Madame le Commissaire und die Mauer des Schweigens - Pierre Martin - E-Book
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Madame le Commissaire und die Mauer des Schweigens E-Book

Pierre Martin

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Beschreibung

Provence-Urlaub zum Lesen: Kommissarin Isabelle Bonnet löst ihren 10. Fall im Urlaubskrimi »Madame le Commissaire und die Mauer des Schweigens« von Bestseller-Autor Pierre Martin Ein eingemauertes Skelett lässt die Arbeiter beim Abriss eines alten Ferienhäuschens im zauberhaften Fragolin in der Provence vor Schreck erstarren. Ein Loch in der Schädeldecke lässt keinen Zweifel daran, dass das Opfer eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Isabelle Bonnet übernimmt den Fall eher widerwillig – schließlich widmet sie ihre Aufmerksamkeit lieber aktuellen Verbrechen. Außerdem bereitet ihr das geheimnisvolle Abtauchen ihres Maler-Freundes Nicolas zunehmend Sorgen. Plötzlich erreicht sie ein Hilferuf aus Marokko …. Im Fall des Skeletts führt eine erste Spur zu einem zwielichtigen Finanzberater. Fluchtgefahr ausgeschlossen: Er sitzt im Gefängnis.  Doch die Ermittlungen kommen ins Stocken. Sie stoßen auf eine Mauer des Schweigens … Ein Provence- und Cold-Case-Krimi mit viel Atmosphäre und einer charakterstarken Kommissarin Mit seinen spannenden Wohlfühlkrimis aus der Provence landet Pierre Martin einen Bestseller nach dem anderen. Die Krimi-Reihe »Ein Fall für Isabelle Bonnet« verbindet spannende Fälle, liebevoll gezeichnete Figuren und den unvergleichlichen Zauber der Provence zur perfekten Urlaubslektüre. Entdecken Sie weitere Fälle der Madame le Commissaire-Bestseller-Krimi-Reihe: - Madame le Commissaire und das geheime Dossier (Band 11) Entdecken Sie auch unterhaltsamen Cozy Crime von Bestseller-Autor Pierre Martin: - Monsieur le Comte und die Kunst des Tötens - Monsieur le Comte und die Kunst der Täuschung

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Pierre Martin

Madame le Commissaire und die Mauer des Schweigens

Ein Provence-Krimi

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ein eingemauertes Skelett lässt die Arbeiter beim Abriss eines alten Ferienhäuschens in Fragolin vor Schreck erstarren. Ein Loch in der Schädeldecke lässt keinen Zweifel daran, dass das Opfer eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Isabelle Bonnet übernimmt den Fall eher widerwillig – schließlich widmet sie ihre Aufmerksamkeit lieber aktuellen Verbrechen. Außerdem bereitet ihr das geheimnisvolle Abtauchen ihres Maler-Freundes Nicolas zunehmend Sorgen. Plötzlich erreicht sie ein Hilferuf aus Marokko …

Im Fall des Skeletts führt eine erste Spur zu einem zwielichtigen Finanzberater. Fluchtgefahr ausgeschlossen: Er sitzt im Gefängnis. Doch die Ermittlungen kommen ins Stocken. Sie stoßen auf eine Mauer des Schweigens …

Inhaltsübersicht

Prologue

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

Épilogue

Hinweis

Leseprobe »Madame le Commissaire und das geheime Dossier«

Prologue

Isabelle stieg in ihr Mustang Cabrio, wie sie das bei geöffnetem Verdeck und heruntergedrehter Seitenscheibe am liebsten tat: mit einem Sprung über die geschlossene Fahrertür. Sobald Zuschauer in der Nähe waren, verkniff sie sich diese artistische Einlage. Ihr war klar, dass das ihrem Amt nicht angemessen war. Eine konventionelle Kommissarin der Police nationale fuhr aber auch keinen alten Ami-Schlitten. Also sollte es egal sein – und es machte Spaß. Vor allem an Tagen, an denen sie eigentlich gar nicht zum Spaßen aufgelegt war. So wie heute.

Wenig später kurvte sie durch das hügelige Massif des Maures hinunter an die Küste. Sie mochte den sonoren Klang des großvolumigen Achtzylinders. Der Wind strich ihr durch die Haare. Die Fahrt brachte sie auf andere Gedanken.

Plötzlich gab es einen lauten Knall. Die Motorhaube hob sich unter dem Druck einer Explosion. Flammen loderten hervor, und dichter Rauch nahm ihr die Sicht. Zwei Gedanken schossen ihr gleichzeitig durch den Kopf: erstens, dass ihr schöner Motor offenbar gerade den Geist aufgab. Standesgemäß tat er dies mit mächtigem Getöse. Und zweitens, dass sie gut daran tat, sofort stehen zu bleiben und das Fahrzeug zu verlassen.

Sie trat entschlossen auf das Bremspedal – und ins Leere. Quelle merde … Offenbar hatte die Detonation des Motors die Bremsschläuche zerfetzt. Die Handbremse? Funktionierte auch nicht. Isabelle versuchte, herunterzuschalten und mit dem Motor zu bremsen – was dringend nötig war, denn die Straße ging steil bergab. Es krachte und kreischte im Getriebe. Der Rauch schlug ihr ins Gesicht, und die Augen brannten. Rechts nahm sie schemenhaft einige Bäume wahr. Lieber jetzt als später … Sie steuerte beherzt auf sie zu. Einen Airbag hatte ihr Mustang nicht, dafür war er zu alt. Hoffentlich hielt der Sicherheitsgurt. Statt aber frontal auf einen Baum zu knallen und so zum Stillstand zu kommen, streifte sie nur einen, und der Mustang schleuderte nach links. Sehen konnte sie fast nichts mehr, aber weil sie die Straße schon unzählige Male gefahren war, wusste sie, dass dort keine Bäume auf sie warteten – nur eine kleine hölzerne Leitplanke, die ihr schweres Auto wie ein Streichholz knicken würde. Und dahinter? Folgte ein steiler Felsabbruch …

Isabelle hatte während ihrer Zeit beim Spezialeinsatzkommando viele Fahrertrainings absolviert. Sie beherrschte die abenteuerlichsten Manöver – aber ihr fiel gerade kein passendes ein. Es gelang ihr, den schleudernden Mustang ein letztes Mal zurück auf die Straße zu zwingen … doch war ihr klar, dass es gleich wieder in Richtung Abgrund gehen würde. Diesmal im rechten Winkel.

Eine Eigenschaft von ihr war, dass sie so gut wie nie in Panik verfiel und instinktiv oft das Richtige tat. Schon hatte sie den Sicherheitsgurt gelöst. Sie umklammerte die Windschutzscheibe und zog sich aus dem Sitz. Wer über eine geschlossene Tür ins Auto springen konnte – machte sie sich Mut –, sollte es doch schaffen, auch aus ihm hinauszuspringen …

Der Mustang durchschlug die Leitplanke. Sehen konnte sie es wegen des dichten Rauches nicht. Hören erst recht nicht … aber sie glaubte es zu spüren. Sie mobilisierte alle Kräfte und katapultierte sich aus dem Auto …

Dann wurde ihr schwarz vor Augen!

1

Es gab Tage, da galt es, schwere Entscheidungen zu treffen. Heute war so ein Tag. Auf der Schiefertafel von Jacques’ Bistro standen als plats du jour sowohl Couscous mit Minz-Joghurt und halber Avocado als auch Ratatouille mit Zitronen-Hähnchenbrust. Beide Tagesgerichte mochte Isabelle. Beim Rosé blieb ihr die Qual der Wahl erspart. Als Stammgast bekam sie zum Mittagessen automatisch den vin de la maison hingestellt. Einen leichten Côte de Provence. Betrunken wurde man von ihm nicht.

Couscous oder Ratatouille? Isabelle dachte, dass sie sich nicht beklagen durfte, wenn sie keine anderen Probleme hatte. Gleichzeitig ging ihr durch den Kopf, dass diese Momente des unbeschwerten Nichtstuns die Ausnahme waren – und nicht die Regel. Als sie vor Jahren von Paris nach Fragolin gezogen war, hatte sie es sich genau umgekehrt vorgestellt. Die Regel sollte sein, das entspannte Leben in der Provence zu genießen. Und die Ausnahme gelegentliche Kriminalfälle. Irgendeine höhere Macht hatte etwas dagegen.

Sie nahm einen Schluck vom Rosé und musste lächeln. Denn natürlich war ihr klar, dass sie sich gerade selbst etwas vormachte. So schön der Müßiggang auch war, sie kannte sich gut genug, um zu wissen, dass sie das ne rien faire nicht lange durchhielt – weil ihr schnell langweilig wurde. Insofern sollte sie zufrieden sein.

Als die Bedienung an den Tisch kam, um die Bestellung aufzunehmen, entschied sich Isabelle spontan für ein carré d’agneau au romarin. Damit war das Problem gelöst. Ihr war klar, dass Jacques beim Lammcarré vor allem an einem nicht sparte: am Knoblauch. Egal, sie hatte heute keine Termine mehr. Außerdem würde sich in Fragolin kaum jemand am Knoblauch stören. Der Duft gehörte zur Provence wie … sie suchte nach einem Vergleich … nun, wie die Aromen von Lavendel oder Thymian. Nur wurde der Knoblauch in Reiseberichten selten so schwärmerisch beschrieben.

Immerhin, fiel ihr ein, hatte sich der große Schriftsteller Alexandre Dumas zu einer Eloge hinreißen lassen: Die Luft in der Provence sei mit Knoblauch imprägniert, weshalb es sehr gesund sei, sie einzuatmen. Isabelle kannte das Bonmot von ihrem Assistenten Apollinaire, der eine Vorliebe für ausgefallene Zitate hatte.

Während sie noch darüber nachdachte, ob eine »imprägnierte Luft« als Kompliment zu interpretieren sei oder vielmehr im Gegenteil als böse Satire, bekam sie überraschenden Besuch.

Chantal Lefèvre eilte an ihren Tisch.

»Bin ich froh, dich hier zu treffen«, sagte die Bürgermeisterin kurzatmig. Sie hatte einen roten Kopf. Offenbar war sie gerannt. »Ich war schon im Kommissariat. Apollinaire hat mir gesagt, dass du zu Tisch wärst.«

Sie zog einen Stuhl heran und nahm ermattet Platz.

»Hättest mich ja anrufen können.«

»Habe ich ja.« Chantal legte ein Handy neben das Weinglas. »Soll ich dir von Apollinaire geben. Hast du im Büro vergessen.«

Isabelle runzelte die Stirn. Das war ihr noch nie passiert. Es gab nur eine Erklärung: In ihrer kleinen Außenstelle der Police nationale gab es derzeit absolut nichts zu tun. Genau genommen befand sie sich im Urlaub. Da durfte man schon mal nachlässig sein und das Handy vergessen. Es beunruhigte sie dennoch. Der provenzalische Schlendrian war zwar sympathisch, aber sie wollte ihn sich nicht zu sehr zu eigen machen.

»Ah oui, merci«, sagte sie irritiert und steckte das Handy ein. »Tut mir leid. Was gibt’s denn so Dringendes?«

Chantal wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Genau genommen ist es … ist es nicht dringend«, stammelte sie. »Die arme Person läuft uns ja nicht weg.«

Normalerweise sprach Chantal nicht in Rätseln, überlegte Isabelle. Sie war wirklich durch den Wind.

»Wer kann uns nicht weglaufen?«, hakte sie nach.

»Das weiß ich doch auch nicht …«

Isabelle hob eine Augenbraue. Das tat sie häufig, wenn ihre Geduld allzu sehr strapaziert wurde. Apollinaire würde verstehen, dass er endlich auf den Punkt kommen sollte. Bei Chantal dauerte es etwas länger.

»Isabelle, bitte entschuldige. Du weißt doch von unserem Projekt, ein neues Gemeindezentrum zu errichten …« Sie machte eine fahrige Handbewegung. »Natürlich weißt du das, denn das Projekt wird ja aus Thierrys Nachlass finanziert, der von dir verwaltet wird. Bevor wir mit dem Bau beginnen können, müssen wir ein altes Haus abreißen, das schon länger leer steht. Die Baggerarbeiten kommen gut voran. Bis vor einer knappen Stunde … Jetzt ist erst mal Schluss.«

Isabelle kam der Gedanke, dass der Baggerfahrer einen Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt haben könnte. Aber Fragolin war nie bombardiert worden.

»Warum ist jetzt erst mal Schluss?«

»Meine Bauarbeiter sind auf … auf Knochen gestoßen. Genau genommen handelt es sich um ein komplettes Skelett … also, wie soll ich es beschreiben, mit einem Totenschädel und mit allem, was dazugehört. Echt gruselig. Ich komm gerade von der Baustelle.«

Jetzt verstand Isabelle, warum »die arme Person« nicht mehr weglaufen konnte. Die Bürgermeisterin hätte sich wirklich nicht beeilen müssen.

»Ein Skelett? Ist also schon länger tot«, konstatierte Isabelle nüchtern.

»Du hast einen trockenen Humor.«

»Ist kein Humor, ich beschreibe nur die Faktenlage.«

»Sobald die Gendarmerie Wind davon bekommt, wird sie den Fall an sich reißen und einen Baustopp verhängen«, fuhr Chantal fort. »Das wäre eine Katastrophe, wir haben einen engen Zeitplan.«

»Sei froh, dass ihr nicht auf prähistorische Artefakte gestoßen seid. Archäologen sind schlimmer als die Gendarmerie nationale.«

»Dann hätten wir wenigstens eine Attraktion für den Fremdenverkehr. Im Ernst, ich brauche deinen Rat. Dürfen wir die Knochen einfach einsammeln und mit den Abbrucharbeiten fortfahren?«

Isabelle überlegte, dass sie einen solchen Fall noch nicht hatte. Die »Leichen«, mit denen sie es üblicherweise zu tun bekam, waren durchweg jüngeren Datums.

»Die Frage müsstest du eigentlich besser beantworten können. Der Fund von menschlichen Knochen ist sicher meldepflichtig …«

»Das wäre einfach. Hiermit melde ich den Fund bei der Bürgermeisterin, das bin ich selber. Und du weißt jetzt auch Bescheid, immerhin repräsentierst du die Exekutive.«

»Die aber nicht zuständig ist«, gab Isabelle zu bedenken, »dafür haben wir im Ort die Gendarmerie.«

»Bitte bewahre mich vor der Gendarmerie. Capitaine Briand macht mir schon so das Leben schwer. Ich darf mir gar nicht vorstellen, was er aus diesem Knochenfund machen würde. Wahrscheinlich dauert es Monate, bis wir die Abbrucharbeiten fortsetzen dürfen.«

Monate waren bestimmt übertrieben, dachte Isabelle. Aber Chantal hatte recht: Briand würde sich wichtigtun und eine große Show abziehen.

»In jedem Fall muss der Fundort polizeilich in Augenschein genommen und fotografisch erfasst werden«, stellte Isabelle fest. »Vor allem muss ausgeschlossen werden, dass ein Gewaltverbrechen zugrunde liegt. Aus alldem ergeben sich die weiteren Schritte.«

»Das leuchtet mir ein. Komm, lass uns sofort aufbrechen!«

Isabelle dachte an ihr Lammcarré, das jeden Moment kommen müsste. Aber auch daran, dass in Fragolin noch nie ein Skelett gefunden wurde. Carré d’agneau dagegen gab es bei Jacques jeden Tag.

Sie leerte ihr Weinglas und erhob sich.

»D’accord, dann machen wir uns mal auf den Weg.«

2

Bei dem schon halb abgerissenen Haus und dem Bagger angekommen, begrüßte sie zunächst die beiden Bauarbeiter, die aus dem Ort stammten. Isabelle war lange genug in Fragolin, um fast jeden Bürger persönlich zu kennen.

»Wir sind ganz schön erschrocken«, sagte der eine. »Wir haben bei unserer Arbeit ja schon viel entdeckt, aber noch nie ein menschliches Skelett.«

Aus dem Augenwinkel sah sie eine hoch aufgeschossene Gestalt näher kommen: Apollinaire. Sie hatte ihn von unterwegs angerufen und gebeten, seinen Fotoapparat mitzubringen.

Chantal stieg über einige Steine, blieb dann stehen und ließ Isabelle den Vortritt.

Die ganze Zeit hatte sich Isabelle gefragt, warum Chantal immer von einem Skelett sprach. Darunter stellte sie sich ein senkrecht stehendes anatomisches Knochengerüst vor, wie man es aus dem Biologieunterricht kannte. So etwas war hier wohl nicht zu erwarten. Eher ein ungeordnetes Durcheinander menschlicher Knochen. Als sie jetzt hinter einer teilweise eingerissenen Mauer in einen kleinen Hohlraum blickte, fand sie den Ausdruck des Skeletts bestätigt. Nur dass es waagrecht vor ihr lag und die einzelnen Knochen nicht wie in der Anatomie durch Drähte verbunden waren. Aber alles schien am richtigen Platz: Schienbein, Oberschenkelknochen, Becken, Rippen, Oberarmknochen, Schulterblatt, Schädel … Sie war überzeugt, dass von den über zweihundert menschlichen Knochen keiner fehlte. »Echt gruselig«, hatte Chantal gesagt. Das traf es ziemlich gut.

Neben der skelettierten Leiche lagen etwas Schutt und Mörtel aus der herausgebrochenen Mauer.

»Oh, là, là«, hörte sie hinter sich Apollinaire. »Was haben wir denn hier? Eine Hausbestattung?«

Auf die Idee war sie noch gar nicht gekommen. Seit Napoleon war gesetzlich geregelt, dass Leichen nur auf Friedhöfen beigesetzt werden durften.

Sie löste ihre Augen vom Skelett, um sich in den Trümmern des halb eingerissenen Hauses einen Überblick zu verschaffen.

»Wo exakt befinden wir uns hier?«, fragte sie die Bauarbeiter. »Hinter dem Wohnzimmer?«

»Nein, das hier war die Garage. Die Mauer mit dem Hohlraum wurde am hinteren Ende eingezogen.«

Isabelle bat Apollinaire, einige Fotos zu machen. Er tat dies in gewohnt umständlicher Weise. Sie wusste, dass ihm auch der künstlerische Ausdruck am Herzen lag. Diese Manie konnte sie ihm nicht austreiben. Entsprechend viel Zeit nahm seine Arbeit in Anspruch.

Isabelle überlegte, wie lange die sterblichen Überreste hier schon liegen mochten. Gewiss lang genug, dass sie keine Spuren verwischen würde, wenn sie in den Hohlraum stieg und das Skelett genauer in Augenschein nahm.

Endlich. Apollinaire trat zurück. »Fini!«

Sie kletterte über die Mauerreste, wobei sie versuchte, auf keinen Knochen zu treten. War das ein Mann oder eine Frau? Sie vermochte es nicht zu sagen. Doch ein Gerichtsmediziner würde das feststellen können. Auch wie alt die Person zum Zeitpunkt des Todes gewesen war. Und wahrscheinlich auch, wie viele Jahre dieser schon zurücklag. Aber war das wichtig? Sie war Kommissarin bei der Police nationale und keine Archäologin.

Sie beugte sich über den Schädel des Skeletts …

»Madame le Commissaire, was machen Sie da?«, wurde sie plötzlich von hinten angeschrien.

Isabelle wusste sofort, wem die Stimme gehörte. Chantal Lefèvres besonderer Freund war eingetroffen: Capitaine Briand von der Gendarmerie. Wie kam es, dass er so schnell von dem Knochenfund erfahren hatte? Egal, jetzt war er da.

Eigentlich verstand sie sich mit dem Capitaine ganz gut. Nach anfänglichen Scharmützeln, die zwischen der Gendarmerie und der Police nationale nicht unüblich waren, hatten sie sich über die Jahre arrangiert. Sie versuchten, sich gegenseitig nicht in die Quere zu kommen. Was im Grunde leicht war, denn alle polizeilichen Aufgaben vor Ort fielen in seinen Bereich. Isabelle war froh, wenn sie damit nicht behelligt wurde. Ihr Kommissariat hatte ganz andere Zuständigkeiten. Wirklich definiert waren diese nicht. Sie bekam ihre Orders direkt aus Paris. Meistens jedenfalls. Alternativ erklärte sie sich selbst für zuständig.

»Bonjour, Capitaine, bitte gehen Sie aus dem Licht«, erwiderte sie schroff. Er hätte sie nicht anschreien sollen. Das mochte sie nicht. »Apollinaire, reichen Sie mir bitte Ihre Kamera, ich möchte einige Aufnahmen aus nächster Nähe machen.«

»Sie machen gar nichts!«, bellte der Capitaine. »Ein Knochenfund fällt nun wirklich nicht in Ihren Zuständigkeitsbereich.«

Tatsächlich hätte sie nichts dagegen, wenn sich die Gendarmerie um das Skelett kümmern würde. Aber Briands Verhalten weckte ihren Widerspruchsgeist. Zudem hatte Chantal gehofft, ihn aus dem Fall raushalten zu können.

»Würde es sich um Hundeknochen handeln, hätten Sie recht«, konterte sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Briand machte Anstalten, zu ihr über die Mauer zu steigen.

»Capitaine, noch einen Schritt weiter und Sie haben eine Dienstaufsichtsbeschwerde am Hals. Sie behindern die Police nationale bei der Ermittlung in einem Tötungsdelikt.«

»Tötungsdelikt? Dass ich nicht lache. Woher wollen Sie das wissen? Oder hat Ihnen das Skelett gerade zugeflüstert, dass es umgebracht wurde?«

Briands spöttische Bemerkung brachte sie noch weiter gegen ihn auf. Doch immerhin war er so verunsichert, dass er sich nicht näher heranwagte.

»Exactement, mon Capitaine. Das Skelett hat mir soeben zugeflüstert, dass es nicht freiwillig aus dem Leben geschieden ist.«

»Meine Schwiegermutter müsste man totschlagen«, flüchtete sich Briand in einen schlechten Scherz, »selbst dann würde sie noch eine Weile weiterquatschen. Als Skelett wäre aber auch sie nicht mehr in der Lage, Ihnen was mitzuteilen.«

Isabelle kannte Briands Schwiegermutter. Sie war eine nette Frau. Ihre Tochter hätte jemand anderen heiraten sollen.

»Mit einem Loch im Schädel geht das ohne Worte«, sagte Isabelle. »Wir haben es hier also definitiv mit einem Tötungsdelikt zu tun.«

»Ein Loch im Kopf? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Ich werde sofort alle nötigen Schritte in die Wege leiten.«

»Was könnte die Gendarmerie tun?«, mischte sich Apollinaire flachsend ein. »Wollen Sie Straßensperren anordnen, damit uns der Mörder nicht entkommt?«

Isabelle musste lächeln. Der Witz war gut. Denn die Gendarmerie war in Fragolin nicht gerade für ihr schnelles Handeln bekannt.

»Ich verbitte mir solche Frechheiten …«

»Sous-Brigadier Eustache, das war unsachlich«, maßregelte sie Apollinaire.

»Pardon, Madame, je suis désolé!« Wirklich zerknirscht klang er nicht.

»Im Ernst, wie geht es jetzt weiter?«, fragte die Bürgermeisterin.

»So, wie wir es vorhin besprochen haben«, antwortete Isabelle. »Der Fall fällt zweifelsfrei in die Zuständigkeit der Police nationale. Das Zentralkommissariat in Toulon wurde von mir bereits informiert. Die Spurensicherung und ein forensischer Gutachter sind unterwegs.«

Das alles entsprach nicht der Wahrheit, aber es bedurfte nur eines kurzen Anrufs, dann stimmte es.

»Moment, Moment«, protestierte Briand. »Ganz so einfach geht es nun doch nicht …«

»Doch, genau so einfach geht es. Im Grunde tue ich Ihnen einen Gefallen. Seien Sie froh, dass ich Ihnen diesen Job abnehme. Mit alten Knochen lassen sich keine Lorbeeren gewinnen.«

Briand langte sich empört an die Brust.

»Madame le Commissaire, Sie kennen mich, mir ist es noch nie um Anerkennung gegangen …«

Sie warf ihm einen Blick zu. Briand sah so aus, als ob er das gerade selber glauben würde.

»Capitaine Briand, wie immer weiß ich Ihr Engagement sehr zu schätzen«, versuchte die Bürgermeisterin die Wogen zu glätten. »Natürlich wäre der Fall auch bei Ihnen in den besten Händen. Aber ich begrüße es, wenn sich die Police nationale darum kümmert. Die Gendarmerie hat wahrlich genug andere Dinge, um die sie sich kümmern muss.«

Was für Dinge sollten das sein, überlegte Isabelle. Strafzettel für Falschparker ausstellen? In Fragolin passierte sonst nicht viel.

»Schön, dass Sie das so sehen«, grummelte Briand, der offenbar im Begriff war, klein beizugeben.

»Bis zum Abschluss der kriminaltechnischen Beweissicherung«, erklärte Isabelle, »dürfen die Abbrucharbeiten selbstverständlich nicht fortgesetzt werden.«

Chantal nickte. »Natürlich nicht, dafür habe ich Verständnis.«

»Wird aber nicht lange dauern. Viel gibt es ja unter diesem Bauschutt nicht zu sichern. Ich denke, morgen früh kann es weitergehen.«

Sie wusste, dass Chantal genau das hören wollte. Deshalb war sie zu ihr ins Bistro geeilt. Den Gefallen tat ihr Isabelle gerne. Ob sie sich damit allerdings gerade selber einen Gefallen tat, wagte sie zu bezweifeln. Denn sie konnte sich wahrlich Aufregenderes vorstellen, als der Vorgeschichte eines Skeletts nachzuspüren. Aber jetzt war es zu spät. Das hätte sie sich vorher überlegen müssen.

3

Am späten Nachmittag war das meiste erledigt. Zunächst hatte Capitaine Briand zwar unter Murren, aber doch bereitwillig das Feld respektive die Baustelle geräumt. Gleich im Anschluss hatte Isabelle nachgeholt, was sie zuvor schon behauptet hatte: Sie hatte dem Zentralkommissariat der Police nationale in Toulon Meldung erstattet. Allerdings nicht dem leitenden Commandant persönlich, sondern – um unnötige Diskussionen zu vermeiden – einer untergeordneten Stelle. Auf ihren Wunsch hin machten sich die Spurensicherung und ein Rechtsmediziner nach Fragolin auf den Weg. Derweil hatte Apollinaire die Baustelle mit einem rot-weißen Absperrband gesichert: Police nationale. Zone interdite! Da das Haus am Ortsrand lag, verirrte sich sowieso kaum jemand hierher.

Die Kollegen von der Spurensicherung waren mit ihrer Tätigkeit schnell fertig. Hier gebe es tatsächlich nicht viel zu »sichern«, stellten sie fröhlich fest. Genauso gut hätte man sie zu einer römischen Ausgrabung rufen können, um bei einem erschlagenen Legionär den Tathergang zu rekonstruieren. Gleichwohl hatten sie die üblichen Routinearbeiten durchgeführt. Um Isabelle zum Abschied nicht ohne Ironie viel Spaß bei ihrem neuen Fall zu wünschen. Offenbar gingen ihr in der Gegenwart die Leichen aus, weshalb sie jetzt schon alte Knochen ausgraben lasse.

Wirklich amüsieren konnte sich Isabelle über dieses Gefrotzel nicht. Schließlich gab es einen wahren Kern: Bei einem erschlagenen Legionär würde sich niemand für den Täter interessieren. Warum also sollte sich die Police nationale bei einem Skelett ins Zeug legen, dessen unglückseliges Schicksal auch nicht erst gestern besiegelt wurde?

Mittlerweile war sie am »Grab« fast alleine. Apollinaire hielt sich im Hintergrund und war damit beschäftigt, einige Neugierige, die sich nun doch eingefunden hatten, höflich, aber bestimmt nach Hause zu schicken.

Sie saß mit Docteur Franell auf der Mauer. Er leitete in Toulon das Institut für Rechtsmedizin. Obwohl er schon im Rentenalter war, wollte sich niemand vorstellen, dass er aufhören könnte. Er selbst am wenigsten. Franell hatte einen Lehrauftrag und galt als Kapazität. Isabelle schätzte seine Kompetenz. Und seine besonnene Art.

»Sie wundern sich vielleicht, warum ich persönlich gekommen bin«, sagte er. »Aber unter all den vielen Leichen, die bei mir landen, ist ein komplett erhaltenes Skelett doch etwas Besonderes. Das Foto, das Sie mir geschickt haben, hat mich neugierig gemacht.« Franell sah in den Hohlraum. »Und ich muss sagen, ich wurde nicht enttäuscht.«

»Was ist an einem Skelett so bemerkenswert? Sieht nicht jeder Leichnam irgendwann so aus?«

»Im Prinzip schon, aber faktisch dann doch nicht. Dieses Skelett hat eine besondere Ästhetik. Es liegt da wie aufgebahrt. Alles ist an seinem richtigen Platz. Fast wie in einem Sarg, nur dass die Hände nicht über der Brust gefaltet sind.«

Franell schien sich tatsächlich am Anblick zu erfreuen.

»Handelt es sich um einen Mann oder um eine Frau?«, fragte sie.

»Ich denke, um einen Mann. Dafür sprechen das Becken und andere Merkmale wie zum Beispiel die ausgeprägte Glabella zwischen Nasenwurzel und Augenbrauen.«

Sie verkniff sich die Frage, was eine Glabella war. Ihr reichte völlig die Feststellung, dass es sich mutmaßlich um einen Mann handelte.

»Können Sie was zum Alter des Opfers sagen?«

»Das ist wie beim Geschlecht, präzisere Angaben kann ich erst machen, wenn ich die Knochen im Institut untersucht habe. Aber ich würde mal denken, das Opfer war zum Zeitpunkt seines Todes in den Vierzigern. Darauf deuten unter anderem der Zustand der Gelenke und der Zähne hin. Das müsste so ungefähr hinkommen.«

»Sie sagten, zum Zeitpunkt seines Todes …«

»Ich weiß, was Sie fragen wollen. Doch da muss ich Sie wirklich auf die forensische Analyse vertrösten. Alles andere wäre grob fahrlässig.«

Isabelle sah ihn lächelnd von der Seite an.

»Und wenn ich Sie bitte, ein bisschen fahrlässig zu sein? Was ist Ihr spontaner Eindruck, wie lange ist der Mann schon tot?«

»Ein spontaner Eindruck ist kein wissenschaftliches Verfahren. Aber wie könnte ich Ihrem Charme widerstehen? Lassen Sie es mich so sagen: Wie ich die äußeren Bedingungen hier einschätze, dauert es etwa zwölf Jahre, bis das Körpergewebe völlig zersetzt ist sowie auch die Haare und Fingernägel verwest sind. Was bleibt, ist ein Skelett. Erst danach setzt der langsame Verfall der Knochen ein …«

»Also mindestens zwölf Jahre oder länger, habe ich Sie da richtig verstanden?«

Franell schmunzelte.

»Ich habe doch überhaupt nichts gesagt, wie könnten Sie mich da missverstehen?«

Isabelle dachte, dass sie immer wieder gerne mit dem alten Herrn zusammenarbeitete.

»Was ist mit dem Loch im Kopf?«

»Das hat wehgetan, aber nicht lange.«

»Weil man mit einer solchen Verletzung nicht lange überlebt?«

»Die vordere Schädeldecke wurde am Os frontale durch einen kräftigen Schlag, vermutlich mit einem stumpfen Gegenstand, zertrümmert …«

»Zum Beispiel mit einem Hammer?«

»Könnte sein. Jedenfalls dürfte der Schlag zeitnah zum Exitus geführt haben.«

»Also haben wir es hier mit einem Mann in den besten Jahren zu tun«, resümierte Isabelle, »der vor gut zwölf Jahren mit einem stumpfen Gegenstand von vorne niedergeschlagen wurde. Anschließend wurde er in diesen Hohlraum gelegt und eingemauert. In der Hoffnung, dass man ihn nie finden wird.«

Franell nickte zustimmend.

»Wie geht’s jetzt weiter?«, fragte sie. »Wie kommen die Knochen in Ihr Institut nach Toulon, ohne dass sie durcheinandergeraten?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Lässt sich nicht vermeiden, dass sie durcheinandergeraten. Wir packen sie in Spezialsäcke, die ich im Kofferraum habe. Morgen mache ich dann meinen Anatomiestudenten eine große Freude, indem ich sie bitte, die Knochen zu sortieren.«

»Die werden begeistert sein.«

Der Professor lächelte.

»Für meine Studenten und Studentinnen mache ich alles. Ich habe das Skelett aus allen Blickwinkeln fotografiert …«

Sicher nicht so schön wie Apollinaire, dachte Isabelle.

»Des Weiteren habe ich die chemischen Parameter des Hohlraumes erhoben, die für die Verwesung relevant sind. Ich verfüge also über alles, was ich für meine weitere Arbeit brauche.«

»Hört sich gut an. Dann können wir also …« Isabelle stockte.

Franell brachte ihren Satz zu Ende: »Sprechen Sie es ruhig aus: Dann können wir also einpacken! Sous-Brigadier Eustache kann uns helfen. Schutzkleidung und Handschuhe habe ich im Auto.« Er sah auf die Uhr. »In einer halben Stunde bin ich weg. Für das Skelett habe ich meine Mittagspause geopfert. Jetzt grummelt mir der Magen.«

Ihr fiel ein, dass auch sie ein Lammcarré hatte sausen lassen.

»Geht mir nicht anders«, sagte sie. »Docteur Franell, darf ich Sie in Jacques’ Bistro einladen? Dann können Sie sich vor der Fahrt ein wenig stärken.«

Der Vorschlag schien ihm zu gefallen.

»Die Einladung nehme ich gerne an. Unter der Bedingung, dass wir über alles reden, nur nicht über unsere Arbeit.«

»Genau darum hätte ich Sie auch gebeten.«

4

Im Dämmerzustand des Aufwachens träumte Isabelle am nächsten Morgen von einem Skelett, das mit klapperndem Gerippe einen wilden Tanz aufführte. Ziemlich spooky. Ein Hammer flog durch die Luft und traf den Knochenmann am Kopf. Das Skelett brach röchelnd zusammen, robbte sich mit letzter Kraft in einen aus Ziegeln gemauerten Sarg – und verstarb …

Isabelle drehte sich auf den Rücken und rieb sich die Augen. Ein Skelett konnte nicht sterben, es war ja schon tot. Außerdem, was sollte dieser Unsinn? Sie brauchte eine Weile, bis ihr die gestrigen Ereignisse in Erinnerung kamen. Nun wurde ihr klar, warum sie ausgerechnet von einem klappernden Knochengerüst geweckt wurde. Freilich war das inakzeptabel. So weit kam es noch, dass sie von einem Skelett im Traum verfolgt wurde. Das würde ihr nicht noch mal passieren, nahm sie sich vor. Erst recht, weil sie sich nur wenig für dessen Schicksal interessierte. Sie sah den Knochenfund nicht einmal als richtigen Fall an, dem sie sich als Kommissarin widmen müsste – trotz des eingeschlagenen Schädels. In ihrer beruflichen Vita hatte sie es mit terroristischen Anschlägen zu tun gehabt, mit Attentatsversuchen auf den französischen Präsidenten oder mit Entführungen … alles Ereignisse, die sich in der unmittelbaren Gegenwart abspielten und auf die sie aktiv Einfluss nehmen konnte. Dafür war sie ausgebildet, so war sie konditioniert. »Cold cases« mochte sie nicht. Es entsprach nicht ihrem Naturell, zur Passivität verdammt längst vergangenen Taten nachzuspüren. Das war eher was für Apollinaire …

Der erste vernünftige Gedanke an diesem Morgen: Apollinaire war wie geschaffen für diesen »Fall«. Ihm lag es, mit wissenschaftlicher Akribie im Internet zu recherchieren und Dokumente zu durchforsten. Dabei würden ihm zwar die Haare zu Berge stehen, und gelegentlich müsste er einen Kopfstand machen, um die Durchblutung im Gehirn zu fördern, so seine Begründung für diese Angewohnheit. Aber er wäre in seinem Element. Er würde im Kommissariat sein geliebtes Flipchart aufstellen und den Stand seiner Ermittlungen in verwirrende Schaubilder übertragen, die rasch so kryptisch wurden, dass nur noch er sie verstand – wenn überhaupt.

Ihr Entschluss stand fest: Sie würde ihm den Fall weitgehend übertragen und ihn einfach mal machen lassen. Blieb nur ein Problem: Sie war nicht gut darin zu delegieren. Aber sie würde es versuchen, das nahm sie sich fest vor.

Isabelle schlug die Decke zur Seite. Durch die Lamellen ihrer Fensterläden fiel Licht in ihr Schlafzimmer. Wie spät es wohl war? Als ob das eine Rolle spielen würde? Es gab keinen Grund zur Eile. Sie befand sich immer noch im Urlaubsmodus. Um den zu beenden, brauchte es mehr als ein eingemauertes Skelett.

Sie stand auf, öffnete die Fenster und atmete tief ein und aus. Jeden Morgen freute sie sich auf diesen Moment. Die provenzalische Luft wünschte ihr einen guten Tag. Einige Schleierwolken zogen am tiefblauen Himmel gemächlich in Richtung Meer. Von der Gasse unterhalb ihrer Dachwohnung hörte sie Kindergelächter.

Was für ein Kontrast zum lärmenden Paris … keine Abgase, kein Gehupe … Früher hatte Isabelle den urbanen Herzschlag der Großstadt geliebt, sie war geradezu süchtig danach gewesen – heute würde sie sich nach wenigen Tagen krank fühlen und zurück nach Fragolin sehnen. Die Provence hatte sie verändert, aus ihr einen anderen Menschen gemacht … Isabelle lächelte. Natürlich war ihr bewusst, dass sie noch derselbe Mensch war – nur irgendwie umprogrammiert.

Sie könnte jetzt ihre übliche Joggingrunde antreten, überlegte sie, durch den Wald zur alten Bastide und zurück. Alternativ könnte sie so lange auf ihren ledernen Sandsack einprügeln, bis ihr die Puste ausging. Ihr war wichtig, sich am Morgen zu bewegen und etwas für ihre Fitness zu tun. Sie brauchte das, sonst hatte sie den ganzen Tag schlechte Laune.

Isabelle dachte an gestern, wo sie zwischen Couscous und Ratatouille hatte wählen müssen. Um sich schließlich für Lammcarré zu entscheiden. Genauso würde sie es auch jetzt machen, beschloss sie. Keine Joggingrunde, kein Training am Sandsack – sondern sofort und auf der Stelle ein Workout vor dem offenen Fenster: Kniebeugen, Liegestütze, Sit-ups, Klimmzüge am Dachbalken … In hoher Frequenz und ohne Atempausen. Das Programm dafür stammte noch aus ihrer Zeit als Leiterin einer Antiterroreinheit in Paris. Dort hatten sie einen masochistisch veranlagten Fitnesstrainer, der sie alle regelmäßig bis an ihre Grenzen trieb. Isabelle schmunzelte. Jetzt war sie ihre eigene Fitnesstrainerin und entsprechend gnädig zu sich selbst. Folgerichtig begann sie mit moderaten Stretchübungen. Doch sie würde sich steigern – und zum Schluss vielleicht sogar ihrem Sandsack noch einige wuchtige Haken versetzen.

 

Es war schon später Vormittag, als sie das Hôtel de ville betrat. Zwangsweise kam sie in der Eingangshalle des Rathauses an den Bildern der früheren Bürgermeister von Fragolin vorbei. Makabrerweise war keiner von ihnen mehr am Leben. Weder ihr Vater noch als Letzter in der Reihe Thierry Blès, mit dem sie mal liiert gewesen war. Beide waren sie gewaltsam aus dem Leben geschieden. Isabelle ging durch den Kopf, dass irgendwann auch ein Porträt von Chantal Lefèvre hier hängen würde. Sie wünschte ihr von Herzen, dass sie sich dann noch bester Gesundheit erfreute und ihren Ruhestand genoss. Später würde sie Chantal in ihrem Büro besuchen. Sie hatte es nicht weit, nur die Treppe hoch in den ersten Stock.

Vor der Tür zu ihrem Kommissariat angelangt, schaute sie kurz auf das Schild neben dem Eingang. Police nationale stand darauf, mit dem Zusatz Commission spéciale. Apollinaire hatte sich das ausgedacht. Sie fand Commission spéciale etwas hochtrabend. Aber in der Sache stimmte es, denn sie übernahmen keine regulären Polizeiaufgaben. Ob allerdings die Ausforschung eines Skeletts zu den Pflichten einer Sonderkommission zählte, wagte sie zu bezweifeln.

Ohne anzuklopfen, öffnete sie die Tür. Sie liebte es, Apollinaire bei irgendeiner absonderlichen Tätigkeit zu überraschen. Heute blieb ihr diese Freude versagt. Ihr Assistent saß ganz normal hinter seinem Schreibtisch. Ganz normal? Nun ja, halt seinem persönlichen Stil entsprechend. Seine Uniformjacke hing auf einem Kleiderbügel am Aktenschrank. Das geblümte Hemd, das er trug, entsprach ganz sicher nicht den Dienstvorschriften. Einen Ärmel hatte er bis über den Ellbogen hochgekrempelt, den anderen nicht. Er war ein Verfechter der Asymmetrie. Die gelockerte Krawatte hatte er über die Schulter nach hinten geworfen. Isabelle hatte ihm schon oft den Vorschlag gemacht, sie im Innendienst abzulegen. Aus unerfindlichen Gründen kam das für ihn nicht infrage. Sie musste nicht unter den Tisch schauen, um sich zu überzeugen, dass er rechts und links verschiedenfarbige Socken trug – von dieser Marotte würde er nie ablassen.

»Bonjour, Madame«, begrüßte er sie mit einer zackigen Handbewegung an die Schläfe. Wollte er damit einen militärischen Gruß andeuten? Wenn ja, war er ziemlich missglückt.

»Je vous salue, Sous-Brigadier, bitte sitzen Sie bequem!«, erwiderte sie im Spaß, auf die Floskel anspielend, dass sich ein strammstehender Untergebener locker machen dürfe.

»Unsere Bürostühle könnten tatsächlich bequemer sein«, antwortete er ernsthaft. »Aber ich will mich nicht beklagen.«

Sie deutete auf das Flipchart, das er vor die Fahnenstange mit der Tricolore gestellt hatte. Mit der Überschrift: Le squelette inconnu. Darunter hatte er in die Mitte ein Knochengerüst skizziert. Nicht unähnlich jenem, von dem sie heute Morgen geträumt hatte.

»Ich sehe, Sie waren schon fleißig«, stellte sie fest. »Und kreativ.«

Apollinaire fuhr sich durch die strubbligen Haare.

»Eh bien, ich habe das Knochengerüst bewusst klein gehalten, weil wir ja außen herum viel Platz für unsere Ermittlungsergebnisse brauchen.«

»Schön, dass Sie so optimistisch sind.«

»Das bin ich doch immer, so gut sollten Sie mich kennen. Habe ich Ihnen schon mal eines meiner Lieblingszitate zum Thema Optimismus verraten? Der Spruch geht so: Die Optimisten haben das Flugzeug erfunden. Die Pessimisten dagegen …«

»… den Fallschirm«, ergänzte sie lachend. »Doch, den Spruch höre ich von Ihnen nicht zum ersten Mal. Ausnahmsweise dürfte er nicht von Konfuzius stammen, habe ich recht?«

Apollinaire kniff die Augen zusammen. »Tatsächlich kenne ich den Urheber nicht«, gab er zu. »Aber Konfuzius, nein, wohl eher nicht.« Als der Groschen fiel, musste er lachen. »Madame, Sie haben mich aufs Glatteis geführt. Konfuzius und Flugzeug … Das passt nun wirklich nicht zusammen. Obwohl es ernst zu nehmende Theorien gibt, dass schon die alten Chinesen …«

Isabelle winkte ab.

»Bitte nicht. Lassen Sie uns über Ihren Kriminalfall reden.«

»Meinen Kriminalfall? Madame, Sie meinen wohl unseren Kriminalfall?«

»Natürlich ist das unser gemeinsamer Fall, aber ich würde Ihnen gerne die Verantwortung übertragen und mich selbst ziemlich raushalten.«

Apollinaire sah sie entsetzt an. »Madame, das können Sie nicht machen …« Das Lineal, mit dem er gerade herumgespielt hatte, fiel ihm aus der Hand. Im Versuch, es aufzufangen, stieß er seine Kaffeetasse um. Panisch sprang er auf. »Mon Dieu, sehen Sie, was Sie angerichtet haben. Alles voller Kaffee.«

Sie lächelte.

»Nicht meine Schuld. Warum haben Sie auf meinen gut gemeinten Vorschlag auch so heftig reagiert?«

»Weil, weil …« Apollinaire versuchte, sich zu beruhigen. »Weil ich mich nicht in der Lage sehe, in dem Fall die Verantwortung zu übernehmen.«

»Wo ist das Risiko? Das Skelett ist schon tot!«

»Aber der Täter könnte noch leben …«

»Oder die Täterin. Genau das sollen Sie ja herausfinden.«

»Täter, Täterin …«, sprach er vor sich hin, während er mit einem Tuch seinen Schreibtisch trockenlegte. »Vielleicht war es doch Selbstmord?«

»Apollinaire, jetzt reißen Sie sich bitte zusammen! Wie soll das gehen? Unser Opfer hätte sich erst mit einem Hammer von vorne den Schädel eingeschlagen, dann in die vorbereitete Grube gelegt und sich selbst eingemauert.«

»Ce sont des bêtises«, murmelte er. »Ich weiß selber, dass das Schwachsinn ist.«

»Da bin ich aber froh. Mein lieber Apollinaire, seien Sie beruhigt, ich werde Sie nicht im Stich lassen. Sie können mir jeden Tag berichten, und wir besprechen die weitere Vorgehensweise.«

»Madame, so hätten Sie mir Ihren Vorschlag gleich unterbreiten können. Ich schätze, das ist eine praktikable Lösung. Zumindest für den Anfang. Sobald die Ereignisse an Dramatik zunehmen und sich meiner Kontrolle entziehen, springen Sie ein und übernehmen das Ruder.«

Wie kam er darauf, dass das passieren könnte? Sehr wahrscheinlich war das nicht.

»D’accord, genauso machen wir das.«

Apollinaire hüstelte verlegen.

»Darf ich noch einen grundsätzlichen Einwand vorbringen?«

»Immer gerne.«

»Die Verjährungsfrist für Mord beträgt in unserem Land zehn Jahre. Wenn ich Docteur Franell richtig verstanden habe, liegt das Tötungsdelikt definitiv länger zurück. Ergo käme der Täter, sofern wir ihn finden sollten, straffrei davon. So gesehen können wir uns die ganze Arbeit sparen.«

Das hatte sich Isabelle auch schon überlegt. War aber zu einem anderen Schluss gekommen.

»Einen Mörder zu überführen ist nach meinem moralischen Empfinden jeden Aufwand wert. Außerdem ist nicht gesagt, dass der Täter beziehungsweise die Täterin straffrei davonkommt. Es gibt andere Delikte wie etwa Entführung, die verjähren nicht. Auch könnten wir auf einen zweiten Mord stoßen, der nicht so lange zurückliegt.«

Apollinaire wackelte mit dem Kopf. Auch so eine Eigenart von ihm.

»Das wäre dann wie bei Al Capone«, stellte er fest. »Der legendäre Gangsterboss wurde nicht wegen seiner Morde, sondern am Ende wegen Steuerhinterziehung verurteilt.«

Isabelle kannte Apollinaires Vorliebe für amerikanische Kriminalgeschichten. Der Vergleich war zwar weit hergeholt, aber sie ließ ihn unwidersprochen.

»In den nächsten Tagen werden wir von Docteur Franell sein rechtsmedizinisches Gutachten bekommen«, sagte sie. »Dann wissen wir Genaueres zum Todeszeitpunkt.«

»Soll ich in Toulon schon mal anrufen?«

»Ihre Entscheidung, aber ein bisschen Zeit sollten Sie ihm schon lassen.«

»Ich verstehe, meine Entscheidung … Daran muss ich mich erst mal gewöhnen. Strategisch habe ich mir Folgendes überlegt: Bevor wir einen Mörder suchen können, müssen wir wissen, wer das Opfer ist.«

Da hatte er zweifellos recht, dachte Isabelle. Auch wenn das keine strategische Überlegung war, sondern ganz simpel der Not gehorchend.

Apollinaire hatte sein Lineal aufgehoben und begleitete mit ihm seine Ausführungen wie ein Dirigent.

»Von der Forensik«, fuhr er fort, »verspreche ich mir verbindliche Angaben zu Geschlecht und Alter. Parallel sollten wir Genaueres über das Haus in Erfahrung bringen, in dem das Skelett gefunden wurde. So viel weiß ich bereits: Der letzte Besitzer war ein Pariser Geschäftsmann, der es wohl als Ferienhaus nutzen wollte, aber so gut wie nie hier war und offenbar in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Vor einigen Monaten wurde das Haus, das sich in einem sehr schlechten Zustand befand, zwangsversteigert. Fragolin hat den Zuschlag bekommen. Laut unserer Bürgermeisterin mit der erklärten Absicht, das Haus abzureißen und auf dem Grundstück ein neues Gemeindezentrum zu errichten.«

»Na bitte, da haben Sie ja doch schon einiges in Erfahrung gebracht.«

Apollinaire freute sich über das Lob.

Sie deutete auf das Flipchart mit dem großen Weißraum rund um das skizzierte Skelett.

»Da hätten Sie ja schon was zum Notieren gehabt.«

Er nickte. »Ja, hätte ich, aber ich möchte meine schöne Seite nicht mit Halbwahrheiten verunstalten, die ich dann wieder korrigieren muss. Im Bürgermeisterbüro sucht man gerade alle Unterlagen zum Haus und zum vorigen Eigentümer zusammen. Sobald mir die vorliegen, werde ich mir eine grafische Umsetzung überlegen.«

Auf das »Kunstwerk« war sie schon jetzt gespannt. Einige Charts früherer Fälle hatte sie heimlich aufgehoben. Mit fortschreitender Komplexität wurden sie zwar immer unverständlicher, bekamen dafür aber eine ganz eigene, kryptische Ästhetik.

»Ich hätte noch eine Anregung«, sagte sie, »auf die Sie selbstverständlich schon selber gekommen sind. Stellen Sie fest, ob in Fragolin zur fraglichen Zeit eine Person auf unerklärliche Weise verschwunden ist. Gab es eine Vermisstenmeldung? Vielleicht nicht nur hier, sondern im ganzen Département Var?«

Er schlug sich mit dem Lineal auf den Kopf.

»Mais oui, diese Idee drängt sich förmlich auf.«

»So ist es. Sollten Sie auf einen Verdachtsfall stoßen, müsste die Identität über die DNA und das gut erhaltene Gebiss überprüft werden.«

»DNA, gut erhaltenes Gebiss …«, murmelte er, »natürlich, ein Kinderspiel.«

Isabelle hatte den Eindruck, dass ihm bereits jetzt alles über den Kopf wuchs. Sie sollte ihn nicht überfordern. Aber einen Gedanken musste sie noch loswerden.

»Mich beschäftigt das Ergebnis der Spurensicherung«, sagte sie.

»Welches Ergebnis? Ich dachte, die Spurensicherung hat nichts gefunden.«

»Genau das beschäftigt mich ja. Stellen Sie sich vor, Sie erschlagen jemanden …«

»Das käme mir nie in den Sinn!«

»Sie sollen es sich ja auch nur vorstellen. Dann schleppen Sie den Leichnam zum vorbereiteten Hohlraum und werfen ihn hinein.«

»Stimmt nicht. Ich habe ihn behutsam reingelegt, sonst sähe das Skelett anders aus.«

»Korrekt, das ist ebenfalls interessant. Aber warum hat die Spurensicherung keine Armbanduhr gefunden, keinen Ring, keine Halskette oder Ähnliches?«

Apollinaire rieb sich die Nase.

»Weil, weil … weil ich dem Opfer alles abgenommen habe, um im Falle seiner Entdeckung keinen Hinweis auf seine Identität zu geben.«

»Sie haben also sehr überlegt gehandelt, ohne Panik. Weil Sie wussten, dass Sie nicht gestört werden.«

»Vielleicht war die Uhr auch sehr teuer. Dann wäre das ein Grund mehr, sie dem Opfer abzunehmen. Ich könnte sie verkaufen oder trage sie jetzt selbst.« Er sah grinsend auf sein Handgelenk. »Nein, keine teure Uhr, ich bin unschuldig.«

»Wäre auch leichtsinnig. Noch ein letzter Gedanke. Warum hat die Spurensicherung keine Stoffreste gefunden, keinen Ledergürtel, keine Schuhe?«

»Ist vielleicht alles zu Staub zerfallen?«

»Das halte ich für ausgeschlossen. Falls im Bericht der Spurensicherung nichts anderes steht, würde ich annehmen, dass das Opfer fast nackt war, als Sie es …«

»Schon wieder ich.«

»Als Sie es zur letzten Ruhe gebettet haben.«

»Fast nackt? Warum denn das?«

»Würde ich auch gerne wissen. Falls sich Franell geirrt hat und wir haben es hier mit einer Frau zu tun, läge ein Sexualdelikt nahe. Aber bei einem Mann? Keine Ahnung.«

Apollinaire zog eine Grimasse.

»Fragen über Fragen … Madame, da haben Sie mir einen wirklich heiklen Fall aufgebürdet.«

»Ich will Sie nicht unterfordern«, erwiderte sie lächelnd.

Wirklich heikel war der Fall dennoch nicht. Nur stellten sich einige Fragen. Das war immer so.

»Sie schaffen das!«, ermunterte sie ihn. »Jetzt müssen wir nur noch einen Bericht für Commandant Richeloin schreiben …«

»Liegt bereits auf Ihrem Tisch. Müssen Sie nur noch abzeichnen.«

Als »Sekretärin« war Apollinaire unschlagbar.

»Sehr gut. Dann steht noch der Pressetext aus.«

»Da wollte ich Ihnen nicht vorgreifen. Mir fehlt Ihre Gabe, in wenigen Zeilen noch weniger zu sagen.«

Von wegen Gabe! Dafür fehlte ihr jegliches Talent. Doch war es eine Notwendigkeit, wollte man sich die Arbeit nicht unnötig erschweren. Idealerweise gelang es, der Informationspflicht Genüge zu tun und gleichzeitig möglichst wenig Neugier zu wecken. Je unspektakulärer, umso besser. Die Medien sollten gar nicht erst auf den Fall aufmerksam werden. Schon das Wort »Skelett« war tabu. Isabelle beschloss, den Text mit Chantal zu besprechen. Das Bürgermeisterbüro war als offizieller Absender sowieso der Police nationale vorzuziehen. Gemeinsam waren sie gut beraten, jeden Anschein eines Verbrechens zu vermeiden. Nur dann blieben ihnen lästige Journalistenanfragen erspart – hoffentlich.

Sie ging zu ihrem Schreibtisch und unterschrieb Apollinaires Protokoll, ohne eine Zeile zu lesen.

»Kann sofort raus«, sagte sie.

»Hat Commandant Richeloin in wenigen Minuten in seiner Mailbox.«

»Sehr gut. Dann wünsche ich Ihnen noch viel Spaß bei der Arbeit«, sagte Isabelle zum Abschied. Was von ihr nicht ironisch gemeint war, sondern ganz im Ernst. Denn Apollinaire ging in seiner Arbeit auf. Sie wüsste nicht, was ihm sonst vergleichbares Vergnügen bereiten könnte.

»Au revoir, Madame. Bitte vergessen Sie nicht erneut Ihr Handy. Die Vorstellung wäre für mich sehr beunruhigend, Sie nicht jederzeit erreichen zu können.«

»Dass ich jederzeit erreichbar bin, kann ich nicht versprechen. Doch wenn Sie eine Nachricht hinterlassen, rufe ich ganz sicher zurück.«

Isabelle lächelte still in sich hinein. Denn damit hatte sie nicht gesagt, wie schnell sie das tun würde. Falls sie heute noch ans Meer fahren sollte und ihr Handy unter ihrem Badehandtuch lag, könnte sich ihr Rückruf verzögern. Jedenfalls so lange, wie die Sonne brauchte, ihre vom Schwimmen nassen Haare zu trocknen.

5

Nach ihrem Besuch bei Chantal Lefèvre im Bürgermeisterbüro, wo sie gemeinsam den Pressetext aufgesetzt hatten, begegnete Isabelle vor dem Hôtel de ville dem alten Jules. Er verpflichtete sie umgehend zur Boule-Partie am Nachmittag. Genauer gesagt zum Pétanque, wie es hier traditionell gespielt wurde, mit ped tanco, mit geschlossenen Füßen.

Nichts würde es heute also werden mit dem Schwimmen im Meer. Aber morgen war auch noch ein Tag. Es war ein Privileg, dass sie vor Jahren als einzige Frau in den Kreis der Boule spielenden Männer aufgenommen worden war. Gelegentlich hatten sie es auch schon bereut, denn Isabelle gelang es immer wieder, ihnen die sprichwörtlichen Hosen auszuziehen. Weil sie aber wusste, was sich gehörte, und deshalb ihre Kombattanten nach dem Spiel ins Café des Arts zum Pastis einlud, kamen die Machos über diese Schande hinweg.

»Aber wir beide spielen zusammen«, sagte Jules. »Darauf bestehe ich, dann zeigen wir es den anderen.«

Sie hob lächelnd den Daumen. »D’accord, on fait comme ça!«

Der alte Mann ließ es sich nicht nehmen, ihr zwei Küsse auf die Wangen zu hauchen. Sie hielt vorsichtshalber die Luft an, denn Jules rauchte eine Gitane nach der anderen und roch wie ein Aschenbecher.

Isabelle wünschte ihm noch einen schönen Tag, dann schlenderte sie weiter in den Ort. Dass sie dabei an dem Souvenirladen Aux saveurs de Provence ihrer Freundin Clodine vorbeikam, war ihr bewusst. Auch dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von ihr erspäht und in ein längeres Gespräch verwickelt würde.

Genauso kam es: Wenige Minuten später saß sie neben Körben mit bunten Seifen und Kräutern der Provence an einem kleinen Bistrotisch. Vor sich ein Glas mit eisgekühltem thé à la menthe. Und eine Schale mit von Clodine selbst gebackenen Lavendelplätzchen. Normalerweise legte Clodine gleich mit dem neuesten Klatsch aus Fragolin los, der Isabelle zwar nicht interessierte, doch kurzweilig anzuhören war. Heute aber kam sie umgehend auf den mysteriösen Knochenfund zu sprechen, von dem sie erst vor wenigen Minuten erfahren habe.

Isabelle wunderte sich nicht, dass ihre Freundin schon Bescheid wusste. Eher, dass es so lange gedauert hatte. Denn Clodine entging fast nichts. Sie hatte ihre Ohren überall. Und ihre Blicke, so schien es, durchdrangen Wände.

Sie beugte sich neugierig nach vorne. »Nun erzähl schon!«, sagte sie. »Was sind das für Knochen?«

Isabelle zuckte mit den Schultern.

»Woher soll ich das wissen?«

»Weil Capitaine Briand heute früh in der boulangerie erzählt hat, dass du ihm den Fall weggeschnappt hättest, deshalb.«

Der Capitaine war eine Plaudertasche, dachte Isabelle. Warum konnte er nicht einfach die Klappe halten?

»Das stimmt so nicht«, stellte sie richtig. »Chantal Lefèvre hat ausdrücklich gebeten, dass sich die Police nationale um die Angelegenheit kümmert. Ich habe mich gewiss nicht darum gerissen, das kannst du mir glauben.«

»Klingt aber trotzdem aufregend. In Fragolin wurde noch nie ein eingemauertes Skelett gefunden …«

»Bist du dir sicher?«, fragte Isabelle belustigt.

»Na jedenfalls nicht zu meinen Lebzeiten. Daran würde ich mich erinnern.«

Sich erinnern? Ihre Freundin dürfte tatsächlich fast alles im Gedächtnis haben, was sich in Fragolin zu ihren Lebzeiten Außergewöhnliches zugetragen hatte. Dafür brauchte es kein Stadtarchiv.

»Ist dir ein Fall bekannt«, fragte sie deshalb, »bei dem in unserem Dorf eine Person auf unerklärliche Weise verschwunden ist? Sagen wir mal in den letzten zehn bis zwanzig Jahren?«

In Clodines Gesicht drückte sich die Freude aus, gerade etwas Neues erfahren zu haben.

»Aha, so lange schätzt ihr also, dass der Mord zurückliegt …«

»Wie kommst du auf Mord?«

»Sonst wäre es doch kein Fall für die Polizei, und Briand würde sich nicht übergangen fühlen. Aber um deine Frage zu beantworten, in den letzten zehn bis zwanzig Jahren …« Clodine runzelte die Stirn. »Sagtest du Mann oder Frau?«

Isabelle lächelte nachsichtig.

»Sagte ich nicht. Weil wir es noch nicht wissen.«

»Das ist schlecht, das müsst ihr so schnell wie möglich herausbekommen.«

Isabelle war froh, dass sie diese Notwendigkeit schon selber erkannt hatten.

»Die alte Thérèse war mal verschwunden«, fiel Clodine ein. »Damals haben wir uns alle große Sorgen gemacht. Le vieux Georges, Gott hab ihn selig, glaubte, Thérèse sei von Waldgeistern entführt worden. Unser Pfarrer hat für sie im Gottesdienst gebetet …«

»Und?«

Clodine schüttelte den Kopf.

»Nein, Thérèse kommt als Skelett nicht infrage. Sie ist nach Wochen in Toulon wieder aufgetaucht. Der Himmel weiß, wie sie dort hingekommen ist. Einige Jahre später ist sie friedlich im Bett gestorben.«

Das hatte Clodine mit Apollinaire gemeinsam, dachte Isabelle, sie neigte zu sinnlosen Abschweifungen.

»Also ist nach deiner Erinnerung niemand verschwunden«, stellte Isabelle fest.

»Nun ja, ich habe einige Jahre bei einem Freund in Antibes gelebt. Da hatte ich definitiv andere Dinge im Kopf …« Clodine kicherte. »Aber als ich nach Fragolin zurückgekommen bin, weil der Typ letztlich doch eine einzige Enttäuschung war, ist mir kein Bewohner abgegangen.«

»Was ist mit dem Besitzer des Hauses, in dem das Skelett gefunden wurde? Kanntest du ihn?«

»Richard Levin? Natürlich kannte ich ihn. Mir entgeht doch kein alleinstehender Geschäftsmann aus Paris, der sich hier ein Ferienhaus zulegt.«

Isabelle glaubte ihr das sofort. Sie kannte den Jagdtrieb ihrer Freundin. Und wie nebenbei hatte sie gerade den Namen des Mannes erfahren.

»Richard sah gar nicht mal schlecht aus«, fuhr Clodine fort. »Er hat mich einige Male zum Abendessen eingeladen, sogar nach Saint-Tropez ins sündteure Byblos. Trotzdem konnte er bei mir nicht landen.«

»Warum?«

»Nun, er kam mir irgendwie … wie soll ich sagen … irgendwie schleimig vor. Wie ein Fisch, der einem aus der Hand glitscht. Ich mag Fische nur entgrätet auf dem Teller, aber nicht neben mir im Bett, wenn du verstehst, wie ich das meine.«

Isabelle dachte, dass sie den Vergleich nicht wirklich verstand. Nur so viel, dass dieser Richard Levin auf irgendeine Weise haut goût hatte.

»Apropos Byblos …« Clodine lachte. »Da fällt mir ein Vorfall ein, der ihm total peinlich war. Als er mit der Kreditkarte bezahlen wollte, stellte sich heraus, dass sie gesperrt war. Er hatte nur die eine, jeder vernünftige Geschäftsmann hat doch mehrere Kreditkarten. Ein schleimiger Fisch mit einer gesperrten carte de crédit … So jemand ist nichts für mich.«

»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«

Clodine hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund.

»Mon Dieu, hältst du es etwa für möglich, dass Richard das Skelett sein könnte? An diese Möglichkeit habe ich gar nicht gedacht.«

Isabelle lächelte.

»Halte ich für ausgeschlossen. Wann wart ihr im Byblos?«

»Vor einigen Jahren, kurz bevor du nach Fragolin gekommen bist. Ach so, ich verstehe, deshalb kommt er als Skelett nicht infrage, du sprachst ja von zehn bis zwanzig Jahren …«

»So ist es.«

»Aber … aber vielleicht hat Richard in seinem Haus eine Geliebte eingemauert? Quelle horreur, das gleiche Schicksal hätte mir vielleicht auch gedroht …«

Clodine war der Schrecken anzusehen. Sollte sie ihr sagen, dass die Knochen wahrscheinlich von einem Mann stammten?

»Da siehst du mal, wie gefährlich dein Lebenswandel ist«, erwiderte sie stattdessen.

Clodine griff zum Glas mit dem thé à la menthe.

»Ich habe plötzlich einen trockenen Mund … Aber … aber ganz so schlimm ist mein Lebenswandel nun auch nicht. Wer von uns beiden hat denn gleich zwei Männer? Das bist du, meine Liebe – ich dagegen sitze gerade auf dem Trockenen. Ist mir schon lange nicht mehr passiert …«

»Du wirst darüber hinwegkommen. Und was meine zwei Männer betrifft, der eine ist gerade abgetaucht …«

»Nicolas, dein schöner Maler. Du weißt also immer noch nicht, wo er sich rumtreibt?«

»Nein, will ich auch nicht wissen. Und der andere ist in London auf einer Kunstmesse …«

»Dein Rouven, immer unterwegs. Selber schuld, hättest ihn dir halt nicht aussuchen dürfen.«

Isabelle wusste, dass Clodine für Rouven schwärmte. Schon deshalb, weil ihr mit ihm nie passieren könnte, dass seine Kreditkarte gesperrt war. Rouven Mardrinac war ein schwerreicher Kunstmäzen, der meist weder Geld noch Plastikkarten dabeihatte. Er war so prominent, dass man ihn überall kannte, die Rechnungen wurden an sein Sekretariat geschickt. Sicher auch im Byblos. Es gab andere Hotels mit noblem Namen, da war es noch einfacher: Sie gehörten ihm, auch wenn das kaum einer wusste. Nicht einmal Clodine.

»Ist okay, so, wie es ist«, sagte Isabelle – und schob sich ein Lavendelplätzchen in den Mund.

6

Vor dem Boulespiel am Nachmittag entspannte sich Isabelle auf ihrer kleinen Dachterrasse im Liegestuhl unter ihrem Sonnenschirm mit der schon etwas verblichenen Reklame von Ricard. Sie liebte diesen privaten Rückzugsort, mit Blick über die roten Dächer von Fragolin hinaus ins weite hüglige Land – und dem Wissen, dass an klaren Tagen hinter den dichten Wäldern des Massif des Maures das blaue Meer zu sehen war. Vor allem bei Mistral war das der Fall, wenn der stürmische Wind aus dem Rhônetal den Dunst vom Himmel fegte. Dennoch mochte sie den pfeifenden Mistral nicht. Unter Einheimischen wurde er vent du fada genannt, der Wind, der verrückt macht. Zu napoleonischen Zeiten konnte einem Mörder die Todesstrafe erlassen werden, wenn ihm zur Tat der Mistral den Geist verwirrt hatte. Und wenn ein Kind gezeugt wurde, während draußen bei sternenklarer Nacht der provenzalische Sturmwind an den Fensterläden rüttelte, dann fürchtete der Volksmund, dass es schwachsinnig werden könnte.

Isabelle lächelte über sich selbst. Denn ebenso schwachsinnig war es, an schwülen, windstillen Tagen wie heute an den Mistral zu denken. Als ob es keine anderen Dinge gäbe, über die sie nachdenken könnte. Zum Beispiel über den Knochenfund und diesen »schleimigen Fisch« namens Richard Levin, von dem Clodine erzählt hatte. Doch das Skelett konnte warten, so lange jedenfalls, bis von der Rechtsmedizin in Toulon gesicherte Erkenntnisse vorlagen. Oder vielleicht sogar die Spurensicherung doch noch was herausbekommen hatte. Was sie allerdings nicht glaubte. Normalerweise legten sich die technischen Forensiker an Tatorten mächtig ins Zeug, suchten in ihrer weißen Schutzkleidung mit allerlei Spezialgerät nach Fingerabdrücken, genetischen Spuren und Hinweisen auf Blut. Im aktuellen Fall aber hatten sie vor allem rumgealbert und die Aussichtslosigkeit des Unterfangens betont. Das konnte sie sogar bis zu einem bestimmten Punkt verstehen. Vor allem weil der Fundort ganz offenbar nicht der Tatort war. Zudem war der Bauschutt rund um das Skelett auch nicht gerade hilfreich. Wo also sollte es Fingerabdrücke und Blutspuren geben, die einen Täter überführen könnten? Etwas mehr Arbeitseinsatz hätte sie dennoch erwartet. Nicht nur Witze über einen erschlagenen Legionär.

Wie auch immer, sie würde die Berichte abwarten und mit Apollinaire besprechen. In aller Ruhe. Es lohnte folglich nicht, sich hier und jetzt auf der Terrasse den Kopf darüber zu zerbrechen.

Ihr fiel das Gespräch mit Clodine ein. Ihre Freundin hatte nach Nicolas gefragt und ob sie wisse, wo er sein könnte. Isabelle schloss die Augen. Sie sah ihn vor sich: Nicolas de Sausquebord, groß und schlaksig, die langen Haare im Nacken zum Pferdeschwanz gebunden, fast immer komplett weiß gewandet. Trotz seiner Arbeit im Atelier braun gebrannt, weil er sich viele schöpferische Pausen an der frischen Luft gönnte. Seine Lippen umspielte häufig ein amüsiertes Lächeln. Aufgrund seiner höflichen und zurückhaltenden Art war er im Ort beliebt. Auch wenn man von ihm nicht viel wusste. Außer, dass er in seiner alten Bastide Bilder malte. Gesehen hatte noch niemand eines. Gekauft erst recht nicht. Man hielt ihn für eine sympathische, aber gescheiterte künstlerische Existenz. Wie er sich finanziell über Wasser hielt, war selbst Clodine ein Rätsel.

Isabelle schmunzelte. Natürlich hatte noch niemand in Fragolin von ihm ein Bild gekauft – weil sie unbezahlbar teuer waren. Unter seinem Pseudonym CLAC erzielten Nicolas’ großformatige Bilder bei internationalen Kunstversteigerungen Rekordpreise. Seine Identität war ein wohlbehütetes Geheimnis. CLAC war ein Mythos. Nur Rouven war hinter sein wahres Ich gekommen – und finanziell in der Lage, für seine Fondation Mardrinac gelegentlich einen echten CLAC zu erwerben, den er dann Museen als Leihgabe zur Verfügung stellte.

Was hatte sie, überlegte Isabelle, Clodine geantwortet? Dass ihr dieser Mann egal sei, dass es sie nicht interessierte, wo sich Nicolas gerade aufhielt? Das war natürlich gelogen! Immerhin waren sie ein Liebespaar … gewesen. Würden sie je wieder zueinanderfinden? Sie konnte es sich nicht vorstellen, nicht nach dem, was passiert war.