Lübecker Blut - Christiane Güth - E-Book

Lübecker Blut E-Book

Christiane Güth

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Beschreibung

Gerade mal fünf Minuten ist die junge Kanadierin Jette Eiden in Lübeck, als sie Zeugin eines Verbrechens wird: Eine Buchhändlerin wird im Bahnhof erschossen. Die erste Begegnung mit ihrem deutschen Großvater verläuft deshalb anders als gedacht. Denn Kurt ist Polizist. Ein Haudegen, von dem sogar Schimanski noch etwas lernen könnte. Die neugierige Zeugin und der knorrige Ermittler werden zum Team wider Willen. Sehr zum Missfallen von Kurts jungem Vorgesetzten Goran, der Kurt am liebsten gleich in Rente schicken würde - wäre da nicht Jette ...

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Das Buch

Nach über 30 Jahren bei der Kripo fristet Witwer Kurt Eiden sein Dasein auf dem Abstellgleis. Als überraschend seine Enkelin Jette aus Kanada zu ihm zieht, ist es aus mit dem selbstbestimmten Leben. Nicht nur, weil die beiden sich vorher nie begegnet sind, sondern weil Jette bereits bei ihrer Ankunft Zeugin des Mords an einer Bahnhofsbuchhändlerin wird. Bevor Opa und Enkelin sich kennenlernen, stecken sie in einem Kriminalfall, der weite Kreise zieht. Doch das Ermittlerteam wider Willen weiß sich zu behaupten.

Die Autorin

Christiane Güth, geboren 1967, schreibt neben Kriminal­romanen auch Kinderbücher und ist Dozentin für Kreatives Schreiben. Sie lebt mit ihrer Familie in Gütersloh.

Von Christiane Güth sind in unserem Hause bereits erschienen:

Cheffe versenken Alle Wege führen nach Morden

Christiane Güth

Lübecker Blut

Kriminalroman

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Januar 2015

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelabbildung: H. & D. Zielske / getty images

ISBN 978-3-8437-0977-4

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung

können zivil- oder strafrechtlich

verfolgt werden.

E-Book: LVD GmbH, Berlin

»Der wird doch nicht abdrücken!«

Das war mein letzter Gedanke, bevor ich die Kugel spürte. Ob ich ein Schussgeräusch hörte, weiß ich nicht mehr. Dafür ging alles viel zu schnell. Ein Mann mit einer Sturmhaube über dem Gesicht hatte zur besten Pendlerzeit meine Buchhandlung betreten, innerhalb einer Sekunde eine Waffe aus der Tasche gezogen und sie zielsicher auf mich gerichtet. Ich konnte weder weglaufen noch in Deckung gehen. Das Projektil traf meinen Körper, bevor mein Gehirn Adrenalin ausschüttete. Mir blieb nur dieser kurze Gedankenblitz, der mehr ein Reflex als ein wohlüberlegter Satz war.

Kein Abschied von meiner Familie, von meinen Freunden, von meinem geliebten Lutz, nicht einmal von der netten jungen Kundin, der ich gerade unseren Bestseller »Lübeck für Newcomer« empfohlen hatte. Sie wartete auf ihren Großvater, dem sie zuvor noch nie begegnet war, und hatte mir voller Staunen erzählt, dass es da, wo sie herkam, in Bahnhöfen keine Buchhandlungen gab. Statt sie ausführlich in Sachen Reiseführer zu beraten, fiel ich ihr mit durchschossener Stirn vor die Füße. Dass ausgerechnet sie meinen Mörder jagen und die Frage nach dem »Warum« beantworten sollte, ahnte ich da natürlich noch nicht.

1

»Hast du deine Tabletten wieder nicht genommen?«

Die Frage gab Kurt Eider den Rest.

Nicht, weil er seine Tabletten nicht genommen hatte. Es war allein die Respektlosigkeit seines ehemaligen Mitarbeiters und jetzigen Vorgesetzten Goran Pilz, die Kurt dazu verleitete, seine Kaffeetasse scheinbar versehentlich umzustoßen und ohne Kommentar den Besprechungsraum III des Lübecker Polizeipräsidiums zu verlassen. Wenn die Einbruchserie, die seit sechs Wochen Travemünde erschütterte, die Handschrift eines Altbekannten trug, hatte Goran Pilz gefälligst zuzuhören. Doch anstatt Kurts Hinweise ernst zu nehmen, fixierte er sich auf eine rumänische Diebesbande wie ein Kind auf den Osterhasen. Als Kurt ihm zu verstehen gegeben hatte, ignorant und machtgeil zu sein, war Goran mit seiner Retourkutsche eindeutig zu weit gegangen.

Hätte Kurt dem Drang nachgegeben, die Tabletten-Frage auf seine Art zu beantworten, wäre nicht nur die Tasse zu Bruch gegangen. Gorans Flüche über die heißen dunkelbraunen Flecken auf seiner neuen Cavalli-Jeans hörte Kurt nur noch aus weiter Entfernung.

»Du weißt doch, wie er ist«, unternahm Inge-Britt Sübener einen halbherzigen Beschwichtigungsversuch. Sie war gerade mit einem Stapel Briefe auf dem Flur unterwegs und hatte Kurt vor der Garderobe abgefangen. Natürlich wusste sie, dass sie mit dieser Floskel ihren Kollegen nicht beruhigen konnte. Die kleine Chefsekretärin von Polizeipräsident Junker ertrug es einfach nicht, wenn es Kurt schlechtging. Außerdem konnte sie ihm bei dieser Gelegenheit unverfänglich über die Schulter streichen.

»Das ist mir egal«, antwortete Kurt mit gepresster Stimme. »Ich will seine Visage einfach nicht mehr sehen.«

Kurt Eider schnappte sich seinen abgewetzten, senffarbenen Lederblouson vom Haken und warf Inge-Britt einen genervten Blick zu. Kurze Zeit später lief er quer über den Innenhof zu einer provisorischen Containerburg namens PP4, in der außer der Hausmeisterei, dem Putzmittelarsenal und dem Ruheraum nur ein einziges winziges Büro untergebracht war – seins.

Die Luft staute sich in den Kunststoffquadern, und selbst bei offenem Fenster kam kaum Sauerstoff herein. Immerhin trotzte eine Birke den Widrigkeiten des Bauplatzes. Wie ein schimmelgraues Relikt stand sie zwischen Betonmischern, Rüttlern und einem verbeulten Dixie-Klo, das die Maurer eifrig nutzten.

Goran Pilz konnte ihn mal. Bis vor drei Monaten hätte Kurt ihn für seine Bemerkung abgemahnt. Da war die Welt noch in Ordnung gewesen. Wie schnell das Blatt sich gewendet hatte. Goran war die Karriereleiter hinaufgeklettert, allerdings nicht, wie es sich gehörte, hinter seinem erfahrenen Chef her, sondern an ihm vorbei. Einfach überholt hatte er ihn und von seinem angestammten Platz vertrieben. Wie war es sonst zu erklären, dass ein verdienter Kriminalkommissar sich nach 34 Dienstjahren in einer Behelfsbaracke wiederfand und Akten sortierte?

»Endlich sind wir den alten Muffel los«, hatte Kurt eine junge Kollegin in der Kaffeeküche tratschen hören. Nicht, dass er sie dafür hätte heimlich belauschen müssen. Sie hatte es laut und deutlich gesagt, nachdem sie ihm im Gang begegnet war.

Kurt warf seine Jacke über die Stuhllehne und ging zu einem kleinen Spind. Hastig fingerte er einen kleinen Schlüssel aus der Hosentasche und steckte ihn ins Schloss. Er stieß die verbeulte Metalltür auf und starrte hinein. Sein Vorrat an Krummesser Korn musste dringend aufgefüllt werden. In der Mittagspause würde er zu Fritzes Kiosk rüberfahren. Sein Freund hatte diese Woche die Literflasche im Angebot. Danach würde er Inge-Britt auf einen Kaffee einladen und sie wie jeden Dienstag fragen, ob sie am Abend zur Doppelkopfrunde ihre Sülzeschnitten mitbrachte. Eigentlich war das überflüssig. Auf Inge-Britt war Verlass, noch nie hatte sie ihre leckere Spezialität vergessen. Während er in Gedanken bei Inge-Britt war, die auf seine regelmäßige Frage immer mit dem gleichen, herzlichen kopfschüttelnden Lachen reagierte, hörte Kurt ein leises Pling. Dieses Pling, das jede neu eingegangene E-Mail meldete und bis vor wenigen Wochen seine Arbeitstage in einer Art Dauerschleife berieselt hatte, war mit dem Tag seiner Degradierung schlagartig erloschen. Umso mehr wunderte sich Kurt, als wenige Sekunden später ein zweites Pling folgte. Fluchend ließ er sich auf seinen verschlissenen Bürostuhl fallen, gab das Passwort ein und klickte den Posteingang an. Wahrscheinlich hatte Goran unverzüglich Beschwerde eingereicht oder Inge-Britt eines ihrer eigenwilligen Videos mit singenden Katzenbabys oder stolpernden Pinguinen verschickt. Als ob ihn die je aufgemuntert hätten. Andere Nachrichten trafen kaum noch ein. Als Kurt jedoch einen Blick auf den Absender der zwei neuen Mails warf, quittierte sein kräftiges Polizistenherz für einige Sekunden spontan den Dienst.

Ein großer Schluck aus der Kornflasche half Kurt, seinen Kreislauf zu stabilisieren. Erst jetzt konnte er überlegen, wie lange es her war, dass er an sie gedacht hatte. Dabei meinte er nicht die flüchtigen Gedanken, die er seit 19 Jahren, vier Monaten und acht Tagen jeden Morgen mit einem »Lass es!« von sich schob, sondern eindringliche Fragen – wie sie aussehen mochte, und ob er ihr jemals begegnen würde. Die ersten Jahre waren am schlimmsten gewesen. Für Lotte noch mehr als für ihn. Sie konnte sich nicht damit abfinden und hatte immer wieder Versöhnungsversuche unternommen, die allesamt erfolglos blieben. Nicht einmal ihr Tod hatte etwas verändert. Keine Karte, kein Anruf. Ab diesem Zeitpunkt hatte Kurt aufgehört, sich mit Sentimentalitäten herumzuquälen. Es war, wie es war, und er konnte nichts an der Situation ändern. Das Leben musste weitergehen. Was also dachte sie sich dabei, ihm ohne Vorwarnung gleich zwei Mails hintereinander zu schicken? Und dann auch noch mit dieser dreisten Ankündigung.

Kurt starrte auf den Bildschirm. Die Minuten verflogen. Das Klopfen an seiner Bürotür hörte er nicht. Er bekam auch nicht mit, dass Inge-Britt eintrat, ohne ein Herein abzuwarten.

»Kurti, komm, wir gehen schon mal in die Kantine!«, rief sie. »Goran ist es nicht wert, sich über ihn zu ärgern.«

Nachdem Kurt weiter stumm den Monitor fixierte, wurde sie lauter.

»Dicke Bööhnchen mit Specksauce!«

Keine Regung. Inge-Britt erinnerte die Szene an das Standbild einer gestoppten DVD. Einen Augenblick lang glaubte sie, Kurt säße tot auf seinem Schreibtischstuhl. Herzinfarkt. Und Goran war schuld. Dann sah sie, wie sich sein Brustkorb hob und senkte, und lächelte erleichtert.

»Seit wann schläfst du mit offenen Augen?«, versuchte sie es scherzhaft, doch Kurt rührte sich immer noch nicht.

Irritiert betrachtete sie ihren Kollegen. Dann folgte ihr Blick dem seinen, und sie las die erste E-Mail:

Hi Gramps,

da staunst du, was? Ehrlich gesagt, zittern mir beim Schreiben die Knie, weil ich so lange auf den richtigen Moment gewartet habe. Aber jetzt ist er gekommen, und es gibt kein Zurück mehr. Wenn du das liest, sitze ich bereits im Flieger nach Deutschland. Nach Hamburg, wenn du es genau wissen willst. Ich habe meine E-Mail nämlich so programmiert, dass sie während deiner Arbeitszeit eintrifft. Ich erwarte nicht, dass du mich am Flughafen abholst. Ich werde den Zug nehmen. Ist ja keine Entfernung im Vergleich zu dem, was wir in Kanada haben.  Es reicht völlig aus, dass du mich irgendwo am Lübecker Bahnhof aufgabelst. Hauptsache, wir lernen uns endlich kennen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, von hier wegzukommen. Und noch mehr freue ich mich auf dich!

Ach ja, die Zugankunft ist für 17.43 geplant. Ich glaube, auf Gleis 7, aber ich werde dich schon erkennen. Habe im Internet ein Foto von dir gefunden. Wie ich aussehe, verrate ich dir nicht. Lass dich überraschen.

Deine Jette.

PS: Wie soll ich dich eigentlich nennen? Opi, Grandfather? Oder einfach Kurt? Erinnert mich aber an Kurt Cobain, und der liegt ja schon ein Weilchen unter der Erde. Gramps find ich schön.

»Ist die E-Mail ein Witz?«, fragte Inge-Britt.

»Sieht es so aus?«, gab Kurt zurück.

Inge-Britt kannte Kurt seit mehr als 30 Jahren und hatte immer geglaubt, über die wesentlichen Dinge seines Lebens Bescheid zu wissen. Dass sein Sohn Thorsten vor etlichen Jahren mit seiner spinnerten Freundin nach Kanada ausgewandert und kurz danach auf tragische Weise tödlich verunglückt war, wusste sie. Auch den Tod von Kurts Frau Lotte vor zwölf Jahren hatte sie erlebt. Außerdem kannte sie ihn als leidenschaftlichen Polizisten und Doppelkopfspieler. Sollten die anderen Kurts Temperamentsausbrüche ruhig verurteilen. Inge-Britt ließ sich nicht davon abhalten, ihn für seine Aufrichtigkeit zu bewundern. Ohnehin ließ sie nichts auf ihn kommen. Sie hatte oft darüber nachgedacht, wie sie selbst auf eine entwürdigende Degradierung reagiert hätte. Wahrscheinlich hätte sie Goran mehr als einmal die Luft aus den Reifen seines Sportwagens gelassen oder ihm einen Virus auf den Rechner gespielt.

»Jette ist Thorstens Tochter«, murmelte Kurt.

»Davon wusste ich nichts«, flüsterte Inge-Britt. Ihr Blick wanderte vom Bildschirm zu Kurt.

Der saß noch immer wie erstarrt auf seinem Stuhl.

»Warum hast du mir nie von ihr erzählt?«, fragte Inge-Britt.

Kurt zuckte mit den Schultern, und Inge-Britt ahnte, dass diese E-Mail den alten Revierhaudegen stärker aus der Bahn geworfen hatte, als Gorans Beleidigungen es je schaffen würden.

Ohne eine weitere Rückfrage abzuwarten, zeigte Kurt Inge-Britt auch die zweite, deutlich knappere Mail:

Oh my god, das hätte ich vor Aufregung fast vergessen. Ich freu mich drauf, bei dir zu wohnen. Dann holen wir beiden alles nach, was wir in den letzten Jahren verpasst haben.

2

Alles war winzig. Das Land, die McDonald’s-Portionen, sogar die Autos. Auf ihrer Bahnfahrt kam Jette Eider nicht aus dem Staunen heraus. Ihre Mutter hatte ihr viel erzählt über Deutschland, dass aber alles so übersichtlich und eng war, überstieg ihre Vorstellungskraft, und sie wusste nicht, ob sie es mögen oder sich darüber amüsieren sollte. Worüber sie sich gar nicht amüsierte, das waren die Preise. Eine einfache Fahrt für den Katzensprung von Hamburg nach Lübeck kostete mehr als 20 Canadian Dollar. Wucher!!! Ein Greyhound-Ticket für den Bus von Saskatoon nach North Battleford kostete deutlich weniger. Außerdem war der Zug rappelvoll, so dass Jette und viele andere Passagiere stehen mussten. Sie beschloss, sich damit abzufinden und sich innerlich auf die erste Begegnung mit ­ihrem Großvater vorzubereiten. Über den hatte ihre Mutter ihr nämlich herzlich wenig erzählt. Sobald die Sprache auf Kurt kam, verhärteten sich ihre Gesichtszüge, und das Gespräch war beendet. Als kleines Mädchen hatte Jette noch beharrlich gefordert, ihre Großeltern zu besuchen. Auf ihre löchernden Fragen folgte jedoch stets die gleiche Antwort: Solange Kurt lebt, fährst du nicht nach Deutschland. In den letzten Jahren hatte Jette ihren immer stärker werdenden Wunsch für sich behalten. Bis sie Ilona vor zwei Tagen ihr One-Way-Ticket vor die Nase gehalten hatte.

Jette war volljährig, und es wurde Zeit, sich ein eigenes Urteil über ihren Opa zu bilden. Außerdem war das Haus ihres Großvaters der einzige sichere Ort, der ihr eingefallen war, um Kanada, Jean-Luc und den Folgen ihres dummen Fehlers zu entkommen. Den Stress, den Ilona ihr gemacht hätte, wollte sie sich gar nicht erst vorstellen. Ihre Bevormundung hatte Jette lange genug ertragen.

Während der ICE elegant bis zum Haltepunkt glitt, hielt Jette durch die Glasscheibe in der Waggontür Ausschau nach einem älteren Herrn in schmucker Uniform, der mit einem selbstgemalten Welcome-Schild und einem großen Strauß frischer Sonnenblumen seine Enkelin erwartete. Drei schrille Pieptöne rissen Jette aus ihren Gedanken. Die Tür öffnete sich, und Jette betrat mit geschultertem Rucksack den Bahnsteig. Bis auf einen Obdachlosen, der pöbelnd gegen einen rostigen Getränkeautomaten hämmerte, begrüßte niemand die Neuankömmlinge.

Ihr Herz klopfte vor lauter Aufregung, als Jette sich vom Pulk der Pendler Richtung Hauptausgang ziehen ließ. Während sie den hellen Glaskuppelbau mit den geschwungenen Metallträgern bestaunte, sah sie sich immer wieder um. Ihre Kehle war trocken, und sie verspürte ein leichtes Brennen im Hals. Sie hielt sich die Hand vor den Mund und hauchte hinein. Kein Wunder, dass ihr Atem säuerlich roch. In den letzten 20 Stunden hatte sie kaum etwas gegessen, und die Zähne hatte sie sich zum letzten Mal vor dem Abflug geputzt. Obwohl sie diesen Augenblick so lange herbeigesehnt hatte, war es ihr schwergefallen, sich die allererste Begegnung mit ihrem Opa vorzustellen.

Die Großeltern ihrer Freunde waren ausnahmslos nette und liebenswerte alte Leute, die ihre Enkelkinder vergötterten und immer zu ihnen hielten. Sie überschütteten sie mit Weihnachtsgeschenken, bezahlten Führerscheine und saßen bei Schulaufführungen in der ersten Reihe. Sie hatte sich immer zusammengerissen und geschwiegen, wenn Ilona von Kurt als dem größten »asshole worldwide« sprach. Vor ihren kindlichen Augen tauchte dann ein lächelnder, grauhaariger Kurt auf, der Jette einen riesengroßen Teddy in den Arm drückte.

Wie sah der Mann aus, der vor ihren erwachsenen Augen auftauchte? Wie würde er riechen und sich anfühlen? Wie klang seine Stimme? War er groß? Dick? Viel älter und faltiger als auf dem Foto, das sie im Internet gefunden hatte? Rauchte er?

Konzentriert suchten ihre Augen den Bahnsteig ab. Eine Horde grölender Jugendlicher rempelte sich durch die Menge. Dabei rammte einer von ihnen Jettes Schulter, so dass die Wasserflasche, die sie in der Hand hielt, auf den Boden fiel. Blitzschnell drehte Jette sich um und packte den Schlaks am Arm.

»Aufheben und entschuldigen – oder willst du ’ne Anzeige?«, brüllte sie den Burschen an, während sie ihn unsanft ausbremste. Nicht nur dem Jungen blieb der Mund offen stehen. Einige Passanten drosselten das Tempo und warfen den beiden neugierige Blicke zu. Als der blonde Rowdy merkte, dass seine Freunde den kleinen Zwischenfall nicht bemerkt hatten und johlend weiterrannten, bückte er sich hektisch und hob die Flasche auf.

»Ja, sorry. War keine Absicht«, stammelte er rechtfertigend.

»Get off!«, presste Jette hervor, schnappte sich die Flasche und schubste ihn zurück in die Menge.

Von irgendwoher glaubte sie ein leises »Respekt« zu hören. Sie schaute sich wieder um und sah noch immer niemanden, der dem Mann auf ihrem Foto ähnelte.

Ungeduldig machte sie sich auf den Weg in die Vorhalle. Über die steilen Treppen von Gleis 7 erreichte sie den historischen Hallenbau und stellte fest, dass auch die Lübecker Bahnhofs-Shopping-Mall deutlich kleiner ausfiel als ihre kanadischen Pendants. Jette musterte die Ladenparzellen. In dem schmalen hellen Gang zwischen den beiden Ausgängen reihten sich Coffee-Shop, Imbissbude und Souvenirgeschäft aneinander. Pendler hasteten vorbei und beachteten Jette nicht. Sie war fasziniert von dem Gedanken, dass niemand ahnte, was für eine weite Reise hinter ihr lag. Vor einem Blumenladen blieb sie stehen. Sollte sie Gramps zur Begrüßung eine Rose in die Hand drücken? Sie betrachtete die Gestecke in den Auslagen und erschrak.

Selbst wenn sie die nächsten Monate mietfrei bei Kurt wohnte – ohne einen Job und bei den Preisen würde sich ihr kleines finanzielles Polster bald auflösen. Die letzten eBay-Verkäufe in Kanada hatten ihr gerade mal 934 Dollar eingebracht. Das meiste davon war für den Flug draufgegangen. Und überhaupt: Wenn jemand eine Rose überreichen sollte, dann wohl Kurt.

Zehn Minuten stand Jette nervös mit den Füßen wippend unter der großen Uhr und schaute auf die Anzeige. Zum ersten Mal fragte sie sich, ob die E-Mails ihren Großvater überhaupt erreicht hatten. Dass er krank oder verreist sein könnte, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen. Auch nicht, dass er sie womöglich überhaupt nicht sehen wollte.

Freundliche Aushilfe auf Stundenbasis gesucht. Erfahrung in Beratung und Verkauf sowie höfliches Auftreten sind Voraussetzung.

Auskunft erteilt Frau Grabzow.

Dreimal las sie den Aushang neben der Eingangstür zur Bahnhofsbuchhandlung. Die Stellenanzeige klang nicht übel. Vielleicht sollte sie sich mal erkundigen. Wenn Kurt auftauchte, würde sie es schon mitbekommen. Außerdem glaubte Jette nicht, dass er wieder ging, ohne seine Enkelin gefunden zu haben.

Sie beschloss, sich das kleine Geschäft genauer anzusehen. Drinnen schlenderten ein paar Kunden mit suchendem Blick an den Magazin- und Buchregalen entlang. Ein Business-Mann blätterte interessiert in den Wirtschaftszeitungen, und eine ältere Dame wartete an der Kasse. Es roch nach Druckerschwärze und Papier. Ein Duft, den Jette schon immer gemocht hatte. Ihr gefiel auch, dass der Laden so übersichtlich war. McNally Robinson in Saskatoon war dagegen der reinste Rummelplatz. Dass der Mega Bookstore in ihrer Heimat deutlich »bigger« war als die komplette Lübecker Bahnhofshalle, wunderte sie nicht. Hier gab es weder ein integriertes Schnellrestaurant noch einen Spielbereich für Kinder. Der kleine, übersichtliche Laden war ganz nach Jettes Geschmack. Während sie immer wieder nach Kurt Ausschau hielt, spazierte sie zwischen den Bücher­tischen hindurch.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine helle Stimme. Sie gehörte einer etwa vierzigjährigen dunkelbraun gelockten Frau, die Jette freundlich anlächelte. Es war kein so ein antrainiertes, künstliches Lachen, wie es viele Servicekräfte in Kanada auflegten.

»Ich bin zum ersten Mal in Lübeck«, antwortete Jette und strahlte zurück.

»Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf?«

»Saskatoon.«

Die Brünette beugte sich lachend vor. »Und das ist genau – wo?«

»Kanada, Provinz Saskatchewan«, erklärte Jette grinsend. Dass die Frau ihre Heimat nicht kannte, störte sie nicht. In Kanada kannte auch kaum jemand Lübeck. Aufgeregt ­erzählte sie von der bevorstehenden Begegnung mit ihrem Opa.

»Ihr Großvater wird Ihnen sicherlich vieles zeigen, aber falls Sie die Stadt auf eigene Faust erkunden möchten, empfehle ich Ihnen das hier.«

Die Buchhändlerin schritt zielstrebig auf einen Tisch voller Bücher zu und griff zu einem bunten Exemplar.

»Lübeck für Newcomer«, sagte sie. »Amüsant und kurzweilig geschrieben, dazu informativ, vor allem für aufgeschlossene und nette junge Leute wie Sie.«

Jette freute sich und nahm das Buch in die Hand.

»Cool, danke.«

»Falls Sie noch mehr Titel sehen möchten, sagen Sie mir Bescheid. Ich muss nur schnell abrechnen.«

Während die Frau zur Kasse ging, schlug Jette den Reiseführer auf.

Sie überflog die Seiten und bestaunte die Fotos vom alten Rathaus, von den verschachtelten Lübecker Gassen und vom Skandinavien-Kai im Travemünder Hafen. In der Altstadt reihten sich bunte, schmale Häuser aneinander. Ob Kurt auch in so einem wohnte? Für Jette stand fest, Lübeck war die hübscheste Stadt, die sie je gesehen hatte. Außerdem schien auf allen Fotos die Sonne. Zum ersten Mal seit ihrer Landung hatte sie das Gefühl, angekommen zu sein. Endlich war sie im Land ihrer Vorfahren, und ihr Traum vom Leben am Wasser wurde wahr. Sie hatte zwar Kurts Adresse nicht herausgefunden, aber egal, wo er in Lübeck wohnte, das Meer war nah und Kanadas düstere Wälder und trostlose Steppen unendlich weit weg. Dass Jean-Luc und seine Leute sie an diesem Ort aufspürten, war mehr als unwahrscheinlich.

»Ich hätte da noch etwas für Sie«, wurde Jette aus ihren Gedanken gerissen.

Sie blickte auf und sah die Verkäuferin wieder auf sich zukommen. Kurz bevor sie Jette erreichte, verlangsamte sie ihre Schritte, um – in perfekter Buchhändlermanier und quasi im Vorbeigehen – einen verrutschten Bücherstapel geradezurücken. Als die gelbblauen Wälzer in Reih und Glied lagen, nickte die Frau zufrieden, schaute vorsorglich Richtung Kasse und erstarrte. Eine Sekunde später lag sie mit durchschossener Stirn auf dem kalten Boden. Von den gelbblauen Wälzern tropfte es rot, und Jette hatte ein Knalltrauma.

3

»Fuck! Sie dürfen mich nicht von hier wegbringen!«, schrie Jette den jungen Sanitäter an.

»Hören Sie…«

»Nein, ich höre nicht. Meine Ohren fühlen sich an, als wären sie verstopft.«

»Genau deshalb sollten Sie…«

Das Chaos um sie herum wuchs. Jette lag auf einer Trage und strampelte. Neben ihr wurde ein weiterer Kunde behandelt, der zitternd unter einer Decke lag.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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