Luana - Juliette Jano - E-Book

Luana E-Book

Juliette Jano

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Beschreibung

Der unvermittelte Ausbruch eines Krieges erschüttert die vier Fürstentümer. Der Osten strebt nach Macht und steht nun dem Norden gegenüber. Aber nicht nur die Schlachten halten das Land in Atem, auch die Magie scheint aus der Welt zu verschwinden. Ratlos stehen sich die Fürsten gegenüber, doch ausgerechnet eine junge Stundentin der Zauberschule scheint die Lösung aller Probleme zu sein. Einst die Tochter einer einfachen Dorfzauberin, wird Luana auf einmal zum "Vorboten des Friedens". Zusammen mit ihren Freunden versucht sie, dem Krieg ein Ende zu bereiten. Doch in den Schatten wartet noch eine viel größere Bedrohung.

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Seitenzahl: 482

Veröffentlichungsjahr: 2015

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für

Leah

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Die Gilde der Elfen

Kapitel 2: Unverhofftes Wiedersehen

Kapitel 3: Erste Hiobsbotschaften

Kapitel 4: Krieger und Freunde

Kapitel 5: Zu den Waffen

Kapitel 6: Erinnerungen

Kapitel 7: Auf nach Osten

Kapitel 8: Gelöste Rätsel, Neue Fragen

Kapitel 9: Das Tagebuch

Kapitel 10: Schwarz und Weiß

Kapitel 11: Zero

Kapitel 12: Der Prinz, der Krieger und der Offizier

Kapitel 13: Er ist mein Bruder

Kapitel 14: Die Stimme der Macht

Kapitel 15: Ferdinand Vento Arunia

Kapitel 16: Rote Rosen

Kapitel 17: Der wahre Feind

Kapitel 18: Efraim

Epilog

Kapitel 1

Die Gilde der Elfen

Als Luana erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Schnell sprang sie aus dem Bett. Heute durfte sie auf keinen Fall trödeln. Rasch zog sie sich ihr braunes Leinenkleid über den Kopf, es war das erste Kleid, das sie selbst genäht hatte. Normalerweise trug sie es nur an Festtagen, aber heute war ein ganz besonderer Tag. Endlich würde Luana allein ins Dorf hinuntergehen dürfen.

Ihre Mutter war die Zauberin des kleinen Dörfchens, deshalb lebte sie mit ihrer Tochter und der Großmutter oben auf dem Hügel, der an den Wald grenzte. Obwohl die Bürger sie mochten, weil sie ihnen immer wieder aus der Klemme half, so hatten die Leute auch Angst vor den magischen Kräften, die Corina innewohnten. Auch die Großmutter war einst eine Zauberin gewesen, doch nun, mit neunzig Jahren, war kaum ein Funke Magie in ihrem Körper zurückgeblieben. Luana hatte keine Zauberkraft, zumindest hatte weder ihre Mutter noch ihre Großmutter diese mystische Energie bei dem Mädchen festgestellt.

Luanas Vater war ein normaler Soldat gewesen. Anscheinend hatte sie deshalb, genauso wie ihr Bruder Alan, keine Magie in sich. Ihr Vater, Sir Luan, war damals bei einer Invasion des südlichen Fürsten ums Leben gekommen. Luana war erst fünf Jahre alt gewesen. Nun war sie schon fünfzehn und Alan hatte bereits zwanzig Winter erlebt. Ihr Bruder lebte seit zwei Jahren in der Hauptstadt, er wurde dort zum Schmiedemeister ausgebildet.

„Luana? Bist du fertig?“, hörte sie plötzlich ihre Mutter aus dem Wohnraum rufen.

„Ich komme.“

Schnell zog Luana die Schnürung ihrer Stiefel fest und eilte in den runden Wohnraum.

„Guten Morgen, Liebling“, begrüßte Corina ihre Tochter.

„Guten Morgen, Mama. Guten Morgen, Großmutter.“ Luana umarmte beide und machte sich über ihr bereitgestelltes Frühstück her.

„Schling nicht so“, mahnte die Großmutter. „Du bekommst sonst noch Bauchschmerzen.“

Luana nickte nur und steckte sich das letzte Stück Brot in den Mund. Dann sprang sie auf und schnappte sich ihren Korb.

„Ich gehe jetzt los“, sagte sie und nahm den Einkaufszettel entgegen, den ihre Mutter angefertigt hatte. Der kleine Beutel mit den Münzen lag bereits im Korb.

„Pass auf dich auf, Schatz!“, rief die Mutter noch, doch Luana war bereits zur Tür hinaus.

Fröhlich summend hüpfte sie den Hügel hinab. Der Wind ließ ihren feuerroten Zopf hinter Luana in der Luft tanzen und über ihr sangen die Vögel. Heute war der perfekte Tag. Luana begann plötzlich zu rennen. Kurz schloss sie die Augen, nur um im nächsten Augenblick gegen etwas zu stoßen.

„Verzeihung“, murmelte sie verlegen. Die Gestalt im Kapuzenumhang hob Luanas Korb auf, der bei ihrem Zusammenprall auf den Boden gefallen war und reichte ihn dem Mädchen zurück.

„Es ist nichts passiert“, sagte die Gestalt mit einer Stimme, die Luana keinem Geschlecht zuordnen konnte. „Aber pass das nächste Mal besser auf.“ Unter der Kapuze blitzten zwei dunkelblaue Augen hervor, die das Mädchen kurz musterten. Dann wandte sich die Gestalt wieder dem Hügel zu.

„Ich denke wir sollten uns nun verabschieden“, sagte es. Luana nickte.

„Lebt wohl.“

„Lebe wohl.“

Die Gestalt ging in die Richtung von Luanas Zuhause davon, während das Mädchen seinen Weg ins Dorf fortsetzte.

Als sie am Marktplatz angelangt war bemerkte Luana, dass alle Leute entweder verwundert oder völlig entnervt waren.

„Was ist denn mit den Leuten los, Tom?“, fragte sie den netten Ladenbesitzer, bei dem ihre Mutter Kräuter und andere magische Dinge kaufte. Der schüttelte den Kopf und gab Luana die bestellten Waren.

„Sie sind so schlecht gelaunt, weil die Kinder und Jugendlichen alle von der Gilde abgewiesen wurden.“

„Die Gilde?“, fragte Luana. „Was ist das?“

Tom beugte sich über den Tresen, sodass sein Gesicht ganz nah bei ihrem war.

„Die Elfengilde soll, Berichten zu folge, die größte Zauberschule überhaupt sein. Deshalb gieren alle Leute danach, ihre Kinder dorthin zu schicken. Dummerweise nimmt die Gilde nur Kinder mit der magischen Gabe auf. Aber ich glaube, dass diese Gilde nur Schau ist. Die Elfen sind skrupellos und grausam. Wahrscheinlich werden die armen Jungen und Mädchen dort zu Kriegssoldaten ausgebildet.“ Luana musste schlucken.

„Einer von denen ist gerade hier“, fuhr Tom fort. „Also mach deine Besorgungen schnell und unauffällig. Sonst holt er dich und unterzieht dich diesem Test. Manche Kinder sind ganz verstört aus dem Prüfungsraum gekommen. Sie faselten etwas von Kontrolle und seltsamen Gefühlen.“ Luana nickte.

„Ich werde aufpassen, Tom.“

„Das will ich auch hoffen.“

Tom winkte Luana noch zum Abschied und kehrte dann in seinen Laden zurück. Luana folgte dem Ratschlag, schnell und unauffällig zu sein. Immer wieder musste sie an diesen Elf denken, der hier sein sollte. Selbst als sie schon wieder aus dem Dorf draußen war, folgte ihr die Angst, die Toms Bericht ihr gemacht hatte.

Luana beschleunigte ihre Schritte, ja sie rannte den Hügel hinauf. Schon von weitem sah sie ihre Mutter vor dem Haus stehen. Und neben ihr? War das nicht die geheimnisvolle Person, mit der sie vorhin fast zusammengestoßen war? Zwar jetzt ohne Kapuze, aber den moosgrünen Umhang mit der Goldborte würde Luana überall erkennen. Als sie näher kam, konnte sie es deutlich sehen. Die Gestalt mit der seltsam klingenden Stimme und den dunkelblauen Augen war eindeutig ein Junge.

Plötzlich drehte er ihr das Gesicht zu.

„Ich hatte gehofft, dass wir uns noch einmal wiedersehen.“

Luanas Herz begann wie wild zu pochen. Dieser Junge war das schönste Wesen, das sie je gesehen hatte. Seine Haut war hell, fast weiß, die großen, blauen Augen waren so faszinierend wie der Ozean und sein langes, silberblondes Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihm über den Rücken bis zur Hüfte fiel.

„Ah, Luana“, sagte Corina. „Ich möchte dir jemanden vorstellen.“ Sie deutete auf den Jungen neben sich. „Das ist Joschua. Er ist hier um dich zu prüfen.“

Bei dem Wort „prüfen“ lief Luana ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

„Wieso?“, fragte sie schnell.

„Ich habe die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben, dass du Magie in dir tragen könntest, Luana“, sagte Corina. „Deshalb habe ich Joschua hierher gebeten.“

„Ich will aber nicht!“, rief Luana trotzig. Joschua lächelte mitfühlend.

„Dann werde ich jetzt gehen.“ Er streckte Luana seine Hand entgegen. „Auf Wiedersehen, Luana.“

Zaghaft ergriff das Mädchen die Hand. Doch kaum hatten sich seine Finger um ihre geschlossen, zog Joschua an ihrem Arm. Unsanft wurde sie nach vorne gerissen und der Junge legte ihr eine Hand auf die Stirn. Im nächsten Moment spürte sie, wie etwas Unbekanntes in ihrem Kopf auftauchte. Schnell verschloss sie ihren Geist vor dieser fremden Kraft. Aber anstatt zu verschwinden, versuchte dieser Fremdkörper immer wieder in ihre Gedanken einzudringen. Jedes Mal wenn er gegen Luanas Abwehr prallte, durchzuckte ein stechender Schmerz ihren ganzen Körper.

„Lass es zu“, hörte sie plötzlich die Stimme des Jungen sagen. „Lass es zu oder die Schmerzen werden dich verrückt machen.“

„Nein!“, dachte Luana.

„Willst du dein restliches Leben als Verrückte in einer Pflegeanstalt verbringen? Verabscheut und gehasst von allen anderen?“ Joschuas Worte waren ernst und flehend zugleich.

Natürlich wollte Luana nicht so enden und löste die Mauer um ihren Geist herum auf. Sofort ließen die Schmerzen nach. Ein warmes, sanftes Gefühl nahm ihren Platz ein. Es durchströmte ihren ganzen Körper, dann zog es sich plötzlich in den hintersten Teil ihres Seins zurück und verschwand so schnell, wie es gekommen war. Joschua nahm zufrieden grinsend die Hand von Luanas Stirn.

„Herzlichen Glückwunsch, Luana, du bist eine Magierin.“

„Ich wusste es!“, rief Corina und fiel ihrer Tochter um den Hals. Nun kam auch die Großmutter aus dem Haus.

„Was ist denn das für ein Lärm?“, fragte sie etwas genervt.

„Du wirst dich genauso freuen wie ich, wenn du weißt, was ich gerade erfahren habe.“ Corina drückte Luana so fest, dass diese sich unter lautem Protest zwischen den Armen hervor kämpfen musste.

„Kann Luana also doch zur Gilde?“ Die Großmutter bekam leuchtende Augen.

„Ich will aber nicht in diese Gilde“, unterbrach Luana die Euphorie ihrer Verwandten.

„Aber, Liebling … “, begann Corina, doch Joschua unterbrach sie.

„Es steht dir frei zu wählen“, sagte er. „Entweder kommst du mit mir oder du lässt deine Gabe verkümmern, bis sie niemandem mehr etwas nützt. Dein Name wird so oder so in das Register aufgenommen.“ Er sah ernst aus, doch in seinen Augen las Luana so etwas wie Enttäuschung. Sie seufzte.

„Gebt mir einen guten Grund, wieso ich zu dieser Gilde gehen sollte.“ Ein Hoffnungsschimmer blitzte in den Augen ihrer Mutter auf.

„Nun ja“, sagte sie. „Deine Großmutter und ich waren auch dort.“

„Sehr überzeugend ist das ja nicht“, murrte Luana und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ach bitte, Liebling. Schau es dir zumindest einmal an.“ Ein Schmeicheln schlich sich in die Stimme ihrer Mutter.

„Wenn es dir dort nicht gefällt“, mischte sich nun auch noch die Großmutter ein. „Kannst du ja immer noch zurück nach Hause kommen.“ Joschua nickte zustimmend. Luana sah trotzig in die flehenden Augen ihrer Mutter.

„Na gut“, seufzte sie schließlich. „Ich gehe mit Joschua.“ Corina machte vor Freude einen Luftsprung und umarmte ihre Tochter gleich noch einmal.

Der Abschied war ihr schwer gefallen. Nun waren ihre Mutter und die Großmutter ganz allein. Doch die Gedanken wichen sofort wieder aus Luanas Kopf, als sie die Postkutschenstation erreichten. Ungefähr einen halben Tag war sie hinter Joschua durch die Gegend gelaufen, doch nun würden sie den Rest des Weges in der Kutsche fahren. Es war ein ganz neues Gefühl für das Mädchen, als der Kutscher ihr die Tasche abnahm, diese auf dem Dach festzurrte und ihr dann galant ins Innere half.

Dort saßen schon drei weitere Fahrgäste, ein Ehepaar, das es sich auf der einen Bank bequem gemacht hatte und ein junger Mann, dessen Gesicht Luana nicht erkennen konnte, da er sich über ein Buch beugte und ihr deshalb die schwarzen, schulterlangen Haare wie ein Vorhang die Sicht versperrten. Wortlos setzte sie sich neben das Ehepaar, während Joschua auf der zweiten Bank ihr gegenüber Platz nahm. Zuerst schwiegen alle.

„Wohin fahrt ihr?“

Luana schreckte aus ihren Gedanken hoch. Verdutzt sah sie sich um. Die Frau, neben der sie saß, lächelte sie freundlich an.

„Wir wollen in die Hauptstadt“, antwortete statt ihrer nun Joschua.

„Oh“, lachte die Frau. „Genau wie wir. Wollt ihr euch auch die Prozession ansehen?“ Luana warf Joschua einen fragenden Blick zu.

„Ja.“

Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet, jedoch wagte sie nicht, die Aussage des Elfen zu hinterfragen, da ihr der Bericht von Tom wieder eingefallen war.

„Und wohin wollt Ihr?“, fragte der Mann in diesem Moment. Seine Frage war offensichtlich an den jungen Mann mit dem Buch gerichtet. Dieser sah nun langsam auf. Alle außer Joschua, fuhren bei seinem Anblick vor Schreck zusammen.

Das Gesicht des Mannes war kreidebleich, unter den dunkelbraunen Augen lagen schwarze Schatten, das schwarze Haar und die schwarze Robe ließen ihn nur noch blasser und kränker aussehen.

„In die Hauptstadt.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

„Sicher, um dort einen Arzt aufzusuchen“, sagte der Mann mit einem verkrampften Lächeln auf den Lippen.

„Macht Euch nicht lächerlich“, flüsterte der Mann. „Ich bin Arzt.“

Luana war irritiert. Wie konnte jemand, der der Medizin mächtig war, so krank aussehen? Plötzlich trafen sich ihre Blicke. Seine braunen Augen stellten eine stumme Frage. Schnell wandte sie den Blick ab.

„Keine Sorge, werter Herr“, sagte der junge Arzt mit einem schelmischen Unterton. „Ihr werdet Euch mit meiner Krankheit garantiert nicht infizieren.“

„An was genau leidet Ihr denn, wenn ich mir die Frage erlauben darf?“ Die Frau beugte sich neugierig vor.

„Schlaflosigkeit.“

Mit einem schnellen Blick auf Luana klappte er sein Buch zu und begann durch das Kutschenfenster die schnell vorbeiziehende Landschaft zu beobachten.

Luana war fasziniert von dem jungen Arzt. Meist las er oder sah aus dem Fenster. Als sie einmal eine Radpanne hatten, trat sie an ihn heran.

„Wie heißt Ihr eigentlich?“

Neugierig blickte sie zu ihm auf.

„Wieso möchtest du das denn wissen?“, fragte er und fing ihren Blick auf. Erst war Luana eingeschüchtert von dem strengen Ausdruck in seinen Augen, doch dann bemerkte sie, dass der junge Mann lächelte.

„Schau nicht so erschreckt“, sagte er und stieß ein leises, helles Lachen aus. „Ich beiße nicht. Und bitte, hör auf mich mit Ihr anzusprechen. Mein Name ist Soran.“

„Freut mich, dich kennen zu lernen, Soran“, sagte Luana lächelnd. „Ich bin Luana.“

„Sehr erfreut.“

Soran verbeugte sich höflich und hauchte Luana einen Kuss auf die Hand. Dabei fiel ihr Blick auf Joschua, der dem Kutscher dabei half, das Rad zu wechseln. Er sah nicht sehr erfreut aus. Mit einem missbilligenden Ausdruck im Gesicht ruhten seine blauen Augen auf Soran. Dieser hielt den mentalen Messern jedoch stand.

In diesem Moment kam der Kutschfahrer wieder unter dem Gefährt hervor.

„So, meine Herrschaften, alles einsteigen, wir fahren ab. Dank der Hilfe des jungen Mannes hier.“ Er klopfte Joschua auf die Schulter. „Werden wir sogar rechtzeitig zur großen Prozession in der Hauptstadt sein.“

Ein stechender Schmerz durchzuckte Gions rechtes Bein. Jede noch so kleine Bewegung tat ihm weh. Er saß zusammen mit seinen Eltern in der Kutsche, die an der Spitze der alljährlichen Prozession fuhr. Er hatte seinen Vater gebeten auf der Burg bleiben zu dürfen, aber dieser hatte es ihm verboten.

„Als Sohn des Nordfürsten ist es deine Pflicht, bei derartigen Veranstaltungen anwesend zu sein.“

Gion wäre viel lieber in dem kleinen Kastell geblieben, das seine Familie sonst bewohnte. Doch war es dort vor zwei Tagen zu einem Anschlag gekommen, der die Schatzkammer als Ziel gehabt hatte. Gion hatte geholfen, die Steuern und Staatseinnahmen zu verteidigen. Dabei war der Dolch des einen Angreifers in seinen rechten Oberschenkel gefahren und hätte ihn glatt durchbohrt, wäre da nicht ein Soldat aufgetaucht um ihm zu helfen. Aber die Wunde war nun mal da.

Fröstelnd schlang sich Gion den Mantel noch enger um den Leib. Plötzlich jedoch fuhr die Kutsche über eine Unebenheit der Straße und die Passagiere wurden kräftig durchgeschüttelt. Gion biss die Zähne zusammen. Das Bein schmerzte so fürchterlich, dass er es kaum aushalten konnte. Doch seine Eltern waren so sehr damit beschäftigt, den jubelnden Bürgern zu zuwinken, dass sie es nicht bemerkten.

Eigentlich sollte der Junge es den Erwachsenen nachtun, aber stattdessen saß er nur da und starrte zum grauen, wolkenverhangenen Himmel hinauf. Es würde bald wieder Regen geben. Hier in der Hauptstadt war der Herbst viel kälter und nasser als in den abgelegenen Dörfern, die zwischen Wiesen und Wäldern weit draußen auf dem Land lagen. All die Leute, die von dort hierher reisten, um die große Erntedankprozession mitzuerleben, standen nun am Straßenrand und zitterten unter ihren Mänteln. Der starke Wind fuhr ihnen in die Kleider und ließ die Armen nur noch mehr bibbern. Auch Gion fror, obwohl er an die niedrigen Temperaturen um diese Jahreszeit gewöhnt war.

Die Kutsche nährte sich der großen Kirche am Rand der Stadt, dort würden sie alle, im Laufe eines Gottesdienstes, dem Herrn für die gelungene Ernte danken. Danach würde es im Festsaal der Burg ein großes Bankett geben. Gion hatte überhaupt keine Lust auf diese Feierlichkeiten. Sein Bein pochte und sein Körper fühlte sich wie ein Eisblock an.

Als sie endlich die Kirche erreichten, war der Junge halb erfroren. Mit der Hilfe eines Dieners kletterte er aus der Kutsche und humpelte an der Seite seines Vaters in das Gebäude. Den ganzen Gottesdienst über döste er vor sich hin und bekam fast gar nichts mit. In seinem Kopf spuckte nur ein Einziger Gedanke herum: „Ich will zurück nachhause.“

Nach dem Gottesdienst, beim Verlassen der Kirche, erteilte der Pfarrer jedem den Segen. Geistesabwesend wie er war, achtete Gion auf Nichts mehr, weder auf die Leute am Straßenrand, noch auf seine Eltern und erst recht nicht auf den unebenen Weg vor seinen Füßen.

Plötzlich blieb sein Fuß an einem etwas erhabenen Stein hängen und er stolperte nach vorn. Er fing sich gerade noch an der Kutsche ab. Doch da durchzuckte wieder dieser stechende Schmerz sein Bein und verteilte sich über seinen ganzen Körper. Das Blut pulsierte in seinen Adern und sein Kopf dröhnte. Beide Hände auf den Oberschenkel gepresst, sank er auf die Knie.

„Gion!“, rief die Fürstin panisch und stürzte auf ihren Sohn zu. Sie kniete sich neben ihn und sah erschreckt auf den dunkelroten Fleck, der sich langsam über Gions Hosenbein ausbreitete.

„Der Prinz ist verwundet!“, rief sie. Sofort eilten zwei Wachsoldaten herbei und hoben den Prinzen vom Boden hoch. Gion schrie vor Schmerz, als sie ihn in die Kutsche trugen. Sein Blick schweifte über die Menge Schaulustiger. Er fand es unmenschlich, dass die Menschen sich amüsierten oder es interessant fanden, wenn jemand Höllenqualen litt. Mitten unter ihnen entdeckte er ein Mädchen, das ihn mitfühlend ansah. Sie hatte feuerrote Haare und schien kaum älter zu sein als er selbst. Er blickte noch einmal in ihre grünen Augen, bevor er das Bewusstsein verlor.

Luana ging schweigend neben Joschua die Straße zur Gilde entlang. Immer wieder dachte sie an diesen Jungen, den Sohn des Fürsten, Gion. Seit sich ihre Blicke bei der Prozession getroffen hatten, ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf. Die kurzen, blonden Haare, das blasse Gesicht, die vor Schmerz geweiteten Augen, die stumm um Hilfe riefen. Ob er wohl schlimm verwundet war? Eine weitere Frage drängte sich in Luanas Kopf. Wieso war der Prinz eigentlich verletzt gewesen? Sie hatte nirgends eine Waffe gesehen. War die Wunde vielleicht schon vorher da gewesen und hatte durch den Sturz wieder zu bluten angefangen?

„Wir sind da, Luana“, hörte sie Joschua sagen.

Und tatsächlich. Als das Mädchen aufblickte, erhob sich vor ihr das große, imposante Hauptgebäude der Elfengilde. Es handelte sich um einen schlossähnlichen Bau mit fünf Türmen und vielen Fenstern. In das große Portal waren magische Symbole, Runen und, zu Luanas Verwunderung, Blumen geschnitzt. Die Türflügel schwangen wie von Zauberhand auf.

Die große Halle dahinter war atemberaubend. Über ihr spannte sich eine riesige Glaskuppel, die in allen Farben funkelte. In der Mitte prangte, aus Buntglas gefertigt, das Wappen der Zauberschule.

Die Halle bildete anscheinend auch den Mittelpunkt der Gilde. Verteilt über vier Stockwerke herrschte geschäftiges Treiben. Elfen und Menschen liefen allein, zu zweit oder zu dritt die Balustraden entlang, verschwanden hinter Türen oder unterhielten sich. Plötzlich sah Luana, wie auf der linken Seite ein Junge mit einem Stapel Papiere von ein paar anderen unwirsch angerempelt wurde. Entsetzt sah sie, wie er gegen das Geländer der Balustrade stieß und die Blätter wie eine große Wolke zu Boden schwebten. Joschua, der das Debakel ebenfalls bemerkt hatte, spurtete sofort zum Ort des Geschehens hinüber, Luana dicht auf den Fersen.

Der Junge, dessen Unterlagen gerade durch die Luft segelten, beeilte sich über die Wendeltreppen, die die Stockwerke miteinander verbanden, so schnell es ging nach unten zu gelangen. Joschua begann bereits die Papiere aufzusammeln, als er neben den beiden ankam. Leise fluchend sank er auf die Knie und betrachtete verstört den weißen Teppich aus Dokumenten, Listen und Formularen.

„Drei Tage“, schniefte er. „Drei Tage Arbeit umsonst.“ Er vergrub das Gesicht in den Händen.

Mitfühlend legte Luana ihm eine Hand auf die Schulter. Er hatte eine seltsame Haarfarbe, sie war blau. Außerdem rieselte bei jeder, noch so kleinen Bewegung feiner Glitzerstaub aus den Haaren. Auch Joschua kniete sich nun vor ihn auf den Boden.

„Neu hier?“, fragte er mit sanfter Stimme. Der Junge hob den Blick. Sogar seine Augen waren unnormal. Sie waren von einem so intensiven Türkis, wie man es sonst nur auf Gemälden findet.

„Ja“, schniefte der Junge nun. „Ich bin seit vier Tagen hier.“

„Lass mich raten. Wunsch eines Familienmitglieds?“ Er nickte.

„Ich bin der Neffe des verstorbenen Sekretärs des Direktors. Mein Name ist Elias.“

Joschua begann wieder die Zettel aufzustapeln.

„Mach dir nichts draus, Kleiner. Die Typen, die dich umgerannt haben, sind zu allen Neuen gemein.“

„Danke für die Motivation“, nuschelte Elias und Luana bemerkte, dass eine Träne der Verzweiflung über seine Wange lief.

„Lass die Verzweiflung nicht dein Herz verschlingen.“

Elias sah sie verwirrt an.

„Was meinst du damit?“

Luana zuckte die Achseln.

„Meine Großmutter hat das immer gesagt.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

„Ich werde schon nicht in meiner depressiven Stimmung versinken.“ Elias strich sich durch die Haare. Eine Prise Glitzer rieselte herab. Luana fing etwas davon auf und betrachtete es verblüfft.

„Warum glitzern deine Haare denn so?“, fragte sie schließlich. Er stieß ein helles Lachen aus.

„Ich experimentiere gern. Neulich habe ich mir ausversehen einen Eimer voll Glitter über den Kopf gekippt. Das ist noch nicht alles wieder draußen.“

Auch er begann nun Blätter aufzusammeln. Zusammen waren die zwei Elfen so schnell, dass sie nur ein paar Minuten brauchten, um ungefähr die Hälfte der Zettel aufzusammeln. Hilfsbereit trugen Joschua und Luana Elias einen Teil der Dokumente ins Archiv, wo sie einsortiert werden sollten.

„Ich bin euch zu Dank verpflichtet“, sagte Elias, als sie wieder auf den Gang traten.

„War doch selbstverständlich.“ Joschua reichte dem Jungen zum Abschied die Hand.

„Ich meine das ernst“, beharrte Elias. „Ihr habt etwas gut bei mir.“

„Mein Name ist Joschua.“

„Und ich bin Luana.“

Der junge Sekretär verbeugte sich.

„Ich hoffe, dass wir uns nun öfter sehen.“

„Ich auch.“

Mit diesen Worten eilte das Mädchen hinter Joschua her, der bereits weitergegangen war.

„Was machen wir jetzt?“, fragte sie, als sie ihn eingeholt hatte.

„Wir gehen zum Direktor“, antwortete Joschua. „Du brauchst eine Schuluniform und dein Name muss ins Register. Dann bist du offiziell Studentin bei der Elfengilde.“

Kapitel 2

Unverhofftes Wiedersehen

Seit fast zwei Monaten war Luana nun schon in der Elfengilde. Es gefiel ihr zwar, jedoch war der Unterricht der Inbegriff der Langeweile. Deshalb spielte sie ihren Lehrern oft kleine Streiche, nur um jedes Mal erwischt zu werden. Joschua sah es nicht gern, wenn Luana wieder einmal aus dem Zimmer des Direktors kam. Oft las er ihr dann die Leviten. Doch das hielt Luana nicht davon ab, ihren grauen Alltag etwas zu verschönern.

Es war ein Dienstag, als sie wieder einmal zum Direktor geschickt wurde.

„Luana“, sagte Dr. Alars ohne aufzusehen. „Setz dich.“ Das Mädchen ließ sich gehorsam auf den Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. „Das wievielte Mal in diesem Monat bist du nun hier?“ Er sah sie über den Rand seiner Lesebrille hinweg an.

„Das dritte Mal, Sir“, antwortete Luana.

„Das ist eindeutig zu oft, mein Kind“, fuhr der Direktor fort. „Ab jetzt muss ich mir wohl Strafen ausdenken.“

„Wie wäre es mit Besorgungen?“ Elias trat durch eine weitere Tür in den Raum. „Joschua und Decimus gehen heute in die Stadt. Sie könnte ihnen doch dabei behilflich sein.“ Der Direktor nickte zustimmend.

„Gut, Luana. Melde dich bei Joschua und begleite ihn.“ Das Mädchen nickte und stand auf.

Vor der Tür stieß sie fast mit ihrem Freund zusammen.

„Schon wieder?“, fragte Joschua in ernstem Ton.

„Tut mir leid“, murmelte Luana.

„Das ist das Einzige, was du immer dazu sagst.“ Joschua war wirklich sauer.

„Der Direktor hat gesagt, dass ich ab jetzt Strafen bekomme“, versuchte sie die Situation zu retten. „Heute soll ich dir bei den Besorgungen helfen.“

Er seufzte.

„Hoffentlich treibt dir das endlich die Flausen aus dem Kopf. Komm jetzt.“

Er eilte voraus. Luana legte sich ihren Mantel um, den sie in dieser Jahreszeit immer dabei hatte, und beeilte sich ihrem Freund zu folgen.

Vor dem Tor wartete ein junger Elf, der ungefähr in Joschuas Alter sein musste. Er hatte lange, blonde Haare und geschwungene, blaue Augen.

„Hallo, Decimus“, begrüßte ihn Joschua.

„Sei mir gegrüßt, mein Freund.“

Decimus stand neben einem Wagen, vor den ein Pferd gespannt war.

„Wir haben heute etwas Hilfe“, fuhr Joschua fort. Er deutete auf Luana. Sie lächelte unsicher.

„Du bist Luana, oder?“ Decimus hielt ihr seine Hand hin. Zögernd ergriff sie sie.

„Hallo.“

Decimus stieß ein helles Lachen aus.

„Ist sie immer so schüchtern?“, fragte er Joschua. Dieser zuckte die Schultern.

„Eigentlich nicht“, sagte er. „Normalerweise ist sie ziemlich vorlaut.“

„Das stimmt doch gar nicht!“, rief Luana und warf dem Elf einen bösen Blick zu. Joschua lächelte.

„Komm jetzt.“ Er deutete auf den Wagen. „Setzt dich auf den Kutschbock.“

Sofort kletterte Luana nach oben und ließ sich auf der Bank nieder. Joschua nahm die Zügel des Pferdes und führte es durch das Tor hinaus auf die Straße. Dabei unterhielt er sich mit Decimus.

Es war kälter als Luana vermutet hatte, die Elfen schien das jedoch nicht zu stören. Luana ließ den Blick über die Häuser zu beiden Seiten der Straße gleiten. Die Dächer waren mit einer dünnen Schneeschicht überzogen und an den Fenstern bildeten Eisblumen Muster, die man nicht einmal mit der Glaskuppel der Gilde vergleichen konnte. Sie fühlte sich beinahe wie in einem Märchen.

Nur der Marktplatz störte ein bisschen, mit den vielen Leuten, die dort hektisch herumrannten oder ihre Waren feil boten. Dazwischen der ganze Schnee, der sich unter den Stiefeln der Menschen in grauen Matsch verwandelte.

„Endstation“, sagte Decimus plötzlich und hielt den Wagen mitten auf dem Marktplatz an. Behände sprang Luana vom Kutschbock und wäre beinahe ausgerutscht, hätte Joschua nicht ihre Hand festgehalten.

„Danke“, murmelte sie und zog ihre Hand zurück. Er schien etwas erstaunt über ihre Reaktion zu sein, lächelte jedoch sofort wieder.

„Ich will doch nicht, dass du dir etwas brichst.“

„Wie machen wir das eigentlich?“, fragte Decimus. „Wir können sie wohl kaum alleine losziehen lassen.“

„Nimm sie mit zum Schmied“, antwortete Joschua. „Sie kann dir beim tragen helfen.“

Decimus nickte, dann wandte er sich in Richtung Handwerkerviertel. Dort lebten die Leute, die nützlich Dinge anfertigten, wie der Schmied, der Schreiner, Gerber, Schneider, Schuster und andere.

Luana war fasziniert von der Größe der Stadt. Staunend betrachtete sie die vielen Schilder, die auf das jeweilige Gewerbe hinwiesen. Aus der Bäckerei strömte der Duft von frischem Brot. Luana sog den Geruch tief ein. Irgendwie bekam sie Hunger.

Die Schmiede lag in dem Teil des Viertels, der an den Fluss grenzte. Diese Gebäude waren sehr beliebt, da der Fluss Leben spendete. In dieser Jahreszeit fuhren nur noch wenige Schiffe auf dem Wasser dahin, im Sommer hingegen wimmelte es dort nur so von Fahrzeugen. Die bunten Boote und Segel erinnerten Luana oft an eine Blumenwiese, doch nun war der Fluss grau und trist. Vereinzelt war das Wasser sogar schon mit einer dünnen Eisschicht überzogen.

Luana betrachtete den Himmel. Der Schnee war wirklich faszinierend. Ihr Blick wanderte zu Decimus. Er bewegte sich so schnell. Während er normal ging, musste das Mädchen fast rennen.

Endlich erreichten die beiden die Schmiede. Nachdem er geklopft hatte, öffnete der Elf die Tür und winkte Luana ihm zu folgen. Sie betraten einen Raum, der vor Hitze fast zu bersten schien. Überall hingen oder standen Werkzeuge, Waffen und andere metallische Gegenstände herum. Das Mädchen betrachtete fasziniert die kunstvoll verzierten Schwerter. Ein Zischen erklang und im nächsten Augenblick füllte sich die Schmiede mit Wasserdampf.

„Wie kann ich Euch helfen?“ Eine bekannte Stimme drang durch den Nebel an Luanas Ohr.

„Wir kommen von der Gilde“, hörte sie nun Decimus sagen. „Ich bin hier um die Stäbe für die Schüler abzuholen.“

Langsam lichtete sich der Nebel und gab die Sicht auf einen jungen Mann frei. Trotz der niedrigen Temperaturen vor der Tür, trug er zu seiner Hose und den Stiefeln nur ein dünnes, ärmelloses Hemd. Die roten Haare klebten ihm am Kopf, darunter blitzten zwei wache, grüne Augen hervor.

„Alan.“ Luana fiel ihm in die Arme.

„Was machst du denn hier, Schwesterchen?“, fragte der junge Schmied etwas verdutzt.

„Ich bin Studentin an der Gilde“, murmelte sie an seine Brust gepresst. „Es ist so schön dich wiederzusehen.“ Decimus räusperte sich.

„Ich möchte euer Wiedersehen zwar nur ungern stören, aber wir müssen uns an den Zeitplan halten, Luana.“

„Was für ein Zeitplan?“

„Der Zeitplan, der auf den Tatsachen beruht, dass wir noch zu zwei weiteren Händlern müssen und dafür nicht mehr als eine Stunde haben.“ Decimus stieß geräuschvoll die Luft aus. „Also, Alan. Wo ist Mr. Smith?“

Alan legte den Kopf schief und spielte mit einer Haarsträhne. Luana musste grinsen. Das tat er immer, wenn ihm etwas peinlich oder unangenehm war.

„Nun, äh …“, stotterte er. „Der hatte heute einen Unfall und, äh… der Doktor ist gerade bei ihm.“

„Na toll!“, rief Decimus. „Ausgerechnet heute.“

„Aber ich weiß, wo Eure Waren sind“, versuchte Alan die Situation zu retten.

„Dann holt sie bitte.“ Der Elf war sichtlich genervt.

Rasch verschwand Luanas Bruder in einer Nebenkammer, im selben Moment, als sich eine weitere Tür am Rand einer kleinen Treppe öffnete.

„Ihr braucht jetzt Ruhe“, hörten die beiden jemanden sagen. „Ich komme in zwei Tagen noch einmal vorbei.“ Die Tür schloss sich und jemand kam die Treppe herunter. Die Gestalt trug eine schwarze Robe, das schwarze Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Die kleine Brosche, die die Form eines Kreuzes hatte, so wie es die Mediziner oft trugen, saß noch an der gleichen Stelle.

„Hallo, Soran“, begrüßte das Mädchen den jungen Arzt. Sein Gesicht war immer noch so blass, wie an dem Tag, an dem sie sich das erste Mal getroffen hatten. Nur die Augenringe waren etwas heller geworden.

„Hallo, Luana. Wie schön dich wiederzusehen.“ Er lächelte vergnügt.

„Wie viele Leute kennst du eigentlich?“, lachte Decimus und sah seine Begleiterin fröhlich an.

„Eine ganze Menge.“

Luana grinste zufrieden. Soran war inzwischen weiter zur Tür gegangen.

„Warte!“, rief Luana und hielt ihn am Arm fest. Verblüfft drehte er sich zu ihr um.

„Wann sehen wir uns wieder?“, fragte sie. Soran sah sie immer noch an, als hätte ein Blitz vor ihm eingeschlagen. „Bitte, Soran. Ich möchte dich öfter sehen.“ Ihre Augen blickten so flehend, dass sie wahrscheinlich sogar einen Stein hätte weich werden lassen können. Soran seufzte.

„Meine Praxis ist nicht weit von hier, drüben bei der Brücke. Du kannst mir ja ab und zu ein wenig helfen.“ Luana nickte begeistert.

„Nach der Schule oder am Nachmittag. Ich sehe zu, dass ich so oft wie möglich komme.“ Soran lächelte und öffnete die Tür.

„Na dann, bis bald.“

„Bis bald.“

Luana winkte noch zum Abschied, dann schloss sie die Tür wieder.

„Bist du in ihn verliebt?“

Luanas Blick wanderte zu Alan, der mit ein paar duzend metallener Stäbe unter dem Arm gerade den Raum betrat.

„Wie kommst du denn darauf?“, winkte sie sofort ab, obwohl sie nicht ganz sicher war, ob er nicht recht hatte.

„So rot wie du geworden bist, kann man das schon vermuten.“ Alan reichte die Stäbe an Decimus weiter, der unter dem Gewicht zu schwanken drohte. Schnell nahm Luana ihm ein paar der Stangen ab.

„Ich denke mal, dass der Direktor Eure Arbeit bereits entlohnt hat?“ Der Elf sah Alan erwartungsvoll an.

„Ja, Alles schon bezahlt.“ Der junge Schmied hielt den beiden noch die Tür auf.

„Ich komm dich mal besuchen“, sagte Luana und drückte ihrem Bruder einen Kuss auf die Wange.

„Das will ich aber auch stark hoffen“, flüsterte er ihr noch zu, bevor sie hinter Decimus die Straße hinab lief.

Gion saß am Fenster und langweilte sich. Seine Mutter erzählte, während sie ein Taschentuch bestickte, wieder einmal die Geschichte, wie ihr Mann Nordfürst geworden war. Der Prinz konnte den Bericht auswendig aufsagen, so oft hatte er ihn schon gehört. Draußen war es so viel schöner als in diesem Zimmer, der Schnee rieselte sanft herab und überzog alles mit einer zarten Glitzerschicht. Die ganze Stadt zu Füßen der Burg sah aus, als läge ein mystischer Zauber auf ihr. Der breite Fluss glänzte, als wäre er aus Glas und die Menschen auf den Straßen schienen glücklich und erfreut über die vollkommene Schönheit um sie herum.

Gion beneidete sie. Die Bürger mussten an einem derart herrlichen Tag nicht in einem überheizten Zimmer sitzen und sich dröge Geschichten anhören. Nicht einmal ein Fenster durfte geöffnet werden, da das Risiko viel zu hoch war, dass sich ein Mitglied der Regentenfamilie eine Erkältung zuzog. Gion verstand die Sorgen seiner Eltern nicht. Die Leute in der Stadt erkälteten sich doch auch nicht, wenn sie einmal das Fenster öffneten.

Sehnsüchtig blickte er auf die breite Hauptstraße hinunter. Da fiel ihm plötzlich zwischen den ganzen Menschen eine Gestalt mit feuerroten Haaren auf. Konnte es sein, dass es sich bei dieser Person um das Mädchen handelte, das ihn vor zwei Monaten so mitfühlend angesehen hatte? Seit diesem Tag musste Gion ständig an sie denken. Er wollte sie unbedingt wiedersehen, zumindest lange genug, um sie nach ihrem Namen fragen zu können. Das würde ihm schon genügen.

Vorsichtig stand er auf und ging leise hinter seiner Mutter vorbei auf die Tür zu. Gottseidank war die Fürstin so auf ihre Arbeit konzentriert, dass sie einfach weitersprach. Die Tür stand einen spaltbreit offen, Gion hätte vor Freude in die Luft springen können. Doch er unterließ es lieber und schlüpfte so leise wie möglich auf den Gang hinaus.

Rasch lief er in seine Gemächer. Von dem Fenster im Ankleidezimmer aus, dass Gion gerne den fürstlichen Schrank nannte, konnte man auf einen Baum klettern, dann den Abhang hinunter gehen und schon kam man im Händlerviertel der Stadt an.

Einen seiner einfachsten Mäntel um die Schultern, machte er sich an den Abstieg. Wie ein schwarzer Schatten sprang er aus dem Fenster, der Baum stand dummerweise ein paar Meter von der Burgmauer entfernt. Unsanft prallte Gion gegen einen der Äste, zog sich stöhnend hoch und rang einen Moment nach Atem. Dann hangelte er sich vorsichtig nach unten, bis er mit beiden Beinen auf dem Boden stand.

Tief atmete er die frische, kalte Luft des verschneiten Novembertages ein. Der Schnee knirschte unter seinen Schuhen, als er den Abhang mehr hinab schlitterte als ging.

Das Händlerviertel war die nobelste Gegend der Hauptstadt. Hier standen die großen Häuser und Anwesen der reichen Kaufleute. Kinder spielten in den großen, parkähnlichen Gärten, bauten Schneemänner oder bewarfen sich mit der weißen Pracht. Gion musste lächeln, als er das Schauspiel sah. Er war froh, dass diese Kinder mit so viel Spaß und Freiheit aufwachsen konnten, nicht wie er, eingesperrt hinter Türen und geschlossenen Fenstern. Verträumt streckte er eine Hand aus und fing die Schneeflocken auf, die wie kleine Tänzer durch die Luft schwebten. Einen Moment verharrten die Eiskristalle auf seinem Handschuh, bevor sie schmolzen und nur noch kleine Tropfen zurückblieben.

Plötzlich fiel Gion sein Plan wieder ein und er beeilte sich, seinen Weg fortzusetzen. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, wich er den Leuten aus oder bog in Straßen ein um Wachtrupps aus dem Weg zu gehen. Auf dem Marktplatz angekommen, schaute Gion sich um. Das rothaarige Mädchen konnte er aber nicht entdecken. Etwas bedrückt blieb er stehen, nur um im nächsten Moment von jemandem umgerannt zu werden.

„Pass auf, wo du dich hinstellst!“, raunzte ihn ein dicker Mann an.

„Das sagt der Richtige“, dachte Gion und wischte sich den Dreck aus dem Gesicht. „Du liegst nicht im Matsch.“

Der Mann grunzte etwas, dass sich wie „elender Bastard“ anhörte und stapfte davon. Beleidigt rappelte sich der Junge auf und klopfte sich den Schlamm von der Hose.

„Ist dir was passiert?“

Gion sah auf. Vor ihm stand ein Engel. Der rote Zopf war mit Schneeflocken verschönert und die grünen Augen ruhten auf seinem Gesicht.

„Geht es dir gut?“

Wie paralysiert starrte er sie an, dann nickte er langsam.

„Gut“, lachte sie und drehte sich um.

„Warte!“, rief Gion. „Darf ich dich etwas fragen?“

Etwas verwirrt wandte sie sich ihm wieder zu.

„Natürlich.“

Gion stieß geräuschvoll die Luft aus. Er hatte befürchtet, dass sie nein sagen würde, aber nun konnte er endlich eine Antwort auf die Frage erhalten, die ihm seit zwei Monaten auf der Zunge brannte.

„Wie heißt du?“

Sie lächelte, dann musterte sie ihn gründlich.

„Du kommst mir bekannt vor. Kennen wir uns?“

Gion zuckte zusammen. Diese Frage war das Einzige, wovor er Angst gehabt hatte. Er schenkte ihr ein verkrampftes Lächeln.

„Wir haben uns mal gesehen. Seitdem will ich dich nach deinem Namen fragen.“

„Wann war das?“

Ein misstrauischer Blick traf seine Augen.

„Vor zwei Monaten bei der Prozession“, antwortete Gion und betete innerlich, dass sie ihn nicht erkannte.

„Aha. Ich heiße Luana.“ Sie streckte ihm die Hand hin. Er seufzte leise und ergriff sie schnell.

„Ich heiße Gion.“

Luana lächelte wieder.

„Freut mich.“

Auch Gion lächelte. Er war glücklich.

„Ich muss jetzt wieder los“, sagte Luana plötzlich. „Meine Begleiter warten auf mich.“ Sie drehte sich um und lief los.

„Warte!“, rief Gion noch einmal. Fragend drehte sie sich um. „Wo wohnst du?“ Gion kam ein paar Schritte auf sie zu.

„In der Gilde!“, rief sie und lief in eine Seitenstraße. Gion blieb stehen und grinste über beide Backen.

„Wo warst du denn so lange?“, hörte sie Joschua rufen, als Luana vollkommen außer Atem vor ihm zum stehen kam. Decimus lud gerade die letzten Waren auf den Wagen.

„Tut mir leid Jungs“, keuchte sie. „Ich wurde aufgehalten. Aber ich habe die Kräuter bekommen.“ Sie reichte Joschua zwei kleine Säckchen.

„Gut“, sagte der Elf und wandte sich dem Wagen zu. „Lasst uns zur Gilde zurückgehen.“

„Gute Idee.“ Decimus nahm die Zügel des Pferdes. Luana stapfte schweigend hinterher; ihr wollte es einfach nicht einfallen, woher sie diesen Gion kannte. Die Ausrede, dass sie sich bei der Erntedankprozession einfach nur gesehen hatten, nahm sie ihm nicht ab. Irgendwas stimmte nicht, aber was wollte er verbergen?

Gedankenverloren betrachtete sie Joschuas Fußspuren im Schnee. Sie stellte sich hinein. Er war nicht nur älter als sie, sondern auch größer.

„Luana, wo bleibst du denn?“ Joschua war stehen geblieben und sah sie erwartungsvoll an.

„Ich komme schon!“, rief sie und beeilte sich, ihm nachzulaufen.

Kapitel 3

Erste Hiobsbotschaften

Luana knallte den Lappen auf die Theke.

„Warum bist du eigentlich so schlecht gelaunt?“, fragte Soran, als er ihren griesgrämigen Gesichtsausdruck bemerkte.

„Ach, es geht um die Festvorbereitungen“, begann sie zu erzählen. „Der Direktor hat jedem von den neuen Studenten eine Aufgabe gegeben, die mit der Weihnachtsfeier in Verbindung steht. Meine Mitbewohnerin Katrin zum Beispiel, soll die große Halle dekorieren. Aber ich bekomme nur die blöde Buffet- und Tischplanung ab.“

„Das ist kein Grund meine Praxis zu zerlegen“, sagte der Arzt und ordnete einige Kräuter in einen Schrank ein. „Außerdem ist das eine sehr große Aufgabe. Die Leute wollen schließlich nicht an einer langweilig oder gar nicht geschmückten Tafel speisen. Ein gut dekorierter Tisch hinterlässt Eindruck.“ Luana seufzte.

„Eigentlich hatte ich mich auf Weihnachten gefreut, aber jetzt ist mir der Gedanke unangenehm, dass meine Familie zur Feier kommt.“

Soran setzte sich an den kleinen Tisch, der im Behandlungsraum stand und deutete auf den Stuhl, auf dem sonst nur die Patienten saßen.

„Soweit ich mich erinnere, kommen auch die Familien der anderen Schüler“, sagte er, nachdem Luana sich gesetzt hatte.

„Ja schon“, murmelte sie. „Aber was ist, wenn die Dekoration nicht zur Zufriedenheit der Gäste ist?“

Soran strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und stützte sich mit den Armen auf dem Tisch ab.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich glaube schon, dass du das schaffst, Luana. Ganz sicher.“ Er lächelte.

„Danke, Soran.“

Luana griff über den Tisch und umfasste eine Hand des Arztes. Etwas unsicher beäugte Soran das Geschehen, dann zog er seine Hand zurück und erhob sich.

„Ich denke, du solltest jetzt gehen. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen.“

Sie sah ihn verwirrt an.

„Kann ich dir dabei nicht helfen?“

„Nein“, sagte er ernst. „Bitte geh jetzt.“ Er reichte Luana ihren Mantel und hielt ihr die Tür auf.

„Auf Wiedersehen, Soran“, flüsterte sie betrübt und schob sich an ihm vorbei auf die Straße. Ohne ein Wort des Abschieds drehte er sich um und ließ die Tür ins Schloss fallen.

Bedrückt lief Luana durch die Straßen. Wie hatte sie auch so dumm sein können. Es war von Anfang an klar gewesen, wie Soran reagieren würde. Nur ein einziger Gedanke schwirrte durch ihren Geist. Dieser Satz war es auch, der sich tief in ihr festfraß.

„Ich bin so ein Idiot!“

Der Anblick der schön dekorierten Fenster machte das Mädchen auf einmal traurig. Schnell eilte sie weiter die Straße hinauf in Richtung Gilde. Plötzlich jedoch kam es ihr so vor, als würde jemand sie beobachten. Angst schickte Luana einen kalten Schauer über den Rücken. Prüfend musterte sie die Häuser, die sich wie schwarze Ungetüme vor dem weißen Himmel abzeichneten, doch dort war niemand. Die Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Rasch wandte sie sich um und rannte, bis sie sich im Schutz der großen Halle wusste.

„Was ist denn mit dir los?“

Erschrocken fuhr Luana herum. Vor ihr stand Elias und lächelte. Seine blauen Haare fielen ihm ins Gesicht und verdeckten sein rechtes Auge.

„Du benimmst dich so, als hätte dich jemand verfolgt.“

Nun konnte Luana ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie fiel ihrem Freund um den Hals und schluchzte los. Etwas irritiert, tätschelte er ihren Rücken.

„Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl aus den Schatten heraus beobachtet zu werden.“

Sanft nahm Elias ihre Hand und schob sie ein Stück von sich.

„Das war bestimmt nur eine Katze oder so. Reg dich nicht darüber auf.“

Er lächelte. Luana wischte sich eine Träne von der Wange und grinste etwas peinlich berührt.

„Ich geh dann mal auf mein Zimmer.“

Sie lächelte den Elf noch einmal an und lief dann hinauf in die Quartiere der Studenten. Katrin, Luanas Zimmergenossin, saß auf ihrem Bett und hatte vor sich drei verschiedenfarbige Bänder ausgelegt.

„Hallo Katrin“, begrüßte Luana ihre Freundin.

„Kannst du mir mal helfen, Luana?“ Katrin sah sie bittend an. „Welche Farbe soll ich für die Dekoration verwenden?“

Luana beugte sich über die Bänder und musterte sie nachdenklich.

„Das rote.“

Mit einem Seufzer ließ sie sich auf ihr eigenes Bett fallen. Katrin lächelte.

„Danke, du hast mir sehr geholfen.“

Rasch lief sie aus dem Raum. Luana mochte Katrin sehr gern. Sie war lieb und fröhlich, doch am meisten schätze sie das Mädchen, weil sie nie fragte, wenn sich Luana seltsam verhielt. So wie heute.

Luana streckte sich auf der Matratze aus. Die große Feier würde in drei Tagen stattfinden. Sie hatte zwar schon eine Idee, wie der Tisch aussehen sollte, war sich aber noch nicht sicher. Die Sache mit Soran ließ ihre Motivation in den Keller sinken. Traurig rollte sie sich auf ihrem Bett zusammen, zog die Decke über den Kopf und versank für einen kurzen Moment in Selbstmitleid.

Der Mond warf sein fahles Licht auf die Straße. Das große Tor, das auf das Gelände der Elfengilde führte, schimmerte silbern. Die Stadt und das Gildegebäude lagen in tiefem Schlaf. Keiner achtete auf die schwarze Gestalt, die mit flatterndem Umhang über die Mauer kletterte. Leise schlich sie über die Rasenfläche, die Wache am Tor schlief. Mit schnellen Handbewegungen öffnete der Junge eines der Fenster im Untergeschoss und stieg in das Gebäude der Elfengilde ein. Sein Name war Ash.

Das Fenster führte in eines der Klassenzimmer. Ash erkannte Pulte und Bücher, Federn und Regale mit seltsamen Gegenständen darin. Rasch lief er durch den Raum, die Tür war verschlossen. Doch das war kein Problem. Ash öffnete die kleine Tasche an seinem Gürtel und zog eine Handvoll winziger Drähte hervor. Vorsichtig steckte er einen davon in das Schlüsselloch. Mit einem Zweiten schob er die Metallstifte im Inneren des Schlosses nach oben und es sprang mit einem leisen Klicken auf.

Lautlos schlüpfte Ash durch die Tür und ging den Korridor hinab. Alles war dunkel. Ein normaler Mensch hätte es wahrscheinlich mit der Angst zu tun bekommen, doch Ash war anders. Er war weder ein Mensch, noch war er normal. Der Junge stammte aus einem Volk, das sich selbst K´schat nannte. Seine Sinne waren schärfer, seine Bewegungen geschmeidiger und schneller, er hörte Klänge, die nicht einmal Elfen wahrnehmen konnten. Nur einen einzigen Makel hatte Ash: Er konnte nicht sprechen. Kein Wort war je über seine Lippen gekommen.

Vorsichtig lugte er um die Ecke. Auch die Wache, die eigentlich die Hintertür bewachen sollte, hatte sich ins Innere des Gebäudes geflüchtet und schlief. Der Junge musste grinsen. Niemand rechnete mit einem Einbrecher. Er wandte sich um und betrat immer noch lächelnd die große Halle mit der imposanten Glaskuppel. Das weiße Licht des Mondes fiel auf die Dekoration, die an den Balustraden angebracht war, bunte Bänder, Kugeln und Tannenzweige. Aber Ash hatte keinen Sinn für den schönen Anblick der Halle.

Er zog die Karte hervor, die der Meister ihm gegeben hatte. Laut Instruktionen musste er in den zweiten Stock; auf der linken Seite befand sich das Zimmer seines Opfers.

Die Absätze seiner Stiefel machten leise Klickgeräusche, als er durch die Halle auf die Wendeltreppe zulief. Zwei Stufen auf einmal nehmend, spurtete Ash hinauf in den zweiten Stock. Vor besagter Tür blieb der Junge stehen, auf dem Schild stand „Dr. Alars, Schuldirektor“. Er hatte sein Ziel erreicht.

Leise öffnete er die Tür und betrat den Raum. Sein Blick glitt über die Bilder an den Wänden. Sie zeigten alle Schuldirektoren, die vor dem Jetzigen an dem schweren Schreibtisch gesessen hatten. Ehrfürchtig verbeugte sich der Junge vor den Gemälden, die ihn mit ihren gemalten Augen ansahen. Eine Tür am hinteren Ende des Zimmers zog nun Ashs Aufmerksamkeit auf sich. Es war die Tür, hinter der sein Opfer schlief.

Ganz vorsichtig betrat der Junge das Schlafzimmer. Dort lag er, der Schuldirektor. Der Brustkorb des Elfen hob und senkte sich gleichmäßig. Ash zog das Messer, das an seinem Gürtel hing. Er blickte in das entspannte Gesicht des Direktors. Plötzlich wurde ihm mulmig zu Mute. Er wollte diesen Mann nicht töten, das hatte ihm der Meister nur aufgetragen. Was er dabei fühlte, war dem Meister völlig egal gewesen. Aber was würde mit ihm passieren, wenn er dem Befehl Wiederstand leistete? Er würde ihn töten, da war Ash sich ganz sicher. Also war es doch einfacher den Direktor zu töten, als den Tod in Kauf zu nehmen. Ashs Hand verkrampfte sich, er zitterte.

Mit einem stummen Schrei riss er den Arm in die Höhe und stach zu. Mit Tränen in den Augen sank er auf die Knie. Als er wieder aufsah, blickte er in das entsetzte Gesicht des Direktors. Das Messer steckte bis zum Griff in der Matratze. Die Augen des Elfen ruhten auf dem Jungen, Ash ließ den Kopf in die Hände sinken. Wie Wasserfälle liefen ihm die Tränen über die Wangen. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter.

„Es wird alles gut“, sagte eine Stimme. Ash wandte den Blick wieder dem Elf zu, dieser sah ihn nun mitfühlend an. „Du musst nicht weinen, mein Junge.“

Plötzlich flog die Tür auf und eine der Wachen, die vorhin noch geschlafen hatte, stürzte herein.

„Herr Direktor, es gibt einen Eindringling!“

Ash war abrupt aufgesprungen. Der Blick des Wachmanns fiel auf das Messer in der Matratze.

„Ein Attentäter“, flüsterte er schockiert.

„Tut ihm nichts!“, rief der Direktor noch, doch die Wache hörte es zu spät. Ash sank zurück auf die Knie. Die Stelle an seinem Hinterkopf, wo der Schwertknauf des Wachmanns gelandet war, pochte. Er spürte noch, wie er von jemandem hochgehoben wurde, bevor alles um ihn herum in tiefer Dunkelheit verschwand.

Luana zwängte sich zwischen den vielen Studenten hindurch, die überall in der großen Halle herumstanden und diskutierten. Sie steuerte direkt auf Joschua zu, der zusammen mit Decimus in einer Ecke stand.

„Was ist denn passiert?“, fragte sie, als sie bei den beiden ankam.

„Heute Nacht ist hier jemand eingebrochen“, erzählte Decimus. „Er wollte den Direktor umbringen.“

„Ist das wahr?“ Luanas Augen weiteten sich vor Entsetzen als Joschua nickte.

„Zum Glück war eine der Wachen sofort zur Stelle. Er hat den Attentäter überwältigt und in einem der gesicherten Zimmer eingesperrt.“

„Aber ich dachte, hier könnte Keiner eindringen?“, fragte das Mädchen und spielte nervös mit dem blattförmigen Anhänger ihrer Kette.

„Das dachten wir auch“, sagte Decimus. „Aber irgendwie hat der Kerl es geschafft, das magische Sicherheitsnetz zu umgehen.“

„Die Antwort ist ganz einfach“, hörten sie plötzlich jemanden sagen.

Luana drehte sich um und entdeckte Elias, der sich, wie sie vorhin, durch die Horde Gildebewohner zwängte.

„Er ist ein K ´schat.“

„Ein was?“, herrschte Decimus ihn an. „Drück dich bitte etwas deutlicher aus.“

„Schon gut. Kein Grund gleich so grob zu werden.“ Elias strich sich eine blaue Strähne hinters Ohr. „Der Junge, den wir vergangene Nacht dabei erwischten, wie er versuchte unseren Direktor umzubringen, ist einer vom dritten Volk.“

„Was ist das dritte Volk?“, wollte Luana wissen. Elias räusperte sich.

„Die K´schat oder das dritte Volk, wie wir sie nennen, sind eine uralte Zivilisation, von der wir eigentlich dachten sie wäre vollkommen vernichtet worden. Doch die Tatsache, dass dieser Junge dort oben im Zimmer sitzt, beweist das Gegenteil.“

„Dürfen wir uns diesen K´schat mal ansehen?“, fragte Decimus neugierig. Elias bedachte den jungen Elf mit einem skeptischen Blick.

„Ich glaube, das wird nicht möglich sein. Nur ausgewählte Mitglieder…“

„Ich habe den Schutzschild mit entwickelt“, unterbrach ihn Joschua. Alle drei sahen Elias mit flehenden Augen an.

„Ich weiß nicht.“

Elias wurde unsicher. Luana schloss das aus der Tatsache, dass er an seinem tropfenförmigen Ohrring herumdrehte.

„Bitte Elias. Bitte, bitte, bitte, bitte.“

Sie nahm seine Hand. Er sah weg.

„Na gut“, murmelte er dann. „Aber ihr drei seid dafür verantwortlich, wenn etwas passiert.“

Luana, Joschua und Decimus folgten Elias hinauf in den dritten Stock. Dort lagen die „gesicherten“ Zimmer. Sie waren mit Magie verstärkt und hatten oft mehrere Schlösser an der Tür. Der junge Sekretär blieb vor einem der Räume stehen und schob eine kleine vergitterte Öffnung in der Tür auf. Durch das winzige Fenster hatten die vier freie Sicht auf den ganzen Raum. Er war spärlich eingerichtet und besaß nur ein kleines Fenster, das mit einem magischen Gitter versperrt war.

Auf der schmalen Pritsche darunter saß ein Junge. Er hatte die Beine angezogen und die Arme vor der Brust verschränkt, schien zu schlafen. Luana lugte zu ihm hinüber. Langsam öffneten sich seine Augen, sie waren so rot wie sein Haar und hatten katzenähnliche Pupillen. Er erhob sich, seine Bewegungen waren geschmeidiger als die normaler Menschen und er verursachte keinerlei Geräusche. Erschrocken wich Luana einen Schritt zurück und stieß gegen Joschua.

„Was ist?“, fragte dieser besorgt.

„Er hat sich bewegt“, murmelte sie, griff nach seiner Hand und drückte sie. Es schien dem Elf nichts auszumachen, denn er legte eine Hand auf ihre Schulter und strich sanft darüber.

Decimus beäugte das Ganze etwas skeptisch. Plötzlich war es Luana, als höre sie eine Stimme. Sie war leise und ernst.

„Komm allein. Ich muss mit dir reden, Mädchen mit dem roten Haar.“

„Hast du das gehört, Joschua?“, fragte Luana ängstlich.

„Was meinst du?“ Er sah sie fragend an.

„Ach nichts. Nur ein Quietschen.“

„Ich glaube, wir sollten wieder gehen“, sagte Elias und verriegelte das Fenster in der Tür wieder. „Luana ist ja völlig durcheinander.“

Gemeinsam liefen sie wieder in Richtung Halle, doch Luana hielt sich die ganze Zeit dicht bei Joschua. Die unheimlichen roten Augen des K´schat hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Ängstlich hielt sie Joschuas Hand fest umklammert und versuchte, an etwas Anderes als den fremden Jungen zu denken.

Der Rest des Tages verging wie im Flug. Luana versuchte dem Dekorieren der Tische so viel Aufmerksamkeit wie nur möglich zu schenken, doch aus irgendeinem Grund schweiften ihre Gedanken immer wieder hinaus aus der Gilde, die verschneiten Straßen entlang, bis hin zu dem kleinen Gebäude bei der Brücke. Jedes Mal, wenn sie an Soran dachte, stachen tausend Nadeln in ihr Herz.

Plötzlich entglitt der Pinienzapfen, den sie gerade neben dem Kerzenleuchter aufstellen wollte, ihrer Hand und zerbrach, als er auf dem Boden aufschlug. Mit Tränen in den Augen sah sie auf die Einzelteile hinab. Sie kniete sich davor und begann die Bruchstücke aufzusammeln, doch auf einmal setzte sich der Pinienzapfen in einem gelben Schimmer wieder zusammen. Verdutzt blickte Luana auf das kleine Wunder hinab, das soeben geschehen war.

„Möchtest du reden?“

Sie sah auf. Vor ihr stand Joschua, um seine linke Hand leuchtete ein gelber Schein, der langsam verblasste. Sie nickte und erhob sich.

Luana erzählte alles, von dem Zeitpunkt an, als sie Soran in der Schmiede wiedergetroffen hatte, bis zu der raschen Trennung am vergangenen Tag.

„Und jetzt geht er mir nicht mehr aus dem Kopf.“ Luana sah Joschua von der Seite an. „Wieso hat er so reagiert, Joschua? Wieso?“ Joschua hatte die Hand ans Kinn gehoben und überlegte.

„Hast du schon mal an Sorans Gefühle gedacht?“

Luana warf dem Elf einen ungläubigen Blick zu.

„Was meinst du?“

„Vielleicht hast du einfach nicht bemerkt, wie er zu deinen Gefühlen ihm gegenüber, steht. Wahrscheinlich empfindet er einfach nichts für dich.“

Luana schwieg betroffen.

„Du hast recht“, murmelte sie dann aber. „Ich war so egoistisch. Ich habe gedacht, dass Soran mich auch so gern hat, wie ich ihn.“ Sie lehnte sich an Joschua und er legte sanft die Arme um das Mädchen, zog sie an sich. Luana drückte das Gesicht in Joschuas Hemd und weinte leise vor sich hin, der Elf strich ihr sanft über das rote Haar. Luana ließ ihn gewähren und drückte sich eng an ihn.

„Mädchen mit dem roten Haar.“

Luana fuhr zusammen.

„Was war das?“

„Was genau meinst du?“, fragte Joschua irritiert.

„Da hat jemand gesprochen.“

Panisch sah sie sich um.

„Luana, hier ist niemand. Wir sind allein.“ Joschua hielt das Mädchen an den Schultern fest. „Beruhige dich.“

„Komm zu mir. Komm ins dritte Stockwerk, Zelle vier. Allein.“

Rasch erhob sich Luana.

„Ich muss los. Danke, dass du mir zugehört hast Joschua.“ Mit einem knappen „Wiedersehen“ rannte sie los und ließ einen sehr verdutzten Joschua zurück.

Luana blieb vor der Tür der Zelle stehen, der Junge hatte ihr den Rücken zugedreht.

„Hast du mich gerufen?“ Luana zitterte vor Aufregung.

„Ja.“

Der junge K´schat drehte sich um, seine roten Katzenaugen leuchteten im Licht der Fackeln, die an den Wänden brannten.

„Hast du auch einen Namen?“, fragte Luana zaghaft.

„Ich heiße Ash.“

Ihr fiel auf, dass der Junge seinen Mund beim Reden nicht bewegte oder gar öffnete.

„Wie kannst du reden? Du benutzt deinen Mund nicht.“

Luana ließ Ash nicht aus den Augen. Dieser bewegte sich nun langsam auf die Tür zu.

„Willst du nicht reinkommen?“, fragte seine Stimme in ihrem Kopf.

„Und wie?“ Luana legte eine Hand auf die Klinke. „Die Tür ist abgesperrt.“

„Nein“, sagte Ash. „Sie ist offen.“

Irritiert drückte Luana die Klinke. Lautlos schwang die Tür auf.

„Siehst du.“

Ash sah das Mädchen herausfordernd an.

„Wie hast du das gemacht? Das Schloss war magisch gesichert!?!“

Ash zuckte die Achseln.

„Ich brauche keine Magie um Türen zu öffnen.“

Luana setzte sich etwas ängstlich auf die Pritsche.

„Warum bist du nicht weggelaufen?“

Sie sah den Jungen an. Das rote Haar fiel ihm ins Gesicht, lange, dunkle Wimpern umrahmten seine wachen, vor Neugier leuchtenden Augen.

„Ich will meine Schuld begleichen.“

Seine Stimme in ihrem Kopf klang ernst und traurig zugleich. Luana erhob sich. Als sie vor ihm stand, bemerkte sie erst wie groß er war. Ash überragte sie um einen halben Kopf.

„Wieso tust du das nicht? Der Direktor war doch schon bei dir. Sag ihm einfach, dass du dein Vorhaben bereust.“

„Das geht nicht“, sagte er. „Ich kann …“

Er stockte.

„Was kannst du, Ash?“

Luana legte eine Hand auf seinen Arm. Ash drehte sich fast im selben Moment weg.

„Ich kann nicht sprechen. Ich bin stumm.“

„Aber du sprichst doch gerade mit mir“, sagte Luana irritiert. „Wie geht das, wenn du stumm bist?“ Der Junge sah sie wieder an.

„Ich kann dir meine Gedanken übermitteln. Das geht allerdings nicht bei jedem, nur bei dir und dem Meister.“

„Der Meister?“

Ash wollte gerade antworten, als eine Gestalt in der Tür auftauchte.

„Wer dein Meister ist würde mich auch interessieren, Ash.“

Es war der Direktor.

Rasch lief Keran durch die Straßen der nördlichen Hauptstadt. Es nervte ihn, dass er hier sein musste. Ash hatte versagt, der Direktor der Gilde war noch am Leben und Keran musste sich nun einen Plan B überlegen. Der junge Mann war wütend. Wegen des Versagens eines dummen, kleinen Jungen musste er nun hier in Eiseskälte rumrennen und sich etwas ausdenken, was ein weiterer Handlanger des Meisters eh nur wieder verpatzen würde.

Mit einer raschen Handbewegung strich Keran sich das schwarze Haar aus der Stirn. Er hasste seine Haare, den Schnee, Ash und die unüberlegten Schnapsideen des Meisters. Obwohl Keran dem Meister eigentlich dankbar sein sollte. Der junge Mann kam aus einer sehr armen Familie. Die Mutter war früh verstorben, Keran und sein Zwillingsbruder waren gerade drei Jahre alt geworden, als sie sich eine Lungenentzündung zuzog. Der Vater, ein einfacher Steinmetz, war grob und streng. Seit dem Tod der Mutter hatte Keran seinen Bruder beschützt. Nicht nur, weil er der Ältere des Zwillingspaares war, sondern auch, weil der Bruder viel zierlicher und sensibler war als Keran.

Als die beiden schließlich sechzehn Jahre alt waren, verließen sie ihre Heimat im Westen und verloren sich irgendwann aus den Augen. Keran hatte es in den Osten verschlagen, dort war er von einem alten Ritter im Kampf ausgebildet worden. Schließlich war er dann beim Meister gelandet. Dieser war so begeistert von den Fähigkeiten des jungen Mannes, dass er ihn gleich als ersten Offizier einstellte. Doch nun war er hier, mit seiner Arbeit als Offizier hatte das jedoch nichts zu tun.

„Verdammter Schnee!“, schimpfte Keran und fegte sich die feine weiße Schicht vom Umhang. Plötzlich musste er an seinen Bruder denken, der, im Gegensatz zu Keran, Schnee immer sehr gern gemocht hatte. Auch fiel dem jungen Mann wieder ein, dass sein Bruder hier in der Stadt wohnte. Ohne weiter nachzudenken lief Keran los. Sein Bruder hatte sich der Medizin gewidmet, Keran verstand bis heute nicht, was sein Bruder an diesem Thema so interessant fand.

Vor der Tür der Praxis blieb Keran stehen. Er hob die Hand und klopfte. Nach einiger Zeit hörte er, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte, dann wurde die Tür geöffnet.

„Ihr wünscht?“

Ein junger Mann stand auf der Schwelle und starrte auf den Besucher hinab.

„Was machst du hier?“

Seine Stimme zitterte.