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Ludmilla wächst in Lichtingen auf. Eine Kleinstadt, umringt von einem riesigen Wald, der mit einem Zaun von den Bürgern ferngehalten wird. Seit sie denken kann, ist Ludmilla fasziniert von ihm, doch damit stößt sie bei ihren Mitmenschen auf Unverständnis. Als ihr bester Freund eines Nachts spurlos verschwindet, begibt sich Ludmilla auf die Suche nach ihm. Es wird eine Suche, bei der sie nicht nur den Geheimnissen des Waldes auf die Spur kommt, sondern auch denen ihrer eigenen Vergangenheit.
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Seitenzahl: 347
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Hörst du das Flüstern des Waldes?
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Die Luft roch nach Gewitter, Regen und nassen Straßen. In der kleinen Stadt Lichtingen, die im Umkreis von 100km von nichts anderem als Acker, einer Seenlandschaft und einem riesigen Wald umgeben war, hingen in der letzten Woche vor diesem Ereignis dicke Regenwolken am Himmel. Lange hatte es in der Umgebung keine so hohe Niederschlagsrate wie in dieser Woche gegeben, doch statt Maßnahmen zu ergreifen, waren die Lichtinger einfach nur überfordert mit der Situation gewesen. Die Gullys liefen über, wodurch das Wasser ungebremst steigen und über die Straßen rinnen konnte. Die Bürger verschanzten sich in ihren Häusern, drehten die Heizung auf die höchste Stufe und schüttelten ihren Kopf mit den Worten: „Der Sommer ist vorbei“, während sie mit leeren Augen hinaus in den grauen Himmel blickten. Doch es gab eine Person, die sich hinaus begab in die kalte, windige Nacht. Und diese Person hatte keinen Mut im Herzen, sondern nur einen Zettel in der Jackentasche und die zitternde Angst in der Brust, die sich wie der kalte Wind immer wieder aufbäumte.
Es begab sich also an diesem Abend im Spätsommer in der kleinen Stadt Lichtingen, dass die roten Lackschuhe von Palle im Schlamm versanken und er schluchzte. Hätte er doch die hohen Gummistiefel angezogen, dann wäre wenigstens eine Sache an diesem Tag nicht schiefgelaufen. Doch nun waren sie schon bedeckt mit Schmutz und verloren ihren Glanz, so wie sein Herz, das in seiner Brust hämmerte. Jetzt gab es kein Zurück mehr aus dieser Situation, in die er sich nie hatte begeben wollen. Er blickte hinauf zu der Straßenlaterne, die ihn beleuchtete und beobachtete für eine kurze Zeit die kleinen Motten. Plötzlich fühlte er sich wie eine von ihnen, wie er in das Licht blickte, welches ihn fast die Dunkelheit um ihm herum vergessen ließ. Wirr und hektisch flatterten die mysteriösen Gestalten um das Licht herum, wie hypnotisiert stießen sie immer wieder gegen die warme Glühbirne. Versunken starrte er hinauf, er musste sich fast losreißen von dem Anblick der hellen Kugel. Sein Blick wanderte nach unten und er kniff die Augen zu, um überhaupt etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Einen Atemzug später trat er hinaus aus dem Licht und hüllte seinen Körper in Dunkelheit. Er versuchte nicht mehr an seine Schuhe zu denken, während er einen Schritt nach dem anderen tat. Es schien niemand in seiner Nähe zu sein, denn er hörte nur den Wind, der seine Runden über die Felder zog, durch die Bäume rauschte und die Blätter zum Zittern brachte. Eine kleine Gestalt rannte an Palles Füßen vorbei und piepte laut. Es klang fast empört, als würde es sagen: Was machst du hier? Die Nacht gehört uns. Doch schon huschte die Maus weiter und verschwand in einem Brombeerbusch. Ein paar Krähen krächzten in der Dunkelheit, angeregt von dem kalten Wind, der ihnen in den Federn kitzelte. Doch die nächtlichen Gestalten gaben Palle nicht das Gefühl, weniger allein zu sein.
Er musste an der Hecke entlang schleichen, denn dahinter erstreckte sich ein hoher stählerner Zaun mit goldenen Spitzen, die in den dunklen Himmel zeigten. Nach ein paar Metern gelangte er an ein Tor, das durch das Mondlicht beleuchtet viel bedrohlicher wirkte als am Tag. Das prächtige Aussehen des mit goldenen Applikationen versehenen Tores ließ seinen Atem stockten. Zögernd streckte er seine zitternde Hand aus und zuckte zusammen, als er die kalte Klinke berührte. Er schaute sich noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass ihn niemand verfolgt hatte. Als er feststellte, dass sich keine Menschenseele in seiner Nähe befand, drückte er die Klinke mit einem tiefen Atemzug hinunter. Palle betete gleichzeitig, dass sie sich nicht öffnen ließe und er einfach nach Hause gehen könnte, doch sie schwang mit einem Quietschen auf und gewährte ihm den Eintritt in pure Dunkelheit. Kurz vergaß er den Grund für seine Anwesenheit an diesem Ort und die Mission, die auf einem kleinen Zettel geschrieben stand und geknüllt in seiner Jackentasche versteckt lag. Doch als er sich an die Tasche fasste und das knisternde Papier spürte, erinnerte er sich, was darauf geschrieben stand.
Palle blickte sich noch einmal um und erkannte in naher Ferne das Licht der Straßenlaterne, welches immer kleiner wurde und er wanderte in die Dunkelheit, die ihn langsam verschluckte. Als er in ein paar Meter Entfernung die Grabsteine entdeckte, die aufgereiht nebeneinander in der nassen Erde steckten, bildete sich auf jeder Stelle seines Körpers eine Gänsehaut.
Er versuchte nicht darüber nachzudenken, wo er war. Dieser Ort schnürte ihm schon die Kehle zu, wenn er an einem fröhlichen Freitagnachmittag mit seinem klapprigen Fahrrad daran vorbeifuhr und er nur Gutes im Sinn hatte. Sobald er dann aber den Blick auf den Friedhof fallen ließ, traten seine Füße doppelt so schnell in die Pedale. Normalerweise vermied er es nämlich nach der Dämmerung draußen unterwegs zu sein, denn er hatte Angst im Dunkeln.
Die beste Zeit des Tages war für ihn der Nachmittag, denn dann war die Schule überstanden und in den Sommermonaten stand die Sonne noch hoch am Himmel. Das war die Zeit, in der er sich frei fühlte. Die Zeit, die ihm den Lebensmut zurückbrachte, nachdem er ihn durch die harten Worte von Miles verloren hatte. Miles ging in dieselbe achte Klasse wie er und war dafür bekannt, dass er viele seiner Gemeinheiten an Palle auslebte. Übelnehmen konnte er ihm das jedoch kaum. Miles war zwar stark, doch er wirkte auf Palle so, als hätte er wenig schöne Gedanken in seinem Kopf und ebenso wenig Gefühle in seiner von Narben übersäten Brust. Diese Narben entstanden nicht von den vielen Faustkämpfen, in die Miles sich täglich verstrickte und meistens gewann, weil seine Gegner immer mindestens einen Kopf kleiner waren als er. Palle wusste, dass diese Narben Erinnerungen von seinem Vater waren, die er nie wieder vergessen würde.
Palle war seit einiger Zeit immer wieder von Miles auf dem Schulhof aufgesucht worden, denn durch seine unangepasste Art und seine kleine und schwache Statur war er das perfekte Opfer für ihn. Palle zog sich gerne bunt an, und das war etwas, das Miles zu stören schien. Doch Palle ließ sich nicht entmutigen, denn seine Klamotten gaben ihm ein selbstsicheres und mutiges Gefühl, das er nicht wegen Miles aufgeben wollte. Als dieser merkte, wie wenig Palle sich von ihm beeindrucken ließ, wurden aus den Drohungen Taten. Einmal hatte er sein hasserfülltes Gesicht so nah wie möglich an Palles gedrückt und ihm die Worte: „Genieß dein Pausenbrot. Es wird das letzte vor deiner Beerdigung sein“, entgegen gespuckt und ihm gleichzeitig mit der Faust in den Magen geschlagen. Palle war danach wortlos und mit Bauchschmerzen in den Unterricht gegangen, ohne seiner Klassenlehrerin von den Vorfällen zu erzählen. Diese schaute nämlich jedes Mal weg, sobald ein Schüler Probleme hatte, die außerhalb der unterrichtsrelevanten Lerninhalte lagen.
Glücklicherweise hatte Palle eine Person in seinem kleinen Leben, der er alles erzählen konnte. Seine beste Freundin Ludmilla, die von dem Vorfall in der nächsten Schulstunde erfahren hatte, hatte daraufhin ihren Schokopudding in Miles offene Schultasche gekippt. Meistens verbrachte Palle seine Nachmittage mit Ludmilla. Das lag nicht nur daran, dass sie ihn immer verteidigte, sondern viel mehr daran, dass sie so furchtlos war, so anders als er selbst. Durch ihre Furchtlosigkeit geschahen Dinge, die er allein niemals erleben würde.
Es waren meistens großartige Dinge.
Ludmilla setzte sich nach der letzten Stunde oft auf seinen Schreibtisch, klappte seine Bücher zu und schaute ihn grinsend an. „Na, was machen wir heute, Palle? Bist du bereit für den besten Tag deines Lebens?“ Palle warf dann seine Bücher achtlos in den Ranzen, stand so schnell auf, dass der Stuhl fast nach hinten fiel und sagte: „Na Logo.“
Mit Ludmilla fühlte er sich leicht und mutig, wie er sich sonst nie fühlte. In den Sommermonaten fuhren sie immer mit ihren Rädern durch die Straßen von Lichtingen und weiter den Hügel hinauf. Meistens landeten sie an ihrem Lieblingsplatz, dem blaugrünen Baggersee, der in der Nähe des großen Waldes lag und im Sonnenlicht verführerisch glitzerte. Dort waren sie bisher oft ungestört gewesen, denn die wenigsten Lichtinger wollten an ihrem freien Nachmittag an dem großen Wald vorbeifahren, über den es nur düstere Geschichten zu erzählen gab. Sie kletterten dann auf ein altes Metallgerüst, ließen stundenlang die Beine baumeln, blickten in den hellen Himmel und überlegten sich, wie ihre Leben in 50 Jahren aussehen würden. Wie es wäre, wenn das Leben an ihnen vorbeigerauscht war, wie die Wolken über ihren Köpfen. Ludmilla lachte jedes Mal, wenn sie Palle erzählte, wie fantastisch ihr Leben werden würde, sobald sie 18 Jahre alt sein und der Kleinstadt für immer den Rücken zukehren würde. Sie redete gerne von fremden Orten und fremden Menschen, bei denen sie leben würde und die genauso wären wie sie. Palle dachte immer, während er ihren Geschichten zuhörte, dass sie sich nicht besonders wohl in Lichtingen fühlte. Oft nannte sie die Stadt nicht bei ihrem richtigen Namen, sondern sagte stattdessen Zwielichtigen, was bei Palle jedes Mal ein Grinsen auslöste. Und sie sagte immer wieder, dass es kein Ort zum Bleiben wäre. Für gewöhnlich redeten sie so lange, bis sich die Sonne zu den Baumkronen neigte. Ludmilla stand dann auf und zeigte mit ihren dünnen Fingern auf die andere Seite des Sees. „Schau Palle!“, rief sie ihm dann entgegen. „Die Zeit ist gekommen.“ Palle stöhnte dann meistens gespielt laut und schlug die Hände über den Kopf. „Oh nein. Die Zeit ist da.“
Es war Zeit, Mut zu zeigen. Es war Zeit zu Springen. Ludmilla zögerte nie, wenn sie mit den Zehen über das Gitter trat und sich mit einem kräftigen Tritt in die Höhe und dann in die Tiefe stürzte. Palle hatte sich daran gewöhnt zu warten, bis Ludmilla von unten rief, dass er gefälligst sofort seinen Hintern nach unten befördern sollte. Dann sprang er auch und der Moment, an dem er sich überwand, den Boden zu verlassen und durch die Luft zu fallen, war das beste Gefühl, das er kannte. Sie waren Zuhause, bevor die Sonne ganz hinter den Bäumen verschwinden konnte.
Nun stand er allein im Dunkeln, die Sonne hatte sich schon vor Stunden verabschiedet und ihren Platz der anderen großen geheimnisvollen Kugel überlassen, die in Büchern oft von bösartigen Kreaturen angeheult wird. Es schien ihm, als zeigte die Welt in der Nacht ihr wahres Gesicht, als wäre die sie eine Parallelwelt, in der sich alle guten Dinge, sobald sie vom Schleier der Nacht eingehüllt wurden, auf die dunkle Seite begaben. Doch Palle lief weiter in die Dunkelheit, in der Hoffnung seiner Angst zu entkommen, solange er nur schnell genug lief. Die Gedanken an Ludmilla und die Tage, an denen er am glücklichsten war, wärmten sein Herz ein wenig und halfen ihm weiterzulaufen. Knochige Äste streckten sich ihm entgegen wie Arme, die ihn fangen wollten. Seine Schritte wurden schneller, doch die dünnen Äste rächten sich, in dem sie ihm in die feinen Gesichtszüge peitschten und rote Striemen hinterließen. Einen kurzen Moment blieb Palle stehen, rieb sich die wunden Stellen und versuchte sich zu orientieren. Vor ihm erstreckte sich die Wiese, auf denen einige Grabsteine aufgereiht waren. Sie standen schief im Boden, als würden sie einsinken. Langsam ging er an ihnen vorbei, versuchte jeden Namen zu entziffern und auszurechnen, wie alt die Person geworden war, die unter ihm lag und sich mit der Erde vereinigt hatte. Andächtig las er, was auf ihnen geschrieben stand, doch viele Steine waren schon sehr alt und von Moos überwachsen, sodass er nur Bruchstücke lesen konnte. Vom Mondschein erleuchtet wirkten sie weniger furchteinflößend, als er vorher gedacht hatte. Es war so still, wie er es selten erlebt hatte. Das einzige Geräusch, das er wahrnahm, war das Wehen der kahlen Äste im Wind und sein eigenes Blut, dass ihm in den Ohren rauschte.
Palles großen Augen hatten sich allmählich an die Dunkelheit gewöhnt. Der Mondschein warf sein Licht auf ein Backsteingebäude, das auf einem kleinen Hügel stand, ungefähr hundert Meter von ihm entfernt. Am Tag konnte er die Kapelle sehen, wenn er mit dem Fahrrad daran vorbeifuhr. Er nahm dann immer, nach seinem vorherigen Sprint, die Füße von den Pedalen, ließ sich rollen und schaute nach links, um das Licht zu sehen, das sich in den bunten Fenstern brach. Doch im Schleier der Nacht wirkte die Kapelle ebenso bedrohlich wie die knochigen Arme der Bäume, die er jetzt hinter sich ließ. Die Wiese, auf der er sich nun befand, war nass und er musste in Schlangenlinien um die Pfützen laufen. Palle schaute in das stille Universum, das in seiner riesigen Mächtigkeit über ihm schwebte. In dieser Nacht, als er allein auf der Wiese stand und in den Himmel blickte, konnte er keine einzige Wolke ausmachen. Die Sterne blinzelten ihn an und der Mond prahlte mit seiner ganzen Kraft.
Er leuchtet heute besonders stark, dachte Palle überwältigt. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er normalerweise um diese Uhrzeit nicht mehr draußen herumwanderte, denn meistens war er dann mit Ludmilla bei ihrem Zuhause. Wie sehr wünschte er sich in diesem Moment in ihrem Zimmer zu sein. Er würde auf dem gelben Sofa liegen, welches so alt und durchgelegen war, dass man ganz deutlich die harten Sprungfedern spürte, wenn man darauf lag. Meistens deckte er sich mit einer warmen Daunendecke zu, zog sie bis zur Nase und horchte dem Klang von Ludmillas Stimme. Sie las ihm gerne aus ihren Lieblingsbüchern vor, verstellte ihre Stimme und versuchte dadurch eine gruselige Atmosphäre zu schaffen. Es war nicht die Art von Buch, die er ausgesucht hätte, jedoch hatte er sich in all den Jahren ihrer Freundschaft daran gewöhnt, dass sie am liebsten Schauergeschichten las. Sie verschlang ein Buch nach dem anderen und wollte ihm nicht das Vergnügen vorenthalten, was die Zeilen in ihr auslösten. Das Vergnügen seinerseits war zwar vorhanden, doch lag es weniger an der Geschichte selbst, sondern darin, ihrer erstaunlich guten Lesestimme zu lauschen.
Der kalte Wind, der unter sein paillettenbesticktes Oberteil rauschte und sich an seinem nackten Oberkörper entlangschlängelte, erinnerte ihn daran, dass er allein an diesem kalten Ort war. Zitternd steckte er seinen dunkelblauen Pullover in den Hosenbund. Über dem samtig glitzernden Pullover hatte er zwar eine Jacke angezogen, er konnte sie jedoch nur offen tragen, da sie ihm zu klein war. Er hatte sie für diesen Anlass von Ludmilla ausgeliehen, da ihr Lila farblich perfekt zu dem Dunkelblau und seinen roten Lackschuhen passte. Er dachte, es würde helfen, wenn die Pailletten an seinem farblich abgestimmten Körper mit den Sternen um die Wette glitzerten. Doch in dieser Nacht blies der kalte Wind unter sein Oberteil, gab ihm eine Gänsehaut und nahm ihm die letzten motivierenden Gedanken, die noch in seinem Kopf schwirrten. Er atmete tief ein und während er ausatmete, machte er einen großen Schritt Richtung Kapelle.
Die Stimmung, die in der Luft lag, änderte sich. Palle hatte plötzlich das Gefühl, als würde er von etwas angetrieben werden, das ihn nach vorne schob. Und das brachte ihn dazu weiterzumachen, seine Mission zu erfüllen, damit er bald wieder zu Hause sein konnte.
Der Wind ließ langsam nach. Trotzdem verschränkte Palle die Arme schützend vor seinen Körper, als er sich der Kapelle näherte. Du musst nur hinein und die Kerze holen, dachte er. Es ist nicht so schlimm. Nach ein paar Minuten erreichte er keuchend die Kapelle und schaute staunend an ihr hinauf. Er hatte sie noch nie von so nah gesehen. Überhaupt war er noch nie auf diesem Friedhof gewesen, obwohl es der einzige war, den es in Lichtingen gab. In seiner Familie war zum Glück noch niemand gestorben, den er näher kannte, und wenn ein Bekannter aus der Stadt starb, waren meistens nur die engsten Angehörigen auf der Trauerfeier. Nie hatte er sich tiefer mit dem Thema Tod auseinandergesetzt, denn allein die Gedanken daran verursachten bei ihm unbehagliche Bauchschmerzen. Er vermied lieber alles, was bei ihm ein ungutes Gefühl auslöste und der Tod gehörte definitiv dazu. Deshalb hätte er nie gedacht, dass die Kapelle etwas Friedliches in ihm auslöste. Die alten Backsteine, die sich vor ihm auftürmten, strahlten eine tiefe Sicherheit aus und Palle bekam das Bedürfnis sie zu berühren. Die kalte Oberfläche fühlte sich fast weich an, als er mit seinen Fingern langsam darüberstrich. Dann nahm er seinen ganzen Mut zusammen, von dem er zugegebenermaßen nicht viel hatte, streckte den Arm aus, um die Tür aufzudrücken. Die massive Holztür war schwer und Palle musste sich mit seinem Körper dagegen lehnen, um sie komplett zu öffnen. Ein drückend süßer Duft drang ihm aus dem Inneren entgegen und er musste würgen. Der Kontrast des dunklen, feuchten Raumes und der duftenden Blüten der Trauerkränze war so stark, dass ihm übel wurde. Palle schüttelte sich, nachdem er die Tür hinter sich schloss und die kalte Luft von draußen aussperrte. Zum Glück war das Mondlicht, das durch die Fenster schien, hell genug, um die kleine Kapelle ein wenig zu erleuchten. Der Raum hatte Meter hohe Decken, an denen alte Gemälde von biblischen Begebenheiten hingen, die von hölzernen Rahmen eingefasst waren. Alles war sehr schlicht gehalten, denn nur wenige Möbel standen vor den kalten Gemäuern. Das einzige pompöse an diesem Ort war das riesige Kreuz, das vorne am Altar hing. Palle schaute sich ängstlich um. Ob es mir zum Nachteil wurde, dass ich nicht gläubig bin?, fragte er sich. Schnell verschränkte er seine Finger ineinander und murmelte: „Bitte lieber Gott, ich wollte nicht einbrechen. Ich hole mir nur schnell die Kerze und verschwinde wieder. Danke.“ Er wusste nicht, ob er richtig gebetet hatte, jedoch war er nun ein kleines bisschen erleichtert, als er näher an das Kreuz trat.
Im vorderen Bereich der Kapelle stand ein Sarg. Ein schwarzer Sarg aus Zedernholz, welcher zu Palles Entsetzen offenstand. Er wusste, dass oft Leute, die gestorben waren bis zur Beerdigung aufgebahrt wurden und die Tür der Kapelle für jeden offen stand, der Abschied nehmen wollte. Doch er hatte nicht damit gerechnet, dass es heute so sein würde. Er konnte zunächst nur die Nasenspitze des Toten erkennen, drehte sich dann lieber weg von dem Anblick, der ihm sicher Albträume verschaffen würde. Neben dem Sarg standen viele Kränze, von denen der betörende Geruch kam. Sie waren alle bunt, einige kleiner, manche größer. An allen war ein seidiges Band angebracht, auf denen Sprüche wie: Auf Wiedersehen bei dem Herrn, oder In Liebe und Dankbarkeit in geschwungenen Buchstaben geschrieben standen. Palle verzog seinen Mund und kräuselte die Stirn, als er sie las, doch dann dachte er auf einmal daran, wie es wäre, wenn jemand hier liegen würde, den er liebte und er musste schlucken. Sein Herz schlug schneller, als ihm ein weiterer Gedanke durch den Kopf schoss. Lichtingen war sehr klein und die meisten Einwohner kannten sich untereinander. Es war gut möglich, dass er die Person, die nur einen Meter von ihm entfernt lag, mehr als nur kannte. Er musste nachsehen, wer neben ihm in den weißen Laken lag und darauf wartete, für immer in dunkler Erde vergraben zu werden. Palle hielt die Luft an, als er sich umdrehte und in das Gesicht der Leiche blickte. Die schmalen Gesichtszüge des Toten erinnerten ihn an jemanden. Die blasse Haut, die hart und leblos auf dem Gesicht gespannt war, leuchtete schneeweiß. Palles Herz hämmerte in seiner Brust. Er kannte dieses Gesicht. Er kannte die Wangenknochen, die eingefallen waren, er kannte den Schwung der dunklen Augenbrauen, die sich in der Mitte zusammenzogen. Er kannte sogar die kleine Falte, die sich dadurch zwischen den Augen gebildet hatte. Er kannte dieses Gesicht so gut wie kein anderes auf der Welt und dennoch war ihm die Person mit dem angsterfüllten Gesicht fremd. Aber es gab keinen Zweifel. Es war er selbst. Wie kann das sein? Seine Gedanken kreisten in seinem Kopf. Der Körper, der ihm unverwechselbar glich, trug einen dunkelblauen, mit Pailletten bestickten Pullover, darüber eine lilafarbene Jacke und selbst die roten Lackschuhe glänzten am Fußende. Vor seinen Augen bildeten sich schwarze Punkte, die sich vermehrten, bis er nichts anderes als Dunkelheit sah. Bin ich tot? Nein, er konnte doch seinen Körper spüren, er konnte die Angst spüren, die ihm durch die Venen glitt und sein Herz verpestete, als hätte er eine Flasche Gift getrunken. Er konnte seine Füße spüren, die nach hinten stolperten und gegen die kalte Mauer prallten. Er konnte spüren, wie sein Körper sich bewegte. Hinaus durch die schwere Tür, die er nun mit Leichtigkeit öffnete. Hinaus in die kalte Nacht, die ihn erbarmungslos empfang. Vor seinen Augen war es noch immer völlig schwarz. Er konnte nur den kalten Windhauch spüren, der wie ein Flüstern klang.
Die Sterne funkelten friedlich am Himmel. Der Wind rauschte durch eine dunkle Tanne, auf der ein schwarzer Rabe saß. Er krächzte in die Dunkelheit. Das helle Mondlicht beleuchtete den stillen Friedhof und fiel auf die Grabsteine, die schief im matschigen Boden standen. Verborgen im Schatten eines großen Baumes lag ein kleiner, zerknüllter Zettel. Über ihm baumelte eine lilafarbene Jacke an einem Ast. Der Ärmel war aufgerissen und hatte sich in den Zweigen verfangen. Von einem schmalen blassen Jungen war keine Spur zu sehen.
Eine braune Wühlmaus lief so schnell sie konnte durch das taunasse Gras. Wilde, krautige Pflanzen kamen ihr in die Quere und sie konnte sich nur mit Mühe einen Weg durch das labyrinthartige Unterholz bahnen. Ein dunkler Schatten verfolgte sie. Die Schleiereule schwang ihre Flügel und zückte die scharfen Krallen, bereit, sie erbarmungslos in ihre Beute zu bohren. Doch die kleine Maus war flink. Sie rannte mit pochendem Herzen immer weiter, in der Hoffnung einen Unterschlupf zu finden. Die Eule setzte zur Landung an und hob ihre Krallen. Ein großer, heruntergefallener Ast lag auf der Lichtung, unter dem die Maus schnell verschwand und vor Luft schnappend innehielt. Die Eule stieß einen lauten Ruf aus, als sie ihre Beute aus den Augen verlor. Die kleine Maus blieb noch einige Zeit unbeweglich an ihrer sicheren Stelle sitzen. Am Horizont kam pastellfabenes Licht auf. Ein leichtes Orange war am Himmel erkennbar und mischte sich langsam mit sanftem Rosa und Blau. Die Farben wurden im Minutentakt intensiver. Die Sonnenstrahlen brachen durch die dichten Tannen, fluteten den Wald mit Helligkeit. Die ersten Sonnenstrahlen erinnerten die Eule daran, dass die Nacht vorbei war und sie hob sich wieder hoch in die Luft und glitt geräuschlos in die Ferne. Die Maus krabbelte erleichtert unter dem Ast hervor und hob schnuppernd ihr Näschen in die wärmenden Strahlen. Mit einem Ruck wurde sie in die Höhe gezogen. Sie erblickte nur noch einen schwarzen Schatten und fühlte Kälte und pure Angst, bevor ihr Körper zerrissen wurde. Die Tannen bewegten sich ruhig im Wind, die Tiere krochen aus ihren Löchern und begrüßten den angebrochenen Tag. Das Warnschild, das an dem meterhohen Stacheldrahtzaun befestigt war, reflektierte die Sonne und ließ die Gräser glitzern, auf denen noch der Tau lag.
Ludmilla ließ ihre Zehen wackeln, als sie auf der Bettkante saß und sich bemühte wach zu werden. Sie kniff ihre Augen zusammen und versuchte sich an den Traum zu erinnern, in dem sie noch vor wenigen Minuten gesteckt hatte. Jedes Mal wenn sie aufwachte, musste sie sich erst einmal daran gewöhnen, dass dies ihr richtiges Leben war. Wie gerne wäre sie länger in der Welt geblieben, in der alles möglich war. Warum erinnere ich mich so kurz nach dem Aufwachen nicht mehr richtig daran?, fragte sie sich. Wie dunkle Schleier waren die Erinnerungen in ihrem Kopf, von dem Ort, der ihr eben noch so real vorgekommen war. Sie gähnte und sah sich mit schlaftrunkenen Augen in ihrem Zimmer um. Das Fenster war wie immer offen und ließ kalten Herbstwind in den Raum, der die hellgelben Gardinen zum Tanzen brachte. Sie zitterte. Doch sie genoss die Kälte, die um ihre nackten Beine glitt und mit ihren kleinen Zähnchen an ihrer Haut knabberte. Als ihr wohlig warmes Bett mit seinen langen Fingern nach ihr greifen und sie zurückholen wollte, streifte sie sich schnell die dicken Wollsocken über, die ihre Pflegemutter ihr gestrickt hatte, und trat zum Fenster, um es zu schließen. Der Blick hinaus in den windigen Morgen hatte etwas Beruhigendes. Sie konnte hinaussehen in den großen Garten, der so ungepflegt war, dass es schon wieder romantisch wirkte. Ihr Blick fiel auf die großen Tannen, die von einem klapprigen alten Jägerzaun aus dem Garten ausgeschlossen schienen. Sie sah hinauf zu der Spitze des höchsten Baumes, denn darauf saß ein großes Tier. Schwarze Federn breiteten sich aus, als die Krähe ihre Flügel hob und sich in die Lüfte gleiten ließ. Ludmilla beobachtete sie, als sie nach ein paar hundert Metern auf einer Straßenlaterne landete, die sie durch die großen Pinien hindurch in weiter Ferne sehen konnte. Neben der Laterne lag der Friedhof, auf dem ein kleiner Hügel mit einer Kapelle stand. Sie mochte diesen Ort. Sie sah ihn sich gerne von ihrem Fenster aus an und ging dort sogar manchmal abends spazieren. Normalerweise hielten sich dort nur selten Menschen auf. Der Gärtner, der für Ordnung gesorgt hatte, lag schon lange Zeit selbst dort begraben.
Ludmilla kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn, als sie etwas neben der Laterne erblickte. Es war ein schwarzes Fahrrad, das im Gras lag. Der eine Reifen schien sich zu drehen, denn die sich bewegenden Speichen reflektierten das Sonnenlicht. Es wirkte, als wäre es in Eile an die Laterne gelehnt worden und dann umgefallen. Komisch, dachte Ludmilla. Der Anblick hatte etwas Beunruhigendes, doch sie konnte das Gefühl nicht weiter definieren und drehte sich vom Fenster weg, schlurfte zu ihrer Kommode mit den Klamotten und dachte nicht weiter daran. Sie zog die erste Schublade auf und durchsuchte ihre Sachen, um etwas Passendes für den Tag zu finden. Sie dachte daran, dass sich Palle jeden Tag passend zu seiner Stimmung anzog und dabei oft sehr auffällig und bunt herumlief. Manche Kinder aus der Schule schienen damit nicht zurecht zu kommen und hänselten ihn dafür. Doch Ludmilla glaubte, dass diese Personen damit wahrscheinlich kompensierten, dass sie selbst nicht zufrieden mit sich waren. Für Ludmilla war ihr bester Freund ein gutes Vorbild, denn er machte sich nichts aus den Dingen, die hinter seinem Rücken getuschelt wurden. Sie fand, dass er einer der mutigsten Personen war, die sie kannte. Ludmilla bekam ein Lächeln auf ihr Gesicht, als sie an ihren besten Freund dachte und freute sich auf den Nachmittag, denn sie würden bestimmt etwas unternehmen. Wo war nur ihr lila Pullover?, fragte sie sich. Dann schlug sie sich mit der flachen Hand auf die Stirn. Palle hatte ihn doch gestern ausgeliehen. Er sagte, er bräuchte ihn für einen besonderen Anlass und hatte Ludmilla zugezwinkert. Er wollte nicht damit herausrücken, um was es sich handelte und Ludmilla hatte nicht weiter nachgefragt, da sie wusste, dass er es ihr auf jeden Fall später noch erzählen würde. Sie war schon sehr gespannt darauf zu erfahren, was er gestern Abend getrieben hatte. Er schien gestern ein wenig nervös gewesen zu sein, vielleicht, weil er sich mit jemanden treffen wollte? Ludmilla griff nach einem weiten, schwarzweiß gestreiften Shirt und zog es sich über ihre zotteligen blonden Haare. Dann streifte sie sich eine schwarze Jeans über.
Sie seufzte. Wie sehr sie Palle auch liebte, er wäre nicht der Grund, dass sie in dieser Stadt bleiben würde. Sie setzte sich wieder auf ihr Bett, blickte zur Tür und wünschte sich, dass sie wieder in ihren Traum verschwinden konnte. In die Welten, in der sie so akzeptiert wurde, wie sie war.
Sie schloss ihre Augen für einen kurzen Moment und plötzlich war es, als würde die Tür zu ihrem Traum einen Spaltbreit offenstehen und sie konnte hinein blinzeln. Sie sah einen dunklen Saal, in dem die Flammen von Kerzen flackerten. Und sie erinnerte sich an das Gefühl zurück, welches sie in dem Moment gespürt hatte. Es war ein fremdes Gefühl. Ein Gefühl, dass ihre Kehle zugeschnürt und ihr die Luft genommen hatte. Sie riss ihre Augen wieder auf und keuchte. Das Herz schlug schnell in ihrer Brust. Mit einem Ruck stand sie von ihrem Bett auf, ging zu ihrem Bücherregal, nahm sich ein dickes Buch daraus und setzte sich auf ihr altes gelbes Sofa. Sie blätterte es durch und erinnerte sich an die Geschichte, die darin verborgen lag. Ihre Gedanken wanderten zu dem zeitreisenden Mann, der den Mord an J.F. Kennedy verhindern wollte und sie ließ das Buch von Stephen King in ihren Schoß sinken. Schon war der Traum von der letzten Nacht nur noch ein dunkler Schatten in ihrem Kopf und die Tür war fest verschlossen.
Verwirrt stellte sie das Buch wieder an seinen Platz und war froh, das komische Gefühl los zu sein. Sie sah auf ihre kleine goldene Uhr, die sie jeden Abend aufziehen musste, damit sie funktionierte, und seufzte. Sie müsste sich jetzt eigentlich beeilen, wenn sie pünktlich zur ersten Stunde in der Schule sein wollte. Doch sie fühlte ein kleines Kribbeln in ihrem Bauch, als sie anfing mit dem Gedanken zu spielen, einfach eine Stunde später hinzugehen.
Ein Schwarm Gänse flog über sie hinweg, als sie einige Minuten später auf dem Dach von ihrem Haus saß. Auf einem kleinen Vorsprung konnte sie es sich mit einer Tasse heißen Tee gemütlich machen, den sie auf einer Hand balanciert hatte, als sie auf die Schindeln geklettert war. Durch eine Luke gelangte man zu einer Leiter, die an dem Dach angebracht war und von dort aus kletterte Ludmilla gerne zu ihrem Lieblingsort. Das kleine Haus mit der dunkelblauen Fassade und dem roten, etwas schiefen Dach war zwar nicht sehr groß, man konnte dennoch weit blicken. Ludmilla schaute den Gänsen hinterher und hielt sich den heißen Dampf des Tees ins Gesicht. Ihre Lungen füllten sich mit Tee und kalter Herbstluft, sodass Ludmillas Lebensgeister in ihr feierten. So schön, wie der Sommer auch war, der Herbst war ihre Lieblingsjahreszeit. Vielleicht waren dann auch ihre Pflegeeltern öfter zu Hause, denn sie ließen sich nur selten in ihrem gemeinsamen Haus blicken. Ihre Pflegemutter arbeitete als Apothekerin in Lichtingen und war oft längere Zeit unterwegs. Ludmilla glaubte, dass ihre Mutter weg war, um bestimmte Kräuter und Pflanzen zu sammeln. Ihr Pflegevater arbeitete außerhalb als Meteorologe in einer Wetterstation und blieb oft einige Wochen am Stück in der Nähe seines Büros. Ludmilla wusste nur, dass er das unnormale Wetterphänomen letzter Woche mit seinem Team erforschte. Es war eine Seltenheit in Lichtingen, dass die Bewohner die Stadt verließen, doch auf Grund einer Straße, die nach draußen führte, war es möglich. Diese benutzten jedoch nur Lastwagen mit Lieferungen für die Stadt, oder Menschen, wie die Pflegeeltern von Ludmilla, die eine abenteuerliche Ader besaßen. Die meisten Lichtinger waren noch nie außerhalb der Stadt gewesen, so auch Ludmilla. Schon seit einigen Tagen lebte sie allein zu Hause, was sie jedoch nicht weiter störte. Sie liebte die zwei Menschen zwar, die sie großgezogen hatten, doch wie eine Tochter hatte sie sich bei ihnen noch nie gefühlt.
Ludmilla blickte in die Ferne. Von hier aus konnte sie weit über den großen Wald blicken, doch sie konnte kein Ende ausmachen. Der Wald war riesig. Das blaue Haus stand an der Stadtgrenze, ein Ort, an dem sich selten jemand aufhielt. Der Wald begann einige hundert Meter hinter ihrem Haus, er war von einem riesigen Zaun eingeschlossen, der mit vielen Verbotsschildern geschmückt war. Die meisten Schilder waren mehrere Jahre alt, sie hingen schief am Zaun, einige waren gar nicht mehr lesbar. Der Zaun blieb standhaft. Einige Bäume wuchsen zwar durch die Maschen, doch er war dafür gemacht die Bürger davon abzuhalten hindurch zu gehen. Ludmilla dachte oft im Stillen darüber nach, ob nicht etwas in dem Wald festgehalten wurde. Sie kannte düstere, alte Sagen über ihn, die sie mal hier und da aufschnappen konnte. Offen redete niemand über dieses Thema, es war mehr wie ein Geheimnis, das man sich nur zuflüstern durfte.
Die alten Geschichten blieben lange das Einzige, das die Lichtinger von dem geheimnisvollen Ort wussten und sie waren sich sicher, dass etwas Wahres daran hing. Denn in einer Sache waren sich alle Bürger der Stadt einig: Etwas Böses hauste in diesem Wald.
Das kleine blaue Haus, in dem Ludmilla mit ihrer Familie wohnte, war das einzige, das in einer solchen Nähe zu dem Wald stand. Anders als den anderen Bürgern, gefiel Ludmillas Familie der Wald, denn er faszinierte sie auf eine gewisse Weise. Sie wohnten dort gerne, sie hatten dort ihre Ruhe und viel Platz, doch es machte sie auch ein wenig zu Außenseitern.
Über Ludmillas gestreifte Socke krabbelte eine kleine Spinne. Ihre Beine waren schwarz behaart und ihr Körper so klein wie eine Erdnuss. Ludmilla lächelte, als sie das kleine Wesen auf ihren Zeigefinger klettern ließ. Ein bisschen kitzelten die langen Beine, die ihren Körper berührten. Ludmilla kicherte und hielt sich die Hand ganz nah an ihr Gesicht, sodass die Spinne auf ihre Nase klettern konnte. Dort blieb sie ein paar Sekunden verharrt und Ludmilla schielte. „Kommst du aus dem Großen Wald? Wie ist es da?“, flüsterte sie ihr zu und stellte sich vor, dass sie ihr mit einem leisen Ja, er ist voller Geheimnisse antwortete.
Ludmilla hörte einen Motor aufheulen, stellte den halb ausgetrunkenen Tee neben sich auf die Schindeln, stand auf und wankte zu dem Schornstein. Von dort konnte sie über das Dach hinwegschauen und sah den Friedhof auf einem Hügel, der im Morgentau glitzerte. Ein kleines Auto stand neben der Straßenlaterne, es hatte blaue Streifen und als Ludmilla das Blaulicht sah, wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Es stiegen zwei Polizeibeamte aus dem Wagen, Ludmilla erkannte sie an ihrer Uniform und der Pistole, die sie am Gürtel trugen. Neugierde stieg in ihr auf, sie musste wissen, was dort passiert war. Sie kletterte in Windeseile das Dach hinab, musste sich an der Dachrinne festhalten, um nicht hinunter zu fallen und sprang mit einem großen Satz hinab in das Gras. Schon war sie bei ihrem Fahrrad, das an dem Jägerzaun angelehnt stand. Wie immer war es nicht angeschlossen, das Fahrradschloss hing unberührt am Gepäckträger. Wie oft hatte ihre Pflegemutter ihr gesagt, dass sie es benutzen soll, doch Ludmilla fand es einfach nur unpraktisch. Und sie liebte sich selbst in diesem Moment, als sie sich das Fahrrad ohne Umständlichkeiten schnappen und losfahren konnte. Sie trat fest in die Pedale und brauchte höchstens eine Minute, bis sie das Polizeiauto erreicht hatte. Sie sprang vom Fahrrad und ließ es achtlos ins Gras fallen. Das Hinterrad drehte sich, als sie mit schnellen Schritten auf die Beamten zutrat, die gerade mit einem Formular auf einem Klemmbrett beschäftigt waren.
„Guten Morgen, ist etwas passiert?“, fragte Ludmilla mit lauter Stimme. Die Polizisten ließen den Kugelschreiber sinken und blickten sie mit verwirrten Augen an.
„Wo kommt denn dieses Kind auf einmal her?“, fragte der dünnere von den beiden den anderen und musterte sie von oben bis unten. „Müsstest du nicht in der Schule sein?“, sprach er sie dann direkt an, seine Stimme klang streng. Doch Ludmilla ließ sich davon nicht verunsichern. Sie lächelte die beiden Herren freundlich an und sprach ganz gelassen und ruhig. Sie wusste, wenn sie jetzt einen Streit anfing, würden sie nicht mit ihren Informationen rausrücken.
„Ich wohne mit meiner Familie in dem kleinen Haus da vorne.“ Sie zeigte mit ihrem Finger in Richtung des Waldes, vor dem ihr Häuschen stand. „Wir kümmern uns manchmal um den Friedhof. Ich habe eben aus dem Fenster gesehen, dass Sie hier stehen. Das ist sehr unüblich. Normalerweise kommen selten Menschen so nah an den Wald.“ Sie lächelte beiden mitten ins Gesicht und die Polizisten lächelten sogar leicht verunsicherte zurück. „Und natürlich gehe ich noch in die Schule, doch die ersten beiden Stunden fallen aus.“ Sie konnte gut lügen. Das hatte sie als Kind schon perfektioniert. Die beiden Polizisten nahmen ihr die Worte sofort ab und schienen fast erleichtert darüber, dass sie sich nicht noch um ein schwänzendes Kind kümmern mussten. Der eine Mann beugte sich vor und blickte Ludmilla mit einem sachlichen Ausdruck in den Augen an.
„Ein Kind ist verschwunden, die Eltern haben es heute Nacht gemeldet. Wir haben die ganze Nacht gesucht, bis wir am Friedhof angekommen sind. Wir haben wichtige Spuren finden können.“ Der dickere Polizist schaute seinen Kollegen mahnend an.
„Es sind bisher nur Spekulationen und keine Fakten. Du wirst von dem Vorfall in der Zeitung lesen können, falls du das schon kannst. Nun geh nach Hause oder in die Schule und lass uns unsere Arbeit machen.“ Mit einer kurzen Handbewegung bedeutete er Ludmilla zu verschwinden. Doch sie wollte sich damit nicht zufriedengeben.
„Wie heißt das Kind?“ fragte sie neugierig und versuchte etwas auf den Formularen zu erblicken. Der dünne Polizist drückte das Klemmbrett an den Körper.
„Wir dürfen diese Information noch nicht öffentlich machen. Mach jetzt das, was mein Kollege schon gesagt hat. Fahr in die Schule. Du wirst es früher oder später erfahren.“ Er lächelte sie an. Ludmilla lächelte zurück und hoffte, dass sie dabei nicht allzu gequält aussah.
„Wenn ich es sowieso erfahre, können Sie es mir auch jetzt schon sagen.“ Mit einem Zwinkern schaute sie ihn an. Doch dann trat der dickere Mann ein paar Schritte von dem Wagen weg und Ludmilla erhaschte einen Blick in das Innere des Kofferraums. Eine lilafarbene Jacke lag dort und Ludmilla erkannte sie sofort.
„Das ist meine Jacke!“, rief sie mit klopfendem Herzen. Ihre Gedanken drehten sich.
„Aber du bist ein Mädchen. Vermisst wird ein 14 Jahre alter Junge.“ Die Polizisten runzelten die Stirn, doch Ludmilla kam ihrem Grübeln zuvor. Sie schrie ihnen die Worte entgegen, die aus ihr herausplatzen.
„Nein, sie verstehen nicht. Ich habe ihm meine Jacke geliehen! Palle! Er hatte die Jacke gestern an.“ Verzweifelt schaute sie von einem traurigen Gesicht zum anderen und bekam keine Antwort. „Was ist mit ihm passiert? Wo ist er?“ schrie sie aufgebracht in die bestürzten Gesichter.
„Ganz ruhig, Kleine“, sagte der nettere in einem ruhigen Ton. „Wir wissen nur, dass er gestern Nacht nicht in seinem Bett gelegen hat und vor einigen Minuten haben wir erst diese Jacke gefunden. Und wie du uns eben erklären konntest, gehört sie zu der vermissten Person. Jetzt haben wir einen Anhaltspunkt und wir werden alles tun, um deinen Freund schnell zu finden. Alles klar?“ Er hatte die Hände auf ihre Schultern gelegt und blickte ihr tief in die Augen. Sie sahen traurig aus, aber sein fester Blick macht Ludmilla ein wenig Mut. Sie schluckte.
„Darf ich mich mal umsehen?“, fragte sie leise und eine Träne lief ihr über die gerötete Wange.
In ihrem Bauch breitete sich ein Loch aus. Ein kleines Loch, das sich langsam vergrößerte, je länger sie nachdachte. Palle würde niemals eine ganze Nacht allein draußen verbringen. Außerdem wäre er doch zu ihrem Haus gerannt, wenn etwas passiert wäre. Er kannte ihr Haus und den Weg vom Friedhof dorthin und hätte ihn auch im Dunkeln problemlos gefunden. Ihre Gedanken fütterten das schwarze Loch in ihrem Bauch. Es wuchs. Es wuchs noch weiter, als sie mit schnellen Schritten auf das eiserne Tor zu trat und dahinter den Hügel erblickte, auf dem die Grabsteine standen. Nein, dachte sie immer wieder. Nein, Palle darf nicht in Gefahr sein. Er war der beste Mensch, den sie kannte. Nein nein nein. Das darf nicht passiert sein, betete sie in Gedanken.
Plötzlich bekam sie eine Gänsehaut. Die Haare stellten sich auf und ihr Körper zitterte vor Kälte. Sie blickte zu den Baumkronen hinauf, doch sie bewegten sich kaum in dem schwachen Wind. Ein dunkler Schatten zog sich über ihrem Kopf auf, doch als sie sich umdrehte, war niemand hinter ihr. Sie schaute in den Himmel und konnte keine einzige Wolke ausmachen, die sich vor die Sonne hätte schieben können. Mit klopfendem Herzen lief sie weiter, durch das offenstehende Tor und zwischen den Bäumen hindurch. Der Boden war nass. Sie rutschte fast aus und konnte sich gerade noch an einem Baum festhalten. Dann blieb sie ruckartig stehen. Vor ihren Füßen erkannte sie Fußabdrücke. Es waren nicht die der Polizisten, die mindestens 1,80m groß waren. Es waren Abdrücke von kleinen Füßen, von einem kleinen Menschen. Sie wusste sofort, dass es Palles Füße waren. Ludmilla ging langsam weiter, den Blick auf den Boden gerichtet, um die Spur nicht aus den Augen zu verlieren. Dann erreichte sie die Wiese, auf der die Grabsteine aufgereiht standen. Die Spuren hörten auf. Ludmilla drehte sich im Kreis, sie fühlte sich schrecklich hilflos. Ihre Haare fielen ihr ins Gesicht, als sie ihren Kopf hin und her schwang, um irgendwo einen Hinweis auf Palle zu bekommen. Sie blickte hinauf zu der Kapelle. Ohne zu zögern rannte sie den Hügel hinauf und riss ohne Verschnaufpause die Tür zu dem kleinen Backsteingebäude auf.
„Palle?“ rief sie mit krächzender Stimme in den dunklen Raum. „Bist du hier? Ich bin es – Ludmilla.“ Ihre Stimme versagte. Die Kapelle war leer. Es befanden sich nur ein großes schwarzes Kreuz an der hinteren Wand und einige alte Gemälde an den Steinwänden. Ludmilla sank zu Boden und vergrub ihr Gesicht in ihren schwitzigen Händen. Mit einem lauten Knall flog die schwere Eingangstür zu. Tiefe Dunkelheit umgab Ludmilla, die auf den kalten Steinen kauerte. Durch die Fenster kam nicht der kleinste Lichthauch. Sie blickte auf, doch konnte nicht einmal ihre eigenen Hände vor den Augen sehen. Ein Windhauch umspielte ihren Nacken. Kalt und furchteinflößend fühlte er sich an. Sie kniff ihre Augen zusammen und schlug wie wild mit ihren Armen um sich. Doch plötzlich öffnete sich die Tür der Kapelle und helles Tageslicht flutete den Raum. Ludmilla blinzelte den Polizisten ins Gesicht, die sie fragend musterten.