stadt, dem er seine Stimme leiht, wo ihre nicht akzeptiert wird. Seine Bewegungen entspringen noch immer meinem Verstand, nicht seinem Innern.

Ich gehe denselben Weg, den ich bereits seit Wochen gehe, seit Monaten vielleicht – ich habe aufgehört, meinem Zeitgefühl zu vertrauen. Vorbei an geschlossenen Fensterläden, vergitterten Türen und Toren, grauen Tauben und schwarzen Raben, die auf Dächern sitzen und meine Schritte beobachten. Die Luft riecht nach Kälte und die einzigen Geschäfte, deren Rollläden bereits geöffnet sind, gehören dem Zeitungsverkäufer und dem Blumenhändler. Beim einen kaufe ich Zigaretten, und als ich dem anderen, einem in die Jahre gekommenen Mann mit grauem Haar und einer Latzhose, zum Gruß zunicke, reicht er mir – wie er es jeden Morgen tut – eine einzelne Blume, eine Narzisse, und er lächelt das mitleiderregende Lächeln eines guten Mannes und er murmelt, dass diese für die hübsche Dame sei. Ich freue mich über seine Worte, wie ich es jeden Morgen tue, bedanke mich und sein Lächeln wird breiter. Er hat einen ganzen Korb voller Narzissen hinter dem Tresen stehen, und wenn dieser leer ist, wird er Dutzenden Damen gesagt haben, dass sie hübsch seien. Ich frage mich, ob er eine Frau hat, Töchter, denen er ebenfalls Blumen schenkt und sagt, sie seien hübsch, und ich sehe mich noch einmal zu ihm um. Er hält bereits eine weitere Narzisse in der Hand, für eine weitere Frau, die sich mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern vor der Kälte schützt.

Das Theater besitzt die Form eines brutal anmutenden, ungeschmückten Betonwürfels. In seinem Innern bedecken Plakate längst vergangener, aktueller und zukünftiger Stücke die Wände; die, die am besten besucht wurden, sind oder sein werden in beleuchteten Bilderrahmen. Gesichter starren mich an, lachende, melancholische, ernste und zu albernen Grimassen geschnittene. Solche, die sich hinter Masken verstecken, und solche, die durch die Arbeit der Maske kaum mehr natürlich wirken. Einige gehören Schauspielerinnen, die bereits vor Jahren verstorben sind, andere Schauspielern, die nur wenige Male auf einer Bühne gestanden haben. Sie tragen Kleidung verschiedener Zeitalter, Gesellschaftsschichten und Kulturen. Auf dem der Serenade ist mein Gesicht nicht zu sehen. Nur die des Magistrats und Eritreas, seines mit lüsternem Blick und Schweißperlen auf der Stirn, sie mit gestärktem Kragen, geflochtenen Zöpfen und erhobenem Kinn, Sinnbilder der Wollust und des Übermuts. Mein Name steht am unteren Ende, zwischen all den anderen, deren Gesichter es nicht auf das Plakat geschafft haben, unauffällig für all diejenigen, die nicht genau hinsehen. Irgendwann wird auch mein Gesicht auf einem dieser Plakate zu sehen sein, nur meins, und die Namen aller anderen darunter.

Der rote Teppich schluckt das Geräusch meiner Schritte. Mit ihm und den nicht tragenden Säulen, den Kronleuchtern aus Kunststoff und dem Marmorimitat an den Wänden versucht man, eine prächtigere Zeit heraufzubeschwören, eine, die dieses Haus selbst nie erlebt hat. Alles ist aufgesetzt, falsch, nur gespielt. Ich gehe an den golden angestrichenen Doppeltüren vorbei, die in den großen Saal führen, und an denen des nächst­größeren, deren Farbe bereits abgegriffen ist. Man hat sich noch immer nicht die Mühe gemacht, sie zu erneuern. Ich erklimme Betonstufen und gehe einen teppichlosen Gang entlang, der so schmal ist, dass ich nur die Arme auszustrecken bräuchte, um seine Wände zu berühren. Nicht viele Zuschauer verlaufen sich in diesen Teil des Gebäudes, an guten Abenden vielleicht ein paar Dutzend, und nur die wenigsten von ihnen fiebern den Vorstellungen entgegen. Man plant den Besuch nicht, endet lediglich in einer von ihnen. Niemand würde dafür je ein Einstecktuch tragen, eine Fliege um den Hals oder eine Perlenkette. Meist handelt es sich um Studenten und Studentinnen der Künste oder Ältere, die nie gelernt haben, diese Zeit hinter sich zu lassen. Die über Kunst sprechen, als verstünden sie sie, und sie interpretieren, so wie Levít es bezüglich des Menschseins tut. Ich bin Levít einmal auf dem Treppenabsatz des Hauses, in dem es nach feuchtem Mauerwerk riecht, begegnet, wo er die Blume mit den geschlossenen Knospen goss. Er trug Sandalen und einen Ring mit einem grünen Stein aus Glas am Finger. Er sah ganz anders aus, als Sahar ihn beschrieben hatte.

Nur das schwache Scheinwerferlicht erhellt den Saal und ich höre Stimmen aus Richtung der Bühne – die des Regisseurs und des Magistrats. Ich versuche, leise zu sein, während ich den Saal betrete, doch meine Beine gehorchen mir noch immer nicht zur Gänze. Ich nehme in der hintersten Reihe Platz und zünde mir eine Zigarette an, lehne mich zurück. Der Projektor ist ausgeschaltet, die Leinwand, auf die er sonst immer das Bühnenbild projiziert, ist weiß. Der Magistrat kniet auf dem Boden, seine Hände sind auf dem Rücken gefesselt, und der Regisseur, dessen Temperament er ausgesetzt ist, steht über ihm, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzerrt. Er schreit ihn an. Dass er ihn nicht höre, obwohl er seine Worte vernehme, und dass er nur Bewegungen erkenne, jedoch keinen Charakter, befiehlt ihm, von vorn zu beginnen, immer wieder von vorn. Der Magistrat starrt auf den Bühnen­boden und wirkt bemitleidenswert. Kaum etwas ist übrig von seinem hochmütigen, widerwärtigen Charakter, den er auf so überzeugende Art und Weise beherrscht, dass ich mich, genau wie die Mätresse, die junge Eritrea und Darda, auch abseits der Bühne in seiner Gegenwart unwohl zu fühlen begonnen habe. Doch nicht in diesem Moment. In diesem Moment wirkt er armselig und ich versuche, das in mir aufkommende Gefühl der Genugtuung nicht zu unterdrücken. Es gefällt mir, ihn so zu sehen, obwohl er nicht echt ist, und es nicht der Magistrat ist, der leidet, nur ein junger Mann in seiner ersten Hauptrolle. Ich wünschte, meine Schwester wäre hier und könnte ihn sehen, wie ich ihn sehe, und die Mätresse, die ihn so sehr verachtet. Ich ziehe ein weiteres Mal an der Zigarette, blase Rauch über die im Dunkeln liegenden Ränge, während der Regisseur schreit und die Stimme des Magistrats hören will, und ihn von vorn beginnen lässt, ihn sich nicht bewegen sehen will, und ihn erneut von vorn beginnen lässt, seine Worte spüren will, nicht nur deren bloßen Klang vernehmen. Von vorn, von vorn, noch einmal, noch einmal ... Es handelt sich um die Szene, in der die Gruppe sich auf mehrere Kutschen verteilt auf dem Weg in die Alte Welt befindet, nach Finsztár, die Grenzstadt zwischen den Welten. Der Kutscher hatte zuvor aufgrund der Größe der Eidechsen in der Alten Welt die Kontrolle über eins der Pferde verloren, das sich erschrak und auf die Hinterläufe stellte, als ein ganzer Schwarm dieser Reptilien die Allee überquerte. Das Pferd scherte zur Seite aus, zog das andere mit, und durch die ruckartige Bewegung wurde eins der Räder aus der Achse gerissen. Während der Kutscher sich nun um die Reparatur kümmert, läuft der Magistrat Pfeife rauchend auf und ab, blickt angewidert auf den Schlamm, der an seinen Stiefeln haftet. Er wirkt nervös, ungeduldig, ist gereizt und lässt seine Wut an dem Kutscher aus, der nichts dafürkann, sowie an den Pferden, die sich von seinen Schimpftiraden nicht beeindrucken lassen. Die Mätresse, die hübsche Eritrea und Sanguin – ich – sitzen weiterhin in der Kutsche und genießen die Zeit, während der der Magistrat uns nicht mit seiner Gegenwart belästigt. Sie, wir, können ihn nicht ausstehen, seine Blasiertheit und seinen Geruch nach Schweiß, parfümiertem Tabak und Moschus, und still machen wir uns über sein aufgedunsenes Gesicht lustig, als plötzlich die Geräusche vieler Stimmen und Schritte zu uns dringen. Neugierig steigen wir ebenfalls aus der Kutsche, sehen eine Gruppe Menschen auf uns zukommen, aus der Richtung, in die wir reisen. Männer, Frauen, Kinder, Alte, Schwache, Kranke, und einige, denen der Wahn ins Gesicht geschrieben steht. Angeführt werden sie von einem jungen Mann mit langem Haar und langem Bart, der in nicht mehr als Fetzen gekleidet ist und eine Kette mit einem kreisförmigen Anhänger um den Hals trägt, und den in diesem Moment der Regisseur auf der Bühne verkörpert. Noch bevor die Gruppen aufeinandertreffen, beginnt der aufgebrachte Magistrat bereits, lauthals den schlecht gekleideten Mann zu beschimpfen, sich über ihn lustig zu machen, sich über all die Menschen lustig zu machen, über ihre Leiden, die zum Teil entstellten Gesichter, und ihrer aller ungepflegtes Äußeres. Er bezeichnet sie wieder und wieder als unkultivierte Nicht-Menschen und als verabscheuungswürdige Schlamm­geburten, die Würmer essen und nicht mehr seien als das. Und es ist diese Konzentration an Grausamkeiten, mit der der Magistrat seiner Abscheu der Alten Welt gegenüber, und gegenüber der gebrochenen Achse, freien Lauf lässt, die der Regisseur kritisiert, und die er den Magistrat immer wieder vortragen lässt, mit ­gefesselten ­Händen, da dessen ­ausschweifende Gestik, wie er sagt, ihn seiner Ernsthaftigkeit beraubt und ihn wie einen herum­zappelnden Narren wirken lässt, der er in seiner, des Regisseurs, Vorstellung nicht zu sein hat. Er möchte, dass das Publikum angesichts dieser Worte Abscheu verspürt und weder belustigt noch vergnügt ist. Die Szene ist wichtig für den weiteren Verlauf des Stücks, das sind sie alle, jedoch beginne ich nach meiner anfänglichen Freude zu bezweifeln, ob all die Wut des Regisseurs notwendig ist; die erneute Wut – diesmal auf den Magis­trat.

---ENDE DER LESEPROBE---