Lui - Yvonne Richter - E-Book

Lui E-Book

Yvonne Richter

4,4

Beschreibung

Lui und Wuck leben in der perfekten, nach außen hermetisch abgeschlossenen Isi-Welt. Alles ist hoch technisiert und streng geregelt, Fragen sind unerwünscht. Als eines Tages Wuck verschwindet, beginnt Lui zu grübeln. Allmählich erkennt er, auf welchen üblen Praktiken Isis Macht beruht. Es gelingt ihm zu fliehen. Er setzt sich auf Wucks Spur und schlägt sich in der Fremde durch. Dann findet er seinen Freund, doch der scheint völlig verändert. Wird Lui ihm helfen können? Gemeinsam ziehen sie weiter, bedroht von Verfolgung und Verrat. Während sie den sonderbarsten Gestalten begegnen, erfahren die beiden Jungs immer wieder Hilfe und Unterstützung. Aber finden sie auch ein neues Zuhause?

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Yvonne Richter

Lui in derDraußenwelt

Eine Abenteuergeschichte für Kinder

Fabulus-Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. © 2016 by Fabulus-Verlag, Tanja Höfliger, Fellbach Umschlaggestaltung: Yvonne Richter, Nürnberg und Büro für Gestaltung Röger & Röttenbacher, Leonberg Kapitelvignetten: Yvonne Richter Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN: 978-3-944788-25-8 Besuchen Sie uns im Internet: www.fabulus-verlag.de Die Publikation dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung von Marion Voigt · Lektorat | Text | Agentur · Zirndorf.

Inhalt

CoverTitelImpressumWidmung1. Alles isi!?2. Freunde unerwünscht3. Das kleine Etwas4. Geheimnisse5. Der Schock6. Der Wandel7. Der entscheidende Schritt8. Erste Schritte in der Draußenwelt9. Aufruhr in isi10. Bei den Niederrüpeln11. Das Versteck12. Nichts mehr ist isi13. Mädelau14. Allerhand Getier15. Der entscheidende Schlag16. Die hängenden Gärten17. Ein gefährliches insekt18. Die Spießburg19. Neuer Versuch20. Die Leere21. Gefährte22. Die Monaten23. Die Versuchungen24. Zu früh gefreut25. Die Redlinger26. Die Elektrickser27. Die seltsame Fremde28. Turmamberg29. Petzi kocht30. Tolliwuhd31. In luftigen HöhenUnd dann?

Für Lore, Irmi, Alex, Merle,Lovis, Anna, Elisabethund all die Kinder,die Lui noch auf seiner Reise

1. Alles isi!?

Lui überprüfte nochmals die Reihenfolge seiner bedruckten Anzüge. Als oberste Schicht, für die Straße draußen: asphaltgrauer dünner Stoff. Danach würde er vor der Haltestelle auf die Evelos warten müssen, vielleicht nur kurz, aber er ging lieber auf Nummer sicher. Zu diesem Zweck hatte er das leichte Cape mit dem Glasmuster des Kiosks in seinem Schultersack. Während der Fahrt mit dem Evelo, einem motorisierten Kabinchen, in dem man bequem sitzen konnte, brauchte er keine extra Kleidung. Dann weiter zum Motorondo, einem der Vergnügungsparks. Dafür trug er unter dem grauen Anzug das Ganzkörpertrikot, das in allen Farben schillerte und kleine Lichter aussandte. Über seine blonden Strohbüschel stülpte er die funkelnagelneue Spiegelmütze.

Seit geraumer Zeit durfte Lui alleine unterwegs sein. Schließlich war er schon zwölf. Aber er musste zeigen, dass er seine Routen selbst planen konnte und immer die geeigneten Kleider anhatte.

Lässig rief er den Kameraden im Zell, seiner Wohngruppe, ein »Bis später!« zu, ließ die Tür hinter sich zufallen und schlenderte die grau schimmernde Straße entlang zum Wartekiosk. Dort warf er sich das Cape über und begrüßte Wuck, der in einen ebenso bedruckten Umhang gehüllt war. Beide Jungen verschmolzen aufs Schönste mit ihrer Umgebung.

»Alles isi, Wuck?« Lui strahlte den Kleineren verhalten an und boxte ihn gegen die Schulter. Der grinste vergnügt und boxte zurück. »Alles isi, du Wackelzahn!«

»Nehmen wir Evelos oder die Räißer?«, fragte Lui.

»Räißer sind leider alle unterwegs«, sagte Wuck. »Also Evelos.«

»Hast du schon eins angefunkt?«

Wuck nickte. Dann drückte Lui auf einige Sensoren am Wartekiosk und bestellte für sich ebenfalls ein Fahrzeug.

Kurz darauf schwebten zwei schwarz glänzende Evelos um die Ecke, stoppten am Kiosk und öffneten lautlos ihre Klappen. Die Jungs bestiegen die Kabinen. Lui ließ sich auf den weichen Sitz nieder und wählte ihr Ziel auf dem Bildschirm aus. Leise vibrierend setzte sich das Gefährt in Bewegung. Wuck folgte. Sie bogen in eine breitere Trasse ein, auf der unzählige Evelos und schnelle Räißer, ein paar behäbige Transportolos und die edleren schmalen Lackoritzen in alle Richtungen unterwegs waren. Wie auf unsichtbaren Schienen nahmen die Kabinen traumhaft sicher ihren Weg, ohne Gefahr, einander je zu berühren. Hinter den dunklen Lichtschutzscheiben waren ihre Insassen kaum wahrzunehmen.

Nach kaum einer halben Stunde Fahrt bogen die beiden Kabinchen, zusammen mit vielen anderen, zügig in eine üppig beleuchtete Auffahrt ein. Vor einem blinkenden Tor hielten sie an. Hier und da schwangen sich Jungs aus den Fahrzeugen, mit prall gefüllten schillernden Schultersäcken.

Alle trugen jetzt grüne Anzüge mit Pflanzenmustern und hoben sich von dem parkähnlichen Hintergrund kaum ab. Wuck und Lui reihten sich vergnügt in eine Schlange von Besuchern ein, die sich in den Park hineinschob.

Sie gelangten bald an eine lange Theke. Schnell schlüpften sie aus ihren Straßenanzügen und stopften sie in ihre Säcke. Ein grobschlächtiger Mann fasste prüfend ihre Trikots ins Auge, nickte zufrieden, nahm ihnen die Schultersäcke ab und fragte knapp: »Und ihr?«

»Zweimal Kreiselinck!«, sagten die beiden wie aus einem Mund und bekamen zwei blitzförmige Schlüsselchen ausgehändigt. Damit eilten sie zu einer niedrigen Halle. Eine Flügeltür öffnete sich automatisch und schloss sich zischend hinter ihnen. Lui und Wuck blieben kurz stehen und bestaunten eine Reihe von glänzenden Kreiselincks, die vor den Jungs begannen, zu hüpfen und sich sirrend zu drehen. Lui bestieg beherzt einen dieser wackelnden Riesenkreisel, kettete sich an die Sicherung und umfasste die blinkende Steuersäule in der Mitte mit festem Griff, während er mit einer Hand das Schlüsselchen hineinsteckte. Wuck sprang auf den nächsten und tat es ihm gleich. Beim leisesten Druck sirrte das Kreiselinck davon und reagierte auf feinste Handbewegungen in jedwede Richtung.

Lui testete seines erst einmal aus. Sanft schraubte sich sein Untersatz in die Höhe, kippte leicht und säuselte in Schräglage aus der Dachöffnung der Halle. Dort wagte Lui gleich einen kleinen Salto und landete prompt mit einem missglückten Purzelbaum auf dem Dach. Wuck zog grinsend vorbei, zeigte ihm eine lange Nase, verlor dabei die Gewalt über sein Kreiselinck und fiel polternd neben Lui. Die führerlosen Fahrzeuge richteten sich auf und blieben an Ort und Stelle. Sie schwebten und drehten sich leicht.

Kichernd hielten sich die beiden Jungs an den Schultern und schüttelten sich. Kaum näherten sich weitere Kreiselincks mit ihren Fahrern, lösten Lui und Wuck sich voneinander, stiegen wieder auf ihre Fahrzeuge und schwebten über die Halle in Richtung Park. Als sie einen Teich überquerten, zogen beide ihre Kreiselincks scharf nach unten zum Wasser hin. Kurz bevor sie in das Nass eintauchten, ploppte eine feine Haut aus der Steuersäule und umschloss den Fahrgast mit einer Luftblase. So geschützt tauchten die zwei unter und quirlten sanft durch den Teich, zogen auf Augenhöhe an langsam paddelnden Fischen vorbei, ließen ein paar groß glotzende Süßwasseroktopusse links liegen und schossen schließlich mit einem saugenden Geräusch aus dem Teich, während die Schutzhülle in der Steuersäule elegant verschwand.

Nun steuerten sie auf eine Freifläche zu und schalteten bereits vorsorglich auf den Rempelmodus. Von allen Seiten kamen Jungs auf ihren Kreiselincks angeschossen, herangewirbelt oder gar herabgestürzt – aufrecht, schräg oder kopfüber. Sie nahmen direkt Kurs aufeinander, um unter wildem Gejohle zusammenzustoßen, aber ohne sich im Geringsten wehzutun. Die Kreiselincks waren von einem Magnetfeld umgeben und federten jeden Zusammenprall sanft ab.

Lui zielte auf einen besonders großen Jungen, der mit einem schnellen Linksdrall herumwirbelte, und schoss auf ihn zu. Lui sah in seine Augen, die sich in Erwartung des Aufpralls bereits zusammenkniffen, und zerrte die Steuersäule in letzter Sekunde herum, sodass er haarscharf an dem Jungen vorbeizog, der verblüfft die Augen wieder aufriss – und ebenso überraschend von Wuck mit seinem Kreiselinck über den Haufen gerempelt wurde. Lui und Wuck zwinkerten sich keck zu und nahmen den Nächsten aufs Korn.

Drei Stunden vergnügten sie sich, bis sie nicht mehr konnten. Dann setzten sie ihre Fahrzeuge wieder in der Halle ab, brachten die Schlüssel zurück und holten sich in einem Seitentrakt des Motorondos etwas aus dem Essensautomaten. Sie pellten die sechseckigen, mit einer orangen Masse befüllten Schnitten aus der Warmhaltefolie und setzten sich auf die runden Hocker, die im Boden verankert waren.

»Das nächste Mal nehmen wir wieder die Turnhuis oder Schwimmels!«, schlug Lui vor, während er die Masse in sich hineinstopfte.

»Ach, ich steh total auf die Spitzoflitze und Drehkurver. Ich mags gern rasant!«, entgegnete Wuck und Lui nickte zustimmend. »Auch super-isi!«

Wuck spähte durch das Glasdach nach draußen. Er stand auf. »Es ist spät, gehen wir!«

Sie schluckten die letzten Bissen hinunter, holten ihre Kleidersäcke, schlüpften wieder in die Tarnanzüge und trollten sich in Richtung Wartekiosk. Diesmal ergatterten sie zwei Räißer und waren im Nu zu Hause.

Langsam wurde es dunkel. In der Dämmerung waren die beiden Knaben perfekt an ihre Umgebung angepasst. Lui schaute sich prüfend um und schlug dann Wuck freundschaftlich auf die Schulter.

»Bis bald wieder!«, gab Wuck lächelnd zurück.

Gerade wollten sie sich zu ihren Zells aufmachen, da fiel ihnen ein etwa gleichaltriger Junge auf. Lui sog hörbar die Luft ein. »So ein Trottel!«, zischte er. Wuck pfiff durch die Zähne.

Der fremde Junge hob sich von der Straße mit seinem knallrot bedruckten Hemd und seiner grünen Hose wie ein Leuchtzeichen ab. Er rannte schnell und sah sich mehrmals ängstlich um. Plötzlich kam ein großer schwarzgelb gestreifter Räißer um die Ecke geschossen und hielt schlagartig an.

»Die Krawallerie!«, murmelte Wuck aufgeregt. Zwei Männer in Asphaltanzügen sprangen heraus und ergriffen den Jungen. Wortfetzen drangen herüber: »… hab ich vergessen … nur mal schnell … war nicht weit …« Im Handumdrehen war der Räißer samt Männern und dem Jungen verschwunden.

Lui und Wuck zuckten verständnislos mit den Schultern.

»Die Tarnung vergessen, so ein Heuler«, war Luis Kommentar und Wuck nickte.

Was mit dem Jungen geschehen würde, der so offensichtlich die Kleiderordnung von Isi missachtet hatte, wussten beide. Früher oder später erwischte es jeden einmal und je nach Schwere der Verfehlung gab es als Strafe »einnorden«, »vereinzeln« oder »erblitzen« – schlimm genug, aber auch so wirkungsvoll, dass man die Kleiderordnung nie wieder vergaß.

Lui lächelte Wuck noch einmal zu, hob die Hand und ging dann seiner Wege. Er lief über die Rampe hoch und öffnete mit seinem Handfunker eine der Türen. Um den Tisch saßen bereits die fünf anderen Jungs, neben ihnen der Vorsetzer. Er lächelte Lui zu: »Na, Spaß gehabt, alles isi?«

Lui nickte und drückte auf den Funker, um seinen Sitzplatz zu holen. Schnurrend kam ein gummiähnliches ovales Ding aus seiner Koje angefahren, begann sich zu beulen und formte in Sekundenschnelle ein einladendes Sitzmöbel von tiefblauer Farbe. Nun schien weicher Samt aus der Oberfläche zu wachsen und als krönender Abschluss der Umwandlung leuchtete der Schriftzug »Hallo Lui« an der Rückenlehne auf. Alle Jungs besaßen solch ein Multimöbel, das sich je nach Bedarf in ein Bett, ein Sofa, einen Stuhl oder einen Tisch mit passender Oberfläche umformen konnte. Versuchte ein fremder Junge, sich darauf niederzulassen, verlor das Ding seinen Halt, pflatschte auseinander wie eine Schleimpfütze und ließ den Fremden unsanft auf den Boden fallen. Diese Möbel waren äußerst beliebt und gaben immer wieder Anlass zu ausgelassenen Späßen.

Lui ließ sich in seinen weichen Sitz fallen, der sich angenehm an ihn schmiegte, während der Vorsetzer die Essensportionen verteilte, die aus dem Versorgungsschacht hochgeschossen kamen. Die Jungen zogen die Folien von den verpackten Schlemms ab. Eine grün-rot gestreifte Masse kam zum Vorschein, die noch leicht blubberte. Lui schnupperte und verzog das Gesicht. Der Vorsetzer bemerkte das und sagte streng: »Ihr kommt jetzt bald in die Pubertät und braucht mehr Kalzium, Eisen, Vitamine, Spurenelemente und Eiweiß. Die Schlemms sind genau auf eure Bedürfnisse und das Wachstum abgestimmt. Kein Grund zur Kritik!«

Lui zuckte die Schultern und aß. Er fand den Vorsetzer eigentlich in Ordnung.

Nach dem Essen warfen die Knaben die Reste und die Behälter in den Abfallschacht, wo sie augenblicklich geräusch- und geruchlos verschwanden. Dann verteilte der Vorsetzer die Ohrstöpsel für die abendliche Sendung. Jeder Junge zog sich in seine Koje zurück, setzte sich vor den Monitor und widmete sich seinem Pensum an Lernstoff: »geistige Nahrung«, die der Vorsetzer sorgfältig ausgewählt und auf jeden einzelnen Knaben abgestimmt hatte. Er wurde nie müde, das zu erwähnen. Nur heimlich wagten es die Jungs, dabei die Augen zu verdrehen.

Luis Abteil war tiefblau und dunkelgrün gestaltet, wie eine Unterwasserlandschaft, ganz nach seinen Wünschen. Er hatte sich noch ein paar kleine Hologramme aussuchen dürfen. Das waren räumliche Bilder, die wie echt aussahen. Nun schwebten drei schillernde Fische vor der dunklen Wand und schlugen hin und wieder mit den Flossen. Sie gaben ein eigenartig mattes Licht von sich. Er liebte es, besonders wenn er nachts wach war, die Wesen zu betrachten und zu träumen.

Auf dem Programm für diesen Abend stand Wetterkunde: Hoch- und Tiefdruckgebiete. Dann folgten noch mathematische Äquivalenzrelationstheorien mit siebzehn Faktoren und dreiundzwanzig Unbekannten im Sinusfeld, die versteckten Daten im dreidimensionalen Netzwerk und die Besonderheiten beim Zeichnen aus der Froschperspektive. Als Belohnung hätte es ein Zündel- und Feuerwehrspiel für den Bildschirm gegeben, aber da waren Lui schon die Augen zugefallen.

2. Freunde unerwünscht

Am nächsten Tag war Lui nicht mit Wuck verabredet.

Nach dem Früh-Schlemm bekam er wie üblich sein Wissenspaket vom Vorsetzer. Er saß am Bildschirm, die Datenstöpsel im Ohr, und befasste sich in aller Ruhe mit seinem Hirnfutter. Nur manchmal warf er einen Blick aus seiner Koje und sah, dass die anderen ebenso konzentriert am Lernen waren. Für den Fall, dass es mal Fragen gab, hielt sich der Vorsetzer in der Nähe auf, aber er wurde selten gebraucht.

Die Zeit verging schnell und nachmittags durfte jeder machen, wozu er Lust hatte: sich mit anderen Jungs treffen – im Motorondo bei den Fahrzeugen, im Akrobando zum Körpertraining, im Saltomondo zu Geländespielen – oder einfach zu Hause bleiben und am Monitor durch die Play-Bars klicksen. Erst zur Abendmahlzeit mussten alle pünktlich erscheinen und danach folgte die zweite Lerneinheit.

Heute verbrachte Lui den Nachmittag mit einer seiner Lieblingsbeschäftigungen, er zeichnete Figuren.

Salu und Guntr sahen ihm eine Weile dabei über die Schulter. Auf dem Grafiktablet reihten sich wilde kleine Kerle aneinander. Lui grinste. Mit ein paar Strichen ließ er zwei neue Männchen erscheinen.

»Das sind ja wir!«, ächzte Guntr.

»Junge, bist du gut! Ich wollte, ich könnte das auch!«, seufzte Salu.

Lui lächelte. »Stellt euch vor, der Vorsetzer hat mir erlaubt, sie für die Play-Bars zu bearbeiten. Demnächst könnt ihr mit denen spielen!«

»Wie isi ist das denn!«, staunten seine Kameraden.

»Ja und nächste Woche darf ich dabei sein, wenn sie programmiert werden. Mega-isi, oder?«

In Luis Zeichnung wurden die Jungs gerade von zwei Riesenkerlen verdrückt, in deren Mägen sie herumhüpften. Als zwei noch größere Riesen diese wiederum fraßen, dann rülpsten und alles ausspuckten, stöhnten Guntr und Salu und verdrückten sich.

Neben den Wohnungen für seine Altersgruppe gab es auch Minizells. Dort waren die Kleinsten mit zwei Vorsetzern untergebracht. Lui konnte sich nur dunkel an seine Zeit darin erinnern. Midizells wie sein eigenes beherbergten etwa sechs Jugendliche und einen Vorsetzer. Mit Mädchen kamen Lui und die anderen Jungs so gut wie nie zusammen. Die hatten ihre eigenen Zells. In den Maxizells lebten die Erwachsenen in Kleingruppen. Lui wusste vage, dass man Frauen traf, wenn man alt genug dafür war. Aber er hatte keine Vorstellung davon, was man dann mit ihnen anfangen sollte.

Über Selbstverständlichkeiten wie essen, trinken, wohnen, sich fortbewegen oder Müll beseitigen machte sich niemand Gedanken. Alles war reibungslos organisiert und in schönster Ordnung.

Einmal im Monat wurden die Jungs gemessen und gewogen, und der Vorsetzer überprüfte den Wissensstand. Wer sich brav an die Anweisungen hielt, hatte nichts zu befürchten. Fiel einer doch mal unangenehm auf, bekam er halt eine Extrarunde Einnorden oder Vereinzeln. Ganz einfach. Lui, Wuck und all die anderen Kinder waren daran gewöhnt, nicht aufzufallen, und machten kein großes Theater, wenn es mal Strafen setzte.

Nur an seine erste Erfahrung dieser Art erinnerte sich Lui ungern. Aus Versehen war er mit dem falschen Tarnanzug unterwegs gewesen und die Krawallerie tauchte schneller auf, als er denken konnte. Sie brachten ihn zum Ausrichten auf die Isiregeln in den Nordungspol, ein unauffälliges Gebäude, in dessen Außenflächen sich matt die Umgebung widerspiegelte. Wenn sich die Krawallerie mit einem Geschnappten näherte, öffneten sich die Türen lautlos und schlossen sich hinter ihnen im Nu. Innen reihten sich Kabinen an Kabinen. Lui wurde in eine davon geführt und sekundenlang vor einen Apparat platziert, der ihn mit einem Regen von unsichtbaren feinen Nadelstichen piesackte.

Zum Glück war es schnell vorbei. Ein fremder Vorsetzer nahm Lui beiseite und redete mahnend auf ihn ein: »Für uns in Isi sind Harmonie und Gleichheit die höchsten Güter. Dazu gehört, dass wir uns nicht abheben. Nicht von unserer schönen Umgebung und schon gar nicht von unseren Mitmenschen. Das verstehst du doch?«

Lui schluckte heftig und nickte. Dann durfte er in sein Zell zurück.

Immerhin lernte er bei dieser Gelegenheit Wuck kennen, der mit ihm zusammen den Nordungspol verließ. Wuck bedachte ihn mit einem windschiefen Lächeln und zeigte trotzig mit dem Daumen nach oben. Lui musste einfach zurückgrinsen und boxte Wuck in die Seite. Ein paar Mal trafen sie sich zufällig, dann verabredeten sie sich, achteten aber darauf, keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Lui fand, dass Wuck etwas Besonderes war. Mit seinem kecken Gesicht und den Blumenkohlöhrchen sah er wie einer der Kobolde aus den Abenteuersendungen aus. Manchmal erahnte Lui im Glitzern seiner hellen Äuglein so etwas Ungehöriges wie Widerspruch oder gar Widerstand, und das beeindruckte ihn.

In der Isiwelt gab es viele Regeln. Die Vorsetzer gestatteten nichts, was Unannehmlichkeiten bereiten könnte. Sie achteten sehr genau darauf, dass sich die Kinder und Jugendlichen in den Zells gut vertrugen. Wenn es Probleme gab, trafen sich die Vorsetzer unverzüglich zu Besprechungen. Danach wurden die Bewohner der Zells oft neu gemischt. Blieb ein Störenfried weiterhin aufsässig, brachte man ihn schnell wieder auf die rechte Bahn.

An eine Regel gewöhnten sich viele Jungs nur schwer: Streitverbot! Wer dagegen verstieß oder sich sogar mit anderen prügelte, wurde unweigerlich bestraft, je nach Schwere der Tat.

Lui ließ es nie so weit kommen, aber Wuck erzählte ihm einmal im Geheimen von einem handfesten Streit. »Ich hab einem aus meiner Wohngruppe ordentlich eins auf die Nase gegeben.«

Lui pfiff verblüfft durch die Zähne. Wuck fuhr fort: »Der hatte mich dauernd getriezt, ohne dass es einer merkte. Aber nach meinem Ausrutscher gab es ein Riesengetue und ich musste sofort zum Vereinzeln.«

Wuck hielt inne.

»Und?«, fragte Lui gespannt.

»Sie haben mich in eine schalldichte Koje gesetzt, allein, kein Fenster. Du hörst keinen Ton von außen und weißt nicht, ob Tag oder Nacht ist. Keine Ahnung, wie lang das gedauert hat. Als ich wieder raus durfte, war der andere aus meinem Zell fort. Gut so. Ich hab danach eine Zeit lang gestottert. Stell dir mal vor! Da vergeht dir die Lust, jemandem eine reinzuhauen, und wenn es dich noch so in der Faust juckt!«

»Und Erblitzen? Weißt du, was sie beim Erblitzen mit einem machen?«, fragte Lui.

Wuck schüttelte den Kopf. »Irgendwas mit Licht. Aber ich weiß nichts Genaues darüber.«

Mit den Kameraden in seinem Zell vertrug Lui sich bestens. Trotzdem würde der Vorsetzer die Gruppe wohl bald wieder neu mischen.

»Ihr sollt euch nie zu sehr an eine Person gewöhnen!«, hieß es. Freunde zu haben galt schlichtweg als unter-isi. »Es ist nicht im Sinn der Gemeinschaft, einen Jungen den anderen vorzuziehen. Das ist unsozial.«

Lui wäre nie auf die Idee gekommen, an dieser Regel zu zweifeln. Aber mit Wuck war es etwas anderes. Sicherheitshalber hielten sie ihre Freundschaft geheim.

Sie lebten zufrieden in der Isiwelt – so nannten die Einwohner ihr Gebiet. War nicht überall Isi? Wie es anderswo zuging, hatte Lui sich nie gefragt. Jedenfalls kannte er niemanden, der je außerhalb der Isiwelt gewesen wäre. Warum sollte man auch von hier weggehen? Hier war es sauber und sicher. Allen ging es gut, daran bestand kein Zweifel. »Alles isi!«, das war der Lieblingsspruch der Menschen aus der Isiwelt.

3. Das kleine Etwas

Wuck und Lui unternahmen zusammen Streifzüge. Einmal gerieten sie dabei tiefer in grenznahes Gelände, als eigentlich erlaubt war. Sie erkannten es unschwer an den Projektionen, die plötzlich vor ihnen hochschnellten, eine durchgehende Kette von großen Leuchtzeichen, die schillerten, summten, tuteten, blinkten und warnten:

Du läufst Gefahr, den sicheren Sektor zu verlassen!

Achtung, Gefahr! Begib dich sofort zurück!

Obacht! Hier bist du nicht mehr sicher!

Wuck war so mutig, sich noch weiter hinauszuwagen. Sofort spürte er überall am Körper ein leichtes Bitzeln. Lui folgte ihm widerstrebend.

»Fast wie beim Einnorden!«, schrie er und zog Wuck zurück.

Einige Zeit danach zog es sie wieder in diese Gegend. Irgendwie fühlten sie sich zu zweit stärker. Das Verbotene übte einen eigenartigen Reiz auf die beiden aus. Außerdem verirrte sich die Krawallerie anscheinend nicht hierher. In Isi galt die elektronische Abschreckung als mustergültig.

Die Jungs wurden von Mal zu Mal kühner. Sie genossen das seltene Vergnügen, sich im grenznahen Gebiet unkontrolliert zu bewegen. Eines Tages durchquerten sie sogar den unangenehmen Bitzelstreifen.

»Es hat aufgehört! Merkst du es auch?«, fragte Wuck aufgeregt. »Was jetzt wohl kommt?«

»Meinst du nicht, wir sollten umkehren?« Lui zögerte.

Die beiden verharrten eine Weile und spähten in das stachlige Gestrüpp, das vor ihnen aus dem Sandboden rankte. Die Gegend war hässlich. Staubig, dreckig und in nichts ihrer gewohnten Welt ähnlich, die aufgeräumt, sauber eingeteilt und ungefährlich war.

Sie wollten gerade umkehren, da hörten beide das Geräusch – gleichzeitig. Sie blieben starr stehen, aber dann überwog die Neugier. Wuck tastete sich voran. Lui folgte ihm unruhig. Die beiden umrundeten einen Busch und rissen die Augen auf. So etwas Befremdliches hatten sie noch nie gesehen!

Ein Fellknäuel auf vier Beinen, mit spitzen pelzigen Ohren und einem langen Schwanz. Es hatte runde blaue Augen und jagte hinter einer kleinen Gestrüppkugel her, die es zu fangen suchte. Als es dabei seitwärts zu hopsen begann und einen Buckel machte, mussten Lui und Wuck unwillkürlich lachen. Das Etwas erschrak, fauchte seltsam, hüpfte vor und zurück und nahm die Jagd nach dem Kügelchen wieder auf. Die Knaben gingen in die Knie und sahen dem Wesen aufmerksam zu. Irgendwie fanden sie es ein bisschen eklig, aber gleichzeitig unglaublich anziehend!

Das Etwas hatte offenbar beschlossen, dass von den großen Zweibeinern keine Gefahr ausging, und setzte die Jagd ungeniert fort. Dabei sprang es auch mal an Luis Beinen empor, sauste aber gleich wieder weiter.

Lui zuckte zusammen. »Das ist ja echt!«

Wuck nickte.

»Was ist das?«, fragte Lui seinen Freund leise.

»Ich hab keine Ahnung! Ich bin mir aber sicher, dass es etwas nicht so ganz Erlaubtes ist!«

Einige Zeit lang kauerten die Jungen am Boden und konnten ihre Augen nicht von dem staubigen, lustigen und sehr lebhaften Ding wenden.

Lui runzelte die Stirn. »Ich glaube, da war mal was beim Abend-Hirnfutter dabei. Bei uns gibt es sie nicht mehr, weil sie schwere Krankheiten übertragen, Dreck und viel Ärger machen. Sie wurden Tiere genannt.«

»Ein Tier?«, fragte Wuck. »Was ist das, ein Tier?«

»Ich weiß auch nicht so genau«, sagte Lui. »Aber es ist offensichtlich lebendig!«

Der Wind hatte die Kugel fortgeweht und das Fellknäuel machte sich auf die Suche nach etwas Neuem. Dabei näherte es sich Wuck und sah ihn aus seinen blauen Augen an. Wuck streckte unwillkürlich die Hand aus.

»Nicht!«, wollte Lui warnen, aber da hatte das Tier schon sein Mäulchen geöffnet und Wuck an der Hand geleckt. Dann kam es noch näher, drückte sich an Wucks Bein und gab ein eigenartig brummendes Geräusch von sich.

Wuck fühlte eine verwirrende Mischung aus Abscheu und Anziehung. Lui streckte nun auch die Hand aus und berührte das Etwas. So schnell konnte er seine Hand nicht zurückziehen, wie eine sehr raue Zunge darübergefahren war.

Die Anziehung siegte. Beide Jungen saßen nun auf dem Boden und versuchten, mit dem Tier zu spielen. Das Pelzetwas entpuppte sich als kecker Frechdachs, der jede Einladung zu Schalk und Neckerei begierig annahm und wild umhertollte. Die Knaben, die Derartiges noch nie erlebt hatten, vergaßen beinahe, woher sie kamen und dass dies hier mit Sicherheit verboten und vermutlich strafbar war!

Als der Abend nahte, besann sich Lui und mahnte: »Wir müssen zurück! Das Abend-Schlemms und das Hirnfutter rufen …«

Widerwillig und mit großem Bedauern erhoben sich die beiden. Sie zögerten.

»Weißt du was?«, sagte da Wuck, fasste das Tier und schob es kurz entschlossen in seine Jackentasche. »Wir nehmen es mit!«

»Ich glaub, dir brummt der Kreisel! In unsere Zells darf das nie und nimmer! Die norden uns ein oder schlimmer!«, japste Lui.

»Doch nicht in ein Zell, du Leuchtboje!«, beeilte sich Wuck zu erklären. »Wir suchen was unterwegs, wo wir immer hinkönnen!«

»Du bist ja von allen guten Sendern verlassen! Das bringt uns die Krawallerie auf den Hals!«, warnte Lui, aber vergebens. Wuck hatte bereits den Weg zurück eingeschlagen. Als sie den Streifen durchqueren wollten, der einen so scheußlich bepiekte, begann das Tier in Wucks Tasche zu toben und zu kratzen. Es gebärdete sich wie wild.

Wuck versuchte, die Tasche zuzuhalten. »Ou Mann, das dreht durch!«, stöhnte er.

Lui griff ein. »Komm, lass uns hier außen was suchen. Ich glaube, das Tier verträgt das nicht!«

Sie drehten um. Wuck holte den Wildfang heraus, setzte ihn einfach an seine Brust, wo sich der Kleine am Hemd festkrallte, und streichelte ihn etwas ungelenk. Da beruhigte sich das Tier und gab wieder dieses eigenartig brummende Geräusch von sich.

»Das heißt wohl, dass es ihm gefällt!«, vermutete Lui. Wuck strahlte von einem Ohr zum anderen.

Die Jungs erkundeten das Gelände. Unweit der Grenze fanden sie einen ehemaligen Unterstand, etwas im Gebüsch verborgen.

Wuck hielt zielstrebig darauf zu. Lui hüpfte voran und hebelte die Tür auf. Drinnen errichteten die beiden eine Art Lager aus dem, was sie fanden: Stroh, Gestrüpp und Blätter.

Lui dachte nach. Er zog die Stirn kraus. »Meinst du, das braucht was zu essen, so wie wir? Und wenn ja, was?«

Wuck langte in seine andere Tasche und zog den Rest vom Nachmittagsproviant heraus, etwas Sandwich-Ähnliches. Er hielt es dem Tier vor die Nase und zur Überraschung der Jungs biss das Kerlchen hinein und schlang den Happen hinunter. Dann schnappte es nach dem Rest aus Wucks Hand, setzte sich damit rückwärts in Bewegung und knurrte. Das klang bei dem kleinen Wesen überaus komisch. Lui und Wuck sahen sich aufgeregt an. Es überraschte sie selbst, wie entzückt sie von dem seltsamen Tier waren.

Damit war klar: Dieser Ort hier würde ihr Ziel für die nächsten Wochen sein. Und sie würden niemandem davon erzählen, für nichts auf der Welt.

Sorgfältig verbarrikadierten sie den Unterstand und verbargen den Eingang mit Strauchwerk, so gut sie konnten. Was perfekte Tarnung anbelangte, damit kannten sie sich aus.

4. Geheimnisse

Ab jetzt erledigten die beiden Jungs wie bisher ihre Alltagsaufgaben, tagein, tagaus. Doch kaum waren sie damit fertig, begann ein geheimnisvolles Treiben. Wann immer es möglich war, sich ungesehen davonzustehlen, begaben sich die zwei auf ihre Tour ins Randgebiet von Isi.

Dabei benutzten sie nie die Evelos. Sie nahmen elektrische Handroller, von denen noch einige in den Kellern der Zellgebäude herumstanden. Eigentlich durfte man die altmodischen Dinger nur noch für Kurzstrecken benutzen oder wenn die Evelos und Räißer ausgebucht waren. Die Roller hatten nicht mal eine AZV (Automatische Zusammenstoß-Verhinderung) und sollten bald aus dem Verkehr gezogen werden. Zwar waren sie langsamer und bei Regen wurde man nass. Aber sie hinterließen keinerlei Spuren in den Ortungssystemen.

Lui fuhr unauffällig bei Wuck vorbei und hupte, zweimal lang, zweimal kurz, mit dem Signalophon des Rollers. Oder umgekehrt. Ging es ohne Aufsehen, machte sich der andere unter einem Vorwand auf zum vereinbarten Treffpunkt.

In ihren Taschen hatten die Jungs immer Reste von Sandwiches dabei, die das Tier mal meist gierig verschlang. Sie mussten nur darauf achten, ihre Kleidung vor der Heimkehr sorgfältig von allem Schmutz und Staub zu reinigen. Verdreckt zu sein, das war in der Isiwelt eine mittelschwere Verfehlung, die Konsequenzen nach sich zog. Selbst die Parks wurden bis ins letzte Eck makellos sauber gehalten. Dreck, so hieß es, sei der Nährboden für Krankheiten, Schimmel und Gestank, ein Zeichen von Verwahrlosung, Faulheit und schlechtem Charakter.

Einmal konnten sie das Tier erst nach einer längeren Pause wieder aufsuchen. Da raunzte es jämmerlich aus dem Unterstand und der kleine Kerl stürzte sich wie wild auf das Sandwich.

»So geht es nicht!«, meinte Lui. »Wir sollten zusehen, dass wir spätestens jeden zweiten Tag hier vorbeikommen.«

»Schwierig«, gab Wuck zu bedenken. »Das fällt irgendwann auf!«

»Wir könnten uns abwechseln«, fiel Lui ein.

»Superidee, isi!«, Wuck sah Lui erleichtert an.

Von da an wagten sie sich auch alleine hin, damit das Tier regelmäßig zu essen und zu trinken bekam. Aber am liebsten gingen sie zusammen.

Mit der Zeit gewöhnten sich das Tier und die Knaben aneinander. Die Jungs hatten einen Riesenspaß dabei, den Schlingel zum spielerischen Kampf herauszufordern, und wenn der kleine Racker seine Krallen ausfuhr, konnten sie nicht genug davon kriegen. Deswegen trugen sie vorsorglich Handschuhe.

Aber einmal erwischte das Tier Wuck am Arm und das gab einen bösen Kratzer. Wuck erzählte später, dass der Vorsetzer am Abend die Wunde mit einem kritischen Blick begutachtet hatte. Er redete sich heraus, er wäre beim Räißern gestürzt und hätte sich an einer scharfen Kante die Haut aufgerissen. Verletzungen kamen praktisch nie vor und der Vorsetzer runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Der Kratzer fiel noch einmal beim Messen und Wiegen auf, jedoch war er da schon beinahe verheilt und auch die Kontrolleure verloren kein Wort darüber.

Das gemeinsam gehütete Geheimnis verband die Jungen noch stärker. Es tat gut, sich aufeinander verlassen zu können.

Darüber, welche Folgen ihnen drohten, dachten sie nicht weiter nach. Denn hätten sie es getan, wäre ihnen klargeworden, dass sie aufhören mussten, sich zu sehen. Sie suchten verbotenes Gelände auf, sie verdreckten sich und sie versteckten ein Tier! Statt sich dem Undenkbaren zu stellen, machten sie sich vor, alles sei wie immer.

Nur so einfach war das nicht.

Der Drang wuchs nämlich. Am Rande der Isiwelt mit seinem Freund ungestört und frei zu spielen und dann noch mit dem Tier herumzutollen: Lui konnte das Gefühl von Wärme, das er dabei hatte, gar nicht beschreiben.

Er geriet ins Zweifeln. Wenn es so guttat, einen Freund zu haben oder ein Tier zu hüten, warum war es dann in Isi verboten? Dass das kleine Fellknäuel sie krank machen sollte, davon spürten sie auch nichts!

Allmählich dämmerte Lui, was passieren könnte, wenn »sie« dahinterkämen. Das machte ihn ganz kirre. Warum reizte ihn das Abenteuer inmitten der staubigen Buschlandschaft mehr als die so herrlich ausgerüsteten Spielparks in der Isiwelt? War er anders als die andern? War mit ihm etwas falsch?

Einmal wandte er sich an Wuck: »Was denkst du, ob uns die Krawallerie auf die Schliche kommt?«

Wuck schüttelte den Kopf. »Nie und nimmer. Wir müssen das Tier nur gut versteckt halten. Und achtgeben, dass keiner mitkriegt, wo wir hingehen!«

Dann sah er Lui beunruhigt an. »Gefällt es dir hier nicht mehr?«

»Ach woher!«, strahlte Lui, wurde aber gleich wieder ernst. »Ich habe nur Angst, dass das alles mal aufhört.«

Noch etwas brachte die Knaben ins Grübeln. Lui fiel es zuerst auf: »Hast du bemerkt, dass das Tier größer wird? Es wächst! Wie wir!«

Wuck sah überrascht drein und nickte dann. »Klar, du hast recht. Ist mir noch gar nicht aufgefallen! Was machen wir«, fuhr er fort, »wenn das so groß wird wie wir oder noch größer?«

»Ach, du fieses Staubkorn, das wär ja total verdreckt!«, gab Lui zurück. Er dachte nach. »Dann lassen wir es frei!«

»Das ist es, isi«, nickte Wuck.

Immer wenn das Tier vom Toben genug hatte, krabbelte es einem der beiden auf den Bauch. Dort rollte es sich zusammen, begann zu schnurren und machte ein Nickerchen. Die Jungs lagerten dann eine Weile beisammen und unterhielten sich leise, bis ihr vierbeiniger Freund wieder erwachte und weitertöbern wollte.