Mafia-Mord - Winfried Schuster - E-Book

Mafia-Mord E-Book

Winfried Schuster

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Beschreibung

Auf dem Zufahrtsweg eines italienischen Restaurants in einer Stadt im Ruhrgebiet werden im inneren zweier Pkws, die Leichen von sechs jungen Männern gefunden, und die Art der Ermordung erinnert an Vendetta-Riten der italienischen Unterwelt. Bei der Ermittlung stellt sich schnell heraus, dass die Toten Familien entstammten, die noch heute in einem Dorf im Süden Kalabriens ansässig sind. Der Erzähler stellt die Geschehnisse der Romanhandlung aus der Sicht des Täters dar und läßt uns diesen als 'normalen' Menschen erleben, der in einer gefährlich gewordenen Welt überleben will.

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Ähnliche


 

 

Winfried Schuster

MAFIA-MORD

in Deutschland

‘Ndranghetaroman

 

 

© 2016 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG

Postfach 14 61, D-48235 Dülmen/Westf.

Gesamtherstellung:

Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG, 48249 Dülmen

Telefon 0 25 94/94 34-0

Telefax 0 25 94/94 34-70

ISBN 978-3-89960-436-8

Internet: www.laumann-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Umschlagfoto: San Luca d’Aspromonte

Das Bildarchiv von dpa Picture Alliance GmbH hat dieses

Foto für eine Veröffentlichung freigegeben.

 

 

 

Über den Autor...

Geboren 1937 in Lohnau, Kreis Cosel, Oberschlesien, erhält Winfried Schuster das Wesentliche seiner Schulbildung zwischen 1949 und 1955, in den sechs Jahren, in denen er im thüringischen Schleusingen lebt. Gleich nach dem Abitur im Jahre 1955 nach West-Berlin geflohen, erreicht er dort über einen Sonderlehrgang ein Jahr später die Anerkennung seines Ostzonen-Abiturs und beginnt 1956 seine akademische Berufskarriere am Auslands- und Dolmetscherinstitut – heute: Fachbereich Angewandte Sprach- und Kulturwissenschaft – der Universität Mainz, wo er seine Studien als Auslandskorrespondent und Diplom-Dolmetscher abschließt. Nachdem er beruflich schon fünf Jahre als Hauptlehrer mit 14 Unterrichtsfächern tätig gewesen ist, entschließt er sich zu einem Weiterstudium, das ihm als Studienrat die Beamtung auf

Lebenszeit einbringt.

Er hält heute als ‘Doktor phil.’, der an diversen Universitäten acht Staatsexamina abgelegt hat, den Guinness- Weltrekord.

 

 

...my mind misgives,

Some consequence yet hanging in the stars, ...

But He that hath the steerage of my course

Direct my sail ...

 

mein Herz erbangt,

Und ahndet ein Verhängnis, welches, noch

Verborgen in den Sternen...

Doch er, der mir zur Fahrt das Steuer lenkt,

Richt’ auch mein Segel!

 

SHAKESPEARE

Romeo and Juliet

 

Jedoch der schrecklichste der Schrecken,

Das ist der Mensch in seinem Wahn

FRIEDRICH VON SCHILLER

 

 

Die wichtigsten Figuren des Romans sind:

 

Giovanni Strangio geboren 1979 in Siderno, Kalabrien, wird Ende der 90er Jahre Besitzer von zwei Pizzerien in Kaarst bei Duisburg, mutmaßlicher Mafia-Boss des Nirta-Strangio-Clans in San Luca, einem größeren Dorf im kalabrischen Berggebiet Aspromonte; wird Weihnachten 2006 verhaftet, weil er bei der Beerdigung von Maria Strangio eine Waffe trägt, seit Juli 2007 auf freiem Fuß, kehrt nach Deutschland zurück, nach dem Blutbad in Duisburg: der Ermordung von sechs Angehörigen des Pelle-Romeo-Clans am 15. August 2007 vor „Da Bruno“ fällt der Hauptverdacht auf ihn, seitdem auf der Flucht, die in der Nacht zum 13. März 2009 in Amsterdam-Diemen zu Ende geht.

Teresa, Aurelia und Angela seine Schwestern in San Luca,

Teresa ist mit Francesco Romeo verheiratet,

Aurelia mit Guiseppe Nirta

Anna Strangio seine Mutter

Mario Strangio sein Vater

Bianca Strangio seine Frau in Bovalino

Maria Strangio (Nirta) eine Verwandte von ihm in Bovalino/San Luca, Ehefrau von Giovanni Luca „Gianluca“ Nirta, getötet Weihnachten 2006 bei einem Mordversuch, der ihrem Mann gegolten hat

Paolo Nirta mutmaßlicher ‘Ndrangheta-Boss aus San Luca, Bruder von Gianluca Nirta, eine kurze Zeit lang untergetaucht und von der italienischen Polizei gesucht, seit 2008 in Hochsicherheitshaft

Giovanni Luca Nirta Ehemann von Maria Strangio, nach deren Tod Witwer, Schwager von Giovanni Strangiound Francesco Romeo, verdächtigt der Mittäterschaft beim Blutbad in Duisburg und international gesucht wegen seiner Verstrickung als mutmaßlicher ‘Ndrangheta-Boss im Kokainhandel, verhaftet am 23. November 2008 in Amsterdam

Francesco Romeo bildet in den 606 Tagen von Giovanni Strangios Flucht „ein festes Trio“ mit seinen Schwagern Giovanni Strangio und Gianluca Nirta, verhaftet am 13. März 2009 in Amsterdam

Guiseppe Nirta Capo des Familienverbands der Nirta-Strangios, der in San Luca in Zwist ist mit dem Pelle-Romeo-Vetturi-Kartell

Antonio S. Comandante in der Dienststelle der Carabinieri in San Luca

Pietro junger Soldat im Carabinieriposten San Luca

 

Der Roman spielt vorrangig in San Luca und Umgebung:

Bovalino, Locri und Reggio di Calabria, aber auch in Duisburg, Calais, Tirana und Amsterdam-Diemen in den Jahren 2006 bis 2009

 

 

Liebe Sigrid,

SAN LUCA – was für ein Stoff zum Erzählen! Der katholische Pfarrer dieses hochgelegenen 4.000-Seelen-Dorfes am Ostabhang des Aspromonte in Süd-Kalabrien zögerte, mir meinen Wunsch zu erfüllen, mich am Weihnachtsmorgen in seinem Wagen am „Haus von Maria Nirta“ vorbeizufahren. Letztere hatte zwar, als sie am Weihnachtsabend 2006 erschossen wurde, ihr Dauerdomizil im 12 oder 14 Kilometer entfernten Bovalino, wohnte aber zur Zeit in der casetta ihrer Schwägerin in San Luca.

Die faida, eine Fehde zwischen zwei Familienclans, die, wovon die italienische Polizei ausgeht, der kalabrischen Mafiaorganisation ‘Ndrangheta angehören, ist verantwortlich dafür, dass seit 1991 schon mehrere tausend Menschen in diesem Dorf getötet worden sind. Jede dieser beiden Großfamilien schwört, wenn einer ihrer Angehörigen ermordet worden ist, der anderen: ihren „Feinden“ die vendetta – eine Blutrache nach dem Motto „Wie du mir, so ich dir!“

Hinter den Fenstern des locale blitzen, wie Feuerstöße aus einem Mafiagewehr, die ersten hellen Häuschen von Reggio di Calabria vorbei. Drinnen im Regionalzug ist jetzt alles voll von italienischen Weihnachtsheimkehrern, mehrheitlich mit Päckchen und Paketen, Geschenken auf den Knien.

Ich fasse mir ein Herz und frage, mich umblickend in meinem coupé, ob es nicht gefährlich sei, in die Berge hinauf nach San Luca zu reisen. „Non è pericoloso andare a San Luca?“ Die Angst kriecht langsam an meinem Hemdkragen hoch.

„Si uccidono -“, sagt eine Signora wie vor sich hin, ihre dunklen Augen kleben am Schwarz ihrer rivista, „die bringen sich dort gegenseitig um – si uccidono reciprocamente: l’un l’altro!“

Pause.

Und weiter, ohne ihre Augen zu heben: Man dürfe nur nicht zwischen die Fronten geraten...

Dies. Dass der Pfarrer des Dorfes einen von weit her Gekommenen, mit einem grünen Tornister als Tourist deutlich erkennbar, in seinem eigenen Auto (mit der verräterischen Bewegung zweier Köpfe zu den Fenstern hin) an dem Haus vorbeikutschiert, in dem Weihnachten 2006 die Frau eines mutmaßlichen Mafioso aus dem Clan der Strangio-Nirta wohnte, die von einem Killer der Pelle-Romeo-Vottari, der zweiten Mafiagroßfamilie in San Luca, ermordet worden ist; ein Tod, der durch einen sechsfachen Mord gerächt wurde. Dies sei ein heißes Eisen, an dem man sich seine Finger verbrennen könne, eine heikle Sache, meinte der parroco in unserem auf italienisch geführten Gespräch: „È una cosa delicata.“

Seine Ablehnung meiner Bitte, mich zum „Tatort“ zu begleiten, war von ihm in einer Umschreibung zum Ausdruck gebracht worden, die höchstens die Andeutung einer Erklärung zu sein verdiente.A hint of an explanation. Ich wartete. Spitzte die Ohren, und dann wurde er deutlicher.

„Wir haben jetzt Weihnachten und wollen nicht stören...“ Der sympathische Mann mittleren Alters in Schwarz schien sagen zu wollen: nicht Anlass geben zu neuen Unruhen, die wieder zu blutigen Auseinandersetzungen führen könnten. Ein junger Verwandter von ihm hatte sich, so war in den Zeitungen gestanden, unter den Opfern der „Hinrichtung“ von D. befunden: Francesco Giorgi, der sechzehnjährige Sohn der Tochter seiner Kusine. Der nichts mit der Mafia im Schilde führte. Der einfach nur auf Arbeitssuche in Deutschland war.

Trotz eines nicht zu überhörenden nicht enden wollenden tak-tak-tak-tak-tak aus einem an Krieg gemahnenden Maschinengewehr über den jämmerlichen, dem Verfall preisgegebenen unbewohnten case auf felsiger Höhe und den, so kam es mir vor, Mafiageld zur Schau stellenden im Neubau begriffenen oder soeben fertiggestellten hübschen kleinen Villen auf den flachen Wiesen im Tal schien am Heiligen Abend 2008 in S. L. Ruhe zu herrschen.

Wenn man davon absah, dass um die Mittagszeit, da war ich soeben vom letzten Linienbus vor den Feiertagen für 90 Cent von Bovalino nach San Luca hinaufgebracht worden, in der Kirche sich das ganze Dorf bei einem Totenamt versammelte.

Ein junger Mann sei durch einen Unfall zu Tode gekommen –“molto giovane“, sehr jung, sagte zu mir die Leiterin des Kinderchors von Santa Maria Addolorata, ein wie verhungert aussehendes kleines dunkles Mädchen. Der von ihr verwandte allgemeine sprachliche Ausdruck aus der Standardvarietät des Italienischen „incidente mortale“, ‘tödlichen Unfall’, verband sich sofort mit Bildern von Mafiamorden, die in mir beim Lesen von entsprechenden Zeitungs- und Buchartikeln entstanden waren. Ich stellte mir vor, wie der, der jetzt beerdigt werden sollte, vor seinem Tod schon eine ganze Weile von den Killern verfolgt worden war, wie er verzweifelt versucht hatte, ihnen in einem Hof- oder Hauseingang zu entkommen, wie er sich umgeblickt hatte nach einer schützenden Mauer, wie er den Kopf zwischen die Schultern gezogen hielt, während er wie ein Wahnsinniger rannte, um dem Hagel der Geschosse zu entrinnen..., und sie hatten ihn bloß deshalb als ihr Opfer ausersehen, weil er an diesem Weihnachtsmorgen von seinem Clan als erster ihnen, den Mopedfahrern auf der Straße, gerade so in den Weg gelaufen war...

Der Pfarrer von S. L. wirkte anfangs auf mich wie starkes Gestein in einem Sturm – come roccia in una tempesta. Später erschien mir seine prekäre Position in der Gemeinde wie ein Seiltanz über der Angst. Da zogen mächtig von zwei Seiten an einem Seil die Mafia mit ihren Kalaschnikows und die mafiadurchsetzte Dorfbevölkerung, die durch die Carabinieri Unterstützung erhielt, so dass das Seil gespannt war, auf dem der parroco oder besser: der brewenti, wie die Leute von San Luca in ihrem dörflichen Dialekt ihren Geistlichen nennen, zu einem Balanceakt gezwungen wird über einem Abgrund.

„Christus schwitzt“, soll er am Wallfahrtsort Polsì zu der Journalistin Petra Reschi gesagt haben. Aber könnten es nicht Tränen gewesen sein? – Dann weinte Christus! Das war kurze Zeit nach den Morden von San Luca und Duisburg.

Jeder Schritt eines Fremden wird in diesem Jagdrevier der ‘Ndrangheta von dieser überwacht. Jeder Gedanke. Eine Neuigkeit wird ganz schnell von einer Hand verdeckt an die nächste Hand weitergegeben. Jeder muss in S. L. mitmachen – den Touristen ausfragen: woher er komme, aus welchem Teil Deutschlands („Da quale parte?“), wohin er weiterreise, wohin danach?

Er hat sich nach der Mittelschule von San Luca erkundigt! Ist ja klar, was er will! Autos kommen bedrohlich laut und gefährlich schnell die sich schlängelnde, abschüssige, enge Straße herunter, bleiben unverfroren bei dem Fremden stehen. Leute steigen aus. Das Fragen geht sofort los. Die Fragen sind wie lästige Wespen, die einen umschwirren. Weshalb will der mit dem Rucksack – der nicht hierher gehört – die Mittelschule von San Luca finden? spukt es in ihren Köpfen.

Zwar weiß hier jedes Kind, dass dort die Eltern von Giovanni Strangio wohnen, der das Lebenslicht von sechs jungen Leuten aus San Luca in Deutschland ausgepustet haben soll. Aber was geht das die an, die nicht von hier sind! Die nur ihre neugierige Nase in dieses Wespennest hier stecken!

Der maresciallo, Zweithöchster der Carabinieri, zieht mit dem deutschen Rucksacktouristen eine Riesensicherheitsshow ab. Alles aus dessen Gepäck wird untersucht. In Frage gestellt.Per ridere. Zum Lachen. Sogar die Mine in seinem Kugelschreiber erregt Verdacht.

„Non sono nemico di polizia – ich bin doch nicht feind der Polizei!“ stottert dieser mehrmals mit Herzklopfen.

Seine Daten aus dem Reisepass wandern flugs in den Computer der Carabinieri. Aber warum bloß? Perché?! Wozu werden seine Daten gespeichert? Zwecks Weitergabe an die ‘Ndrangheta? – Chissa? Wer weiß?

Und auch der Pfarrer von San Luca kann sich nicht ganz aus diesem Zwielicht lösen. Die italienischen Oberstaatsanwälte mit ‘Superagent’ Renato Cortese im Mobilen Einsatzkommando in Reggio di Calabria, dem 2006, als er noch im Mobilen Einsatzkommando Palermo war, die Verhaftung des ‘Bosses der Bosse’ von der Cosa Nostra Bernardo Provenzano gelang, erwarten von ihm, dass er im Kampf zwischen staatlicher Macht und Mafia sich nicht auf die Seite der Mafia schlägt. Aber gleichzeitig versteht jeder vernünftige Mensch, dass ein „Anti-Mafia-Priester“ in diesem Kriegsgebiet keine große Chance hat, alt zu werden.

War es also Leichtsinn, dass Don Pino am Morgen des 25. Dezember 2008 auf dem schiefen kleinen Kirchplatz vor den offenen Ohren junger Männer der ‘Ndrangheta, die mit unscheinbaren Autos zu ihrer Weihnachtsmesse gekommen waren, dem deutschen Touristen ungeniert versprach, ihm „materiale“ zukommen zu lassen? – Mitnichten war es das!

Für die zwei ‘Ndranghetisti, die dazu bestimmt worden waren, den Fremden sogleich aus dem Dorf in ihrem Wagen wegzufahren, war es vielmehr ein clue: ein Anhaltspunkt, ein Schlüssel, ein Losungswort. Wie für einen Geheimpolizisten oder einen Privatdetektiv. Ein Wortzeichen war es. Ein Signal, das dem Gottesmann von der ‘Ndrangheta abgepresst worden war. Ein Mafia-Schatten fiel plötzlich auf diesen wackeren Mann – wie schade!

Ich wusste, dass ich das von ihm angekündigte ‘Material’ und eine schriftliche Antwort auf einen Brief, den ich ihm später schreiben wollte, niemals erhalten würde.

Was an den Leuten von San Luca vor allem auffällt, ist diese Neugier, von der ich schon gesprochen habe. Sie ist kontaminiert, verschmolzen, vermischt mit Gerissenheit, Schläue, Misstrauen und Vorsicht. Und nahtlos vollzieht sich manchmal der Übergang zu Angst. Über Jahrhunderte hinweg haben Piraten die Dörfer an der ionischen Küste Kalabriens heimgesucht. Sogar während der heiligen Messe in der beinahe ungeheizten Kirche versuchte sich eine alte Frau neben mir, wenn auch vergeblich, in der Ausfragerei.

Aber seit 1991 geht in San Luca das Mafia-Gespenst um, das scheinbar wahllos Beute macht. Weder Carabinieri noch Haustüren bieten vor ihm Sicherheit. Die Leute hier leben seitdem permanent in Todesangst. Das eiserne Gesetz der omertà, des Schweigens, erhält der ‘Ndrangheta die Herrschaft.

Weißt Du, Sigrid, ich wollte dort nicht stören, durfte um Himmelswillen nicht durch unkluge Äußerungen, provozierendes Benehmen der Mafia wie ein Sandkorn in einem geölten Getriebe erscheinen, ein Störfaktor für ihr illegitimes big business. Denn das hätte tödliche Konsequenzen für mich haben können. Don Pino aus San L. gibt mir ein Beispiel, wie man es machen kann, dass man mit keiner Seite es verdirbt...

Der Tourist aus dem Norden Deutschbands war während seiner 24 Stunden, die er Weihnachten 2008 in S. L. verbrachte, wiederholt in der Sakristei hinter dem Altar der Kirche Santa Maria anzutreffen. Aus Gründen der Sicherheit. Aber nicht nur.

Dort hängt ein herrliches in Öl gemaltes Bild: Der Evangelist Lukas, groß im Vordergrund, weist die Menschen in den Häusern hin auf die Heilige Schrift: sein Lukasevangelium. „Questo paese è San Luca? Ist dieses Dorf San Luca?“ fragte ich den katholischen Pfarrer, indem ich auf das verträumte Dörfchen zeigte, das so friedlich und so schön aussah im Morgenlicht eines erwachenden Tages. Wie ein unschuldiges kleines Kind in einem süßen Schlummer, bevor es von seinen Eltern sanft geweckt wird. „Sì“, nickte der parroco.

Damals, als ein frommer Christ dieses Bild malte, war die Sorge der Menschen in San Luca um ihr Seelenheil noch nicht unlösbar verknüpft mit der Schreckensherrschaft von Schnellfeuergewehren, ging mir beim Betrachten des Bildes durch den Kopf. Was war seitdem in diesem Dorf nicht alles geschehen?

Nach der Mitternachtsmette habe ich in einem verlassenen, von Staub und Spinnweben überzogenen Bruch-Haus, wie es auf der Anhöhe von San Luca unter- und oberhalb der Kirche viele gibt, übernachtet – ohne Heizung, aber mit Licht und einem Klo, immer mit dem beklemmenden Gefühl, in dieser Nacht, vielleicht schon im nächsten Augenblick, meiner eigenen Hinrichtung beiwohnen zu müssen. Es gehört dem Besitzer einer kleinen Bar am Kirchplatz. In einem Nebenraum entdeckte ich, neben Kerzen für die Kirche, die Fotografien seiner Eltern: noch nie in meinem Leben hatte ich in so ein ausdrucksloses Frauengesicht geblickt, solch ein ernstes Männergesicht gesehen.

Mitten in der Nacht, als alles um mich her still und stockdunkel war, versuchte plötzlich ein nessuno, ein Niemand, meine Haustür einzudrücken. „C’era il vento!“ sagte Stunden später der Barbesitzer, „Es war windig!“ Aber in Wirklichkeit hatte nicht das leiseste Lüftchen geweht!

Der Einbrecher machte viel Krach an meiner Tür. Kein Profi! dachte ich. Aber deshalb nicht gleich ungefährlich! Um die Mittagszeit des gerade vergangenen Tages, des 24. Dezember 2008, hatte ich in Bovalino vor dem Bahnhof einen abgebrühten Tippelbruder in Turnschuhen beobachtet, wie er heimlich, still und leise probierte, ob die Tür zum vorderen Nebensitz eines dort abgestellten Autos nicht zufällig unverschlossen war – ich hatte als unbeteiligter Beobachter gar nicht weit weg gestanden, hatte die Luft angehalten, wollte sehen, wie das weiterging –, um gleich nach seinem erfolglosen Einbruchsversuch in der kleinen Bahnhofshalle, die offen war zum Bahnhofsplatz, mit dem allein gelassenen PKW, wo ich stand, und zu den Gleisen hin offen, um eine Traube aus ahnungslosen Reisenden wie eine Schlange sich zu winden und schon einen Atemzug von mir später quasi in ein Nichts zu verdampfen und im Gewühl der Menschen keine Spur mehr von sich zu hinterlassen...

Beim zweiten mächtigen Donnern an der Außentür meiner kümmerlichen Herberge, meines armseligen Stalls heute an Weihnachten, habe ich, im Bewusstsein, dass die Tür vom Flur zu dem Abstellraum, in dem ich bei der Kälte ohne Heizung und mit einer einzigen Decke zum Zudecken, ohne viel zu schlafen, lag, nicht zuzumachen war, laut und mit kräftiger jugendlich-frischer, angstfreier Stimme „Disturbo!“ gerufen, ein Wort, das denotativ nichts anderes als nur ‘Störung’ hergibt, jetzt aber, im Kontext der Situation, in der ich mich befand, vor allem konnotativ: mit seiner mitgemeinten Bedeutungsbandage eine weitere Schutzfunktion für mich übernehmen sollte, indem es dem Mann, der mich bedrohte, die Botschaft vermittelte: Freundchen, hör’ gut zu, ich bin hellwach und kein Angsthase, bereit, deinen Angriff abzuwehren. Dir geht es nicht gut, wenn du nicht augenblicklich verschwindest!

Aber was hätte ich im Ernstfall tun können? – Höchstens schreien – wenn dafür noch Zeit blieb!

Zwei Mafiosi haben mich jetzt gegen Mittag aus dem geheimnis- und gefahrenumwitterten Aspromonte heraus nach Bovalino hinuntergebracht. Und dort sitze ich nun auf einer Bank im Bereich von Bahnsteig 1, und der Zug nach Reggio will nicht kommen.

Eine junge Frau von der Bahnhofspolizei Bovalino, zu deren outfit einer poliziotta eine Pistole im Hosengurt gehört, habe ich gerade gefragt, ob sie mir sagen könne, wie die Drogen von Kolumbien nach San Luca kämen. Per Flugzeug oder mit einem Schiff?

„Come vengono qui le droghe? Vengono mandate per via aerea?“

Statt einer verbalen Antwort öffnet sie ihren Mund, und dann vollführt sie eine Schluckbewegung, die gefolgt wird von einer Bewegung ihrer rechten Hand gegen ihren Bauch, während ihr Mund plötzlich weit aufgerissen wird.

Soll wohl heißen: Ma, die schlucken zuerst das verdammte Zeug, und dann kotzen sie es wieder aus! Auf tausend Wegen werden Drogen geschmuggelt! sagt sie. „Mille mezzi! Mille vie!“

Der italienische Chauffeur des kleinen Wagens, der mich herausholte aus den Schwingen des Totenvogels im Aspromonte und den Klagen des Requiems in San Luca, schien erst in seinen Dreißigerjahren zu sein, hatte aber schon eine „Gastarbeiter“-Rolle hinter sich, die er im Ruhrgebiet gespielt hatte. Er hatte sich heute morgen vor dem Badezimmerspiegel in seinem Haus, das er draußen aus gutem Grund heruntergekommen aussehen ließ, eine duftende Crème in seine frisch für Weihnachten gebrannten schwarzen Haarlöckchen massiert. An seinem rechten Auge, das er mir während der Talfahrt beim Sprechen immer wieder zuwandte, hatte er eine Entzündung. Blutig traten die Adern im Weiß hervor, aber er musste mit seinen unsauberen Fingern immer wieder an dieser entzündeten Stelle reiben. Er wirkte gereizt und unbeherrscht, geradezu aufgeregt.

„Dicono che... es heißt, bei uns in San Luca gäbe es Mafiosi“, legte er los, „aber das ist nicht wahr! Man sagt, dass die Mafia auch in Deutschland sei. Ma non è vero!“

Da hatte ich mich in ein Auto gesetzt, in dem vorne vor mir zwei von der Mafia saßen! Sie konnten Vollgas geben und mit mir irgendwohin in ein Abseits rasen. Mich dort abknallen, das Fahrzeug zuerst anzünden und danach in eine Schlucht purzeln lassen.

Die Carabinieri wären ratlos. Die Rosetta in bed-andbreakfast in Locri hätte dem tedesco noch ein letztes leckeres Frühstück an Natale vorgesetzt. Prendala. „Nehmen Sie diese“, hatte sie gesagt und dabei auf den Marmorkuchen gezeigt. Sie war bleich vor Schreck, als der deutsche Tourist beim Abschied, schon auf der Treppe stehend, sich noch einmal zu ihr umwandte und erklärte, er sei ein kleiner Schriftsteller. Sono un piccolo scrittore. „Un giornalista?“ hatte sie heiser gehaucht. Die ‘Ndrangheta liebte keine

Bedrohung hier in ihrem Reich... „Ich habe kein Auto“, sagte ich, „kein Auto, keinen Computer, kein telefonino –“

„Io lavoro, ich arbeite“, sagte der Fahrer des Wagens mit einem Anflug von Überlegenheit und Bitterkeit, ja, Wut, „deshalb habe ich ein Auto.“ Der deutsche Tourist war Lehrer gewesen, hatte jetzt eine kleine Pension.

„Was arbeiten Sie? Che cosa lavora? Qual’ è la sua professione?“ fragte er den kleinen Italiener vor ihm mit dem

duftenden glänzenden schwarzen Haar. Ganz plötzlich trat jetzt eine ungemütliche Pause ein. Der Mafioso überlegte, was er antworten solle. Dann dachte er: Das Beste wird sein, wenn ich gar nichts mehr sage!

Der deutsche Urlauber mit dem grünen Rucksack neben sich auf dem Rücksitz des Wagens ließ indessen nicht locker, wiederholte seine Frage nach dem Beruf des Kalabresen am Steuer des kleinen Fiat vor ihm aus San L.

Der aufgeregte kleine Mafioso mit dem entzündeten rechten Auge riskierte einen unsicheren Blick zu dem neben ihm sitzenden Verwandten aus San Luca, aber als er sah, dass von diesem für den Augenblick keine Unterstützung zu erhalten war, entschloss er sich, allein zu kämpfen und das Thema mit der Antwort „Steuerberat!“ ad acta zu legen. Er ahnte wohl, dass der deutsche Tourist sich ein inneres Lächeln nicht verkneifen konnte. Wie grotesk war die Vorstellung, dass in einem Dorf, in dem es keinen Richter und keinen Arzt, kein Hotel und keine Gastwirtschaft gab und nur eine vergessene, verlorene, verstaubte kleine farmacia, ein „Steuerberat“ vonnöten war.

Aber vielleicht brauchte ja der z w e i t e Mafioso vor mir im Auto einen, der ihm half, seine riesigen Einnahmen steuerlich regeln zu lassen. Dieser war zwar, wie sein Bruder oder Schwager am Steuer, nur von kleinem Wuchs, hatte aber, im Gegensatz zu dem Erstgenannten, eine Glatze und trug eine Brille. Er machte einen gesammelten, ruhigen, überlegenen, fast möchte ich sagen: intelligenten Eindruck. Er war mir vor Antritt der Fahrt von dem autista des Wagens mit den Worten „Il chef!“ vorgestellt worden, und ich hatte dazu die Bemerkung fallen lassen „Also erledigen Sie die Schreibtischarbeit – dunque Lei sbriga il lavoro di scrittura – la correspondenza!“, was in unserem kleinen Fahrzeug sichtlich Erschrecken ausgelöst hatte.

Ich bekam den Gedanken nicht los, dass es in S. L. Anfang der 90er Jahre bei Schießereien täglich vier Tote gegeben hatte. Ich sollte ihnen jetzt erklären, wohin ich wolle.

„Nach Reggio“, sagte ich schlicht.

„Und wohin weiter?“ Der gehetzte Ton der scharfen Ausfragerei klang gefährlich: als habe die Mafia das Recht dazu, in ihrem Staate alle Bewegungen von Fremden zu kontrollieren. Weiterzumelden.

„Allora – früher bin ich einmal von Reggio nach Sizilien weitergereist –“

Heftiges Kopfnicken unterbrach mich jetzt, es kam von rechts vor mir. Also doch! Dacht’ ich mir’s doch! schien der rechts vor mir sagen zu wollen. Ich musste ihn beruhigen.

„Aber diesmal nicht. Diesmal fahr’ ich nur nach Reggio und von dort gleich wieder zurück nach Deutschland.“

Als ich am Ende unserer kurzen Reise den Fahrer des Wagens fragte, weshalb er mich nach Bovalino bringe, verwies er auf Weihnachten.

„È Natale“, sagte er, mit einem Aufleuchten seiner Augen. Er drehte sich sogar umständlich um in seinem Sitz im Wagen, um mir die Hand zu reichen, und für einen kurzen Augenblick war Weihnachtsfrieden in uns allen.

Er hätte mich bestimmt auch in das jetzt völlig im Schnee versunkene Polsì hinaufgefahren, wo sich jedes Jahr im Januar die ‘Ndranghetabosse zwecks geschäftlicher Verhandlungen treffen. Ich hätte dies nur Don Pino zu sagen brauchen. Der Pfarrer hätte diese Fahrt bestimmt und die Mafia sie ausgeführt – als wäre der „u brewenti“ ihr Oberboss...

Herzlich grüßt Dich an Weihnachten 2008

Winfried

 

 

Gesetz der Schutzgeldzahlung

 

TERESA, DIE ZWEITÄLTESTE DER STRANGIOGESCHWISTER, VERSUCHTE ALS ERSTE IHR GLÜCK IN DEUTSCHLAND. Das war 1997. In Tony’s Pizza-Stube in Kaarst bei Duisburg fand sie eine Stelle, die ihr lag. Ihr Bruder Giovanni kam nach. Vermehrte das Heer der italienischen „Gastarbeiter“, die schon in Deutschland waren. Fing als Bäcker an in Teresas Pizzeria. Arbeitete hart.

Aber Teresa zog es zurück in ihr heimatliches San Luca, wo die drei Schwestern bald darauf einen kleinen Laden eröffneten: Panini di San Luca – Brötchen aus San Luca.

Und es ging gleich richtig los. Die drei jungen Frauen hatten sich weiße Schürzen umgebunden, und die Leute kamen – weil es sonst keinen Bäckerladen hier oben im Gebirge gab und weil sie so nett bedient wurden. Vom „Drei-Mädel-Haus“ fing man in San Luca an zu schwärmen. Entweder nannten die Dorfbewohner es, die italienische Nationalsprache benutzend, etwas steif „La casa delle tre ragazze“, oder aber es hörte sich geradezu warm anheimelnd an, wenn der Ausdruck aus ihrem alten Dorfdialekt „O podjaru delle tri kotrare“ fiel...

Die Tür des Ladens öffnete sich an einem Dienstag gegen Mittag, als der erste Brötchenberg schon verkauft war.

Sie grüßten nicht. Waren gerade erwachsen geworden – Flaum auf der Oberlippe. Trugen Sonnenbrillen, seidene Halstücher und Handschuhe – und hatten wohl auch Schusswesten und Waffen in der Kleidung versteckt: bei einem von diesen Jüngelchen konnte man sehen, wie sich am Bauch das T-Shirt verdächtig bauschte – und taten, als ob der kleine Laden schon ihnen gehöre.

Zwei von der ‘Ndrangheta, wahrscheinlich Pelle-Romeo-Vottari-Clan, und sie würden keinen Spaß verstehen, das sagten sich Giovannis drei Schwestern. Sie waren plötzlich leichenblass und machten instinktiv eine Bewegung hin zu der hinteren Schwingtür, die in ihre Wohnstube führte.

„Ihr bleibt mal alle hier!“ Die Stimme des einen, der da sprach, war kalt wie der Tod.

„Wir sind gleich weg!“