Macedonio Fernández: Nicht jedes Wachen ist das mit den offenen Augen -  - E-Book

Macedonio Fernández: Nicht jedes Wachen ist das mit den offenen Augen E-Book

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Beschreibung

Die Totalität eines wachsamen Zustands des Wachens verneint der Titel des 1928 erschienenen Erstlingswerks No toda es vigilia la de las ojos abiertos des argentinischen Philosophen Macedonio Fernández, das nun erstmals in deutscher Sprache erhältlich ist. Bei dem Autor handelt es sich um den wichtigsten Vorläufer von Jorge Luis Borges, der 1952 über den eben Verstorbenen sagte, dass er ihn jahrelang bis hin zum passioniert-devoten Plagiat imitiert habe. Das Werk ist eine leidenschaftliche, träumerisch-verspielte Kritik an jeglicher Philosophie der Vernunft. Ein dekolonialer Angriff auf die großen europäischen Philosophen (von Kant bis Hobbes) voller Ironie und Parodie erwartet Sie! Die Publikation umfasst eine Einführung in Autor und Werk (Michael Rössner) sowie eine philosophische Einordnung (Victor Ferretti), die Übersetzung (Daniel Graziadei und Florencia Sannders) sowie ein Nachwort der Übersetzerin und des Übersetzers.

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Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2022

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[1]Macedonio Fernández:Nicht jedes Wachen ist das mit den offenen Augen

[2]Studia philologica Monacensia

Edunt Andreas Dufter et Bernhard Teuber

Volumen 22 · 2022

Collegium consultorum

Comité scientifique – Advisory Board – Wissenschaftlicher Beirat

Lina Bolzoni (Scuola Normale Superiore di Pisa)

Anthony Cascardi (University of California at Berkeley)

Pedro Cátedra (Universidad de Salamanca)

Victoria Cirlot (Universitat Pompeu Fabra, Barcelona)

Marie-Luce Démonet (Université François Rabelais, CESR, Tours)

Carlos Garatea Grau (Pontificia Universidad Católica del Perú, Lima)

Barbara Kuhn (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt)

Frank Lestringant (Université Paris-Sorbonne)

María Jesús Mancho Duque (Universidad de Salamanca)

Wolfgang Matzat (Eberhard-Karls-Universität Tübingen)

Paulo de Sousa Aguiar de Medeiros (University of Warwick)

Wolfram Nitsch (Universität zu Köln)

Uli Reich (Freie Universität Berlin)

Maria Selig (Universität Regensburg)

Elisabeth Stark (Universität Zürich)

Daniel Graziadei

Florencia Sannders (Hrsg.)

[3]Macedonio Fernández:Nicht jedes Wachen ist das mit den offenen Augen

Eine Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch mit philologischer und philosophischer Einführung

[4]Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Instituts für Romanische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Umschlagabbildung: © Mario Steigerwald

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.dnb.de abrufbar.

DOI: https://doi.org/10.24053/9783823395553

© 2022 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 · D-72070 Tübingen

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

Satz: typoscript GmbH, WalddorfhäslachCPI books GmbH, Leck

ISSN 2365-3094ISBN 978-3-8233-8555-4 (Print)ISBN 978-3-8233-9555-3 (ePDF)ISBN 978-3-8233-0387-9 (ePub)

[5]Inhalt

Daniel Graziadei

Was hier in der Folge (er-)wacht: Einleitung

Michael Rössner

Alles ist Macedonio, was uns vor die Augen kommt: Die vielen Gesichter des Macedonio Fernández

Victor A. Ferretti

Macedonio Fernández’

No toda es vigilia la de los ojos abiertos

und die Nicht

ich

heit des Seins

Macedonio Fernández

Grundlagen der Metaphysik

Macedonio Fernández

Die Metaphysik

Macedonio Fernández

Nicht jedes Wachen ist das mit den offenen Augen

Daniel Graziadei und Florencia Sannders

Mit geschlossenen Augen weiter sehen: ein metaphysisches Paradoxon

Abschließende Bemerkungen der Übersetzer*innen

[7]Was hier in der Folge (er-)wacht: Einleitung

Daniel Graziadei

Wenn ich nicht schlafe, dann träume ich mich schlafend und wache ich auf, so ist noch lange nicht gesagt, ob ich wirklich aufgewacht bin oder ob ich erst beim nächsten Aufwachen bemerken werde, dass ich in eine Träumerei hineingewacht war, mich also wachend geträumt hatte, was schlussendlich konstante Zweifel an der und ein fortwährendes Grübeln über die Erkenntnis und Differenzierung der Zustände hervorruft.

Sie lesen hier den ersten Satz der Einleitung zu einem Band, der auch vollkommen anders strukturiert sein könnte: Diese Einleitung könnte genauso gut das Nachwort sein und das Nachwort der Übersetzer*innen könnte auch als Vorwort dienen. Lesen Sie das Buch also bitte unbedingt in der Reihenfolge, die Ihnen am besten zusagt, aber lesen Sie irgendwann irgendwie die Übersetzung von Macedonio Fernández’ No toda es vigilia la de las ojos abiertos. Schließlich ist sie der Anlass für diesen Band. Die radikale Hinterfragung von Aufbau und Abfolge philosophischer Abhandlungen und die damit einhergehende Herausforderung wissenschaftlicher Argumentation und Beweisführung ist funktionaler Teil dieser literarisch-philosophischen Abhandlung. In der Kombination aus kühnem philosophischem Gedankenspiel und kompromissloser schriftstellerischer Kunstfreiheit entfaltet der argentinische Autor hier ein herausforderndes Konstrukt, das seine Aktualität nicht zu verlieren scheint. Macedonio beginnt mit einer direkten Hinwendung an seine jungen Leser. Auch ich wende mich an Sie, junge und geistig junggebliebene Leser*innen, die sich an dieses außergewöhnliche Werk wagen. Herzlich willkommen und hereinspaziert in diese Textlandschaft!

Was Sie erwartet

Der erste Beitrag in diesem Band ist eine Einführung in das Leben und Werk des Macedonio Fernández, von dem Jorge Luis Borges behauptete, er hätte ihn bis zum Plagiat hin imitiert. Michael Rössner, ein herausragender Kenner argenti[8]nischer Literatur und einst junger Freund des alten Jorge Luis Borges, führt Sie im ersten Kapitel an Werk und Autor heran. Der Universitätsprofessor im Ruhestand ist, so wie die meisten, dank Borges über die Schriften des Macedonio Fernández gestolpert. 1994 finden sich erste Verweise in dem Artikel „Transgressionen: Zu dem wirkungsästhetischen Potential der Gattungsmischung in nicht-einordenbaren Texten der modernen Literatur“1 und eine weit dezidiertere Diskussion seiner Poetik in „Textsortenlabyrinthe: Zu den Textstrategien bei Macedonio Fernández, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar“.2 Rössner, der Macedonio in zweitgenannten Artikel als den „hierzulande noch zu wenig bekannten ‚Ahnherrn‘ der argentinischen ‚literatura fantástica‘“ nennt, nimmt sich in den Folgejahren der Aufgabe seiner Einführung an.3 Im vorliegenden Band bringt er uns Macedonio Fernández unter dem Titel „Alles ist Macedonio, was uns vor die Augen kommt: Die vielen Gesichter des Macedonio Fernández“ näher. Rössner beginnt bei der bereits benannten Mythifizierung von Macedonio durch Borges, legt in der Folge den Übergang vom Juristen zum vor allem mündlich agierenden Kaffehausliteraten offen und diskutiert seine literarische Bedeutung – von der Avantgarde von Buenos Aires seiner Zeit bis zur Literatur unserer Zeit.

Der zweite Beitrag dieses Bandes, „Macedonio Fernández’ No toda es vigilia la de los ojos abiertos (1928) und die Nichtichheit des Seins“, stellt Macedonio Fernández als extravaganten Vertreter der literarischen Philosophie vor. Victor Andrés Ferretti vollzieht hierin einen „Parcours durch Macedonios phänomenale Gedankenführung“ und legt dabei die philosophisch-philologischen Herausforderungen offen, die Nicht jedes Wachen ist das mit den offenen Augen ausstellt. Dabei zeigt der literarische Übersetzer und Universitätsprofessor für Spanische und Portugiesische Literaturwissenschaft in Augsburg die philosophischen Traditionslinien auf, die im Werk verhandelt werden, und diskutiert, [9]welche Implikationen dies für unser heutiges Lesen und Denken auf Spanisch, Deutsch und zwischen den Sprachen mit sich bringt. Zu Macedonio Fernández ist Ferretti über seine Forschung4 zu Jorges Luis Borges gelangt. Seither ‚verläuft‘ er sich immer wieder gern in den Gedankengängen von Macedonios experimentellem Roman Museo de la Novela de la Eterna (primera novela buena). Er ist damit bestens gewappnet, alle Leser*innen mit klärenden Anmerkungen und weiterführenden Verweisen an diese literarisch-philosophischen Gedankengänge heranzuführen.

Derart gut philologisch und philosophisch vorbereitet, können Leser*innen, die der Reihe nach lesen, das dritte Kapitel in Angriff nehmen: den Hauptteil der Arbeit, die Übersetzung aus dem Argentinischen Spanisch ins Deutsche von Florencia Sannders und dem Verfasser dieses Vorworts, Daniel Graziadei. Die in Argentinien geborene und derzeit in München lehrende Literaturwissenschaftlerin Florencia Sannders gelangte ebenfalls über Borges zu Macedonio und es überraschte sie, bei Macedonio Borges avant la lettre zu finden. In ihrer persönlichen Universitätserfahrung an bonaerensischen Universitäten war Macedonio zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht präsent, derzeit wird er jedoch nicht nur hier im deutschsprachigen Raum, sondern auch in Argentinien wiederentdeckt.

Persönlich habe ich Macedonio Fernández in meinem literaturwissenschaftlichen Studium kennengelernt, als studentische Hilfskraft wohnte ich in den frühen 2000ern einer wissenschaftlichen Übung und 2012 als Assistent dem Hauptseminar „Macedonio Fernández als Modell für die neuere argentinische Literatur“ von Michael Rössner bei und wurde somit in philologisch präzisen und textnahen Lektüren an seine Poetik und Wirkmacht herangeführt. Da die verspielte (Selbst-)Ironie seiner Texte mit meiner eigenen ethischen und ästhetischen Position als Literaturwissenschaftler und Literat kompatibel sind, war ich sehr leicht für dieses Übersetzungsprojekt zu gewinnen. Als Florencia Sannders in einem Gespräch 2018 verlauten ließ, dass es an der Zeit wäre, Macedonio Fernández ins Deutsche zu übersetzen, war ich überredet, bevor sie überhaupt eine konkrete Übersetzungsidee formuliert hatte. Nach kurzem Nachdenken und einigen Lektüren fiel die Wahl sehr schnell auf das eigenartige, eigenwillige und eigensinnige Werk No toda es vigilia la de los ojos abiertos, dessen Titel wir mit Nicht jedes Wachen ist das mit den offenen Augen übersetzt haben. Neben der editio princeps von 1928 haben wir uns dazu entschieden, auch zwei etwas pointierte Aufsätze von 1908 zu übersetzen: „Bases en Metafísica“ [10]und „La Metafísica“. Diese beginnen die erweiterten Ausgaben von 1967, 1990 und 2015 und erlauben es, bereits an den Ursprüngen des idealistisch-metaphysischen Denkens von Macedonio Fernández anzusetzen und dem hochgradig spielerischen, aber teils auch sehr komplexen Text von 1928 eine leichter lesbare und direktere, frühere Schreibweise voranzustellen.

Über unsere Zusammenarbeit, unseren Zugang und unsere Überarbeitungsschritte, die Herausforderungen und Probleme referieren wir im abschließenden Kapitel, dem Nachwort der Übersetzer*innen.

Zu den Bildern in dieser Ausgabe

Im Laufe der Vorbereitung dieser Publikation fragte unsere Lektorin, Kathrin Heyng, ob wir Herausgeber*innen Bildideen für die Titelseite hätten. Florencia Sannders und ich waren uns schnell einig, dass es sich hierbei um keine der üblichen fotografischen Abbildungen des Autors handeln durfte. Die Titelseiten diverser Ausgaben und die Bildersuche in der Internet-Suchmaschine Ihrer Wahl kennen zumeist vier Schwarz-Weiß-Darstellungen, deren Fotografen nicht nennenswert scheinen: Das eine Foto zeigt einen Mann mittleren Alters mit forschem Blick, Kurzhaarfrisur und Schnauzer, der mit leicht gesenktem Haupt und durchdringendem Blick in die Kamera blickt und den Betrachter vom Tode und der Vergangenheit her herauszufordern scheint. Zwei weitere Fotografien zeigen einen alten, vollbärtigen Macedonio mit Altersflecken auf der Stirn und halblangen, zerzausten weißen Haaren, in einen schwarzen Mantel gehüllt, draußen, scheinbar beim Spaziergang in einem Park, der den Blick weit zweifelnder und sanfter nach rechts und ebenfalls direkt auf die Kamera gerichtet hat. Die vierte viel verwendete Fotografie scheint aus derselben Serie zu stammen, hat einen anderen Hintergrund und der Blick ist nicht auf die Kamera, sondern eher voraus auf den einzuschlagenden Weg gerichtet. Alle vier exponieren sehr deutlich die Manifestation des Todes und der Vergänglichkeit, die Roland Barthes der Fotografie zuschreibt,5 und alle vier zeigen Männer, die nicht mit dem radikalen und der Jugend zugewandten Duktus des hier vorliegenden Bandes übereinzustimmen scheinen. Auch die weniger bekannten anderen Fotografien – im Kreise der Familie, auf einer Parkbank oder bei einem der berühmt-berüchtigten Kaffeehausaufenthalten in einer Gruppe Literaten – wurden unserem Anliegen nicht gerecht. Schlussendlich soll es bei dieser Übersetzung und den dazu verfassten Begleittexten nicht in erster Linie um die historische Figur, sondern um das philosophisch-schriftstellerische Schaffen und Denken des Macedonio Fernández gehen. Da die Evidenz des Künstlerkörpers nur Zweifel, Fragen zum Wesen der Dinge und dem Status der [11]Ontologie, aber keine Authentizität, geschweige denn Wahrheit generieren kann – das offenbart Victor Ferretti in seinem Artikel zu Macedonios Philosophie ebenso wie das übersetzte Werk selbst – sollte unserer Meinung nach eine andere Visualität zum Zuge kommen. Eine, die sich mit eben diesem Komplex oder zumindest mit dem Titel des Werks auseinandersetzen sollte.

Wie der einleitende Artikel von Michael Rössner zum Autor und seinem Werk bereits verdeutlicht, stand Macedonio ja durchaus im (Kaffeehaus-)Dialog mit seinen Zeitgenossen und den Nachfolgegenerationen. Aus dem Wissen um diese Struktur des Austausches und des kreativen Zusammenlebens entstand bald die Idee, zwei zeitgenössische Künstler, mit denen ich persönlich im künstlerischen Austausch stehe,6 zu fragen, ob sie auf den Titel des Bandes, No toda es vigilia la de las ojos abiertos, künstlerisch und wenn möglich in Schwarz-Weiß reagieren könnten. Bei den Künstlern handelt es sich um Helmut Geier und Mario Steigerwald. Beide sagten zu und beide lieferten.

Helmut Geier wurde in Meran (Südtirol) geboren und studierte Malerei und Grafik an der Akademie der Bildenden Künste in München, wo er zum Zeitpunkt der Drucklegung weiterhin lebt und sich u.a. der freien und gegenständlichen Malerei widmet und musiziert. Die Collage vor der Übersetzung, auf Seite 38, stammt von ihm. Helmut Geier kannte Macedonio Fernández und sein Schaffen vor dieser Arbeit nicht, Titel und Exposé des Projekts verhalfen ihm zu einer ersten Annäherung. In einer Zeit, in der er wenig Rückzugsmöglichkeiten hatte, war diese Annäherung eine Herausforderung, aber schlussendlich war bereits der allererste Impuls ausschlaggebend. Geier versteht No toda es vigilia la de las ojos abiertos als einen bewusst halbwissenschaftlichen Dilettantismus, der eine starke Provokation impliziert, die wissenschaftliche Standards und gesellschaftliche Normen hinterfragt. Dabei begreift er Macedonio als spezielle Figur seiner Zeit, in einer konstanten Auseinandersetzung mit seiner Verwurzelung im europäischen Diskurs einerseits, und den antagonistischen Elementen aus dem lateinamerikanischen Kulturkreis der kolonialen Vermischung andererseits, die in Form eines transzendentalen, spiritistischen und okkulten Wissens greifbar wird. Seine Collage verarbeitet eine Fotografie von Fred Holland Day (1864–1933), die den beschreibenden Titel „[Nude youth with laurel wreath and staff]“ trägt, 1906 entstanden und Teil der Louise Imogen Guiney Collection der [12]Library of Congress der Vereinigten Staaten von Amerika ist.7 In seinen dem Piktorialismus zugerechneten Werken verwendet Holland Day häufig historisierende Motive und achtet auf eine deutliche Inszenierung von Körperlichkeiten, um die malerische Qualität der Fotografie zum Vorschein zu bringen. Aus eben diesem Grund sind seine Abzüge auch zumeist Unikate. Dieser jugendliche Akt mit Lorbeerkranz und Stab erfüllt diese ästhetischen Aspekte und zeigt dabei eine homosexuelle Erotik, die ebenfalls typisch ist für sein fotografisches Schaffen. Der Jüngling – Geier vermutet, dass es sich um Holland Days Protégé Khalil Gibran (1883–1931) handeln könnte8 – kann als Referenz auf den im Text angesprochenen jungen Leser verstanden werden. Die Gestik gibt dem Körper die Haltung eines Spähers, Lorbeerkranz und entblößter Oberkörper rufen arkadische, heroische und insgesamt antike Motive auf. Geier sieht darin einen Wächter über Traum und Wirklichkeit oder einen Wandelnden zwischen dem Diesseits und dem Jenseits des Bewusstseins – der Imagination. Der starke Kontrast erzeugt eine losgelöste Stimmung, die Geier hier besonders interessierte. Es ist nicht klar, ob der Jüngling sich die rechte Hand schützend und beschattend vor die Augen hält, um besser sehen und in die Ferne schauen zu können, oder ob seine Finger die Stirn berühren, um einen autohypnotischen Zustand hervorzurufen. Schirmt die Hand das helle Licht der Wahrheit oder der Realität ab? Hält er sich die Stirn, wie ein Denker, der in sich schaut? Es stellt sich somit auch die Frage nach der räumlichen und zeitlichen Gerichtetheit: Ist der Blick in sich gekehrt oder nach außen gekehrt, zurückschauend oder vorausschauend? Die linke Hand hält einen Stab, vielleicht auf einen Zeremonienstab oder eine erloschene Fackel, vielleicht stützt sie sich aber auch auf eine imaginäre Lanze. In der Bearbeitung von Helmut Geier verschwinden Lorbeerkranz und Stab beinahe ganz bzw. können nur noch erahnt werden. Umso deutlicher tritt die spähende Haltung hervor, die im Schatten liegenden Augen – egal ob offen oder geschlossen – scheinen die [13]Betrachter direkt anzustarren, herauszufordern. Der Blick und die Mimik erscheinen ernster als im Original. Zugleich rückt der Jüngling einige Ebenen in den Hintergrund: Er späht hinter Farbschlieren, gegenständlich gezeichneten Pflanzen und abstrakten Linien hervor, die die Konsequenzen der achteckigen Rahmung des Originals in einem Passepartout zeichnerisch weiterführen. Diese Darstellung eines Polyeders abstrahiert den Oktagonschliff eines Edelsteins; ein geometrisches Gerüst, das als mehrdimensionaler Vermittler zwischen Raum und Zeit fungiert. Hierbei handelt es sich um eine digitale Nachbearbeitung: die geometrischen Linien wurden digital eingefügt. Außerdem wurde das Goldocker der Originalcollage digital in Schwarz-Weiß überführt. Das längliche Objekt, das das jugendliche Model auf dem Foto in der Hand hält, wird aufgrund der zeichnerischen Überlappung auch zum Stängel der gezeichneten Pflanze, die Blätter und Blütenstände außerhalb des Fotos aufweist und damit Ebenen überschreitet bzw. zusammenführt. Als ein Symbol für Leben, Streben, Treiben, Erblühen, dann Verwelken, Zerfall und letztendlich wiederkehrende Erneuerung ist die Pflanze hier mehrdeutig, zumal verschiedene Wachstumszustände vereint scheinen: ein neuer Trieb hier, eine Knospe da, eine Blüte und ein verwelktes Blatt dort; Vergangenes, Gegenwärtiges, Zukünftiges – eine biologische Zeitschleife zeigt sich und eine Anlehnung an biologische Studien aus der Zeit vor der Fotografie. Allerdings wurde die Zeichnung mit einem Kopierstift angefertigt. Dessen Linien wirken beim Zeichnen erst wie die eines normalen Bleistifts, in Kontakt mit Wasser, in diesem Fall mit der goldgelben Lasur aus Ocker und Chromgelb, wird die Skizze aber blau. Damit wird im Produkt eines Zeichenvorgangs ein photographischer Prozess entfacht, ein Blau entsteht und verweist auf die Ursprünge der Fotografie und ihre Experimentierfreudigkeit. Das Palimpsest aus Malerei, Zeichnung und Fotografie zusammen mit den deutlich erkennbaren Rändern des Werks scheinen direkt auf die Frage der Aushandlung zwischen Realität, Wirklichkeit, Wachzustand, Schlaf, Traum, Träumerei und Künstlichkeit zu reagieren, diese Frage zwar nicht zu beantworten, aber visuell zu verstärken.

Mario Steigerwald kam in Montevideo (Uruguay) zur Welt und verließ das Land 1974 während der dictadura cívico-militar, der zivil-militärischen Diktatur, die von 1973 bis 1985 andauerte, die Verfolgung, Folter und das Verschwinden jeglicher politischen Opposition zur Folge hatte und auch ihn nicht unversehrt gehen ließ.9 Nach einiger Zeit in Genf studierte Steigerwald an der École Supérieure Artistique „Le 75“ in Brüssel Fotografie und Graphikdesign. Zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Übersetzung lebt Mario Steigerwald in [14]München, wo er u.a. fotografiert, schreibt, malt und Mobiles erschafft. Das Bild auf der Titelseite sowie das Bild hinter der Übersetzung, auf S. 186, stammen von ihm. Er wusste vor meiner Anfrage zwar wer Macedonio Fernández war, was sein Gewicht im literarischen Feld des Cono Sur ist, aber er hatte noch nichts von ihm gelesen. Dennoch steht seine eigene Dichtung in der intertextuellen Tradition, die Borges, Bioy Casares, Cortázar und andere Autoren des Südens Südamerikas an Macedonio bindet: Poetiken des Paradoxons, der Zweifel am ontologischen Status der Realität, der surrealistischen Bildgebungen und der Zentralität des Wachtraums. Genauso finden sich in seinen Werken jene starke Aushandlung zwischen Ich, Imagination und Umwelt, die das hier übersetzte Werk prägt, diese Durchbrechung der Normen durch Neologismen und die Zentralität des einzigartigen (und sonderbaren) Moments. Bei Mario Steigerwald findet sich diese Poetik im spanischsprachigen Dichten (akzentbefreit und mit arbiträren Kommasetzungen), in seiner idiosynkratischen Stadtfotografie (in schwarz-weiß, Menschen in ihrer Aushandlung mit Architektur und Natur), in seinen Mobiles (aus objets trouvés erstellt, farbig, groß, fast schon sperrig), aber auch in seiner Malerei.10 Bei den hier abgedruckten Bildern sind unterschiedliche Materialien zum Einsatz gekommen und erneut ist das zufällige objet trouvé und seine bewusste recyclage, in Form eines nachhaltigen make-do zentral.11 In der Poetik und Rhetorik von Macedonio Fernández finden sich konstant Strategien, die die Ambiguität des Inhalts und die Polysemie fördern. Diese Strategien der Herausforderung der persönlichen Beschäftigung mit der Sinnstiftung und der Mehrdeutigkeit sind in den ausgewählten Bildern von Mario Steigerwald ebenfalls präsent. Für die Arbeit, die die Titelseite des Bandes ziert, wurde Acryl auf das Papier eines Notizbuches aufgetragen; der benutzte Pinsel besteht aus einem Holzstäbchen und einem Schwämmchen, das aus einer erschöpften und ausgemusterten Tintenpatrone stammt. Es kann als ein Zitat auf einen Rohrschachtest gelesen werden. Hier hatten die Herausgeber*innen höchst unterschiedliche Assoziationen und waren dennoch der einhelligen Meinung: dieses Bild ist treffend. Treffend, da die Ästhetik des Erahnens und des Einbildens so gut zu den diskutierten Thesen passt. So sieht die eine den Rücken eines Mannes mit einem schwarzen Mantel, der von einer amorphen Materie umarmt wird und der andere sieht links Treppen, ein [15]schwarzes Blatt oder ein ölverseuchtes Flussdelta und ganz rechts einen zornigen (Toten-)Kopf. Die unauflösbare Mehrdeutigkeit, die bewusst ambigue Vielschichtigkeit, die klare Abstraktion, all dies sind Elemente, die als eine erste visuelle Heranführung an das Werk des Macedonio Fernández dienen sollen und können.

Bei der Arbeit von Mario Steigerwald, die am Ende der Übersetzung zum Einsatz kommt (S. 186), gehen die Meinungen nicht auseinander: Aus den schwarzen Linien vermeinen beide Herausgeber*innen zwei Männersilhouetten zu erkennen. Beide Silhouetten tragen Hut und scheinen miteinander im Gespräch vertieft zu sein; vom einen sieht man das Profil, vom anderen eher den Rücken. Das Bild kann auf all die dargestellten Dialoge und Debatten bezogen werden, die das hier übersetzte Werk Macedonios bevölkern; z.B. auf das Gespräch zwischen Hobbes und einem Bewohner Buenos Aires oder auf den durchgehenden Dialog der Schreib- und Denkinstanz mit den Lesenden. Für dieses Werk wurde dip eye liner auf Papier aufgetragen. Ein Produkt der Schönheitsindustrie, das jemand anscheinend nicht mehr besitzen und benutzen wollte und es auf offener Straße aussetzte, schließt damit einen Text ab, in dem immer wieder Menschen (und Tiere) im öffentlichen Raum von Buenos Aires aufeinandertreffen, sich derart zufällig begegnen, dass im Nachhinein immer wieder Zweifel entstehen, ob die Begegnung tatsächlich stattfand oder bloß erträumt war. Die schlanken Linien, die unscharfen, scheinbar in Auflösung begriffenen Silhouetten unterstreichen diesen Traumansatz und stellen ebenfalls die grundsätzliche metaphysische Frage: Habe ich etwas sehen und erleben dürfen oder habe ich mir dieses Erlebnis eingebildet?

In der Hoffnung, dass Sie, junge und geistig junggebliebene Leser*innen, die Bilder, die Begleittexte und die übersetzte Gedankenwelt von Macedonio Fernández in diesem Band ebenso goutieren und reflektieren können, wie wir Herausgeber*innen sie im Laufe des Entstehungsprozesses dieses Bandes zu verstehen und genießen lernen durften, wünsche ich Ihnen eine gute Lektüre!

München, im Oktober 2022

Daniel Graziadei

[16]Literaturverzeichnis

Primärliteratur

Fernández, Macedonio: No toda es vigilia la de las ojos abiertos, Buenos Aires: M. Gleizer 1928.

Fernández, Macedonio: No toda es vigilia la de las ojos abiertos y otros escritos metafísicos, ed. Adolfo Obieta, Buenos Aires: Ediciones Corregidor 1990.

Fernández, Macedonio: No toda es vigilia la de las ojos abiertos y otros escritos metafísicos, ed. Adolfo Obieta, Buenos Aires: Ediciones Corregidor 2015.

Sekundärliteratur

Barthes, Roland: La chambre claire – Note sur la photographie, Paris: Gallimard 1980.

Cartolano, Ana María: „Das literarische Kaffehaus in Buenos Aires in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, in: Michael Rössner ed.: Literarische Kaffeehäuser, Kaffeehausliteraten, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1999, pp. 423–456.

Day, Fred Holland: „[Nude youth with laurel wreath and staff]“ The Louise Imogen Guiney Collection, Library of Congress, Prints & Photographs Division. LCCN 96502115 https://www.loc.gov/item/96502115/

Ferretti, Victor A.: „Zum Tlön’schen Fundament“, in: Maha El Hissy u. Sascha Pöhlmann ed.: Gründungsorte der Moderne. Von St. Petersburg bis Occupy Wall Street, Paderborn: Wilhelm Fink 2014, pp. 235–249.

Fischer, Fiona Rachel: „Begegnung mit sich selbst“, Süddeutsche Zeitung 27. Mai 2022. https://www.sueddeutsche.de/muenchen/fotografie-mario-steigerwald-uruguay-rationaltheater-1.5592788

Rössner, Michael: „Transgressionen: Zu dem wirkungsästhetischen Potential der Gattungsmischung in nicht-einordenbaren Texten der modernen Literatur“, in: Anette Sabban u. Christian Schmitt ed.: Sprachlicher Alltag: Linguistik – Rhetorik – Literaturwissenschaft. Festschrift für Wolf-Dieter Stempel 7. Juli 1994, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1994, pp. 455–476.

Rössner, Michael: „Textsortenlabyrinthe: Zu den Textstrategien bei Macedonio Fernández, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar“, Iberomania 39 (1994), 79–92.

Rössner, Michael: „Fernández, Macedonio: Adriana Buenos Aires“, in: H.L. Arnold ed.: Kindlers Literatur Lexikon (KLL), Stuttgart: J.B. Metzler, Stuttgart 2022.

mo|men|tos: Broschüren (2014–2021) https://momentossite.wordpress.com/publikationen/

1

Michael Rössner: „Transgressionen: Zu dem wirkungsästhetischen Potential der Gattungsmischung in nicht-einordenbaren Texten der modernen Literatur“, in: Anette Sabban u. Christian Schmitt ed.: Sprachlicher Alltag: Linguistik – Rhetorik – Literaturwissenschaft. Festschrift für Wolf-Dieter Stempel 7. Juli 1994, Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1994, pp. 455–476.

2

Michael Rössner: „Textsortenlabyrinthe: Zu den Textstrategien bei Macedonio Fernández, Jorge Luis Borges und Julio Cortázar“, Iberomania 39 (1994), 79–92.

3

vgl. Michael Rössner: „Fernández, Macedonio: Adriana Buenos Aires“, in: H.L. Arnold ed.: Kindlers Literatur Lexikon (KLL), Stuttgart: J.B. Metzler, Stuttgart 2022. https://doi-org.emedien.ub.uni-muenchen.de/10.1007/978-3-476-05728-0_3566-1 und den von Rössner übersetzten und redigierten Beitrag von Ana María Cartolano: „Das literarische Kaffehaus in Buenos Aires in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, in: Michael Rössner ed.: Literarische Kaffeehäuser, Kaffeehausliteraten, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1999, pp. 423–456.

4

Siehe u.a. Victor A. Ferretti: „Zum Tlön’schen Fundament“, in: Maha El Hissy u. Sascha Pöhlmann ed.: Gründungsorte der Moderne. Von St. Petersburg bis Occupy Wall Street, Paderborn: Wilhelm Fink 2014, pp. 235–249.

5

Roland Barthes: La chambre claire – Note sur la photographie, Paris: Gallimard 1980.

6

Während meine persönlichen Kooperationen mit Helmut Geier zu transmedialen Kompositionen aus colorierten Skizzen, Poesie und Musik (The Muddy Roots) und zu Auftritten unter den Titeln „Knochenwerfen“ (2012) bzw. „Sehnenfasern“ (2013) in München führten, bin ich mit Mario Steigerwald durch das Kunstkollektiv mo|men|tos künstlerisch verbunden, das ebenfalls transmedial, aber auch mehrsprachig agiert und in erster Linie Fotografie, Malerei, Installationen und Literatur auf Bühnen, ins Netz, in Innenhöfe, Ausstellungsräume und Treppenhäuser bringt.

7

Fred Holland Day „[Nude youth with laurel wreath and staff]”, The Louise Imogen Guiney Collection, Library of Congress, Prints & Photographs Division. LCCN 96502115 https://www.loc.gov/item/96502115/

8

Gibran gelangte 1895 mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aus dem heutigen Libanon nach Boston und wurde dort von Holland protegiert und fotografiert. Die Familie kehrte 1897 in das osmanische Reich zurück, von wo aus Gibran 1899 über Paris wieder nach Boston gelangte und dort weiter Holland Modell stand. Der junge Mann sollte bald ein für den Libanon, die U.S.A. und die Welt bedeutender Literat und Maler werden, der seinerseits die Verbindung zwischen Malerei und Literatur auslotete und dessen literarisches Aufbegehren mit Friedrich Nietzsche, seine spirituelle Mythologie mit der Poetik von William Blake und die mystischen Aspekte seines Schreibens u.a. mit dem Sufismus in Verbindung gebracht wurden. Auch hier ergäben sich einige Anknüpfungspunkte zu Macedonio Fernández.

9

Vgl. das Portrait von Fiona Rachel Fischer: „Begegnung mit sich selbst“, Süddeutsche Zeitung 27. Mai 2022.

10

Vgl. z.B. seine Beiträge in den mo|men|tos-Broschüren (2014–2021).

11

Durch die objets trouvés, die gefundenen Objekte, wird eine avantgardistische Praxis von DADA, Kubismus, Futurismus fortgesetzt, die wir heute v. a. mit den ready mades von Marcel Duchamp assoziieren. In dem Recycling steckt sowohl die Dekonstruktion und die Assemblage drin, führt aber über diese für die Theorieproduktion so fruchtbaren Techniken hinaus zu Antworten auf drängende, zeitgenössische Fragen und zu Strategien, die mit dem zurechtzukommen versuchen, was (noch) vorhanden ist.

[17]Alles ist Macedonio, was uns vor die Augen kommt: Die vielen Gesichter des Macedonio Fernández

Michael Rössner

Außerhalb Argentiniens, ja außerhalb von Buenos Aires, ist Macedonio Fernández bis zu seinem Tod 1952 ein weitgehend unbekannter Autor geblieben. Das ändert sich mit der Grabrede des damals bereits zu Ruhm gelangten Jorge Luis Borges, in der er nicht nur gestand, er habe ihn „imitiert, bis zur Transkription, bis zum leidenschaftlichen und hingebungsvollen Plagiat“1, sondern den Verstorbenen auch zum Ziel und Höhepunkt der Literatur schlechthin erklärte: „Die, die ihm vorangegangen sind, können in der Geschichte glänzen, aber sie waren bloß Vorentwürfe für Macedonio, unvollendete und vorausgehende Versionen von ihm“2. Auch wenn man die Regeln der Grabrede kennt – und auch wenn man Borges‘ histrionischen Drang zur (ironischen?) Herabsetzung seiner eigenen Bedeutung berücksichtigt – war und ist das aus seinem Mund ein beeindruckendes, ja überwältigendes Urteil. Es hat dazu geführt, dass Macedonio tatsächlich zu einem Mythos der argentinischen und langsam auch allgemeiner der lateinamerikanischen Literatur geworden ist, jemand, der in die Literatur erfolgreicherer Autoren wie Julio Cortázar, Ricardo Piglia und vieler anderer als expliziter oder impliziter Bezug eingegangen ist. Nicht unwichtig ist dabei auch die Beschreibung, die Borges von seinem eben verstorbenen Freund gibt: „Ein Philosoph, ein Dichter und ein Romancier sterben in Macedonio Fernández, und diese Begriffe bekommen, wenn man sie auf ihn anwendet, einen Sinn, den sie üblicherweise hierzulande nicht haben“.3 Was ist darunter zu verstehen? Worin besteht die Einmaligkeit Macedonios, aus der sich die Neudefinition jener Begriffe ergeben soll, die auf einen „homme des lettres“ angewendet werden?

[18]Zunächst einmal ist festzustellen, dass der Mythos Macedonio in den letzten Jahren auch zu einer verstärkten Beschäftigung der Forschung mit ihm geführt hat, und dass dabei einige Mystifikationen aufgedeckt wurden. Denn Borges hat Macedonio tatsächlich ab dem Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung am 24. März 1921 im Hafen von Buenos Aires bei der Rückkehr der Familie nach sieben Jahren aus Europa „gemacht“4, nicht nur zur geheimnisvollen Größe der argentinischen Literatur, die überall aufzutauchen scheint, sondern auch zu einem in fortgeschrittenem Alter, nach dem tragischen Tod seiner Frau Elena („Elena Bellamuerte“),5 aus dem bürgerlichen Leben eines Juristen im Staatsdienst ausgestiegenen Kaffeehausliteraten, der mündlich unvergleichlich bessere Literatur produzierte als schriftlich.6

Macedonios Vorgeschichte – oder: Wie aus einem juristischen Problem ein philosophisches und seine Übersetzung in die Literatur wird

Allerdings hat die von Borges geschaffenen Figur Macedonio eine Vorgeschichte, die nicht nur das – gescheiterte – Projekt einer anarchistischen Kommune im Urwaldgebiet von Misiones umfasst, sondern auch zahlreiche kleinere Publikationen von Gedichten und Essays in Zeitschriften. Vor allem aber ist der Jurist Macedonio interessant, dessen Dissertation sich mit dem ungewöhnlichen Thema der „Person“ im Recht befasst (De las personas, Dissertation vorgelegt am 22. Mai 1897, also zwei Jahre vor Borges‘ Geburt). Der junge Jurist rechtfertigt die ungewöhnliche Themenwahl in der Einleitung mit der „unwiderstehlichen Faszination, die brennende Probleme, symbolisiert in Begriffen mit einem unerschöpflichen Inhalt wie dem des Subjekts, auf einen spekulativen Geist ausüben“7. Für Nicht-Juristen braucht diese „Faszination“ ein paar [19]Erklärungen: Der Begriff der Person oder des Rechtssubjekts hat nämlich in der Rechtswissenschaft eine zentrale Stellung. Nicht nur, dass man dort zwischen „juristischen“ (Gesellschaften, Körperschaften, Vereinen, usw.) und „natürlichen“ Personen zu unterscheiden hat, was an und für sich für einen Schriftsteller-Philosophen Anlass zu einigen kreativen Reflexionen zu bieten vermag; nein, die Person, das Subjekt, ist schlechterdings die Voraussetzung dafür, Rechtsakte und damit auch Rechtswirkungen zuordnen zu können. Eine besondere Bedeutung bekommt das natürlich im Straf- und im zivilrechtlichen Schadensersatzrecht, wo es nicht nur um die objektive Verursachung von Tatfolgen geht, sondern auch um die „subjektive“ Tatseite, also um die Frage der „Schuld“, die das Bewusstsein des rechtswidrigen Handelns voraussetzt, ohne die es keine Verantwortung, keine Haftung, keine Strafe geben kann. Wie kann ein junger Jurist, der im geistigen Klima der Jahrhundertwende aufwächst und vermutlich Ernst Machs provozierenden Satz „Das Ich ist unrettbar“ aus seinem Buch Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen (1886) kannte8, diese Dekonstruktion des Subjekts mit der rechtlichen Notwendigkeit der Annahme eines solchen in Einklang bringen?

Tatsächlich scheint es, als hätte Macedonio nicht auf die Auseinandersetzung mit dem jungen Borges und seinen avantgardistischen Freunden in den 1920er Jahren warten müssen, um die fundamentalen Aporien zu entwickeln, die ihn ein Leben lang beschäftigt haben und zu der Theorie des „almismo ayoico“ (des „entichten Seelismus“) geführt haben, die sein Werk durchzieht. Aber Macedonio ist anders als Mach – und dessen Schüler Robert Musil – niemand, der zu dieser Auflösung des Ich von den Naturwissenschaften herkommt, sondern eher von einer Mischung aus Poesie und radikaler Metaphysik. So ergibt sich für ihn auch nicht die Musilsche Utopie der taghellen Mystik, die mathematische Schärfe mit einem mystischem Seelenzustand verbindet, aber doch etwas nicht ganz Unähnliches, wie Ana Camblong festgestellt hat: die Verbindung von Mystik und pragmatistischem Ansatz in der Nachfolge des von Macedonio hochgeschätzten William James.9 Diese Spannung prägt einige der frühen Texte Macedonios, die zum Großteil in dem Band Obras completas, Papeles antiguos[20](1981) enthalten sind, teilweise aber auch in spätere Ausgaben der 1928 erstmals erschienenen Abhandlung No toda es vigilia la de los ojos abiertos aufgenommen wurden.

Ausgangspunkt von Macedonios intellektueller Reflexion (und Borges bezeichnet ihn ja vor allem als „pensador“) ist also nicht zuletzt das juristische Problem der notwendigen und doch unmöglichen Zuschreibung eines Handelns und seiner Konsequenzen an ein einheitliches „Ich“ – ein Problem, das zur selben Zeit auch andere Autoren beschäftigte, wie etwa den in den 1920er Jahren in Argentinien sehr populären Luigi Pirandello in dem Roman Einer, keiner, hunderttausend, aber auch in zahlreichen Bühnenwerken, von denen eines, Quando si è qualcuno („Wenn man Jemand ist“) sogar in Buenos Aires uraufgeführt wurde. Somit erscheint die von Borges vorangetriebene Mystifikation, dass erst das traumatische Erlebnis des frühen Todes seiner Frau Macedonio zum Philosophen und Literaten gemacht hätte, zumindest abgemildert. Offenbar war dieser Tod im Jahr 1920 nur der letzte Anstoß für einen Schritt, der für den Juristen als die logische Folge aus der kritischen Beschäftigung mit den Grundannahmen des Rechts erscheinen mochte, die schon den Staatsanwalt Fernández zu manch seltsamen und für die Angeklagten günstigen Plädoyers angeleitet hatte.10

Diese Zweifel an der Existenz einer einheitlichen und konstanten persona führten Macedonio nämlich sehr bald zu einem grundlegenden Zweifel an der Tradition der abendländischen Philosophie seit Descartes berühmtem „Cogito ergo sum“, das gleichzeitig auch Friedrich Nietzsche als Illusion der „grammatischen Gewohnheit“ entlarvt hat, der zufolge eine Tätigkeit immer ein tätig werdendes Subjekt voraussetze.11 Das trifft sich nun exakt mit Macedonios Zweifeln an einem solchen, und davon ist auch in der radikalen Metaphysik von No toda es vigilia la de los ojos abiertos die Rede. Wie aber kann man weiter als [21]Jurist Recht auf Personen anwenden, an deren Existenz man nicht glaubt? Der Schritt vom juristischen Schreibtischtäter zum philosophischen, der sich dem Konsequenzzwang der Wirkung seiner Gedanken in der Wirklichkeit entziehen konnte, lag nahe, und der heimgekehrte Sohn seines Freundes Jorge Borges, der Sehnsucht nach den Genfer Buchhandlungen und den Diskussionen in Madrider Kaffeehäusern empfand,12 fand in dem Denker und Philosophen Macedonio Ersatz für das intellektuelle Klima Europas und begann ihn zu „imitieren“. Es ist daher wohl kein Wunder, dass der junge Borges nicht nur in seinen frühen Gedichten, sondern auch in dem später verworfenen Essayband Inquisiciones (1925) deutlich Einflüsse von Macedonios Reflexionen zeigt, allen voran in dem Essay „La nadería de la personalidad“ („Die Nichtigkeit des Personseins“, 1922), der geradezu die Problematik der juristischen Dissertation zu zitieren scheint.

Macedonio und die Avantgarde von Buenos Aires: die Gruppe Florida

Macedonio hingegen versucht, anders als Pirandello, solche Überlegungen zwar nicht in „realistische“ Erzählungen oder dramatische Handlungen zu übersetzen, aber er produziert Texte, die zwischen den Gattungen angesiedelt sind. Macedonio konfrontiert dabei den Leser bzw. die Leserin einfach auf Schritt und Tritt mit Widersprüchen, mit Absurditäten, mit Sprüngen aus einer Gattung in die andere und erlaubt es ihm/ihr somit nie, sich in einer bequemen Leserhaltung einzurichten.

Bei den literarischen Versuchen gibt es tatsächlich eine klare Differenz zwischen den Papeles del Recienvenido (den „Schriften des Neuankömmlings“) aus der Dekade der 1920er Jahre und Macedonios frühen, zum Großteil in der von seinem Cousin herausgegebenen Zeitschrift „El Progreso periódico literario, científico y artístico“ erschienenen Texten, in denen sich noch deutlich die Verwandtschaft zu der Gattung des zwischen Romantik und Realismus angesiedelten „Costumbrismo“ erkennen lässt, etwa in „El teatro aquí“ („Das Theater hier bei uns“), in dem er sich über das bescheidene Niveau der meist aus Europa zu Tourneen nach Buenos Aires kommenden Theatermacher ereifert, oder „La calle Florida“, die mit einigen fast grotesken Porträts der Flaneure in der Prachtstraße von Buenos Aires aufwartet. Was Macedonios Stil später kennzeichnen wird, das absurde Spiel mit der Sprache, das Wörtlich-Nehmen von Metaphern und die Aktivierung des Lesers, das bleibt hier noch auf der Ebene [22]der einfachen Satire, wie der Schluss des letztgenannten Texts zeigt, wo er auf die selbstgestellte Frage, ob die Menschenmenge in dieser Straße aristokratisch (aristocrática), bürokratisch (burocrática) oder demokratisch (democrática) zu nennen wäre, schlussendlich dem Leser die Wahl überlässt – aber bloß zwischen „burrocracia“ (Eselsherrschaft) und „aburrocracia“ (Langeweileherrschaft). Dieser satirische Duktus ist als Parodie der Philosophie in seinem ersten philosophisch-literarischen Werk, dem dieser Band gilt, ebenso erkennbar.

In den Texten aus den frühen 1920er Jahren, die in den Zeitschriften Proa und Martín Fierro der – ausgerechnet nach dieser Straße benannten – Avantgardegruppe „Florida“ rund um Jorge Luis Borges, erscheinen, ist eine ganz andere Technik zu spüren, etwa in dem Text „Konfessionen eines Neuankömmlings in der literarischen Welt“ (Confesiones de un recién llegado al mundo literario), erschienen in der von Borges und anderen herausgegebenen Avantgardezeitschrift Proa 1922 und später übernommen in den Band Papeles del Recienvenido (1929):

Neuankömmling ist definitionsgemäß: jene unterschiedene Person, die sofort von allen wahrgenommen wird, die eben in ein Land der Unterschiedenen gelangt ist und die würdige Erscheinung eines Menschen hat, der nicht weiß, ob er sich die Hose verkehrt angezogen oder den rechten Hut auf den linken Kopf gesetzt hat, und sich nicht entscheiden kann, sich im öffentlichen Raum Gewissheit über die mangelnde Perfektion zu verschaffen, sondern sich auf eine Meditation über Sonnenfinsternisse, Blindheit der Passanten, Streik der Lichtverteiler, Unsichtbarkeit der Atome und von Papas Geld konzentriert, und so gelingt es ihm, nicht gesehen zu werden.13

Hier erfolgt eine assoziative Reihung zunehmend absurder Bilder, was in der Technik gewisse Parallelen zu Dada-Texten zeigt; Macedonio verbindet das einerseits zwar immer noch mit durchaus satirischen Anspielungen auf die Realität von Buenos Aires, andererseits auch mit einer direkten Apostrophierung des Lesers, und er geht dabei mit dem Leser noch ein wenig rauer um als der erwähnte Pirandello, der in Einer, Keiner, Hunderttausend den Leser doch auch soweit zur Figur macht, dass er ihn von seinem Protagonisten im Disput [23]besiegen und dann nach einer fiktionalen Landpartie ein wenig abschätzig behandeln lässt, weil er „dick und verschwitzt ist“14.

In einem 1925 in Proa erschienenen Artikel mahnt Macedonio zum Beispiel den Leser, nicht so schnell zu lesen, „denn meine Schreibe kommt dort nicht nach, wo Sie lesen. Wenn wir so weitermachen, bekommen wir ein Strafmandat wegen Geschwindigkeitsüberschreitung. Einstweilen schreibe ich nichts; gewöhnen Sie sich daran!“15 Und schon 1922 schreibt Macedonio einen Prolog „dessen Fortsetzung vom Leser abhängt; ich trete sie ihm ab.“16

Diese Aktivierung des Lesers spielt eine zentrale Rolle für Macedonios Ästhetik. Sie wird in seinem großen Romanprojekt zum zentralen Thema werden. Aber schon früher beginnt Macedonio mit dem Leser ähnlich zu streiten wie Pirandellos Ich-Erzähler, wenn in dem Text „Aufgetragene Autobiographie“ (Autobiografia en encargo) der Erzähler plötzlich in den direkten Dialog mit diesem Leser springt:

… denn plötzlich mit vierzig Jahren habe ich erfahren, dass ich auf der rechten Seite schlafe. Auf welcher Seite schlafen Sie, Leser? Sie werden mir antworten. – Früher habe ich auf dem Rücken geschlafen, aber jetzt… – Wie, „jetzt“? Jetzt schlafen Sie schon auf meiner ersten Seite ein? Lassen Sie mich doch ausreden… – Wie, „lassen Sie mich ausreden“? Wollen Sie jetzt schon Autor sein?17

Keinen Bruch gibt es hingegen hinsichtlich der metaphysischen Reflexionen, die jetzt auch in einem absurd-komischen Tonfall vorgetragen werden, wie in der ursprünglich 1928 in der Gaceta del Sur erschienenen „Autobiographie“, die mit der Feststellung einsetzt:

Das Universum oder Wirklichkeit und ich, wir sind am 1. Juni 1874 geboren und es ist einfach hinzuzufügen, dass beide Geburten hier in der Nähe und in einer Stadt namens Buenos Aires erfolgten. Es gibt für jedes Geborenwerden eine Welt und das Nichtgeborenwerden hat nichts Persönliches an sich, es besteht lediglich darin, dass es keine Welt gibt. Geborenwerden und diese nicht finden ist unmöglich; es hat noch kein [24]Ich gegeben, das bei seiner Geburt keine Welt vorgefunden hätte, deshalb glaube ich, dass wir die Wirklichkeit, die es gibt, selbst mitbringen und von ihr nichts zurückbliebe, wenn wir tatsächlich stürben, wie manche fürchten.“18

Hier ist der auch von Borges immer wieder beschworene extreme Idealismus Schopenhauerscher Prägung („Die Welt ist meine Vorstellung“) ebenso enthalten wie die mit der Leugnung des Ich verbundene Idee der Unsterblichkeit, die hier aber eben geradezu augenzwinkernd im Gegensatz zu der quasi absurden Idee der Sterblichkeit („wie manche fürchten“) vorgeführt wird.

Macedonio als Kaffeehausliterat

Der bei Macedonio immer wieder feststellbare Stil der Orientierung an der überraschenden Pointe, des Sprachspiels, aber auch der Apostrophierung des Gegenübers, hat freilich auch einen Bezug zu einem Rahmen, der in den 1920er und 1930er Jahren in Buenos Aires stark präsent war: dem Kaffeehaus als halbprivatem, halböffentlichem Raum der Literatur, in dem es sehr oft zu einem direkten Feedback zwischen Textproduzenten und Textrezipienten kommt. Nicht zuletzt wurde Macedonio deshalb auch im Panorama der Kaffeehausliteratur in Europa und Lateinamerika zwischen 1890 und 1950 als archetypischer Kaffeehausautor vorgestellt.19

Dazu passt auch, dass viele der Texte, die später in den immer wieder erweiterten Ausgaben der Papeles de Recienvenido erschienen, ursprünglich für einen solchen Rahmen produziert wurden: etwa Trinksprüche (Brindis) – wie der berühmte Trinkspruch für das Bankett zu Ehren des Futuristen Marinetti, in dem Macedonio sich fragt, warum gerade er einen solchen Trinkspruch formulieren soll, wo ihm doch eigentlich die „phonetische Aktivität des H im Spanischen“ (das bekanntlich nicht ausgesprochen wird) entsprochen hätte; aber auch Texte für die Ende der 1920er Jahre von dem peruanischen Dichter Alberto Hidalgo im Kellerraum des Hotels Royal begründete, tatsächlich nur mündlich kommunizierte „Revista oral“, die „mündliche Zeitschrift“, bei der alle [25]Artikel nur vorgelesen und durch vom Band abgespielte Werbeeinschaltungen unterbrochen wurden.

Im Kaffeehaus entwickelt Macedonio seit 1925 auch das Projekt seines Romans bzw. Roman-Zwillings aus dem „letzten schlechten Roman“ Adriana Buenos Aires und dem „ersten guten Roman“ Museo de la Novela de la Eterna. Schon 1926 verrät er in der Zeitschrift Martín Fierro einige Elemente davon, vor allem, dass die Humor-Struktur Parallelen zu den Kurztexten der Kaffeehauszeit aufweisen würde:

… mein Roman lässt nur Lebende herein, bei sonstiger Gefahr der Konfusion mit der Geschichte, in der die Toten alles machen, das ganze vor sich hertreiben. In diesem Roman werde ich einige der hier versuchten Witze wiederholen, denn ich hoffe zu einem Extrem an Garantie und Ernsthaftigkeit meiner Scherze zu gelangen, indem ich sie in verschiedenen Wiederholungen erprobe.20

Allerdings mussten sich die potentiellen Leser, bis zu Macedonios Tod, mit Anspielungen und kleinen Kostproben zufriedengeben, denn das lebenslange Romanprojekt erschien erst nach seinem Tod.

Macedonio Fernández als literarische Figur: Museo de la Novela de la Eterna

Vor allem aber wird Macedonio in diesen Jahren zum Vollender der gleichzeitig unabhängig in Frankreich von den Surrealisten entwickelten These der Einheit zwischen Kunst und Leben. Daraus erwächst eine Kunsttheorie, die in ihrer aktionistischen Komponente eine deutliche Verwandtschaft zur Dada-Bewegung aufweist; und wie bei Dada ist der Zweck von Macedonios Belarte die Befreiung des Rezipienten aus seinem entfremdeten Dasein. Dabei unterscheidet er zwei Gattungen, die er als Roman („novela“) und „humor“ bezeichnet: Die Gattung Roman befreit dieser Theorie zufolge von der Sterblichkeit, da sie den Rezipienten vor Augen führen soll, dass sie ebenso wenig wirklich existieren wie die fiktionalen Geschöpfe nichtrealistischer Romane, die Gattung „humor“ hingegen befreit durch die absurde, auf Sprachspielen in der Tradition der Unsinnsliteratur beruhende Komik und die Tendenz zur Selbstaufhebung durch [26]gleichzeitige Affirmation einander widersprechender Behauptungen vom Diktat der Vernunft21.

Damit bleibt die Technik absurden Humors nicht bloßes Spiel oder reine Sinndestruktion: Was hinzutritt, ist der Anspruch, eine Metaphysik zu schaffen, die die Grenzen des rationalen Denkens überschreitet, was schon im Titel seines Buches No toda es vigilia la de los ojos abiertos auf eine surrealistische Tradition verweist, die z.B. in Bretons Vases communicants zum Hauptthema erkoren wird: die gegenseitige Relativierung der Realität von Traum und Wachzustand, die letztlich zu dem mystischen Zustand führt, den Macedonio in No toda es vigilia wie folgt definiert:

Mystischer Zustand ist Leben als ungeschaffenes selbstexistentes Wesen; und ich glaube, es ist auch Leben ohne die Unterscheidung Bild/Empfindung, Traum/Wirklichkeit, und ohne die Unterscheidung Neues/Erinnertes, Neues/Schon Bekanntes. Aus all diesen Gründen ist der mystische Zustand ein Leben ohne einen Grund für ein Tätigwerden.22

Aber nicht nur diese Thematik verbindet No toda es vigilia mit dem Museo-Roman. Allein schon der vollständige Untertitel der metaphysischen Abhandlung nimmt Elemente des Romans vorweg: „Arreglo de papeles que dejó un personaje de novela creado por el arte, Deunamor el No Existente Caballero, el estudioso de su esperanza”. Es handelt sich also um nachgelassene Texte einer ausdrücklich als fiktional bezeichneten Figur, die noch dazu den Namen „Nicht-Existierender-Herr“ führt; unter der Überschrift „Solución“ (Lösung) meldet sich dann diese Figur direkt zu Wort und definiert sich als der, der sich nur als nicht Existierender zu erschaffen plante („se pensó crear sólo en condición de no-existente“) und so zum Ausgangspunkt der umfassenden Überlegung der Aufhebung der Idee des Subjekts wird.

Tatsächlich wird im Roman selbst Deunamor dann als „Figur der Nichtexistenz (mit Präsenz)“ vorgestellt23, als einer, der – offenbar als alter ego Macedonios – sich nach dem Tod seiner geliebten Ehefrau verändert hat, bis er [27]unter Verlust seiner Sensibilität „zu einem Leib ohne Bewusstsein reduziert“24 war.

Und Deunamor ist nicht die einzige Macedonio-Figur im Roman. Natürlich ist die Hauptfigur des „Presidente“, die die Figuren auf der Estancia „La Novela“ versammelt, ein Bild des Autors, der scherzhaft einmal seine Kandidatur für die Präsidentenwahlen in Argentinien angemeldet hatte und das als gelebten Roman „El hombre que será presidente“ („Der Mann, der Präsident sein wird“) auffasste. Aber wichtiger als die Autorfiguren ist die des Lesers, der hier in zwei Ausführungen vorgestellt wird, als „Sprunghafter“ (Lector salteado) und als „Fortlaufender“ Leser (Lector seguido), wobei angesichts der Zersplitterung des Texts in zahlreiche unzusammenhängende Prologe der sprunghafte Leser plötzlich die Illusion hat, fortlaufend zu lesen und der fortlaufende die Sprunghaftigkeit entdecken muss. Kein Zweifel, dass hier eine der Wurzel für das Springmodell der Kapitel in einem der zentralen Romane des Booms der lateinamerikanischen Literatur, Julio Cortázars Rayuela (1963), zu suchen ist. Mehr noch als Cortázar aber insistiert Macedonio in seinem Museums-Roman darauf, dem Leser ständig in Erinnerung zu rufen, dass er sich in der Welt der Fiktion befindet – und da er da drinnen steckt, selbst zu einem Teil des Fiktiven wird: „Es gibt einen Leser, mit dem ich mich nicht anfreunden kann: den Leser, der will, was zu ihrer Schande alle Romanciers anstreben, was diese jenem Leser geben – die Halluzination. Ich hingegen will, dass der Leser zu jeder Zeit weiß, dass er einen Roman liest und nicht das Leben beobachtet, dem ‚Leben‘ beiwohnt.“25

Macedonio als Textmaschine

Vor allem beginnt der Roman nicht nur aufgrund der zahlreichen Prologe ewig nicht, er endet auch praktisch gar nicht, denn nach dem Wort ENDE geht es einfach weiter, und der Autor weist den Leser wieder auf seine aktive Rolle hin: „erkenne an, dass dieser Roman durch seine Zahlreichen Nichtabschlüsse mehr in deiner Phantasie angeregt hat“ und damit seine Emanzipation bewirkt hat, während der „abgeschlossene Roman uns alle wie Kleinkinder behandelt hat, die man füttern muss“26 – und so wendet sich der „Finale Prolog“ schon im Titel „An den, der diesen Roman schreiben will“. Der erste Satz lautet dort: „Ich lasse es als offenes Buch“ (offenbar hat das später Umberto Eco, der ähnlich wie Macedonio [28]und Cortázar Sympathien zu Alfred Jarrys Pataphysik aufweist, zu seiner Opera aperta (1963) angeregt) und in der Folge fordert der Autor andere Autoren auf, „den Text zu korrigieren und frei herauszugeben, mit oder ohne Erwähnung meines Werks oder meines Namens.“27

In verschiedenster Weise haben das tatsächlich viele getan: Nach Jorge Luis Borges zweifelsohne Julio Cortázar, der nicht nur in seinem Hüpfspiel Rayuela, sondern auch in den absurden Sprachspielen der Historias de cronopios y de famas deutlich an Macedonios Ideen anschließt, diese freilich auch mit der Tradition der französischen Avantgarde noch enger verknüpft, da er als Mitglied des Collège de Pataphysique auch Alfred Jarrys Pataphysik einbezieht, die als eine alternative Reflexionsform zu Macedonios radikaler Metaphysik betrachtet werden kann.

Der Schluss des Romans nimmt also direkt Bezug auf das, was Macedonios Werk seit seinem Tod in der Realität mehr und mehr geworden ist: eine Art Generator literarischer Texte verschiedenster Art, die durch ihn angeregt werden; am beeindruckendsten vielleicht in Ricardo Piglias Roman La ciudad ausente („Die abwesende Stadt, 1992), wo „La Máquina“, eine Maschine, die das Ergebnis des Versuchs ihres Witwers, seiner verstorbenen Elena Ewigkeit zu verleihen, darstellt, anstatt dessen das eigene Gedächtnis mit anderen Geschichten und offiziellen Diskursen mischt. Nun steht die Maschine im Museum und gilt als subversives Instrument.

Und vielleicht ist es das, was Macedonios vielschichtige Persönlichkeit am besten erfasst: seine angestrebte Auflösung der abgegrenzten Persönlichkeit in einer Art nichticher unbegrenzter Kreativität, die nicht nur in der unmittelbar nachfolgenden Generation um Borges wesentliche Werke anregt, sondern schlechterdings – und durchaus subversiv – nicht mehr zum Schweigen zu bringen ist, solange menschliche Kultur auf diesem Planeten fortdauert.

Literaturverzeichnis

Attala, Daniel: „The Thought of Macedonio Fernández: A Dictionary”, in: Federico Fridman ed.: Macedonio Fernández. Between Literature, Philosophy, and Avant-Garde, Bloomsbury Academic 2022, pp. 157–178.

Borges, Jorge Luis: „Macedonio Fernández“, Sur 209–210 (1952), 145–147.

Borges, Jorge Luis: Macedonio Fernández, Buenos Aires: Ediciones Culturales Argentinas, 1961.