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Achtung: Diese Geschichte spielt weder in einer Fantasiewelt, noch in der alltäglichen Welt! Diese Geschichte handelt von Tickes Suche nach ihrer Schwester Ari, die in einer Vollmondnacht auf dem Rücken einer Gemüseeule verschwand. Sie handelt von Freundschaft, Diebstahl, von "Trixerei" und "Erforschung" und davon, wie es ist, nirgends hinzugehören und sich vor so ziemlich allem zu fürchten, von dem seltsamen Band, das Ticke an das unheimlichste Tier fesselte, das sie jemals getroffen hatte, von den Schmetterlingsleuten, der grausamen Schilfstadt, dem Herz der im Sumpf verborgenen Anniken und von einem alten Haus mit einer Bibliothek, in der sich die Dinge zutrugen, die niemand, der dabei war, jemals wieder vergessen wird .
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Seitenzahl: 530
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Caroline Willand
Mädchen und Spinnen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Gemüseeule
Der Baum
Erlenhain
Spinne!
Sedna
Platte
Das Band
Reisevorbereitungen
Die Sümpfe
Gefangen
Die Schilfstadt
Im Verlies
Der Schmied
In Ketten
Das Theater
In der Arena
Flucht
Die Ente
Die Seerose
Jagen
Schwestern, Tanten und Cousinen
Der Höchste der Bäume
Das Haus
Bei den Büchern
Die Bewohner
Das Terra-Rum
Drachen und Wunder
Auf dem Schreibtisch
Wiedersehen
Im Zwischenboden
Üx
Über die Anniken
Die Schießmaschine
Rettungspläne
Alles kommt anders
Ed Langbein
Alles kommt anders 2
Geschichten
Meister Tag
Auf Schmetterlingsjagd
Die Wiese
Son
Lösen
Was wirklich geschehen ist
Epilog
Impressum neobooks
Die Gemüseeule flatterte träge zwischen den Lupinen, deren Silhouetten schwarz und spitz in den Nachthimmel ragten. Über der Wiese lag die Ruhe einer Sommernacht, erfüllt von winzigen Geräuschen. Am Himmel hing der Augustvollmond. Eine kleine Wolke zog langsam an ihm vorbei.
Ari war schnell, wie immer. Sie hatte die Spitze der höchsten Lupine erreicht, bevor die Gemüseeule weitertrudeln konnte. Das geflochtene Seil diente ihr als Lasso. Einen Augenblick schätzte sie den Abstand und das gemächliche Tempo der Eule ein, wartete auf den richtigen Moment, und dann zappelte die Gemüseeule in ihrer Schlinge. Der dicke Falter war erstaunlich stark, aber das konnte Ari unter diesen Umständen nur recht sein. Sie befestigte mit ihrer freien Hand das verbliebene Seilende, indem sie es sich um die Taille schlang und mit einem doppelten Morrensteg verknotete. Morrenstege erforderten eine Menge Geschick – das sollte ihr erst einmal einer vom Baum nachmachen, noch dazu mit nur einer freien Hand! Sie summte zufrieden die ersten Takte des Reitliedes. Dann sprang sie. Von ihrem Gewicht wurde die Gemüseeule zwar ruckartig ein ganzes Stück nach unten gezogen, aber sie schwebte immer noch hoch genug über dem Boden.
Ari begann das Seil hinaufzuklettern. Man konnte sehen, dass sie jede Bewegung genoss.
Ticke stand unten und hatte den Kopf so weit in den Nacken gelegt, dass er schmerzte. Ihr Blick hing an den plumpen Umrissen der Gemüseeule und an Ari. Jetzt hatte Ari ihren Platz gefunden, sie klammerte sich am Rücken ihres Reittieres fest und stieß ein Triumphgeheul aus, das über die schlafende Wiese gellte. So spektakulär fand Ticke die Gemüseeule auch wieder nicht.
Bis zum Baum war es nicht besonders weit, aber die nächtliche Wiese war gefährlich.
Ticke seufzte, als sie sich zu Fuß auf den Nachhauseweg machte. Wer wusste schon, wohin es Ari heute Nacht verschlagen würde. Nur mit dem richtigen Duft konnte man versuchen, die Flugrichtung eines Reittiers zu beeinflussen. Ticke fröstelte.
Vor ihr türmte sich eine dunkle Wand auf. Es handelte sich um dieselbe Böschung, die sie vorhin mit Ari hinuntergestiegen war. Sie folgte dem kaum sichtbaren Pfad, der in spitzen Kehren den Erdwall hinaufführte. Oben stand der Baum, ihr Zuhause, hier würde sie in Sicherheit sein. Aber so weit war sie noch nicht. Ihre Schritte wurden langsamer, je näher sie dem Loch kam. Schließlich blieb sie stehen und wappnete sich. Sie war wohl schon hundert Mal hier vorbeigekommen und trotzdem war es immer noch schlimm. In dem Loch hatte vor langer Zeit einmal eine Maus gelebt – zwar keine Spitzmaus, nur eine gewöhnliche Feldmaus, die ihr Bruder Son mit Hilfe der Anderen in einer Treibjagd eines nachts erlegt hatte. Viele Wochen lang hatten sie im nächsten Winter vom Fleisch der Maus gegessen. Ticke erinnerte sich an die großen Schinken, die ihre Mutter zum Räuchern in den Kamin gehängt hatte. Das Fell diente Son als Winterdecke. Seither war das Loch verlassen, vielleicht ahnten die Mäuse, dass ihnen hier kein ruhiges Leben möglich sein würde. „Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis wieder eine einzieht!“ , sagte Ari immer und zupfte an der Sehne ihres Bogens. Ein selbst erjagtes Mäusefell war etwas, von dem Ari schon seit Langem träumte. Der Gedanke, drinnen, in der undurchdringlichen Schwärze des Loches, könnte etwas sein, etwas, das auf sie, Ticke, lauerte; sie aus schwarzen Knopfaugen beobachtete …
„Es wird nix passieren, das Loch ist verlassen“, redete Ticke sich mit Sons Worten gut zu. „Sei einfach schnell.“ Und Ticke war schnell. Wenn es sein musste, sogar schneller als Ari. Sogar schneller als Son. Aber nur, wenn sie Angst hatte. Vielleicht lag es auch daran, dass Ari nie Angst hatte. Und Son natürlich auch nicht.
Tickes Start war gut, aber dann kam das Loch. Gerade als sie genau davor war, hörte sie etwas und geriet ins Stolpern. Ein Stein lag auf ihrem Weg – normalerweise hätte sie ihn nicht übersehen, so aber stieß sie sich hart am Schienbein, taumelte und fiel hin.
In diesem Augenblick geschah es. Ticke sah nur einen dicken Schatten auf sich zu sausen. Doch noch ehe er sie erreicht hatte, kam von irgendwo weit oben etwas noch sehr viel Größeres und schleuderte den Schatten zur Seite. Ticke wollte schreien, aber ihre Stimmbänder weigerten sich, nur ein heiseres Keuchen kam heraus. Die schwarzen Umrisse eines Käuzchens verdeckten den Vollmond. Sie hörte ein hohes, wütendes Quieken, und dann verschwand der Schatten mit seiner Beute in die Richtung, aus der Ticke gekommen war.
Wenn Ticke später versuchte, sich daran zu erinnern, wie sie in dieser Nacht nach Hause auf den Baum zu gekommen war, gelang es ihr nicht, aber irgendwie musste sie es geschafft haben, sich die Böschung hinaufzuschleppen, sie musste ihre Plattform gefunden haben, ihr Haus, und sich ins Bett gelegt haben. Aber eine Dunkelheit, die sie an die Schwärze des Loches erinnerte, war alles, was sie in ihrem Gedächtnis fand, wenn sie an dieses Ereignis dachte.
Die Sonne schien auf Tickes Gesicht, es war heiß und sie konnte nicht mehr weiterschlafen. Sie blinzelte und sah Stäubchen im Licht durch den Raum tanzen. Eine Weile betrachtete sie die winzigen Punkte, doch dann fiel ihr nach und nach die Nacht wieder ein, abrupt setzte sie sich auf und sah sich in dem vertrauten Raum um. Sie war allein und saß in der Mitte auf dem breiten Bett, auf dem sie, Ari und Son sonst schliefen. Von der Decke hingen Bündel der verschiedensten Kräuter, Kamille, Spitzwegerich, Brennnesseln und Bilsenkraut, manches zum Kochen, anderes gegen Krankheiten. Ansonsten gab es nur wenig zu sehen, ein paar Körbe und Schüsseln, die alles enthielten, was die drei Geschwister besaßen. Sie kletterte aus dem Bett und trat durch die Tür hinaus ins gleißende Sonnenlicht.
Draußen auf der Plattform stand Son und unterhielt sich mit der Nachbarin Kala, die im Kessel rührte, aus dem es hörbar blubberte und brodelte. Schimpfend rieb sich Kala die Hand, etwas Heißes war herausgespritzt und hatte sie verbrannt. Suppe. Es gab nur diese eine Suppe, immer diese eine, was man am Tage daraus schöpfte, wurde am Abend wieder neu dazugefügt. Auf ihrer Plattform war es Kalas Arbeit, immer wieder neues Wasser aufzugießen, noch rohe, geschnittene Wurzeln, essbare Kräuter, Raupen und Schmetterlingseier hinzuzufügen und zu rühren. Seit Ticke denken konnte, machte das Kala, und vor ihr hatte eine andere Kala die Suppe gerührt und vor ihr wieder eine andere und doch war es immer dieselbe Suppe, braun und dick wie Moorschlamm, hin und wieder trieb etwas noch nicht völlig Verkochtes vom Vortag darin.
Son sah Ticke und winkte sie zu sich. Ohne ein „Guten Morgen“ oder sonst eine freundliche brüderliche Bemerkung fragte er scharf: „Wo ist deine Schwester?“ Ticke zuckte verwirrt die Schultern. Son kannte seine Schwestern, er zog Ticke zur Seite, damit Kala ihr Gespräch nicht belauschen konnte, und wiederholte seine Frage leiser, aber mit noch mehr Schärfe in der Stimme: „Wo ist Ari?“
„Son …“ Ticke schlug die Augen nieder, sie wusste, das würde schrecklichen Ärger geben. „Son, sie ist heute Nacht ausgeritten. Gemüseeule.“
Sons Gesicht zuckte. Aris Eskapaden waren ein ständiger Stachel für seine sonst so unerschütterliche Ruhe. Neugierig hatte sich die dicke Kala näher an sie herangeschoben. Ticke beschloss, sich erst einmal aus dem Staub zu machen.
Den größten Teil des Tages verbrachte sie in ihrer Astgabel. Es war die höchste Stelle, die sie erreichen konnte, hoch oben in der Krone des Baumes. Wenn sie zwischen den Ästen nach unten guckte, sah sie unter sich die Raupenweiden, Nester und Kokons. Sie fühlte den harten runden Ast in ihrem Rücken und genoss die Sommerbrise, die an den Blättern zauste und manchmal an ihrem Sitz rüttelte. Ticke liebte die Baumkrone. Hier oben war es so, als gäbe es keinen Boden, niemand anderen, als wäre sie mitten im Himmel. Stimmen drangen zur ihr herauf.
Sie schaute zwischen den Ästen nach unten und sah die Köpfe der Raupenhüter unter sich, die einander Hütekommandos zuriefen, die wie kurze Lieder klangen. Den Raupenhütern hatte Ticke schon oft geholfen; hatte die Schmetterlings- und Faltereier sortiert und die Raupen mit Grünem versorgt. Sie hatte ihr Ohr an die raue Schale der Schmetterlingspuppen gelegt, auf die feinen Geräusche der Beine und Fühler im Inneren der Puppe gewartet, um gegen Sed und Seli wetten zu können, welche der Puppen sich als Erste öffnen würde. Die Raupenhüter kannten selbstverständlich die Eier eines jeden Schmetterlings.
Arvid-mit-dem-Ring war es, der Ticke das meiste über die Eier beibrachte. Er tat es größtenteils deshalb, weil seine eigenen Kinder, Sed und Seli, keine Lust hatten, ihm zuzuhören. Sie wollten lieber Jäger sein, vor allem Sed. Manchmal saßen Ticke und er abends in der Astgabel, wenn sich Sed wieder einmal davongemacht hatte, um sich vor dem Raupeneintreiben zu drücken. Und dann beschlossen sie, wie so oft, zu tauschen: du wirst Jäger für mich, ich eine Raupenhüterin.
Aber das waren Dummheiten, dachte Ticke jetzt. Arvid mochte sie, aber er würde es niemals erlauben, dass eines seiner Kinder Jäger werden würde. Jagen, das war etwas, dem die meisten aus dem Schmetterlingsvolk misstrauten. Natürlich, jeder freute sich über einen fetten Mäuseschinken oder gar ein Amselbein, jeder deckte sich gerne im Winter mit Fellen und Federbetten zu, aber das Jagen selbst … es war nichts Schlechtes, aber es hatte zu viel mit dem Tod zu tun und das nicht nur für die Gejagten. Jäger starben leicht, so wie es mit ihren Eltern geschehen war.
Wie anders war es dagegen mit den Schmetterlingen. Sie waren Eier, dann wurden sie zu Raupen, dann zu Schmetterlingen, zu Nachtfaltern oder was auch immer und legten neue Eier. Natürlich wurde auch hier gestorben, ein großer Teil der Raupen und Eier landete in den Töpfen, aber dieser Vorgang hatte etwas Gemächliches, irgendwie Unvermeidliches. Jäger waren wichtig, aber sie standen immer nur mit einem Fuß auf dem Ast, wie man hier im Baum sagte.
Ticke, Ari und Son waren Jäger, oder wenigstens Son war Jäger und Ari auch, wenn sie auch noch sehr jung war. Aber Ticke zweifelte sehr daran, dass aus ihr je eine Jägerin werden könnte. Der nächtliche Zusammenstoß mit der Maus hatte ihr nur einmal mehr gezeigt, dass sich auch jetzt, nachdem sie schon beinahe ausgewachsen war, nichts geändert hatte.
Jetzt waren die Stimmen unter ihr verstummt und sie war froh darüber, denn die Geräusche erinnerten sie an alles, was sie zu tun versprochen hatte. Wahrscheinlich waren die Hüter mit ihrer Herde in die äußeren, sonnigeren Zweige des Baumes gezogen. Ticke stellte sich Selis Schmollgesicht vor, wie sie über den abscheulichen Geruch des Schmiersaftes schimpfte. Dabei roch der Schmiersaft gar nicht so scheußlich. Die Raupen liebten den Geruch jedenfalls, sie konnten gar nicht schnell genug hinter seinem Träger herkriechen. Die Raupenhüter trugen alle breite Gürtel, an denen eine Vielzahl kleiner Fläschchen baumelte, jedes einzelne enthielt Saft mit einem anderen Geruch, so konnten sie die Herde dazu bringen, sich fortzubewegen, zusammenzubleiben oder sich von gefährlichen Stellen fernzuhalten.
Der Wind hatte zugenommen, sodass Ticke sich gut festhalten musste, um nicht aus ihrer Astgabel geweht zu werden. Wie dunkelblau, wie tief der Himmel war! Wie fliegen war das hier oben im Baum, so schön, besser konnte auch ein Ritt nicht sein.
Sie dachte an Ari, wie sie der Gemüseeule ihre Hacken in die Seite gestoßen hatte und ihren Jubelschrei, doch da meldete sich auch wieder ihr schlechtes Gewissen. Hoffentlich war ihre Schwester schon wieder zurück, Son hatte so sorgenvoll gewirkt heute Morgen. Und Kala würde auch sauer sein. Aber das war Ticke mehr oder weniger gleichgültig. Was ging es sie an, wenn die dicke Nachbarin ein Auge auf Son geworfen hatte und deshalb wie eine aufgescheuchte Hummel um ihn herum brummte, immer bereit das Kommando in ihrem elternlosen Haushalt zu übernehmen? Und selbstverständlich gab sie nur Anweisungen und Ticke und Ari sollten sie dann ausführen. Bei diesem Gedanken schnaufte Ticke empört und musste gleich darauf kichern. „Ich klinge schon selbst wie Kala!“ Sie beschloss, wieder nach unten zu klettern und nachzusehen. Mittlerweile hatte sie auch Hunger, sie würde Kala helfen müssen, aber das ließ sich nicht ändern.
Die fünf großen Plattformen im Baum, auf denen die Schmetterlingsleute lebten, lagen gut versteckt. Die unterste war die größte und nach oben hin waren die Plattformen immer ein bisschen kleiner. Dazwischen durchzogen Körbe und Nester das Geäst, die meisten getarnt mit frischen Blättern. Jede Plattform war ein stabiles Geflecht aus Ästen, die Häuser darauf waren vielfältig, kleine Hütten und nestartige runde Gebilde, Laubhäuschen und Jurten aus Moos und Ästen. Eine kleine Stadt, versteckt hoch oben im Baum. Alt war sie, hatte Son ihr erzählt, keiner wusste, wie viele Jahreszeiten diese Stadt schon gesehen hatte.
Ticke, Son und Ari wohnten auf der zweiten Ebene.
Die Sonne sank schon, als Ticke dort ankam. Kala stand noch – oder schon wieder – an ihrem Kessel und rührte. Der entrüstete Ausdruck war noch immer nicht aus ihrem Gesicht gewichen. Als sie Ticke sah, wirkte sie einen Moment lang sehr erfreut, aber Ticke dachte beklommen, dass diese Freude daher rührte, endlich jemanden zu haben, bei dem Kala ihre Entrüstung loswerden konnte. „Aha, da bist du also, wo warst du?“
Ticke musste jedoch nicht antworten, denn das war nur der Auftakt für die flammende Rede, die Kala anscheinend den ganzen Tag über eingeübt hatte. Es ging in der Hauptsache darum, dass der arme, hilflose Son von seinen nichtsnutzigen Schwestern ausgenutzt und hintergangen wurde. Unnütze und faule Esserinnen, das waren sie; und wäre Son nicht ein so geschickter Jäger, hätte man ihre Familie sicher schon längst vom Baum verstoßen. Immer wütender wurde Kala, und dadurch geriet ihr voluminöser Busen immer mehr in Schwingung. Ticke konnte nicht anders, als fasziniert darauf zu starren. Das Wogen hatte etwas Hypnotisches, das durch ihren Tag in der Astgabel mit seinem sanften Schaukeln etwas seltsam Vertrautes, ja, Beruhigendes bekam, das so gar nicht zum Zorn der Nachbarin passte.
Kala hatte anscheinend bemerkt, dass Ticke ihr nur ungenügend zuhörte, denn wie eine wütende Hornisse schoss sie jetzt auf Ticke zu und packte sie am Ohrläppchen. Ticke schrie auf, mehr erbost als vor Schmerzen, und versuchte sich zu befreien. Doch je mehr sie sich wehrte, desto fester zog Kala und desto lauter schrie Ticke. So dauerte es nicht lange, bis sich ein Ring aus neugierigen Zuschauern um die beiden Streitenden gebildet hatte, denn die Bewohner der Plattform freuten sich über jede Abwechslung. Einige feuerten Kala an, aber die meisten waren auf Tickes Seite, denn Kala mischte sich zu offensichtlich in Sachen ein, die sie nichts angingen.
„Sofort aufhören!“ Son stieß die Zuschauer zur Seite und drängte sich zu den Streitenden durch. „Kala! Ticke!“
Betreten ließ die Nachbarin Tickes Ohr los, wurde erst blass, dann rot. Unter anderen Umständen hätte Ticke vielleicht sogar Mitleid gehabt.
Son schimpfte noch immer vor sich hin, als die Sonne schon längst untergegangen war. Er schimpfe, weil er sich Sorgen mache, sagte er. Aber Ticke konnte sehen, dass er in Wirklichkeit Angst hatte, so oft er auch wiederholte, dass Ari nichts wirklich Schlimmes passiert sein konnte. Sie war so stark. Und schlau. Sie würde zurückkommen. Eine Gemüseeule, wie gefährlich war das denn schon? Selbst Ticke hätte eine Gemüseeule reiten können, ein Neugeborenes hätte eine Gemüseeule reiten können, aber wo, zum Grummel, war Ari dann?
Sons Angst erschreckte Ticke, denn wenn ihr Bruder ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte, dann stand es übel. Er war nicht umsonst ein guter Jäger, Gefühle waren für ihn wie Wetterboten, sie kündigten Sonne an, Regen und manchmal Sturm.
Während er unruhig die Plattform auf und ab schritt, saß Ticke auf dem Bett und hielt ihre Knie umschlungen, während ihr Blick an der Türöffnung hing. Sie wartete. Sie wartete so sehr, dass es schmerzte; so sehr, dass es sich so anfühlte, als könne Ari gar nicht anders, als im nächsten Moment dort zu erscheinen. Sie konnte ihre Schwester beinahe sehen, wie sie dort stand, die braunen Haare zerzaust. Aber da war niemand, nur die paar Sterne, die allmählich sichtbar wurden.
In dieser Nacht schliefen Son und Ticke kaum, obwohl sie schon ins Bett gingen, bevor der Mond richtig am Himmel stand. Son lag vollkommen still, so bewegungslos, wie es nur Jäger können, doch Ticke begann sich hin und her zu wälzen, und damit schreckte sie schließlich auch Son auf. Sie dachte an eine andere, ähnliche Nacht im vorletzten Sommer, die Nacht, in der ihre Eltern nicht wieder gekommen waren. Son hatte seine Schwestern in den Armen gehalten. Ticke lag links, wo sein Herz gegen ihr Ohr pochte, und sie hatte die ganze Zeit geweint, während Ari, die auf der rechten Seite lag, schimpfte, dass Tickes Tränen ihr in die Nase liefen.
Im Bett tastete Ticke jetzt nach Sons Hand und hielt seinen Daumen in ihrer Faust und schließlich, während draußen dunkle Regenwolken aufzogen, schlief sie ein.
Es regnete zehn Tage lang. Alles war klamm, die Nässe drang durch die Decke und die Wände. Das Geräusch des Regens auf den Blättern des Baumes verschmolz zu einem niemals endenden Rauschen. Ari war nicht zurückgekehrt. Sie hatten sie gesucht. Beinahe alle, von jeder Ebene waren sie gekommen, um bei der Suche zu helfen. Arvid und seine Brüder waren ausgeflogen, lange kreisten sie auf Taubenschwänzchen und Admiralen über der Wiese. Sie legten Duftköder aus, die Gemüseeulen aus den entlegensten Winkeln der Wiese anlockten, aber von Ari fehlte jede Spur.
Ticke blieb die meiste Zeit im Bett. Sie hatte leichtes Fieber bekommen, und so wickelte sie das alte Mäusefell so fest wie möglich um sich, zog sich das Ende über den Kopf und versuchte, nichts zu sehen und zu hören. Doch schließlich ertrug sie es nicht länger und ging mit den anderen Suchenden hinaus auf die Wiese. Und es war Ticke, die als Einzige etwas von Ari fand; das kleine braune Glasmesser, eine Stück weit von den Lupinen entfernt.
Am dritten Tag hatten sie die Suche aufgegeben. Nur Son nicht, der suchte noch immer. Wenn die Dunkelheit kam, kehrte er zum Baum zurück, nass, sprachlos und verzweifelt.
An einem dieser trostlosen Morgen trat Ticke vor die Hütte. Der Regen hatte aufgehört, aber nun hing Nebel über der Wiese und es war empfindlich kühl. Über Nacht war es Herbst geworden. Sed kam vorbei, offensichtlich auf dem Weg nach unten. Ticke hatte ihren Hummelpelz eng um ihre Schultern gezogen, aber Sed trug nur ein Hemd aus den Fäden der Seidenraupen und hatte eine scheußliche Gänsehaut.
„Was Neues von Ari?“, fragte er – unnötigerweise, wie sie beide heimlich fanden, denn hätte man etwas von Ari gehört, hätte es sofort der ganze Baum gewusst.
Ticke zuckte die Achseln. „Wo gehst du hin?“, fragte sie ohne großes Interesse.
„Sedna“, nuschelte er, schon im Abstieg begriffen.
Sedna! Warum hatte daran noch keiner gedacht? Oder hatten sie daran gedacht, aber ihr nichts erzählt?
Zur Morre Sedna ging man, wenn man selbst nicht weiterwusste. Etwa wenn man krank war und es wollte nicht von selbst besser werden, wenn etwas mit den Schmetterlingen nicht stimmte, oder wenn man wissen wollte, was die Zukunft so brachte.
„Warte, Sed, ich komme mit.“
Erstaunt hob er den Kopf, der sich jetzt ungefähr auf der Höhe ihrer Knie befand, denn er war schon weiter nach unten geklettert. Aber dann nickte er nur, und sie kletterte ihm nach. Als sie unten ankamen, fragte er doch:
„Warum willst du mit, wegen Ari?“
Noch so eine nutzlose Frage, dachten beide wieder. Ticke nickte nur. Sie gingen, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Seds Schritte schienen Ticke sehr lang.
„Wann, zum Grummel, ist er bloß so gewachsen?“, dachte sie, während sie angestrengt versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Er war kaum älter als Ticke und solange sie denken konnte, waren sie immer gleich groß gewesen.
Unvermittelt blieb Sed stehen und wandte sich zu ihr um. Seine Augen waren braun – wie der Schmiersaft, hatte sie ihn früher immer geärgert – und sein Blick war sehr streng. „Oder erwachsen“, dachte Ticke. Ja, Sed versuchte erwachsen zu wirken, als er jetzt sagte:
„Sie haben Sedna schon gefragt.“
Ticke schwieg, also fuhr er fort: „Sie sagt, Ari ist in großer Gefahr, aber keiner kann ihr helfen. Niemand. Und sie ist sehr weit fort. Und sie wird wahrscheinlich nicht zurückkommen.“ Das Letzte hatte er ganz leise gesagt.
„Wann war das?“, hauchte Ticke.
„Vor acht Tagen.“
„Dann haben sie die Suche deshalb aufgegeben?“
„Danach haben sie gesagt, ’s nützt nix weiterzusuchen.“
Ticke fühlte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Sie versuchte, sie wieder zurückzudrängen.
„Warum habt ihr uns das nicht gesagt?“
„Son weiß es.“
Aber Son hatte es ihr nicht gesagt, natürlich nicht. Nicht ihr, der Kleinen, die sich vor Regenwürmern fürchtete; die noch nie getroffen hatte, wenn sie einen Bogen in die Hand nahm. So jemandem sagte man besser nichts. Die Tränen schafften es jetzt höher hinauf, wahrscheinlich wurden ihre Augen wässrig, denn Sed sagte:
„Heul doch nicht gleich.“
Er bemühte sich, es sanft klingen zu lassen, das machte sie richtig wütend und sie begann wirklich zu weinen. Weil Sed nicht wusste, was er noch sagen sollte, drehte er sich um und stapfte weiter. Ticke folgte ihm schweigend und immer noch damit beschäftigt, ihre Tränen in den Griff zu bekommen.
Sedna lebte in den Ästen einer kleinen Erlenböschung, die am Rande der Wiese stand, dort, wo die Wiese in Sumpf überging. Ticke war noch nie da gewesen, denn niemand aus ihrer Familie hatte je Sednas Hilfe gebraucht, so schien es. Vielleicht half Sedna nur den Raupenhütern und mochte keine Jäger. Dann hatte sie sich vielleicht aber auch geirrt, was Ari anging.
Bis zum Sumpf war es noch ein gutes Stück, und als Ticke und Sed schließlich bei den Erlen ankamen, hatte sich der Morgennebel aufgelöst und die frühen Sonnenstrahlen sogen den Tau auf. Sed, dem die schniefende Ticke noch immer etwas unangenehm war – vor allem weil er sich so hilflos fühlte – begann, die Erle hinaufzuklettern. Ticke wollte ihm folgen, merkte aber erst jetzt, dass sie keine Steig- und Handschuhe dabei hatte. Ohne die spitzen Dornen an den Steigschuhen hatte sie keine Möglichkeit, den astlosen Stamm hinaufzukommen. Also musste sie unten warten und hoffen, dass Sed der Morre von ihrer Anwesenheit erzählte. Sie fragte sich allerdings, wozu das jetzt noch gut sein sollte.
Seufzend setzte sie sich auf den Boden, um sofort wieder aufzuspringen, denn hier, am Rand der Sumpfwiese war die Erde schon sehr feucht. Sie ging um den Erlenhain herum und sah auf das Moor hinaus. Dorthin gingen die Schmetterlingsleute nicht gerne. Alles war nass und klamm hier. Je weiter man sich hineinwagte, desto größer war die Gefahr, einfach einzusinken und stecken zu bleiben. Man konnte krank werden, wenn man vom Wasser der Sümpfe trank, viele Blumen waren giftig; manche auch auf andere Weise gefährlich: Sonnentau und Fettkraut, die versuchten einen festzuhalten, und Moskitos, Millionen Moskitos. Schmetterlingsleute wurden zwar nur selten gestochen, denn es war nicht so einfach für die Moskitos, die oft so groß wie Ticke selbst waren, unbemerkt zuzustechen. Aber schlief man beispielsweise oder steckte gerade im Schlamm fest und konnte nicht wegrennen, war ein Stich lebensgefährlich. Man schwoll am ganzen Körper an. Zum Glück konnten die Moskitos nicht anders, als laut zu summen, wenn sie sich näherten, sodass man ihnen normalerweise leicht ausweichen konnte. Allerdings summte hier mehr oder weniger alles. Zuhause auf der Wiese war es an einem Sonnentag schon ziemlich laut, aber das war noch nichts gegen diesen Ort. Es klang, als würden die Geräusche all der vielen Mücken, Fliegen und Käfer, die langsam aufgewacht waren, zu einem einzigen dumpfen Brummen verschmelzen.
Nur ein Geräusch war anders. Ticke hatte erst nicht darauf geachtet, aber jetzt, einmal darauf aufmerksam geworden, hörte sie es ganz deutlich. „Ahhhh, ahhhh …“ Eine Art Stöhnen. Sie blickte sich um, konnte aber nichts entdecken. „Ahhh …“ Da war es wieder, wo kam das nur her? Sie umrundete den Erlenhain noch weiter, das Stöhnen wurde lauter, aber sie wusste immer noch nicht, woher es stammte. Sie trat in den Schatten der Bäume ein, hier war es noch kühl und feucht, doch die Sonne war eben dabei, auch in die letzten dunklen Winkel zu dringen. „Aaaahhh“, hörte sie, dieses Mal ganz deutlich. In diesem Augenblick fiel ein Sonnenstrahl zwischen die Blätter, tausend kleine Tautropfen blitzen auf.
„Ahhh!“, schrie dieses Mal Ticke, denn auf Augenhöhe, direkt vor ihr, hing ein riesiges Spinnennetz. Sie hatte es vollkommen übersehen. „Wäre der Sonnenstrahl nicht gewesen, ich wäre genau hineingelaufen!“, dachte Ticke entsetzt. Wunderschön sah das glitzernde Netz mit seinen beinahe durchsichtigen Seidenfäden aus, ein Meisterwerk der Webkunst. Die es gewebt hatte, hatte schon viele Netze gesponnen, denn sie war alt und klug und meistens hungrig.
Ticke wusste nichts davon, aber der Anblick des Netzes genügte, damit sie zurückwich. Doch da war wieder das Stöhnen. Wo kam es nur her? Sie wusste es plötzlich, noch bevor sie es sah. Am Rand des Netzes spannte sich eine einzelne Leine zwischen zwei Erlenzweiglein. Daran baumelte ein dickes Bündel, dicht mit Spinnengarn eingesponnen. Und daraus ragte ein ziemlich schmutziger Fuß. Ticke schauderte. Spinnen waren nicht ganz so gefährlich wie Mäuse, Füchse oder Vögel, aber die Art, wie sie mit ihrer Beute umgingen, war einfach schrecklich.
„Gefressen werden“, dachte Ticke, „ist eine Sache, aber von einer Spinne und vorher noch tagelang an der Vorratsleine hängen?“ „Hallo!“, rief sie zögernd nach oben, nicht ohne sich dabei misstrauisch nach allen Seiten umzusehen. Die meisten Spinnen verließen sich nur auf ihre Netze, aber nicht alle. Das Bündel an der Leine wackelte mit den Zehen und stöhnte. Ticke durchforstete ihr Gedächtnis nach allem, was sie von Spinnen und Befreiungsaktionen wusste. Kalas Mann, der ebenso dicke Pippo, war von einer Kreuzspinne gefangen worden und konnte erst nach zwei Tagen gerettet werden, obwohl man wusste, wo er hing. Mehrere Männer mussten die Spinne ablenken, damit Pippo heruntergeholt werden konnte. Immerhin, er wurde gerettet, auch wenn er kurz darauf starb, weil er von seinem Lieblingsfalter stürzte.
Sollte sie erst auf Sed warten? Gemeinsam wäre es viel besser, und unter gewöhnlichen Umständen hätte Ticke das auch ganz bestimmt getan, aber das arme Bündel stöhnte und ächzte schrecklich und die Spinne war nirgends zu entdecken. Zwar war sie möglicherweise nicht weit entfernt und lauerte auf neue Beute, aber so aufmerksam sich Ticke auch umsah, sie konnte keine Spur von der Netzbauerin entdecken.
Noch immer aufgebracht darüber, dass man sie nicht für groß genug gehalten hatte, ihr von Sednas Voraussage zu erzählen, dachte sie an all das Staunen, das es ihr zweifellos eintragen würde, wenn es ihr gelänge, die Vorratskammer der Spinne auf eigene Faust zu plündern. Und noch ein Gedanke kam ihr: „Wie, wenn das hier Aris Fuß war?“ Auf einmal schien alles sonnenklar, Ari war verschwunden, hier hing sie und Ticke würde sie retten. Sie vergaß dabei natürlich vollkommen, dass Ari niemals zehn Tage lang im Spinnennetz überlebt hätte. Mit solchen Kleinigkeiten hielt sie sich nicht auf, sie war bereits eine der kleinen Erlen, an denen die Vorratsleine aufgespannt war, hinaufgeklettert.
Der Stamm war noch sehr dünn, sodass sie keine Steigschuhe brauchte, aber oben angekommen, stand sie vor einem neuen Problem, denn wie sollte sie das Bündel herunterholen? Das Beste schien ihr, einfach die Leine zu kappen, aber dann würde das arme Bündel einfach auf dem Boden fallen. Allerdings waren unten Sumpf und moosiger Bewuchs, die den Aufprall abfedern würden – nicht allzu schlimm also. Sie zog an der Leine, aber die war natürlich viel zu haltbar. Spinnenseide war sehr beliebt bei den Schmetterlingsleuten, denn sie hielt alles aus, man konnte sie immer und überall brauchen, deshalb schnitt, wer sich traute, auch an jedem Netz herum.
Schnitt – jetzt fiel es ihr ein: Son hatte gesagt, die Spinnenseide risse einem die Haut auf, klebrig und komisch, wie sie war. Aber sie hatte Aris Glasscherbe dabei. Vorsichtig zog sie das kleine, braune Ding aus der Tasche, sie hatte es, nach Aris und Sons Vorbild, in ein Stückchen Leder eingeschlagen. Nach einigen Anläufen gelang es ihr, die Webe entzwei zu sägen, und das Bündel fiel und prallte auf dem Moos auf, gefolgt von einem schmerzerfüllten Wimmern. Wenigstens bewies dies, dass der oder die Gefangene der Spinne zwar nicht froh über den Fall war, es aber überlebt hatte.
Ticke jauchzte innerlich und schlug ihr Messer wieder in seine Lederhülle ein, als etwas ihren Kopf berührte. Achtlos fuhr sie sich durch die Haare und wollte sich gerade an den Abstieg machen, da kitzelte es an ihrem Hals. Unwillkürlich wandte Ticke sich um.
Und da war sie. Riesig, braunweiß und so nah, dass es keine Rettung gab: die Besitzerin des Netzes, eine der größten Kreuzspinnen, die es in diesen Teilen der Welt gibt. Mit ihren langen, tastenden Fühlern hatte sie sich schon mal ein Bild davon gemacht, wie dieser neue freche Braten wohl schmecken würde. Ihre Kiefer knackten leise und ihre zwei Hauptaugen betrachteten Ticke beinahe melancholisch. Die andern sechs Augen hatten nichts als Hunger.
Im Nachhinein gesehen war es das einzig Richtige: Ticke fiel vom Baum. Ihre Sinne versagten, sie konnte sich vor Entsetzen nicht mehr halten und so stürzte sie in die Tiefe und landete neben dem Bündel im Moos, das auch ihren Fall abfederte. Die Spinne, die gerade zur Umklammerung angesetzt hatte, griff enttäuscht ins Leere, verlor dabei ebenfalls das Gleichgewicht und fiel auch. Aber wenn eine Spinne fällt, hat sie ihren Faden, der ihren Sturz auffängt. Trotzdem wäre sie genau auf Ticke gelandet, hätte die sich nicht aus Reflex zur Seite geworfen.
Doch Tickes Lage war am Boden kein bisschen besser als vorher, sie hatte keine Waffe und keine Chance zu entkommen. Spinnen tragen ihr Skelett wie Bienen, Käfer und Heuschrecken außen. Sie haben also einen harten Panzer, und nur mit einem Speer konnte man ihnen beikommen. Nicht mal mit Pfeil und Bogen. Und schon gar nicht mit einem kleinen Glasmesser, das man zudem vorher ordentlich eingewickelt und weggesteckt hat. Trotzdem tastete Ticke, die noch immer auf dem Boden lag, hinter sich nach einer Waffe, nach irgendetwas, das das Ungeheuer aufhalten würde, aber da war nichts. Ihre Glieder klickten leise, als sich die Spinne in Position brachte. Ticke wusste genau, was gleich geschehen würde, und eine Welle heißer Panik überrollte sie und übernahm die Kontrolle über ihren Körper.
Hätte sie auch nur einen winzigen Augenblick Zeit zum Nachdenken gehabt, hätte ihr Leben an diesem Tag wahrscheinlich geendet und trotzdem fragte sich Ticke später viele Male, wie es wohl zugegangen war. Wie war es möglich, dass Tickes Beine, die so ziemlich vor allem davonrannten und denen sie auch dieses Mal die Kontrolle überließ, ausgerechnet dieses eine Mal, anstatt sie eine aussichtslose Flucht versuchen zu lassen oder einfach unter ihr nachzugeben, das einzig Mögliche taten: Anstatt vor der Gefahr wegzurennen, rannte sie blindlings auf die Spinne zu und dann sprang sie.
Ticke sprang. Sie machte einen Satz, entging durch die unerwartete Bewegung den vielen Beinen, zog sich hoch und schwang sich auf den riesigen gewölbten Rücken. Wie sie das geschafft hatte, wusste sie selbst nicht, vielleicht waren ihre Jägerreflexe angesichts der Möglichkeit, von einer Spinne ausgesaugt zu werden, doch noch zum Vorschein gekommen.
Jetzt klammerte sie sich jedenfalls mitten auf dem riesigen weißen Kreuz an den Rücken der Spinne. Die Spinne war unschlüssig. Sie spürte Tickes Gewicht auf sich und versuchte sie mit ihren zahlreichen Beinen zu erwischen, aber in den vergangenen Sommermonaten, mit all ihren fetten Brummern, war ihr Rückenpanzer einfach zu breit geworden.
Ticke drückte sich flach an den Panzer, und die tastenden Beine konnten sie unmöglich erwischen. Angesichts des Todes denkt man die komischsten Dinge, das hatte Ticke schon oft gehört. Ihr einziger Gedanke galt der Tatsache, dass die Spinne abscheulich muffig roch. Mit dem Gesicht gegen deren dicken Leib gepresst, konnte sie das nur zu genau feststellen.
Da die Spinne Ticke auf diese Weise nicht erwischen konnte, rannte sie wütend hin und her, drehte sich um sich selbst und versuchte ihre freche Reiterin auf diese Weise abzuschütteln. Ticke wurde es übel, der Gestank tat sein Übriges – aber sie hielt sich eisern fest. Aufgeregt klickte und knackte die Spinne, doch plötzlich packte sie ihren Faden und machte sich daran, wieder nach oben zu klettern.
„Ich muss abspringen!“, dachte Ticke verzweifelt, doch in diesem Augenblick durchfuhr ein heftiger Ruck die Spinne, sie gab ein zischendes Geräusch von sich, das klang, als würde Luft aus einem Ballon ausströmen, und alle ihre Beine fuhren wild durch die Luft, während sie rückwärts stürzte und Ticke mit ihr. Alles wurde schwarz.
Ticke blinzelte. Die Sonne schien ihr ins Gesicht. Einen Moment lang hatte sie gedacht, sie läge zuhause in ihrem Bett. Doch als sie die Augen ganz öffnete, sah sie als Erstes das Netz über sich, roch wieder den modrigen Spinnengestank und das Entsetzen sprang sie so heftig an, dass sie sofort auf den Beinen war. Aber etwas hielt sie fest, sie wollte sich losreißen und achtete zuerst gar nicht auf die beschwichtigenden Stimmen neben ihr. „Ticke!“, sagten die Stimmen und: „Halt, Mädchen, ist ja alles gut!“
Da waren Sed, der ihren einen Arm festhielt, und eine alte Frau mit wirren weißen Haaren und einem beinahe ebenso blassen Gesicht, die auf sie einredeten. Ticke kreischte auf und versuchte noch einmal sich loszureißen, doch etwas traf unvermittelt ihr Gesicht und ihr wurde wieder schwarz vor Augen.
Dieses Mal hörte sie zuerst Seds vorwurfsvolle Stimme: „Hättest sie ja nicht gleich umhauen müssen.“
„Schnickschnack“, sagte eine fröhliche Stimme, „bei Panik ist das noch immer das Beste.“
Ticke öffnete die Augen ganz und sah Sed direkt ins Gesicht, der sich besorgt über sie gebeugt hatte. „Hej, Spinnenreiterin!“, sagte er sanft.
Die alte Frau reichte ihr eine Schale mit einer Flüssigkeit. Gierig griff Ticke danach, denn sie hatte schrecklichen Durst, hätte aber das Zeug beinahe sofort wieder ausgespuckt, denn es war so bitter, dass es einem sofort den Mund zusammenzog.
„Trink!“, befahl die Frau mit der fröhlichen Stimme, und da trank Ticke ohne abzusetzen. Die Frau sah ihr befriedigt dabei zu. Als Ticke ihr die Schale zurückgereicht hatte, kreuzte die Frau ihre Arme vor ihrer Brust und neigte ihren Kopf. Diese Geste bedeutete Dank bei den Schmetterlingsleuten. „Ich bin Sedna“, sagte die Frau, „und ich danke dir für meine Rettung aus dem Netz. Ohne dich wäre ich jetzt wahrscheinlich Spinnenfrühstück.“ Ticke riss die Augen auf.
Sedna, die Morre, war zwar eine Institution. Selbst kam sie aber nur zum Baum, wenn jemand so krank war, dass er nicht zu ihr kommen konnte oder wenn eine Frau ein Kind bekam.
Das geschah jedoch so gut wie nie, denn Schmetterlingsleute werden selten sehr krank und die meisten Unglücksfälle verliefen so schwer, dass keine Hilfe mehr nötig war, oder sie waren leicht, sodass zumindest Sedna der Meinung war, man könne sich selbst herbemühen. Die Schmetterlingsleute hatten auch nicht viele Kinder. Deshalb hatte Ticke die Morre erst zweimal gesehen. Das war viele Jahre her, aber ja, sie erkannte die alte Frau wieder, Haare so weiß wie eine Wolke. Und jeder hatte ihr Platz gemacht und ausgesucht höflich gegrüßt, damals. Und nun war Sedna ins Netz einer Kreuzspinne geraten und es war Ticke, die sie gerettet hatte.
Ticke saß erschöpft im Moos und betrachtete staunend die Alte, die sich nach diesen Worten einfach abgewandt hatte und nun die dicke Erle erklomm, ohne Steigschuhe oder sonst irgendetwas, und ihr dann von oben eine Strickleiter herunterwarf. „Meine Treppe für die Kranken“, rief die Alte hinterher. Sed schnaufte verächtlich, half Ticke aber sehr rücksichtsvoll auf. Sie machten sich an den Aufstieg, obwohl Ticke schaudernd feststellte, dass die Leiter aus mehreren Strängen Spinnengarn geflochten war. Ihre Arme und Beine wollten ihr noch nicht richtig gehorchen, doch Sed half ihr.
Mit zitternden Knien kam sie oben an. Im Baum war eine kleine Plattform, sehr kunstvoll geflochten und darauf eine weiße Hütte – aus Birkenrinde, wie Ticke erkannte. Sedna bedeutete ihnen aus dem Eingang, einzutreten.
Drinnen roch es zwar seltsam, war aber sehr gemütlich, das Bett war mit Maulwurffell bedeckt und die Morre machte sich an der Feuerstelle zu schaffen. „Du bist also Ticke“, sagte sie über ihre Schulter. Ticke nickte nur, was die Alte wahrscheinlich nicht sehen konnte.
Sed war richtig aufgedreht: „Ein Glück, dass ich gerade in dem Moment gekommen bin. Hast du gesehen, wie ich geworfen habe? Die ist runtergefallen wie eine dicke Raupe.“ Er lachte hell auf.
„Was ist genau passiert? Wo ist die Spinne hin?“, fragte Ticke ihn.
Sed lachte noch lauter: „Ich kam grade die Erle runter, da wollte das Vieh mit dir nach oben abhauen. ’n Glück, dass ich werfen kann, und natürlich auch eines, dass ein spitzer Stein genau griffbereit lag. Ich hab ihre Webe glatt durchgehauen mit meinem Wurf. Da ist sie runtergepurzelt und kaum hatte sie ihre acht Beine wieder einigermaßen zusammen, ist sie abgehauen, als wär ’n Golkschlürfer hinter ihr her! Was für ein feiges Biest!“
Sed kicherte entzückt über seinen Triumph, aber die Morre schüttelte ablehnend den Kopf:
„Sie hat sich zurückgezogen, aber hüt’ dich, sie feige zu nennen, Kleiner. Eine Spinne wie diese sollte man lieber nicht unterschätzen.“
„Und wie kams dann, dass du in ihrer Vorratskammer gelandet bist?“, fragte Sed frech.
Doch Sedna schwieg und legte noch Holz nach. Ticke spürte, wie ihre Augenlider schwer wurden. Von ganz weit weg hörte sie noch, wie die Morre Sed Anweisungen gab, und das leise Prasseln des Feuers. Dann fiel sie in einen tiefen Schlaf, den kein Traum störte.
Ticke erwachte und streckte sich wohlig. Sedna war nicht in der Hütte. Sie stand auf und schlurfte nach draußen. Die Sonne hatte den Abendhimmel erröten lassen und machte sich jetzt ans Untergehen. Sie hatte also den Rest des Tages verschlafen. Die Alte saß am Rand der Plattform, den Rücken Ticke zugewandt, summte ein Lied und nähte. Sed war nirgends zu sehen.
„Na, aufgewacht?“, fragte Sedna, ohne sich umzudrehen.
Zögernd trat Ticke näher. Die Morre beunruhigte sie ein bisschen, sie wusste nicht so recht, wieso.
„Setz dich neben mich“, befahl Sedna jetzt, und Ticke gehorchte. Die Morre nähte schweigend, aber Ticke hatte das komische Gefühl, ganz genau betrachtet zu werden, ohne dass Sedna dazu den Kopf drehen musste.
„Warum wolltest du zu mir?“, fragte sie Ticke schließlich.
Ticke rutschte ein bisschen hin und her, dann aber antwortete sie: „Ich wollte wissen, wo Ari ist.“
„Das habe ich den anderen schon gesagt, sie ist weit weg und niemand kann ihr helfen.“
Ticke nickte und wusste nicht, was es weiter noch zu sagen gäbe. Beide betrachteten stumm den Sonnenuntergang.
Doch schließlich sagte die Morre: „Trotzdem gäbe es zwei, drei Dinge, die ich für dich tun könnte, vorausgesetzt du hast Mut.“
Automatisch schüttelte Ticke den Kopf. Mut, nein, den hatte sie nicht. Die Alte kicherte.
„Mal was anderes“, sagte sie dann. „Weißt du, was du bist?“
Verständnislos schüttelte Ticke noch einmal den Kopf.
„Du bist keine Raupenhüterin, deine Eltern waren Jäger. Vor vielen Jahren sind sie zum Baum gekommen.“
Ticke hatte irgendwie immer gewusst, dass es eine Zeit gegeben haben musste, in der ihre Eltern noch nicht auf dem Baum gelebt hatten, aber sie hatten niemals darüber gesprochen.
„Woher sind sie gekommen?“
Sedna zuckte die Achseln. „Weiß nicht, sie haben nie viel drüber gesagt. Ich hab deiner Mame geholfen, als sie dich gekriegt hat. War das letzte Mal, dass ich mit jemandem aus deiner Familie zu tun hatte. Du wolltest nicht raus und lagst auch noch mit dem Hintern zuerst. Sonst hätte sie mich sicher nicht gebraucht. Deine Schwester hat sie so gekriegt, war schneller draußen als ne hungrige Maus aus ihrem Loch, was man hörte.“
Ticke lauschte gespannt. Niemand hatte ihr je von früher erzählt. Nicht mal Son.
„War Son schon da, als meine Eltern zum Baum kamen?“
„War noch ganz klein, deine Mame hat ihn auf dem Rücken getragen.“
Ticke stellte sich den kleinen Son vor und ihre Mutter, die hellen Haare zu langen, dicken Zöpfen geflochten, wie Ticke jetzt, nur, dass die Zöpfe ihrer Mutter viel länger und dicker gewesen waren als Tickes, so schien es ihr jedenfalls in ihrer Erinnerung.
„Viele von uns wussten nicht so recht, was wir mit euch anfangen sollten. Es gab böse Stimmen, auch. Ihr habt von der Jagd gelebt, habt eure Bögen mitgebracht. Deine Mame war krank, als sie ankamen, ich hab sie gepflegt, hier.“ Sie nickte mit dem Kinn zu ihrer Hütte rüber.
„Damit sich keiner ihre Krankheit holt. Aber zwei Golke sind doch dran gestorben. War verdrummlich ansteckend. Hat euch nicht grad ein frohes Willkommen verschafft.“
Das konnte sich Ticke vorstellen. Die Schmetterlingsleute stritten sich immer und wegen allem, aber wenn etwas von draußen den Baum bedrohte, waren sie sich sofort einig darin, dagegen zu sein.
„Warum haben sie uns dann bleiben lassen?“, fragte sie.
„War ’n schlechtes Jahr, hat nicht geregnet, den ganzen Sommer. Die meisten Eier sind nicht geschlüpft. Die Blätter am Baum sind einfach braun geworden und abgefallen. Mit den Gräsern und anderen Bäumen wars nicht anders. Mitten in der Wiese ein brauner Fleck, groß wien See, da hat nix mehr gelebt. Dein Papu hat Fleisch gebracht. Er hat Tag und Nacht gejagt. Es gab viele Mäuse in dem Jahr, ne richtige Plage, aber das hat uns alle überleben lassen. So dumm waren die Schmetterlingsleute nicht, euch nicht aufzunehmen.“
Ticke nickte. Sedna schwieg. Sie beobachtete Ticke, die sich immer noch sehr benommen fühlte.
„Wirst du auch ne Jägerin werden?“
Ticke zuckte die Achseln. „Ich bin nicht mutig.“
Sedna kicherte leise. „Das sagt also die Reiterin der größten Erlenkreuzspinne.“
Sie kicherte noch einmal, als sie Ticke bei der Erinnerung schaudern sah. „Ich kann was für dich tun, Räupchen, ja, ich glaub’, ich werd was für dich tun.“
Sie erhob sich, schickte Ticke zurück ins Bett und rief nach Sed. Während Ticke noch vor sich hin grummelte, dass sie doch nicht schon wieder schlafen konnte, fielen ihr bereits die Augen zu.
Als sie dieses Mal erwachte, war es Nacht. Sed kniete neben dem Lager, er hatte sie geweckt. „Steh auf, Sedna wartet.“
Mühsam rappelte Ticke sich auf und fuhr sich durch die Haare. Es dauerte, bis die ganze Erinnerung wieder da war, doch Sed hatte es eilig. Er ließ ihr nicht viel Zeit, genauer nachzufragen, drängte sie aufzustehen und mit ihm zu kommen. Sie traten vor Sednas Hütte, und er machte sich daran, die Strickleiter herunterzuklettern. Ticke wich zurück, ihr war nicht nach so einer nächtlichen Kletterpartie, am liebsten wäre sie wieder im Bett gewesen, doch Sed winkte ungeduldig über den Rand.
Hintereinander kletterten sie die endlose Leiter wieder nach unten. Schließlich hatten sie den Boden erreicht und Sed verschwand sofort in der Finsternis. Ticke dachte unwillkürlich darüber nach, was dort in der Dunkelheit alles lauern konnte, und blieb einen Moment wie gelähmt auf der Leiter stehen, aber dann folgte sie ihm.
Schemenhaft sah sie ihn vor sich. Als Ari verschwand, war der Mond voll gewesen, aber jetzt war nicht mehr viel von ihm übrig. Leise rief sie Sed, damit er langsamer ginge, aber er achtete zuerst nicht darauf. Doch plötzlich blieb er stehen, und Ticke holte ihn ein. Vor ihnen war nur Schwärze und es dauerte einen Moment, bis Ticke begriff, dass sie vor einer steinernen Wand standen. Sed legte eine Hand daran und begann an der Wand entlangzugehen, Ticke griff nach seiner freien Hand und ließ sich führen. So wanderten sie ein ganzes Stück an der Mauer entlang, bis sie an einer Stelle anlangten, wo ein Strauch dicht an der Wand wuchs.
„Klettern!“, war alles, was Sed sagte, und schon begann er, den Strauch zu erklimmen.
Ticke seufzte. Die kleinen Leute hatten scharfe Augen in der Dunkelheit. Ticke war keine Ausnahme. Im Dunkeln Klettern war etwas, das man einfach können musste, aber sie fragte sich, warum das ausgerechnet jetzt sein musste. Mit einem winzigen Seufzer griff sie nach dem untersten Zweig des Strauches.
Vom Strauch aus war es leicht, den höchsten Rand der Felswand zu erreichen.
Oben angekommen, versuchte Ticke zu erkennen, wo sie war. Das schwache Licht des abnehmenden Mondes ließ eine steinerne Ebene erahnen, die sich vor ihnen ausbreitete.
Sie hatte von diesem Ort gehört. Er hieß Platte. Es handelte sich um einen enormen, flachen Findling, vollkommen eingewachsen in Sträucher und in kleine und große Birkenschösslinge, die ihn umstanden. Die Rinde der größeren Birken leuchtete hell in der Dunkelheit. Weiter vorne war aber noch ein anderes, wärmeres Leuchten zu sehen – der Schein eines kleinen Feuers. „Die Morre“, sagte Sed und nickte in die Richtung des Scheins.
Am Feuer saß Sedna und hielt in der einen Hand einen runden Rahmen, während sie mit der anderen einen Faden darauf zu spannen schien. Sie nickte ihnen zu, beachtete sie sonst aber nicht weiter und so setzten sie sich, warteten und hörten zu, wie die Morre leise vor sich hin summte, während sie ruhig ihre Fäden aufzog.
Tickes Blick fiel auf einen kleinen Kessel, der ins Feuer gehängt war. Kessel waren selten. Jede Plattform hütete ihren Kessel, jede hatte einen. Die Kessel waren aus hartem Zeug gemacht, ganz schwarz waren sie, aber das lag vielleicht auch nur am Feuer der unendlichen Reihe von Jahreszeiten, während denen Suppe im Kessel gekocht hatte. Sedna hatte anscheinend ihren eigenen, kleinen Kessel, doch als die Morre schließlich zum Feuer ging und den Kessel holte, sah Ticke, dass darin keine Suppe war, aber doch ein Gebräu von ganz ähnlicher Farbe, nur viel dünner.
Sein Geruch stach in der Nase und erinnerte an Moder und alte Tümpel. Gedankenverloren schnupperte Sedna, dann, vollkommen unvermittelt, wandte sie sich Sed zu. „Junge, was macht man bei den Schmetterlingsleuten, wenn man einen ausgewachsenen Falter sein Eigen nennen will?“
Sed blickte erstaunt, zögernd sagte er: „Man … man reitet ihn?“
Sedna ließ ihr fröhliches Kichern hören. „Jawoll, so ist es. Nach den Gesetzen der Schmetterlingsleute klettert man einfach auf den Rücken des Tieres, das man sich zu eigen machen will. Wenn mans schafft, so lange oben zu bleiben, dass man in der Zeit einmal das Reitlied singen kann, dann ist der Falter dein. Aber früher, als ich noch eine kleine Larve war – damals ritt man nicht nur Schmetterlinge und Falter, damals ritt man alles, was man sich traute. Käfer, Bienen, Würmer, egal. Wir haben an Schnecken geübt“ – die Stimme der Alten klang jetzt versonnen – „Schnecken waren natürlich nicht schnell, gut fürn Anfang, aber pfui Rabenei, der Glitsch ging kaum noch runter, hinterher.“
Sed und Ticke staunten. Schneckenreiten? Und Würmer? „Bäh“, sagte Ticke, und Sed konnte ihr nur zustimmen.
„Aber nicht alles, was man ritt, machte man sich auch wirklich zu eigen, das war damals so wie heute“, erzählte Sedna weiter, „dazu braucht es ’n bisschen mehr. Warum sollte man sich auch alles Mögliche zu eigen machen? Du!“ – mit langem, spitzen Zeigefinger deutete sie auf Sed, als wolle sie ihn aufspießen, „du, Raupenzüchterssohn, was muss geschehen, damit man ein Tier ganz sein Eigen nennen kann?“
Sed wollte nicht, dass Ticke es merkte, aber er hatte ziemlichen Respekt vor der alten Morre und wie ein Blitz kam seine Antwort, die seine Eltern ihm so oft eingebläut hatten, dass er keinen weiteren Gedanken verschwenden musste: „Soll ein Tier ganz dein Eigen werden, dann knüpf ein Band und so trägt es dich, wohin du willst, solang du willst, denn du bist ein Teil von ihm geworden und es ein Teil von dir.“
„Und?“, fragte die Alte weiter.
Sed warf ihr einen hilflosen Blick zu, sagte aber nichts mehr.
„Und?“ Sednas Stimme hatte nun einen schärferen Klang.
Sed wirkte noch unsicherer: „Was soll ich sagen?“
„Na, wie das Band entsteht? Wie knüpft mans?“
„Aber … aber ist das nicht geheim?“
Ticke hatte das bisherige Gespräch interessiert verfolgt, aber während ihr die Sache mit dem eigenen Reittier natürlich bekannt war, so wurde ihr jetzt zum ersten Mal bewusst, dass das nicht alles war. Sie war erstaunt, denn sie wusste einiges über die Schmetterlingszucht, und dass es hier Geheimnisse geben sollte, deren Existenz sie bisher noch nicht einmal geahnt hatte, wäre ihr bis zu diesem Tag unmöglich erschienen. Aber Sednas dunkle Augen hielten Sed fest und dieser wand sich wie ein Regenwurm, sagte aber nichts als hmm und äh.
Nie zuvor hatte Ticke sich große Gedanken über die engen Verbindungen gemacht, die einige der Schmetterlingsleute mit ihren Tieren eingingen. Jeder von ihnen, ob Mann, Frau oder Golk hatte einen Liebling, aber das blieb nicht zwingend so. Tiere starben oder man sah einen anderen, noch prächtigeren Falter, und es war nichts weiter dabei, seinem bisherigen Liebling Lebewohl zu sagen und zu wechseln. Natürlich war es schwer, ein Tier daran zu gewöhnen, einen zu tragen und sich mit ihm vertraut zu machen, deshalb wechselte man nicht leichtsinnig; dennoch, irgendwie geheimnisvoll war die Sache Ticke bisher nie erschienen.
Sed selbst hatte bis vor Kurzem fast nur Moli mit den zartgelben Flügeln geritten, doch jetzt war sein Reittier ein junger, ungewöhnlich starker Admiral, den er Dork nannte, das Wort der Schmetterlingsleute für Donner. Ticke fand das ziemlich angeberisch, doch Sed liebte Dork und war nie müde, die Stärke, Schönheit und Ausdauer seines Reitschmetters zu preisen. Ihr Gedankengang wurde von Sedna unterbrochen, die sich jetzt direkt an Ticke wandte:
„Ein echtes, ein wirkliches Band zu knüpfen ist eine besondere Sache, Räupchen. ’s is’ kompliziert und für immer, und die Schmetterlingsleute sprechen nicht drüber, denn es ist Trix. Heutzutage macht mans nicht so oft, denn ein Band lässt sich nur schwer wieder lösen, meist gar nicht mehr. Und es bringt Verpflichtungen, aber es kann ungemein hilfreich sein. Wie schon gesagt“ – Sedna betrachtete den Webrahmen in ihren Händen und machte eine kleine Pause …
„Wie schon gesagt“, nahm sie gleich darauf den Faden wieder auf, „man ritt früher jede Art Reittier und man knüpfte auch Bänder zu anderen Tieren, jede Art von Tier, aber es ist eine schwierige Sache. Du bist keine Raupenzüchterin, aber du hast mich aus einer schlimmen Lage gerettet, und deshalb werd’ ich für dich ein Band knüpfen. Es wird allerdings nicht unbedingt eine Sache sein, die dich immer glücklich machen wird. Aber das Band kann dir helfen; ’s kann dir helfen, deine Schwester zu finden.“
Ticke starrte Sedna an. Ari finden? Selbst losgehen und ihre Schwester retten? Natürlich wollte sie das, irgendwie. Sie hatte den Gedanken bisher nur nie wirklich gedacht, denn was hätte sie, fast noch ein Golk, auch tun können, wenn noch nicht mal die erfahrensten Männer auf ihren Reitschmetterlingen eine Spur von Ari finden konnten?
Aber nun wollte Sedna ihr ein eigenes Reittier geben und egal was es mit diesem Band-Geheimnis auf sich hatte, auf alle Fälle würde sie, Ticke, einen eigenen Schmetter haben. Immer hatte sie sich ein Pfauenauge gewünscht, so wunderschön, stark und sanft wie Egg, die Seds Vater, Arvid, gehörte. Alle Golke träumten von einem eigenen Schmetter oder Nachter, eine Freundin oder einen Freund zu haben, der sie hoch über die Wiese tragen würde, durch Sturzflüge und Abenteuer. Alle Golke.
Nur, dass die Golke der Jäger diesen Traum, der sich nie erfüllen würde, nur heimlich träumten und irgendwann aufgaben. Oder man machte es wie Ari und kaperte freie Schmetterlinge, um wenigstens kurz in den Genuss eines Fluges zu kommen.
„Aber das eigentliche, das wirklich Wichtige daran“, dachte Ticke, „ist nicht das Fliegen, so schön es bestimmt ist, sondern die Verbindung zwischen Schmetterling und Reiter.Das Band“, dachte sie, und zum ersten Mal wurde ihr in aller Deutlichkeit bewusst, was vielleicht schon immer offensichtlich gewesen war; das Band konnte mehr sein als das normale Verhältnis zwischen Tier und Reiter, sogar mehr als Zuneigung und Freundschaft. Das Band konnte stärker sein als all das.
Und nun, nachdem sie sich seit langer Zeit damit abgefunden hatte, niemals einen eigenen Schmetter zu haben – meistens zumindest – nun sollte sie, Ticke, das Jägergolk, ein eigenes Reittier haben, ganz für sich. Und auf ihr – denn sie hoffte sehr, es würde ein Weibchen sein – auf ihr könnte sie über der Wiese kreisen und vielleicht würde es ihr dann gelingen, die ersehnte Spur zu finden und ihre Schwester aus der fürchterlichen Klemme zu befreien, in der sie wohl stecken musste. Wie würden alle staunen. Niemand könnte sich dann darüber aufregen, dass Jäger nun doch ausnahmsweise einmal flogen. Und niemand würde mehr dieses scheußliche Mitleid im Blick haben, wenn er sie betrachtete.
Ihre Träumereien hatten sie allerdings so abgelenkt, dass sie einiges von Sednas Erklärungen verpasst haben musste, denn jetzt sagte diese gerade: „… musst dir der Gefahr bewusst sein, ’s wird nicht angenehm, das Knüpfen.“
Aber Ticke war sich sicher, zu allem bereit zu sein. Ein eigenes Reittier war jede Anstrengung wert.
Sedna erhob sich mühsam. Entweder ihr Alter machte ihr zu schaffen, oder das Spinnengift saß ihr doch noch in den Knochen. Sie schlurfte zu Ticke hin und nahm ihr Gesicht fest in ihre beiden Hände. Ihre dunklen Augen brannten und ihr Blick bohrte sich in Tickes, so fest, dass Ticke meinte, es gäbe nichts in ihr oder an ihr, das Sedna nicht sehen konnte, nichts konnte sie wirklich vor der Alten verstecken, bis in den hintersten Winkel ihres Herzens drang deren Blick. Dann ließ Sedna Ticke los, schüttelte den Kopf und grinste.
„Komm her, ich geb’ dir einen Schöpfer aus dem Kessel. Du musst so viel davon trinken wie möglich – wird dir vermutlich nicht besonders schmecken, aber denk dran, je mehr du trinkst, desto fester wird das Band. Danach wird dir unwohl werden. Leg dich hier vor den Kessel. Dann werden ’n paar Dinge geschehen. ’s sind Träume, und doch auch wieder nicht. Das nennt man das Wachsen, weil das Band dann wächst. Du wirst dein Reittier treffen, aber du darfst dich auf keinen Fall fürchten, schwing dich drauf und reite.“
Ticke nickte gehorsam. Sed, der die ganze Zeit stumm und aufmerksam daneben gesessen hatte, nickte ihr zu. Sie verstand, dass er eigentlich „viel Glück“ sagen wollte oder sie vielleicht sogar umarmt hätte, aber da er jetzt fast erwachsen war, ging so etwas natürlich nicht mehr.
Sedna hatte die hölzerne Schöpfkelle mit dem braunen, schleimartigen Sud aus dem Kessel gefüllt und reichte sie Ticke, die schaudernd den grauenvollen Gestank roch. Aber sie hatte in den letzten Stunden mehrmals nicht besonders appetitliche Gebräue von Sedna getrunken und alle waren ihr gut bekommen. Ticke dachte fest an ein Pfauenauge mit wunderschön gezeichneten Flügeln, dann führte sie mutig die Kelle zum Mund und nahm einen so großen Schluck wie möglich.
Ihr Plan war es gewesen, so schnell so viel davon herunterzustürzen, dass der Ekel zeitlich einfach nicht schritthalten konnte, aber die Scheußlichkeit des Tranks vereitelte das. Noch im Schlucken musste sie würgen, doch Sedna packte die Kelle und schüttete ihr den Rest einfach in den Mund, sodass sie glaubte, ersticken zu müssen. Da hatte Sedna schon wieder eine neue Kelle gefüllt und als Ticke keuchend nach Luft rang, völlig vertieft in dem Kampf, das Zeug unten zu behalten, schüttete die Alte die zweite Ladung einfach hinterher. Ihr wurde schlagartig übel.
Grauenhaft übel.
Einmal hatte Ticke ein verfaultes Schmetterei erwischt, und eine scheußliche Nacht lang war sich keiner sicher gewesen, ob sie es schaffen würde. Das war bisher die schlimmste Krankheit, an die sich Ticke erinnern konnte, aber im direkten Vergleich war das faule Schmetterei nichts gewesen gegen das, was Sednas Gebräu jetzt mit ihr anstellte.
Kalter Schweiß lief ihr in Strömen über den Rücken, Würgekrämpfe schüttelten sie, als hätte sie eine Riesenhand gepackt, aber nichts von dem, was sie getrunken hatte, wollte wieder nach oben kommen.
Sed war aufgesprungen, um seiner Freundin zu helfen, wenn er auch keine Ahnung hatte, wie, aber die alte Morre hielt ihn zurück. „Kannst nix tun, kannst gar nix tun, gar nix“, murmelte sie.
Ticke war in die Knie gegangen, fiel auf den Boden und wand sich von Krämpfen geschüttelt. Doch dann hörte es auf, das Gesicht der Kleinen, eben noch völlig verzerrt, löste sich, es schien fast, als schliefe sie, und auch Sed beruhigte sich etwas, aber die Morre ließ Ticke nicht aus den Augen, voller Spannung schien sie auf etwas zu warten und achtete nicht auf Sed, der andauernd fragte, ob die Sache jetzt endlich vorbei sei.
Aber gerade da stieß Ticke einen schauerlichen Schrei aus. Hoch und dünn, plötzlich riss er ab, als hätte ihre Stimme vor Entsetzen versagt. Ihre Arme und Beine zuckten wild, als wolle sie laufen, sie warf den Kopf zur Seite und wirkte ganz wie jemand, der in einem furchtbaren Albtraum gefangen ist.
Sed war entsetzt. Er flehte Sedna an, Ticke wieder zu wecken. Das hier konnte doch nicht richtig sein.
Sed selbst hatte noch kein Band geknüpft, aber er war schon zweimal bei einer Zeremonie dabei gewesen, einmal bei seinem Freund Lor und dann bei Tibi, der auf der ersten Ebene lebte, und es war nie so schrecklich gewesen. Der Sud schmeckte wohl immer scheußlich, Lor hatte auch fürchterlich gewürgt, aber kein Vergleich mit Ticke. Und ganz schnell waren sie ruhig geworden, hatten sich entspannt und dann war es auch schon vorbei gewesen, sie waren wieder aufgewacht und ab dann stolze Reiter gewesen.
Aber hier lag Ticke und schrie und wehrte sich und rannte vor einer unsichtbaren Gefahr davon, obwohl sie schlief. Sed überlegte, ob das der Grund war, warum Jäger keine Bande knüpften. Vielleicht vertrugen sie es nicht.
Als das Würgen nachgelassen hatte, war eine große Müdigkeit über Ticke gekommen. Wärme und Schwere durchfluteten sie. Sie glaubte, eingeschlafen zu sein, allerdings verlor sie nicht vollkommen das Bewusstsein und sie bemerkte mit trägem Erstaunen, dass sie sehen konnte, obwohl sie fühlte, dass ihre Augen geschlossen waren. Was sie sah, war aber nur Nebel, der sie vollkommen umschloss. Sie dachte an Sednas Worte über Träume, die keine waren, und ließ ihre Blicke umherschweifen in der Hoffnung, ihren Schmetterling zu Gesicht zu bekommen, doch der Nebel war so dicht, dass sie gerade noch ihre Hand vor sich wahrnehmen konnte.
Sie tat ein paar vorsichtige Schritte geradeaus und es schien ihr, als lichtete sich ihr Blickfeld etwas. Nach weiteren Schritten konnte sie schemenhafte Umrisse erkennen und über sich ein Fleckchen klaren Himmels, wo hoch und weit fort ein paar winzige Sterne leuchteten. Ihrer Umgebung nach zu urteilen, war sie noch immer auf Platte, aber von der alten Morre, Sed und dem Kessel fehlte jede Spur. Die Nacht schien heller als zuvor und vor ihr lag die steinerne Weite von Platte. Ganz am Rande ihres Horizonts, dort, wo Platte endete, sah sie Umrisse, die vermutlich die jungen Birken waren, die den Findling überall umstanden. Mehr gab es nicht zu sehen.
Was sollte sie nur hier auf dieser trostlosen Ebene alleine anfangen? Ratlos fuhr sich Ticke durch die Haare, wie sie es immer tat, wenn sie nicht weiter wusste. Etwas kitzelte sie und ohne nachzudenken, kratzte sie sich. Wieder spürte sie das Kitzeln, diesmal an ihrem Hals und sie fühlte sich unangenehm an die Szene mit der Spinne erinnert, die wohl erst einige Stunden zurücklag, ihr aber zum Glück vorkam, als hätte sie in einem anderen Leben stattgefunden.
Doch als sie wieder unwillkürlich an ihren Hals griff und etwas Tastendes, Dickes dort erwischte, war ihr Körper oder das, was im Traum ihr Körper war, schneller als ihr Denken; sie wirbelte herum. Und plötzlich fand sie sich mitten in einem Albtraum wieder. Die Spinne war genauso monströs, genauso unfassbar hässlich und furchterregend, wie sie sie in Erinnerung hatte. Die riesige braune Erlenkreuzspinne – sie stand direkt hinter ihr und schien Ticke dieses Mal noch wütender und hungriger. Und hier gab es keinen Ast, von dem sie sich durch einen Fall in die Tiefe retten konnte, dieses Mal gab es niemanden, der ihr helfen würde.