Luther vermitteln -  - E-Book

Luther vermitteln E-Book

4,4

Beschreibung

Das Reformationsjubiläum steht vor der Tür. Der 500. Jahrestag des Thesenanschlags bietet die Gelegenheit, Luther und die Reformation einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen. Wie aber kann dies konkret gelingen? Ist der Teil der Fachwissenschaft im Recht, der eine konsequente Historisierung Luthers fordert und dessen Fremdheit betont, oder ist es besser, die reformatorische Botschaft zu aktualisieren und für ihre bleibende Bedeutung für die Gegenwart zu werben? Der Band versammelt die Überlegungen von Akteuren geschichtskultureller Praxis, die in der Schule, im Museum oder in Film und Fernsehen vor der Aufgabe stehen, heute Luther zu "vermitteln". Dabei geht es um grundsätzliche Fragen historischer Bildungspraxis, aber auch um konkrete Ideen, wie Reformationsgeschichte im Jahr 2017 erzählt werden kann. Mit Beiträgen von Stefan Rhein, Benjamin Hasselhorn, Albrecht Geck, Karlo Meyer, Sabine Blaszcyk, Nico Lamprecht, Peter Lautzas, Stefan Laube, Harald Schwillus, Claudia Brink, Robert Kluth, Marc Höchner, Mirko Gutjahr, Esther Wipfler, Hans-Rüdiger Schwab, Mario Krebs, Ulli Pfau.

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Benjamin Hasselhorn (Hrsg.)

LUTHER VERMITTELN

Reformationsgeschichte zwischen Historisierung und Aktualisierung

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Die Beiträge dieses Bandes gehen auf die Tagung »Luther vermitteln« zurück, die die Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt am 26./27.11.2015 im Lutherhaus Wittenberg durchgeführt hat.

© 2016 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Cover: Fruehbeetgrafik · Thomas Puschmann · Leipzig

Satz: Makena Plangrafik, Leipzig

ISBN 978-3-374-04698-0

www.eva-leipzig.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

I. HISTORISIERUNGVS. AKTUALISIERUNG

Stefan RheinZUR EINFÜHRUNG

Luthervermittlung zwischen Popularität und Fremdheit

Benjamin HasselhornREFLEKTIERTES ERZÄHLEN

Lutherdeutung zwischen Mythos und Wissenschaft

II. LUTHERINDER SCHULE

Albrecht GeckVONDER »IDEALEN PERSÖNLICHKEIT« ZUM »PEINLICHEN ÜBERBAUTYPEN«

Martin Luther in Schulbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts (1870 –1970)

Karlo Meyer, Stefanie Lorenzen und Christian NeddensRECHTFERTIGUNGLEHREN

Luthers Unterscheidungskunst als Struktur religiöser Bildungsprozesse

Sabine BlaszcykMARTIN LUTHER - EIN BILDVONEINEM MANN

Meinungsäußerungen von Jugendlichen aus Sachsen-Anhalt zum Reformator

Niko LamprechtREFORMATIONONLINE – GEHTDASGUT?

Vorstellung zum neuen interdisziplinären Projekt von EKD und VGD e. V

Peter LautzasREFORMATIONSGESCHICHTEHEUTE

Thesen zur zeitgemäßen Darstellung der Reformationsgeschichte und Martin Luthers in der schulischen Bildung

III. LUTHER IM MUSEUM

Stefan LaubePERMANENTE NEUAKZENTUIERUNG

Museale Lutherbilder in der Moderne

Harald SchwillusLUTHERAUSSTELLEN

Überlegungen zur musealen Inszenierung von Religion

Claudia Brink»LUTHERUNDDIE FÜRSTEN«

Die 1. Nationale Sonderausstellung zum Reformationsjubiläum 2017 in Torgau

Robert KluthJENSEITSDER SCHRIFT

Reformationsgeschichte mit Infografiken vermitteln

Marc Höchner»LUTHERUNDDIE DEUTSCHEN«

Nationale Sonderausstellung vom 4. Mai bis 5. November 2017

Mirko Gutjahr»LUTHER! 95 SCHÄTZE - 95 MENSCHEN«

Nationale Sonderausstellung in Wittenberg vom 13. Mai bis 5. November 2017

IV. LUTHERIN FILMUND FERNSEHEN

Esther WipflerLUTHERIM KINO

Der Imagewandel des Reformators im Film

Hans-Rüdiger SchwabLUTHERIMDEUTSCHEN FERNSEHEN

Signale an ein Massenpublikum

Mario Krebs»KATHARINA«

Spielfilm für die ARD

Ulli PfauDER LUTHER-CODE

Eine sechsteilige TV-Reihe für ARTE zum Thema »500 Jahre Reformation«

PERSONENREGISTER

ABBILDUNGSNACHWEIS

DIE AUTORENDIESES BANDES

Weitere Bücher

Fußnoten

I. HISTORISIERUNGVS. AKTUALISIERUNG

Stefan Rhein

ZUR EINFÜHRUNG

Luthervermittlung zwischen Popularität und Fremdheit

Die Begleitmusik zum Reformationsjubiläum 2017 ertönt auf vielen Klaviaturen. Die Touristiker haben rund 400 Millionen Protestanten weltweit im Blick, eine Zielgruppe, die v. a. in den USA, in Skandinavien und in Südkorea angesprochen werden soll. Die Angebote reichen von »Rad und Reformation« bis hin zu »LutherCountry«, wo spirituelle Erlebnisse versprochen werden. Dabei stehen nicht selten die mitteldeutschen Länder in Konkurrenz, wenn sich etwa Sachsen-Anhalt als »Ursprungsland der Reformation« und Thüringen als »Kernland der Reformation« positionieren und um die Gunst der erwarteten bzw. erhofften Touristenscharen werben. Die Reiseveranstalter sind national und international breit aufgestellt und führen Reisen mit theologischen Einführungen zu Luthers Bibelverständnis und Rechtfertigungslehre durch (so »Biblisch Reisen«) oder versprechen bei der Reise zu den Reformationsstätten einen »walk of faith« für alle (»you and fellow christians«) und eine »unforgettable journey of discovery« zu den »Reformation Heroes« (so »Luther Tours«).

Überaus produktiv zeigt sich die Kreativwirtschaft, die eine Fülle von Theaterstücken, Oratorien, Opern und Musicals für 2017 plant oder bereits in Szene gesetzt hat, so z.B. das Pop-Oratorium »Luther« von Michael Kunze und Dieter Falk, das am Reformationstag 2015 Weltpremiere in der Dortmunder Westfalenhalle hatte und eindrucksvolle Zahlen aufweisen kann: ein Chor von 3.000 Sängern, 12 Musical-Profis, ein 40-köpfiges Orchester, eine Band, eine Lichtshow und 16.000 laut Presse begeisterte Zuhörer; 2017 gehen die Aufführungen weiter, etwa in der Porsche-Arena Stuttgart oder im Gerry-Weber-Stadion in Halle/Westfalen. Von dem Komponisten Siegfried Matthus ist die Oper »Luthers Träume. Eine szenisch-musikalische Vision« für Dresden in Arbeit, und – um nur noch ein Beispiel anzuführen – bereits auf der Bühne ist »Play Luther« zu erleben, ein musikalisches Theaterstück, das sich nicht auf Szenen aus Luthers Leben beschränkt, sondern auch grundsätzliche gesellschaftspolitische Fragen stellen will. Die Merchandising-Industrie zeigt ebenfalls große Kreativität: Mousepad Lutherrose, rote Lutherkrawatte mit Aufdruck »Here I stand« samt Jubiläumslogo, Tassenuntersetzer »Hallo Luther«, »Hallo Luther« übrigens auch als Aufdruck auf einer Nylon-Frisbeescheibe, Lutherkekse, Lutherbonbon (z.B. in der Großpackung mit Apfelgeschmack), Luftballons mit Lutherporträt, die Lutherrose als Kuchenschablone oder derzeit alles überstrahlend die Playmobil-Sonderfigur »Martin Luther« mit Federkiel und aufgeschlagener Bibelübersetzung, die auf Initiative der Congress- und Tourismus-Zentrale Nürnberg hergestellt wird; die ersten 34.000 Stück waren innerhalb von drei Tagen ausverkauft – ein Rekord auch für den fränkischen Spielzeughersteller Playmobil. Größer als der Playmobil-Luther waren die rund 800 Lutherfiguren, die Ottmar Hörl auf den Wittenberger Marktplatz aufstellen ließ, und größer war auch die Aufregung um sie: Die »Lutherzwerge« ließen den Theologen und Publizisten Friedrich Schorlemmer an »Massenkitsch«1 denken, durch den die Sache der Reformation auf den Hund gekommen sei.

Gegen die Popularisierung und Merkantilisierung Luthers, bei der manchem Kritiker die Folie ›Ablasshandel‹ in den Sinn kommt, setzt die reformationshistorische Wissenschaft eine Fülle von Tagungen und Publikationen: Einige Forscher suchen sogar den Weg in die Tageszeitungen – v. a. dann, wenn sie dort ein Forum finden, gegen die aktuelle Jubiläumskultur und insbesondere gegen die öffentlichen Annäherungen an die Person und das Werk Martin Luthers zu polemisieren. Dabei gilt neben Seitenhieben auf die touristischen und kommerziellen Formen die wissenschaftliche Kritik grundsätzlich dem Aneignungsgestus der Aktualisierung. Luther werde in ahistorischer Weise zum Ahnherrn moderner Errungenschaften wie Demokratisierung, Menschenrechte, Aufklärung etc. erklärt; er müsse hingegen kontextualisiert werden, ja gegen seine vermeintliche Aktualität müsse vielmehr seine Fremdheit betont werden. So warnt der Historiker Hartmut Lehmann vor einer Fortführung der Rezeption Luthers im Sinne kirchen- und gesellschaftspolitischer Instrumentalisierung und fordert eine »konsequente Historisierung«, um zu verhindern, Luther fälschlicherweise zum eigenen Zeitgenossen zu machen und ihn dadurch »vorschnell zu harmonisieren, auch zu simplifizieren und zu enthistorisieren«.2 Zu den Polemikern unter den Reformationshistorikern gehört ohne Zweifel Heinz Schilling, dessen Lutherbiographie seit der Erstveröffentlichung 2012 zu einem wichtigen Referenzwerk in der Lutherdekade avancierte.3 In einer Glosse in der Zeitschrift »politik und kultur« spricht er von der Notwendigkeit, die »Halde der Lutherrezeption und des Luthermythos abzutragen«4, und insistiert auf der Fremdheit des Wittenberger Bibelprofessors: »Intentionen und Antriebskern seines Handelns lassen sich nicht aus einer Nähe Luthers zu den Bedingungen unserer heutigen Existenz bestimmen. Vielmehr gilt es auf das ganz Andere und Fremde bei Luther zu achten: Von seiner Wirkungsgeschichte befreit, ist der Reformator eine der großen Gestalten einer für uns heute verlorenen Welt. Er und sein Werk sind nur historisch zu verstehen, wollen wir nicht wiederum nur den eigenen Zeitgeist in ihm ›feiern‹. Luther darf nicht, jedenfalls nicht vorschnell, zu dem Unsrigen gemacht werden, wie das bei den zurückliegenden Zentenarfeiern die Regel war – 1617, in gewisser Weise auch noch 1717 Luther, der Konfessionalist und Befreier aus papistischer Knechtschaft; 1817 Luther, der Befreier und Heros der soeben erweckten Deutschen Nation (Wartburgfest 18./19. Oktober); 1917 der nationalistische Durchhalte-Luther, der wenig später in den finsteren Jahren der nationalsozialistischen Selbst- und Fremddeutung sogar zum Ahnherr Hitlers verzerrt wurde.« Doch auch Schilling entzieht der Jubiläumskultur rund um Martin Luther nicht völlig den Boden, wenn er konzediert: »Allerdings kann es nicht bei der Trennung von vergangener Lebenswelt und Wirkungsgeschichte bleiben. Denn wie immer man seine Biographie ansetzen mag, Luther markiert eine ›Wegscheide der Weltgeschichte‹ (Gottfried Schramm) und ist daher für die Gegenwart unmittelbar relevant: Ohne ihn wären wir, und zwar auch die Nichtchristen im ›Westen‹ nicht, was wir geworden sind!«

Gleichwohl bleibt die Diagnose berechtigt, dass angesichts der wissenschaftlichen Forderungen nach »radikaler Historisierung« und des Insistierens auf der Fremdheit und Alterität Luthers gerade beim Reformationsjubiläum 2017 Geschichtsforschung und Jubiläumskultur besonders stark auseinanderdriften, zumal die geläufigen Vorhaltungen noch hinzutreten, die Erinnerungskultur rund um Luther verliere durch Eventisierung ihre historische Substanz. Bei einer solchen Gefechtslage scheint es angebracht, die Praxis und die Medien einer öffentlichen reformationshistorischen Geschichtskultur näher zu betrachten, auch um den Widerspruch von ›Luther populär‹ vs. ›Luther historisch‹ als Konstrukt einer aufgeregten Debatte aufzuzeigen, die mit den ernsthaften Versuchen eines aktuellen Umgangs mit Leben, Werk und Wirkung des Reformators Martin Luther kaum etwas gemein hat.

Aleida Assmann hat in ihrem Buch »Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung« (München 2007) drei Grundformen der Präsentation von Geschichte außerhalb der engeren Geschichtswissenschaft entwickelt: Erzählen, Ausstellen, Inszenieren. Diese Grundformen werden in diesem Tagungsband am Beispiel Martin Luthers und der Reformation entfaltet: Es geht um das Erzählen in Schulbüchern, es geht um das Ausstellen in Museen und es geht um das Inszenieren in Filmen. Dabei liegt den Ausführungen der Autoren, die fast durchweg geschichtskulturelle und -didaktische Praktiker sind, die Überzeugung zugrunde, dass das erinnernde Vergegenwärtigen dem Vergangenen gegenwärtigen Sinn gibt, so dass als Ausgangsthese für diese gemeinsame Unternehmung gelten darf: Es ist sinnvoll, sich mit Leben, Werk und Wirkung Martin Luthers auseinanderzusetzen.

So will dieser Band, der die Beiträge einer Wittenberger Tagung (26./27.11.2015) zusammenfasst und in Teilen weiterführt, zur Vorbereitung und gleichzeitig zur Reflexion des Reformationsjubiläums 2017 beitragen, indem er erstmals neben den derzeit zahlreichen einschlägigen Publikationen aus Wissenschaft und Kirche das einflussreiche Handlungsfeld der geschichtskulturellen Vermittlung, die aktuellen Projekte wie auch ihre Akteure, vorstellt. Dafür sei den Autorinnen und Autoren und im Besonderen meinem Kollegen Benjamin Hasselhorn, dem Initiator der Tagung und Herausgeber des Bandes, herzlich gedankt!

Lutherstadt Wittenberg, im März 2016

Dr.Stefan Rhein

Vorstand und Direktor der Stiftung

Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt

Benjamin Hasselhorn

REFLEKTIERTES ERZÄHLEN

Lutherdeutung zwischen Mythos und Wissenschaft

1

Ein geradezu klassischer Gegensatz, auf die Spitze getrieben: In der 2. Folge der Ende 2008 ausgestrahlten ZDF-Serie »Die Deutschen« geht es um den Investiturstreit zwischen König HeinrichIV. und Papst GregorVII.1 Ausgewiesene Experten liefern in kurzen Interviewsequenzen eine Deutung des Geschehens, und Spielfilmszenen malen das Ganze aus: König HeinrichIV., barfuß, im Büßergewand und ohne Krone, steht im Januar 1077 im Schnee vor der Burg Canossa und ruft nach dem Papst. Drei Tage lang hält er vor der Burg aus, allein, ohne Essen und Trinken, und fleht den Papst, der ihn als König abgesetzt und aus der Kirche ausgestoßen hat, um Gnade an. Es bleibt dem Papst schließlich nichts anderes übrig, als den reuigen Sünder zu empfangen und ihn wieder in die Kirche aufzunehmen. Die Szene ist stark, sie prägt sich ein, und vielleicht behält man als Zuschauer auch noch im Hinterkopf, dass man die Szene verschieden deuten kann: als Sieg des Papstes und Demütigung des deutschen Königs (wie es ebenfalls klassisch in Bismarcks Kulturkampfparole »Nach Canossa gehen wir nicht!«2 zum Ausdruck kommt) oder als klugen Schachzug des Königs, der den Papst zwang, seine Exkommunikation rückgängig zu machen und damit die Voraussetzung dafür schuf, seine Macht zu erhalten und weiter auszudehnen.3

Aber nicht bloß gegen die eine oder die andere Deutung, sondern gleich gegen die ganze Szene erhob sich prominenter Widerspruch: Der Frankfurter Mediävist Johannes Fried erklärte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »alles falsch.«4 In Wirklichkeit habe der König gar nicht drei Tage lang ausgeharrt, sei auch nicht reumütig gewesen und habe den Papst zu gar nichts gezwungen. Stattdessen handle es sich bei Canossa um das Ergebnis bilateraler Verhandlungen zwischen Papst und König, und beide seien mit dem Ergebnis hochzufrieden gewesen. Fried kommt zu dieser Einschätzung durch eine aus der von ihm selbst entwickelten »historischen Memorik« gewonnene Neubewertung der bekannten zeitgenössischen Quellen, denen er entnimmt, dass die dramatische Schlüsselszene von der päpstlichen Partei erfunden worden sei.5

Und nun die entscheidende Frage: Welche Version bleibt beim Publikum hängen? Wenn man nicht kulturpessimistisch meint, weder die eine noch die andere, dann dürfte die Antwort nicht schwerfallen: Das Bild besiegt das Wort, der Mythos ist stärker als seine wissenschaftliche Infragestellung. Zu einer historischen Memorik sollte das vielleicht auch gehören: Historische Tatsachenzusammenhänge werden durch bildhafte Verdichtung überliefert; man erinnert sich am besten an Geschichte im Modus von Geschichten. Der barfüßige Kaiser im Schnee ist die größte Chance für diejenigen, die die Erinnerung an Canossa und den Investiturstreit lebendig halten wollen, dieses Ziel auch zu erreichen. Verschiedene Deutungen, Zweifel und Infragestellungen haben natürlich ihren Platz, funktionieren aber am besten – und bleiben auch am besten im Gedächtnis –, wenn das Bild nicht verschwiegen wird. »Wir sollten die Legende vergessen«, wie Johannes Fried in Bezug auf Canossa fordert, ist auf keinen Fall eine gute Idee. Das gilt ganz prinzipiell, für jede historische Epoche, für jede Person, für jedes Ereignis. Es gilt auch für Luther.

Die »Wissenschaft« – wenn diese undifferenzierte Generalisierung einmal erlaubt ist – vertritt aber inzwischen an zahlreichen Stellen ganz andere Positionen. In jedem Fall steht ein großer Teil der Historiker- und der Theologenschaft dem »Mythos« ausgesprochen kritisch gegenüber.6 Das hat im Zuge der Vorbereitung des Reformationsjubiläums 2017 bereits zu einigen Spannungen geführt. Vertreter der historischen Wissenschaften fordern eine konsequente Historisierung Luthers und präsentieren den Reformator als eine dem modernen Menschen zunächst einmal ganz und gar fremde Gestalt des frühen 16. Jahrhunderts.7 Sie äußern zugleich ihre Sorge, dass ein solches Anliegen 2017 kein Gehör finden könnte: Vor allem die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) steht im Verdacht, das Reformationsjubiläum stattdessen für die eigene Selbstverständigung nutzen zu wollen und dabei Luther-Mythen zu huldigen, die der historischen Gestalt Luthers nicht gerecht würden.8

Dagegen positionieren sich diejenigen, die davor warnen, die Historisierung Luthers so weit zu treiben, »dass er uns heute nichts mehr zu sagen hätte.«9 Hier spielt der Unterschied zwischen historisch-wissenschaftlicher Forschung und Geschichtspolitik eine wichtige Rolle; ohne diesen wird überhaupt nicht verständlich, wieso Kirche und Zivilgesellschaft als Hauptakteure des Reformationsjubiläums an solchen Lutherdeutungen interessiert sind, die für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden könnten. Wenn dieses Anliegen nicht als grundsätzlich legitim anerkannt wird, dann kann es zwischen Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik keinen Ausgleich geben, und aus Sicht der Geschichtswissenschaft kann es eigentlich »überhaupt keinen aktualisierenden Rückgriff […] in der Gegenwart mehr geben.«10

Damit sind die Fronten knapp bezeichnet, die sich in der Vorbereitung von 2017 gegenüberstehen. Bleiben sie konfrontativ einander gegenüber gestellt, so werden vermutlich beide Seiten verlieren: die Wissenschaft, weil sie sich gegen die Mythen, gegen die bildhaften, aktualisierenden, erzählenden Deutungen kaum wird behaupten können; die mythisierenden Geschichtspolitiker, weil ihnen vorgeworfen werden wird, dass ihren Deutungen die wissenschaftliche Grundlage fehlt. In diesem Beitrag versuche ich zu zeigen, dass dieser Ausgang nicht unvermeidlich ist. Denn die konfrontative Gegenüberstellung beruht auf einer ganzen Reihe von Missverständnissen, die prinzipiell ausgeräumt werden könnten: Missverständnissen darüber, was ein Mythos eigentlich ist; Missverständnissen darüber, was genau im Falle Luthers eigentlich als Mythos zu bezeichnen ist und was nicht; und Missverständnissen über das Verhältnis, in dem Mythos und wissenschaftliche Forschung zueinander stehen. Meine These lautet: Der wahre Gegensatz besteht nicht zwischen Mythos und Wissenschaft, sondern zwischen reflektiertem und unreflektiertem Mythos. Und unreflektierte Mythen gibt es auf beiden Seiten: sowohl auf der Seite der Geschichtspolitik als auch auf der Seite der Geschichtswissenschaft; sowohl bei den Historisierern als auch bei den Aktualisierern.

2

Als erstes ist die Frage zu beantworten, was ein Mythos eigentlich ist. Dazu ist zunächst festzustellen – und das ist gerade für die hier in Rede stehende Fragestellung sehr wichtig –, dass der Inhalt des Begriffs »Mythos« von Anfang an mehrdeutig ist. »Mythos« ist griechisch und heißt »Erzählung«. Ein auch schon in der Antike nachweisbarer Alltagsgebrauch des Begriffs ist der im Sinne von »nicht mehr als eine Erzählung«, also eine Geschichte, die nicht überprüfbar oder sogar nachweislich und absichtlich falsch ist.11 »Mythos«, »Märchen«, »Legende« – all das bedeutet dann im Grunde nicht mehr als »falsches Bewusstsein«, nicht mehr also als »Irrtum« oder sogar »Lüge«.

Daneben aber kann »Mythos« auch etwas ganz anderes bedeuten. Der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade definierte Mythos klassisch als »heilige Geschichte«.12 In diesem Sinne ist ein Mythos immer noch eine Erzählung, und zwar immer noch eine, die – im historisch-kritischen Sinne – nicht überprüfbar ist. Sie ist deshalb aber nicht falsch, sondern gerade deshalb ist sie wirklich, denn sie steht gewissermaßen über der historisch fassbaren Realität und ist von entscheidender Wichtigkeit. Denn sie berichtet von dem, was sich »in illo tempore«, in der göttlichen Zeit »vor der Zeit« zugetragen hat.13 Man kann religionswissenschaftlich eine Reihe verschiedener Typen von Mythen identifizieren. Religionsgeschichtlich am bedeutendsten sind die Ursprungs- und Schöpfungsmythen, die Auskunft geben über die Herkunft des Kosmos, der Welt, des Menschen.14

An dieses religiöse Verständnis von »Mythos« knüpfen die politischen bzw. Geschichtsmythen an, um die es hier geht. Diese erlebten im 19. Jahrhundert eine besondere Konjunktur.15 Das hing zum einen mit der herausgehobenen Bedeutung zusammen, die die Geschichte im 19. Jahrhundert insgesamt erhielt, zum anderen mit der Einsicht, dass die reine Rationalität niemals dieselbe integrative Kraft entfalten könne wie die große Erzählung. Zur Jahrhundertwende hin verband sich diese Einsicht mit einer »Erwartungsenttäuschung«16 der liberalen Fortschrittshoffnungen sowie einer massenhaften Suche nach neuen Lebenskonzepten jenseits bloßer Rationalität.17 Vor allem im politischen Bereich gilt dieser Befund für ganz Europa, das um die Jahrhundertwende einen Aufschwung von Traditionsstiftungen und Traditionsanknüpfungen erlebte, die alle dem Ziel dienten, die verloren geglaubte Integration wiederherzustellen.18 Am besten funktionierte dies durch politische Mythen, die wiederum durchweg Geschichtserzählungen waren, Ursprungs- oder Heldenerzählungen über die Entstehung oder Verteidigung des eigenen Gemeinwesens mit dem Zweck der Stiftung kollektiver Identität.19

3

Der Zeit gemäß waren im 19. Jahrhundert die politischen Mythen üblicherweise auf das Gemeinwesen der Nation bezogen. Luthermythen spielten daher in erster Linie für die Deutschen eine Rolle, und zwar sowohl unter der Kategorie der Ursprungsmythen – Luther als Ursprung des reformatorischen Christentums, Luther als Stifter der deutschen Sprache und des deutschen Nationalgefühls – als auch unter der Kategorie der Heldenmythen. Hier ist bewusst von »Mythen« im Plural die Rede, weil es mehrere und unterschiedliche mythische Erzählungen über Luther gibt; mehrere Erzählungen, die teilweise aufeinander folgten, teilweise auch gleichzeitig tradiert wurden, sich ergänzten, aber manchmal auch sich widersprachen. Ohne Vollständigkeit zu beanspruchen, seien die einschlägigen Luthermythen genannt, die vom Ende des 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts in Deutschland eine Rolle spielten: »Luther der Freiheitskämpfer«, »Luther der Sprachschöpfer«, »Luther der Familienvater«, »Luther der Fürstenknecht«, »Luther der Deutsche«, »Luther der Judenfeind«, »Luther das religiöse Genie«.

Jeder dieser Mythen wurde narrativ angebunden an bestimmte Szenen und Ereignisse in Luthers Biographie: Das religiöse Genie äußerte sich im sogenannten »Turmerlebnis«, der Sprachschöpfer in der Bibelübersetzung auf der Wartburg, der Familienvater und Pfarrhausgründer in der Hochzeit mit Katharina, der Fürstenknecht in Luthers Verhalten im Bauernkrieg, der Judenfeind in den sogenannten Judenschriften, der Freiheitskämpfer im Thesenanschlag und im Auftritt in Worms, der Deutsche irgendwie in allem, sei es in den Widerstandsakten gegen Rom (Thesenanschlag, Worms), sei es in der »deutschen Innerlichkeit« des Turmerlebnisses und der bürgerlichen Familienidylle, den auf seine »lieben Deutschen« gemünzten politischen Reformschriften oder der nationalpolitischen Tat schlechthin, der Bibelübersetzung.20

In der Vielzahl der Luthermythen kommt nicht nur zum Ausdruck, welch hohen Stellenwert Luther für die deutsche Geschichte und für das Selbstverständnis der Deutschen als Nation hatte. Die Vielzahl der Luthermythen verdeutlicht auch, dass Luther ein besonders dankbarer Gegenstand der Mythisierung war. Das erklärt sich vor allem daraus, dass bereits sehr früh, im Grunde schon zu Luthers Lebzeiten, eine lebhafte Luthermemoria einsetzte und Luther somit zum Mythos von Anfang an wurde.21 So bildete sich sehr früh ein Kanon von mythischen Hauptszenen heraus, die künftig in keinem Mythos fehlten und die seitdem den narrativen Rahmen jeder Luther-Geschichte bilden. Bis heute kommt keine Biographie, und sei sie noch so wissenschaftlich, um diese Hauptszenen herum, und erst recht kein Film oder andere erzählerische Umsetzung. Besonders auffällig ist, dass die Szenen alle in der Anfangsphase von Luthers Leben bzw. von Luthers öffentlichem Auftreten liegen. Damit hängt unmittelbar zusammen, dass sich die letzten zwanzig Lebensjahre Luthers relativ schwierig als Geschichte erzählen lassen. Der mythische Luther ist daher im Grunde immer der »junge Luther«. Manche Lutherfilme beispielsweise verzichten daher vollständig oder teilweise darauf, den »alten Luther« überhaupt zu thematisieren.22

Um die mythischen Szenen oder Bilder zu identifizieren, muss man nur selbst einmal den Versuch unternehmen, Luthers Lebensgeschichte zu erzählen: Luther wurde in Eisleben als Sohn eines Bergbauunternehmers geboren. Nach dem Studium der Freien Künste in Erfurt entschied er sich gegen das vom Vater favorisierte Jurastudium. Grund dafür war – mythisches Bild Nr.1 – ein Damaskuserlebnis: Auf einer Reise geriet er in ein lebensbedrohliches Gewitter, flehte die Heilige Anna um Hilfe an und versprach, für den Fall der Errettung ein Mönch zu werden. Zwei Wochen später trat er ins Kloster ein, wurde zum Priester geweiht und schließlich zum Studium der Theologie nach Wittenberg geschickt. Dort entdeckte er – mythisches Bild Nr.2 – durch die Lektüre der Paulusbriefe in seiner Studierstube im Turm den gnädigen Gott, der den Sünder ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben gerecht macht. Als Dozent für Bibelauslegung an der Wittenberger Universität und als Prediger in der Stadtkirche lernte Luther mit dem Ablasshandel die größte Perversion des damaligen Gesetzesglaubens kennen. Er setzte sich dagegen – mythisches Bild Nr.3 – im Namen seiner theologischen Entdeckung zur Wehr, indem er am 31. Oktober 1517 95 Thesen gegen den Ablass an die Tür der Wittenberger Schlosskirche schlug und zur öffentlichen Disputation über den Ablass aufforderte. Dieser Schritt trug ihm die Feindschaft der Kirche ein, die ihn nach einigem Hin und Her schließlich exkommunizierte – eine Entscheidung, die Luther mit offener Verachtung beantwortete und die ihn dazu veranlasste – mythisches Bild Nr.4 – die päpstliche Bulle, die ihm den Kirchenbann androhte, öffentlich zu verbrennen. Luthers Schritt mit seinen Thesen in die Öffentlichkeit trug ihm außerdem die Feindschaft auch des Kaisers ein, der ihn mit der Reichsacht belegte. Luther widerstand der Versuchung, seine Schriften zu widerrufen und dadurch der Reichsacht zu entgehen, indem er – mythisches Bild Nr.5 – auf dem Reichstag in Worms erklärte, er werde nicht widerrufen, solange er nicht durch Bibel und Vernunft widerlegt werde. Er berief sich dabei ausdrücklich auf sein Gewissen – »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«. Auf dem Heimweg von Worms wurde Luther von seinem Landesherrn scheinentführt und zur Sicherheit auf die Wartburg gebracht, wo er – mythisches Bild Nr.6 – innerhalb von nur elf Wochen das Neue Testament aus dem griechischen Urtext in verständliches Deutsch übersetzte und so den wesentlichen Grundstein für die deutsche Hochsprache legte. Zurück in Wittenberg, setzte er gemeinsam mit seinen Mitstreitern sein Kirchenreformwerk in Gang, unterbrochen vom – zugegebenermaßen in mythischen Bildern nicht ganz einfach fassbaren – Kampf gegen die Radikalen in den eigenen Reihen, allen voran gegen die aufständischen Bauern, deren sozialpolitische Forderungen er eigentlich unterstützenwert fand. In der Hochphase des Bauernkrieges entschloss er sich – mythisches Bild Nr.7 –, ein politisch-theologisches Zeichen zu setzen, das fortan den Unterschied zwischen evangelischen und katholischen Pfarrern unmittelbar vor Augen führte: Er heiratete die ehemalige Nonne Katharina von Bora.

Bis 1525 ergibt sich so eine Erzählung aus einem dramaturgischen Guss, danach wird es schwieriger. Zwar geschieht in den folgenden zwei Jahrzehnten noch theologie-, kirchen- und allgemeingeschichtlich Entscheidendes, kommt es auch zu »Szenen« wie dem Marburger Religionsgespräch 1529, dem Augsburger Reichstag 1530 usw., aber mythische Qualität hat das höchstens noch für Theologen. Das für die Luthermythen Wesentliche geschieht in der Anfangsphase der Reformation, zwischen 1517 und 1525, und es fällt nicht schwer, die beiden mythischen Hauptszenen zu identifizieren. Es handelt sich um Luthers heroische Taten: den Thesenanschlag, mit dem die Reformation im eigentlichen Sinne ihren Ausgang nahm, und den Auftritt 1521 in Worms, wo Luther vor Kaiser und Reich seine Gewissensüberzeugung als Einzelner gegen die Obrigkeit verteidigte.

4

Dies führt zur dritten eingangs gestellten Frage, dem Verhältnis von Mythos und Wissenschaft bzw. des Luthermythos und der historischen Lutherforschung. Interessanterweise nämlich ist es in der historischen Luther- und Reformationsforschung seit langem üblich, gerade die beiden mythischen Hauptszenen um Luther – Thesenanschlag und Auftritt in Worms – zu »dekonstruieren«.23

Im Falle von Luthers Auftritt auf dem Wormser Reichstag geht die wissenschaftliche Infragestellung des Mythos nicht ganz so weit wie beim Thesenanschlag, ist dafür aber allgemeiner Konsens. Den Kern der Infragestellung bildet Luthers Rede vor dem Reichstag, in der er der Aufforderung begegnete, seine Schriften zu widerrufen. Die Weimarer Ausgabe von Luthers Werken bietet hier folgenden Text:

»Weil denn Ew. Majestät und ihre Herrschaften eine einfache Antwort begehrt, so will ich eine geben ohne Hörner und Zähne. Wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder helle Gründe der Vernunft überwunden werde (denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, da feststeht, daß sie oft geirrt und sich selbst widersprochen haben), so bin ich überwunden durch die von mir angeführten Schriftzeugnisse, und mein Gewissen ist gebunden in Gottes Wort. Widerrufen kann und will ich nichts, weil wider das Gewissen zu handeln nicht sicher und nicht lauter ist. Ich kann nicht anders, hier stehe ich. Gott helfe mir, Amen.« (WA 7, 838, 2–9).

Die wissenschaftliche »Dekonstruktion« basiert auf der Tatsache, dass der berühmte Satz »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« Luther erst nachträglich in den Mund gelegt wurde. Die allgemeine Vermutung geht dahin, dass der Satz von Verlegerseite erfunden wurde, um mit diesem plakativen Ausspruch die Verkaufszahlen der Berichte vom Reichstag zu erhöhen.24 Jedenfalls wird vonseiten der Forschung kritisiert, dass durch den Satz »Hier stehe ich, ich kann nicht anders!« ein »heldischer«25 Luther konstruiert werde, der der historischen Realität nicht entspreche. Die Zweifel an der Authentizität des Schlusssatzes kamen innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts auf; bis zum Ersten Weltkrieg allerdings hielten die meisten Historiker die Worte für echt.26

Eine ganz ähnliche Kritik findet sich – allerdings weitaus massiver vorgetragen und wissenschaftlich bis heute nicht unumstritten – im Falle des Thesenanschlags. Hier wird nämlich gleich die ganze Szene geleugnet. Zuerst in Frage gestellt wurde sie 1961 durch den katholischen Kirchenhistoriker Erwin Iserloh.27 Den geschichtspolitischen Hintergrund von Iserlohs Vorstoß bildete das damals noch wirkmächtige Bild von Luther als jugendlichem Glaubenshelden, der entschlossenen Schritts vor die Wittenberger Schlosskirche tritt und seine Thesen schwungvoll an der Tür befestigt – jeder Hammerschlag eine Erschütterung verursachend, unter der das Gebäude der römischen Kirche des Spätmittelalters schließlich zusammenbrechen wird. Es war dieses im 19. Jahrhundert verbreitete mythische Bild vom monumentalen und heroischen Luther, das die Frage überhaupt interessant erschienen ließ, ob der Thesenanschlag eigentlich stattfand oder nicht.28 Denn hier hatte man eine einprägsame, starke Szene gefunden, mit der man den Beginn der Reformation vor Augen führen und sogar ganz genau datieren konnte: auf den 31. Oktober 1517.

Iserloh verwies in seinem Vortrag auf den Sachverhalt, dass es in Luthers eigenen Schriften gar keinen Beleg für den Thesenanschlag gebe. Die einzige Quelle für den Thesenanschlag sei eine Notiz Philipp Melanchthons, der aber erst 1518 nach Wittenberg gekommen und somit kein Augenzeuge gewesen sei und der zudem erst nach Luthers Tod die Behauptung vom Thesenanschlag niedergeschrieben habe, zu einem Zeitpunkt also, als Luther nicht mehr gefragt werden konnte. Es war daher klassische Quellenkritik, die Iserloh zu dem Ergebnis führte, dass Melanchthons Bericht vermutlich nicht der historischen Realität entspreche.29 Die Forschung ist dieser Auffassung zu einem nicht unerheblichen Teil gefolgt; in jüngerer Zeit ist auch die lange offene Frage beantwortet worden, warum Melanchthon den Thesenanschlag denn erfunden haben sollte: Die Erfindung des Thesenanschlags, so etwa Volker Leppin, gehöre in den Kontext einer frühen Monumentalisierung Luthers.30 Der den Hammer schwingende Glaubensheld wäre demnach nicht erst ein Bild des 19. Jahrhunderts gewesen, sondern schon des 16.; die Monumentalisierung Luthers hätte dann unmittelbar nach seinem Tod eingesetzt.31

Wenn man diesen Argumentationsmustern folgt, den Thesenanschlag für erfunden, den Auftritt von Worms für überzeichnet hält, dann drängt sich tatsächlich der Eindruck auf, im Falle Luthers stünden Mythos und Wissenschaft unversöhnlich einander gegenüber. Interessanterweise aber ist die Sache so eindeutig nicht, und man kann im einen wie im anderen Fall schon auf wissenschaftlicher Ebene andere Positionen vertreten. Die Auffassung, dass der Thesenanschlag doch stattgefunden hat, ist von einem Teil der protestantischen Kirchengeschichtsforschung sowieso nie aufgegeben worden, die Iserlohs Argumentation für übertrieben hält:32 Luther, so wurde und wird Iserloh entgegengehalten, habe mit seinen Ablassthesen zur akademischen Disputation aufgerufen. Der übliche Weg, dieses Anliegen bekannt zu machen, habe nun einmal darin bestanden, den Aufruf mitsamt den Thesen am »schwarzen Brett« der Universität zu veröffentlichen – und das Portal der Wittenberger Schlosskirche sei genau dieses »schwarze Brett« gewesen. Nach dieser Deutung gab es 1517 ebenfalls keinen hammerschwingenden Glaubenshelden, und man konnte und kann die Deutung auch mit Vermutungen verbinden wie derjenigen, der Thesenanschlag habe einen Tag später, am 1.11.151733, oder ein bis zwei Wochen später34 stattgefunden, oder sogar derjenigen, dass nicht Luther, sondern der Pedell der Universität den Hammer geschwungen habe.35

Wie auch immer man diese Fragen beurteilt, ein Quellenfund 2007 hat jedenfalls den Anhängern der Thesenanschlagsthese Aufwind gegeben: Eine wiederentdeckte Notiz aus der Feder von Luthers Sekretär Georg Rörer spricht ebenfalls vom Thesenanschlag.36 Rörer war zwar auch kein Augenzeuge, verfasste seine Notiz aber aller Wahrscheinlichkeit nach noch zu Luthers Lebzeiten.37 Die Gegner der Thesenanschlagsthese hat das allerdings wenig beeindruckt; sie gehen weiterhin davon aus, dass die Behauptung des Thesenanschlags in eine erste Phase der Monumentalisierung – man könnte auch Mythisierung sagen – Luthers einzuordnen ist.38 Man müsste dann allerdings Rörer wie Melanchthon eine bewusste Täuschungsabsicht unterstellen, denn es ist kaum davon auszugehen, dass während der jahrzehntelangen engen Zusammenarbeit mit Luther niemals ein Wort über die Umstände der Bekanntwerdung der 95 Thesen gefallen ist. Wie dem auch sei – die Frage nach der Realität des Thesenanschlags bleibt wissenschaftlich offen, und jedenfalls kann man wissenschaftlich verantwortlich sehr wohl davon sprechen, dass Luther die Thesen tatsächlich angeschlagen hat.

Im Falle von Luthers Wormser Auftritt liegen die Dinge im Grunde noch viel einfacher: Die klassische Quellenkritik führt hier zu dem eindeutigen Ergebnis, dass Luther den Satz »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« nicht gesagt hat, nicht wörtlich jedenfalls. Alles andere aber hat er gesagt: dass er sich weder vom Papst noch von den Konzilen belehren lasse, dass er nur die Heilige Schrift und die Vernunft als Autorität anerkenne, dass sein Gewissen im Wort Gottes gefangen sei und er daher nicht – nicht gegen sein Gewissen – widerrufen könne. Was anderes bedeuten diese Worte als »Hier stehe ich, ich kann nicht anders«? Dieser Satz fasst lediglich zusammen, was Luther tatsächlich gesagt hat. Er ist keine Fälschung, er ist eine Verdichtung der historischen Realität.39

5

Diese Erkenntnis führt direkt zu dem hinter der wissenschaftlichen »Dekonstruktion« der Luthermythen stehenden grundsätzlichen Problem. Dem Programm der Mythendekonstruktion liegt nämlich ein verfehltes Verständnis von Wissenschaft bzw. von dem Verhältnis zu Grunde, in dem Mythos und Wissenschaft zueinander stehen. Denn der eingangs erwähnte Alltagsgebrauch des Mythosbegriffs – im Sinne von »falsches Bewusstsein« – hat sich längst nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in den Geisteswissenschaften breit gemacht.40 Der natürliche Verbündete des Mythos, die Theologie, steht spätestens seit den 1960er Jahren ganz im Bann eines Programms der »Entmythologisierung«41, deren geistige Wurzeln in der »Mythen und Legenden zerstörenden Analyse«42 der europäischen Moderne liegen, die seit dem 19. Jahrhundert auch die übrigen Disziplinen erfasst hat. Im Falle der deutschen Geschichtswissenschaft hat die Ausbildung der quellenkritischen Methodik mit dem Ziel, »zu zeigen, wie es eigentlich gewesen«43, vor allem während des Kaiserreichs eine Fülle nüchterner, vielen verbreiteten und politisch gewünschten Geschichtsbildern widersprechender Ergebnisse zusammengetragen.44 Die derzeit modischen kulturalistischen und konstruktivistischen Konzepte mit ihrer Analyse und »Dekonstruktion« von historischen »Narrativen« und Deutungsmustern stehen in dieser Hinsicht ganz in einer disziplinären Tradition.

Dabei treten allerdings die immanenten theoretischen Schwächen solcher Ansätze immer deutlicher zutage.45 Das hängt auch damit zusammen, dass Mythenkritik im Namen der Wissenschaft umso weniger einleuchtet, je stärker die politischen Motive hinter der Kritik hervortreten.46 Andererseits liegt gerade in der Hinwendung zur Kultur-, Ideen- und Symbolgeschichte das Potential, von wissenschaftlicher Seite aus neues Verständnis für den nichtwissenschaftlichen Umgang mit Geschichte zu gewinnen. Ganz zutreffend hat Jan Assmann darauf hingewiesen, dass das Interesse an Geschichte »bis in verhältnismäßig späte Zeit hinein […] kein spezifisch ›historisches‹ Interesse war, sondern ein zugleich umfassenderes und konkreteres Interesse an Legitimation, Rechtfertigung, Versöhnung, Veränderung usw., und in jenen Funktionsrahmen gehört, den wir mit den Begriffen Erinnerung, Überlieferung und Identität abstecken.«47 Das sollte zur Erforschung der verschiedenen Formen des Interesses an Vergangenheit ermuntern, nicht aber zu dessen vorschneller »Dekonstruktion« in entlarvender Absicht. Die Warnung vor der »Billigkeit der Mythenverachtung«48 ist jedenfalls nach wie vor aktuell.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – einer Hochphase kritischer Geschichtswissenschaft in Deutschland – hat eine ganze Reihe von Denkern gerade die Schwäche solcher Mythenkritik hervorgehoben. Nicht alle gingen dabei so weit wie Friedrich Nietzsche, der dazu neigte, der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Geschichte jedes Recht abzusprechen und stattdessen einer ganz auf das Lebensinteresse der Gegenwart gerichteten Geschichtsbetrachtung das Wort zu reden.49 Aber auch Max Weber, der Analytiker der »Entzauberung der Welt« infolge des »okzidentalen Rationalismus«, wies darauf hin, dass man es sich zu leicht mache, wenn man einfach von einem immer weitergehenden Prozess der Rationalisierung ausgehe.50 Gerade auf der politischen Ebene seien auch ganz andere Entwicklungen denkbar, denn grundsätzlich gelte: »Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ›Legitimität‹ zu erwecken und zu pflegen.«51

Noch weiter ging Weber nach dem Zusammenbruch von 1918. Der Weimarer Republik diagnostizierte er einen Wertepluralismus, der nach der lange Zeit in Europa herrschenden geistig-kulturellen Homogenität den historischen Normalzustand wieder hergestellt habe: »Es ist wie in der alten, noch nicht von ihren Göttern und Dämonen entzauberten Welt, nur in anderem Sinne: wie der Hellene einmal der Aphrodite opferte, und dann Apollon und vor allem jeder den Göttern seiner Stadt, so ist es, entzaubert und entkleidet der mythischen, aber innerlich wahren Plastik jenes Verhaltens, noch heute. […] Der großartige Rationalismus der ethisch-methodischen Lebensführung, der aus der religiösen Prophetie quillt, hatte diese Vielgötterei entthront zugunsten des ›Einen das not tut‹ […]. Heute aber ist es religiöser ›Alltag‹. Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf. […] Schicksal unserer Kultur aber ist, daß wir uns dessen wieder deutlicher bewußt werden, nachdem durch ein Jahrhundert die angeblich oder vermeintlich ausschließliche Orientierung an dem großartigen Pathos der christlichen Ethik die Augen dafür geblendet hatte.«52

In diesem Zusammenhang erlebte auch die Debatte über den politischen Mythos, im Sinne bildhaft verdichteter Vorstellungen von der Identität des politischen Verbandes, um die Jahrhundertwende eine Konjunktur.53 Die Überlegungen so verschiedener politischer Theoretiker wie Gustave Le Bon, Vilfredo Pareto, Robert Michels und eben Max Weber kreisten in dieser Zeit alle um das Problem politischer Organisation angesichts eines als neu wahrgenommenen Massenzeitalters. In diesem gebe nicht vernünftige Einsicht den Ausschlag, sondern diejenige Führungselite, die in der Lage sei, die Masse zu mobilisieren.54 Der Privatgelehrte Georges Sorel führte schließlich explizit den Mythosbegriff in die politische Auseinandersetzung ein: Er vertrat in seinem Manifest des revolutionären Syndikalismus, dem Traktat »Über die Gewalt«, 1906 die Auffassung, dass die Handlungsimpulse der Menschen nicht durch rationale Erwägung entstünden, sondern infolge von »Schlachtbildern«. Für jede politische Bewegung seien daher »soziale Mythen« notwendig, »eine Ordnung von Bildern«, die die entsprechenden Gesinnungen wecken könnten.55

Dies als wissenschaftlich irrelevant abzutun, wäre in hohem Maße ignorant. Man ginge in jedem Fall fehl, wenn man politische Mythen wegen ihrer Verknüpfung mythischer Erzählstruktur mit bewusster politischer Zwecksetzung für bloße wirklichkeitsverzerrende Manipulationsversuche erklären würde, die sämtlich wissenschaftlich »dekonstruiert« werden müssen. Ein solches Programm der »Dekonstruktion« nämlich läuft sich in letzter Konsequenz tot, indem es die eigene Grundlage zerstört: Wenn alles dekonstruiert ist, ist nichts mehr übrig, womit man sich noch beschäftigen könnte. Und wenn immer wieder die alten Luthermythen dekonstruiert werden, an die niemand mehr glaubt, weil sie niemand mehr kennt, wirkt der Dekonstruktionsversuch lächerlich. Besser wäre es da, von den Mythen zu lernen und ihre positive Seite wieder kennenzulernen. Im besten Fall nämlich verzerren sie die historische Wirklichkeit nicht, sondern verdichten sie. Und vor allem kommen sie einem »mythischen Bedürfnis«56 des Menschen entgegen, einem Bedürfnis nach einer guten Geschichte, das bislang noch jede Rationalisierung und jede »Entzauberung« der Welt überlebt hat. Bislang hat noch niemand erfolgreich einen historischen Mythos bekämpft und nicht entweder zugleich sämtliches Interesse und sämtliche Kenntnis der Geschichte mit bekämpft – oder den alten durch einen neuen Mythos ersetzt.

Dieses Ersetzen eines alten durch einen neuen Mythos – und das führt zu meiner eingangs bereits genannten Schlussthese – kann reflektiert oder unreflektiert geschehen. Auf den Fall Luther bezogen: Wenn man gegen die Luthermythen, gegen die geschichtspolitischen Instrumentalisierungen der Vergangenheit und Gegenwart im Namen der Wissenschaft kämpft und als Alternative den »wahren«, den »historischen«, uns heute »fremden« Luther anbietet, dann ist dieser »wahre Luther« nichts anderes als ein neuer Luthermythos. Man kann ihn ebenso analysieren und auf der Oberflächenebene »dekonstruieren« wie alle anderen Luthermythen auch. Wenn er im Namen der Wissenschaft in die Debatte eingeführt wird, dann handelt es sich aber um einen unreflektierten Mythos, weil man sich nicht darüber bewusst wird, dass es sich bei diesem »wahren Luther«, sobald er geschichtspolitisch in Stellung gebracht wird, nicht mehr um eine Zusammenfassung des Forschungsstandes handelt, sondern um ein Bild. Das Bild, das der Mythos vom »wahren Luther« vermittelt, ist der »fremde« Luther, der »ganz andere«, der mit uns und unserer Lebenswelt nichts zu tun hat. Man kann dann die »Faszination seiner Alterität«57 stark machen, muss dabei aber im Blick behalten, dass dies ein nur für Lutherkenner interessantes Programm wäre; für den Rest besteht die Gefahr, dass die geschichtspolitische Aussage des »fremden Luther« letztlich zugespitzt wird und lautet: Luther ist irrelevant. Wer 2017 feiern möchte, auch wer lediglich »gedenken« möchte, wird daher diesen Mythos ablehnen. Man kann mit ihm nicht begründen, wieso öffentliches Geld für Luther ausgegeben werden sollte, wieso Bücher über Luther gelesen, Ausstellungen besucht, Filme gesehen oder Unterrichtseinheiten umgesetzt werden sollten. Strenggenommen kann man damit nicht einmal begründen, wozu wir historische Reformationsforschung brauchen.

Der Idee, die historische Lutherforschung würde den Mythos Luther ablösen, liegt jedenfalls eine falsche Vorstellung von der Reichweite und der Aufgabe historischer Forschung zugrunde: Diese hat nicht die Aufgabe, geschichtspolitische Deutungen zu dekonstruieren, sondern die historische Realität zu rekonstruieren. Wenn sie das tut, kann sie auch viel besser auf geschichtspolitische Diskussionen einwirken: Sie gibt dann nicht mehr, aber auch nicht weniger an als den Rahmen der historischen Fakten und Zusammenhänge, innerhalb dessen verantwortlich die Geschichte Luthers erzählt werden kann. Welche Geschichte erzählt wird, ist eine Frage, zu der Historiker und Theologen als Wissenschaftler nicht mehr beitragen können als alle anderen auch. Die Geschichtswissenschaft könnte dann durchaus auch für (geschichts-)politische Debatten eine sachliche Diskussionsgrundlage liefern, würde aber nicht so tun, als könnte sie selbst diese Debatten entscheiden.

Wenn sie diese Aufgabe nicht erfüllt, lässt sie die »Praktiker«, die »Aktualisierer« allein. Diese sollten nämlich ihrerseits ein Interesse daran haben, sich in ihren Luthergeschichten, Lutherbildern und Luthermythen auf seriösem Grund zu bewegen. Sie können das aber nur, wenn die Wissenschaft einen Rahmen bereithält und wenn dieser Rahmen nicht so eng ist, dass gar kein Platz mehr für irgendein Lutherbild bleibt, das von dem Mythos vom »wahren Luther« abweicht. Denn die Aufgabe der Aktualisierer besteht darin, zu entscheiden, welche Geschichte von Luther wir heute erzählen und was wir damit in Gegenwart und Zukunft bezwecken. Im 19. Jahrhundert – als die Luthermythen übrigens fast durchweg von Gelehrten und Wissenschaftlern geschaffen wurden – wusste man dies. Vielleicht sollten wir im Blick auf 2017 daher einen Schuss 19. Jahrhundert wagen.

II. LUTHERINDER SCHULE

Albrecht Geck

VONDER »IDEALEN PERSÖNLICHKEIT« ZUM »PEINLICHEN ÜBERBAUTYPEN«

Martin Luther in Schulbüchern des 19. und 20. Jahrhunderts (1870–1970)

Der Kirchenkreis Recklinghausen unterhält neben dem Institut für Kirchliche Zeitgeschichte des Kirchenkreises Recklinghausen (IKZG-RE) auch ein »Kirchenkreismuseum«, das die Geschichte des Kirchenkreises im Spiegel von Gegenständen aus dieser Geschichte dokumentiert und kommentiert.1 Regelmäßig wird dieses Museum von Gemeinde- und Schülergruppen besucht. Der Museumsleiter stellt dann immer die Frage, wann denn wohl in Recklinghausen die erste evangelische Kirchengemeinde gegründet worden sei – vor 15, vor 150, vor 500 oder vor 1.500 Jahren. Die Schülerinnen und Schüler liegen fast immer daneben, nur einmal gab einer die richtige Antwort: »Vor 150 Jahren!« – »Und wie kommst Du darauf?« Antwort: »Weil vor 150 Jahren Martin Luther King in Recklinghausen die Reformation erfunden hat!«

Wusste dieser Schüler nun viel oder wenig? Hätten wir mehr gewusst, wenn man uns mit 14 Jahren gefragt hätte? Jede Generation glaubt ja, die nachwachsende wisse und könne weniger als die eigene. Als ich Schüler war, standen kirchengeschichtliche Inhalte allerdings eher im Hintergrund. Wir wussten oftmals also kaum, dass wir nichts wussten, und entdeckten manches erst erstaunt während des Studiums. Ganz anders im Jahre 1900, als mein Großvater die Schulbank drückte. Damals hieß es programmatisch: »Religionsunterricht ist geschichtlicher Unterricht.«2 Heute dagegen ist man, was den schulischen Kirchengeschichtsunterricht angeht, eher skeptisch. Er gilt als religionsdidaktischer Problemfall im Sinne des Statements von Henry Ford: »History is bunk.«3 Bedenkt man, dass in einem Lehrwerk des Jahres 1927 der gesamte dritte Band der Kirchengeschichte gewidmet war (und davon etwa 25 Prozent Luther und der Reformation),4 dann erkennt man den Bedeutungswandel. Erst in den letzten Jahren scheint es in Verbindung mit dem Reformationsjubiläum 2017 wieder eine stärkere Wertschätzung historischer Inhalte zu geben.

Der Befund ist aus der Perspektive historischer Kirchengeschichtsdidaktik erläuterungsbedürftig. Es stellt sich die Frage nach den religionsdidaktischen Begründungen. Wann und mit welchen Zielsetzungen wurden Luther und die Reformation in der Schule ausführlich, weniger ausführlich oder vielleicht sogar gar nicht thematisiert? Diese Frage steht im Hintergrund, wenn im Folgenden nun Lehrwerke aus den Jahren zwischen 1870 und 1970 vorgestellt und thematisiert werden. Die Erstpublikationen der behandelten Bücher liegen etwa 25 Jahre auseinander, was aber im 20. Jahrhundert bedeutet, dass jeweils epochale politische Umbrüche vorausgesetzt werden müssen. Es zeigt sich, dass diese auf den Zuschnitt der Behandlung Luthers im Religionsunterricht großen Einfluss hatten.

1 1900: LUTHERALS »IDEALE PERSÖNLICHKEIT«

Der Münchener Künstler und Porträtist Karl Bauer, der sich im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als einer der bedeutendsten Lutherporträtisten profilierte, legte um die Wende zum 20. Jahrhundert ein bemerkenswertes Lutherbildnis vor, dem der Erlanger Kirchenhistoriker Hans Preuss die Überschrift gab: »Luther als Persönlichkeit«.5 Was gemeint ist, wird klar, wenn man dieses Bildnis mit seiner sehr viel weniger ausdrucksstarken Vorlage aus der Cranachwerkstatt vergleicht. Es ist sofort deutlich, dass es Bauer auf eine Verlebendigung des Reformators ankommt, die eine persönliche Begegnung mit dem Betrachter ermöglichen soll. Luthers Augen sind ausdrucksstark, so als habe er dem Künstler leibhaftig Modell gesessen. Der Betrachter soll zehren von der kraftvollen Persönlichkeit des Reformators.6

Auf solche unmittelbaren Begegnungen mit der Geschichte kam es dem pädagogischen Zeitgeist damals gerade an. Das verraten Buchtitel wie »Bei großen Männern«7 oder etwa die Einleitung zu Martin Rades monumentalem Wälzer »Doktor Martin Luthers Leben« von 1883 (insgesamt etwa 2.300 Seiten), der sich an junge Leser richtete: »Nicht wahr, Du hast auch mit Lutherfest gefeiert? Ja, kennst Du denn den Mann, dessen Name mit einem Male, jetzt, vierhundert Jahre nach seiner Geburt, das ganze evangelische Deutschland mächtig bewegt und begeistert hat? Ich meine nicht, ob Du von ihm gehört hast, sondern ob Du ihn kennst, wie man einen Freund kennt.«8

Religionsdidaktisch formuliert: In diesen volkspädagogisch gemeinten Bildnissen und Lebensbildern ging es darum, dem jungen Menschen eine »ideale Begegnung« mit Luther zu ermöglichen. Der Begriff »ideale Begegnung« war ein Kernbegriff der Pädagogik Johann Friedrich Herbarts (1776–1841). Herbart unterschied in seiner »Allgemeinen Pädagogik« zwischen Erkenntnis und Teilnahme und dementsprechend zwischen distanzierendem und identifizierendem Interesse. Zur Erkenntnis gelange der Mensch durch Erfahrung, zur Teilnahme durch persönlichen Umgang. Ziel der Pädagogik war letztlich also »Teilnahme«. Die Schüler sollten im Unterricht den großen Persönlichkeiten der Geschichte wirklich begegnen. Durch »ideale Begegnung« sollte identifizierendes Interesse geweckt werden.9

Seit 1900 erschien bei Ernst Wunderlich (Leipzig) das durch Ernst Heyn (1860–1926) und August Reukauf (1867–1941) bearbeitete Lehrwerk »Evangelischer Religionsunterricht«.10 Das Gesamtwerk umfasste elf Bände, die zum Teil bis zu zehn Auflagen erreichten. Das Werk war für die Hand des Lehrers gedacht und enthielt sog. »Stundenbilder«, heute würden wir sagen »Unterrichtsmodelle«, die sich auf Texte bezogen, die den Schülern in »Lesebüchern« vorlagen. Dieses Lehrwerk war darauf abgestellt, den Schülern im Sinne Herbarts »ideale Begegnungen« mit Persönlichkeiten in der Geschichte zu ermöglichen. Die Stoffverteilung entsprach in etwa dem »Lehrplan für den evangelischen Religionsunterricht an den höheren Schulen in Preußen« von 1917:

(5. Kl.) Sexta

-

(6. Kl.) Quinta

-

(7. Kl.) Quarta

Lebensbilder (Urchristentum – Christenverfolgungen – Alte Kirche – Mission)

(8. Kl.) Untertertia

-

(9. Kl.) Obertertia

Lebensbilder (Urchristentum – Alte Kirche – Mittelalter – Reformation)

(10. Kl.) Untersekunda

Lebensbilder (Gegenreformation – Pietismus – Erweckung – Union – Innere und Äußere Mission)

(11. Kl.) Obersekunda

Entwicklung der Kirche in der griechisch-römischen Kulturwelt

(12. Kl.) Unterprima

Entwicklung der Kirche im Abendland – Charakteristik der kath. Kirche (vor- und nachtridentinisch)

(13. Kl.) Oberprima

Entwicklung der Kirche in der Neuzeit (Reformation – Gegenreformation – Pietismus – Aufklärung – 19. Jahrhundert – Innere und Äußere Mission)