Oleg Penkowskij - Winfried Schuster - E-Book

Oleg Penkowskij E-Book

Winfried Schuster

0,0

Beschreibung

In der Hitze des kalten Krieges der frühen 60er Jahre (Bau der 'Mauer' in Berlin, Kubakrise etc.) schwebte mehr als einmal über der Menschheit das Damokles-Schwert eines Nuklearkrieges. Agenten des Secret Services belieferten fieberhaft die beiden großen Machthaber unseres Planeten mit Geheimnachrichten über das feindliche Lager. Oleg Penkowskij, KGB Oberst, war damals eine Goldgrube für den Westen. Durch seine Arbeit als Spion half er uns allen, verschont zu bleiben von einem mit Atomraketen geführten 'Dritten Weltkrieg'. Die Fiktion des Spionageromans zeichnet nur nach, was in der Realtität vor 45, 46 Jahren tatsächlich geschehen ist und ist dennoch oder gerade dadurch, dass sie den historischen Fakten folgt, eine spannende adventure story mit einem glaubhaften Plot. Und einem tragischen Helden. (Der Autor wurde in Lohnau/OS geboren).

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 165

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


 

 

 

Winfried Schuster

Oleg Penkowskij

Spionageroman

 

© 2016 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG

Postfach 14 61, D-48235 Dülmen/Westf.

Gesamtherstellung:

Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG, 48249 Dülmen

Telefon 0 25 94/94 34-0

Telefax 0 25 94/94 34-70

ISBN 978-3-89960-437-5

Internet-shop: www.laumann-verlag.de

E-Mail: [email protected]

 

 

Umschlagfoto: Militärparade auf dem Roten Platz in Moskau am 7. November 1961 anläßlich des 44. Jahrestages der Oktoberrevolution. Die 20 Meter langen SS4-Raketen waren damals, wie der »Sputnik«, eine Sensation.

dpa Picture-Alliance GmbH

 

 

Die wichtigsten Figuren des Romans sind:

Oleg Penkowskij Oberst im GRU in Moskau

Vera Dmitrijewna Penkowskaja seine Frau

Galina seine Tochter

Taisija Jakowlewna Penkowskaja seine Mutter

Greville Wynne britischer Geschäftsmann

Sergej Sergejewitsch Warenzow sowjetischer General, später Marschall

Oberkommandierender der sowjetischen Raketenstreitkräfte General Rubenko Attaché und Resident der Sowjetischen Botschaft in Ankara

General Serow Chef des GRU

Anna Antonowna seine Frau

Swetlana seine Tochter

 

Der Roman spielt in Moskau, London

und Paris in den Jahren 1945 bis 1963

 

 

Vorwort

 

Die historischen Fakten vorliegenden kleinen Romans, Winfried Schusters erster ›spy novel‹, sind nachzulesen in Greville Wynnes »Tatsachenbericht« The Man from Moscow und in Frank Gibneys The Penkovsky Papers, Geheimen Aufzeichnungen eines sowjetischen Spions, die über dunkle Wege auf wunderbare Weise in den Westen gelangt sind.

So war das damals, in den frühen 60er Jahren! Als Chruschtschow mit einem Separatfriedensvertrag drohte, den er mit dem östlichen Teil Deutschlands abschließen wollte. Als er damit drohte, den westlichen Teil der Stadt Berlin in seinen Herrschaftsbereich einzugliedern. Als er mitten in Berlin »die Mauer« bauen ließ. Die Welt hielt damals den Atem an. Als er mit seiner Wasserstoffbombe drohte.

Als die USA Chruschtschow provozierten, worauf dieser Mittelstreckenraketen, die, so vermutete man im Westen, mit Atomsprengköpfen beladen werden sollten, nach Kuba bringen ließ, in den Hinterhof der USA! – Die karibische See kochte seit dem 3. Januar 1960, dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen der USA zu Kuba. – Als sowjetische Flugabwehrraketen, am 27. Oktober ’62, ein amerikanisches Aufklärungs-U2-Flugzeug vom Himmel über Kuba herunterholten und seinen Piloten töteten. Sein Auftauchen im kubanischen Luftraum hätte in der angespannten Situation damals von den Russen als Vorbereitung eines Angriffs der USA auf Kuba gedeutet werden können.* Als die »Falken« im ExComm für einen Krieg gegen Kuba plädierten, der aber Moskau in Zugzwang gebracht hatte. Als Fidel Castro im Falle einer amerikanischen Invasion den Sowjets den atomaren »Erstschlag« empfahl. Als Chruschtschow vor den unberechenbaren Kubanern zittern mußte, die von ihm verteidigungsfähig gemacht worden waren...

In dieser Zeit – 1960, 1961, 1962 arbeitete ein Sowjetrusse sowohl als Oberst im Staatlichen Komitee für die Koordinierung wissenschaftlicher Forschung im Generalstab der UdSSR für den sowjetischen Nachrichtendienst und Chruschtschow, als auch – achtzehn Monate lang – als Spion für den Westen: für ein besseres Russland, für eine Welt mit einem menschlichen Antlitz. Er hieß Oleg Penkowskij.

Er hatte, wie ganz wenige damals in Moskau, Zugang zu den Safes mit streng geheim gehaltenen Dokumenten und lieferte bei seinen drei Reisen nach London und Paris im Sommer 1961 und als er wieder in Moskau war, Offizieren westlicher Geheimdienste, mit denen er zusammentraf, u. a. den Beweis, dass die sowjetischen Raketentragsysteme noch nicht ausgereift waren und dechiffrierte damit Chruschtschows Drohung mit seiner 50-Megatonnenbombe und mit dem »Erstschlag« als Bluff.

Er hat seinen Beitrag dazu geleistet, dass auf dem Höhepunkt der Kubakrise zwischen dem 22. und 28. Oktober 1962 Kennedy Chruschtschow gegenüber hart, d.h., entschlossen auftreten und einen Raketenkrieg vermeiden konnte. Robert Kennedy, der damals großen Einfluss auf seinen Bruder, den jungen amerikanischen Präsidenten, hatte, konnte auf Grund der Informationen über das »Nachhinken« der Sowjetunion im Militärischen, die die westlichen Secret Services dem ExComm besorgt hatten, John F. Kennedy raten, in einer Fernseh- und Radiorede am 22. Oktober 1962 den Abzug der sowjetischen Nuklearwaffen aus Kuba zu verlangen und am 24. Oktober 1962 mit einer »Quarantäne« zu See zu beginnen, um die Ankunft weiterer sowjetischer Schiffe mit nuklearen Kurz- und Mittelstreckenraketen in Kuba – wahrscheinlich eine Reaktion Chruschtschows auf die Stationierung amerikanischer Jupiter-Raketen in der Türkei, nachdem der Sputnik das amerikanische Abschreckungsmodell aus den Angeln gehoben hatte, sowie eine Reaktion der Sowjets auf die amerikanische Kuba-Politik: Ausschluss Kubas aus der OAS und Wirtschaftsembargo – zu unterbinden und schließlich, in der Nacht des 27. Oktober 1962, binnen 13 Tagen (für die Weltöffentlichkeit innerhalb von drei Tagen) den Abzug aller sowjetischen Raketen von der Karibikinsel zu fordern, andernfalls den Verbündeten der Sowjets Kuba anzugreifen. Wir wissen heute, dass ein Deal: die sowjetischen Raketen gegen die US-Jupiter-Raketen in der Türkei die Einigung brachte. Aber es hätte damals zu einem atomaren Schlagabtausch zwischen Ost und West kommen können, in dem auch Deutschland und Berlin radioaktiv vergiftet worden wären. Einer der Beteiligten hätte bloß die Nerven verlieren brauchen...

Penkowskij brachte dem Executive Committee of the National Security Council, Kennedys Beraterstab in Washington, immer wieder Beweise dafür, dass die USA der Sowjetunion im Bereich der Nuklearwaffen weit überlegen waren. Fünf Tage, nachdem Penkowskij verhaftet, diese Goldquelle der westlichen Geheimdienste zugeschüttet worden war (am 22. Oktober 1962), überreichte Robert Kennedy Botschafter Dobrynin ein Schreiben, in dem die USA erklärten, nicht Kuba anzugreifen, wenn die Sowjets ihre Raketen abzögen, und am Morgen des 28. Oktober 1962 wurde über Radio Moskau ein Brief Chruschtschows vorgelesen, in dem dieser den Abbau und Abzug aller sowjetischen Raketen aus Kuba versprach. Der wusste schon, was Kennedy durch für den Westen operierende Agenten, vor allem durch Oleg Penkowskij, über die sowjetischen Defizite im militärischen Bereich, über die Standorte der sowjetischen Raketenbasen auf Kuba etc. erfahren hatte. Außerdem hatte der mit John F. Kennedy befreundete Journalist Alsop am 25. August 1962 in der Washington Post auf die 80 Polaris-Raketen in U-Booten und 1650 Langstreckenbomber der Amerikaner hingewiesen.

Die Russen hatten dem nicht viel entgegenzustellen. Die Fiktion des vorliegenden Romans zeichnet nach, was in der Realität geschehen ist: Da stand einer zuerst hoch oben, und dann kam der Sturz in die Tiefe, der »Fall«, wie in einem Trauerspiel, einer Tragödie, ein tragischer Held, der den Konflikt zwischen den idealen Werten einer freiheitlich-demokratischen Weltordnung und den realen Gegebenheiten der diktatorisch-kommunistischen Gesellschaftsordnung des Landes, in dem er lebte, in sich austrug, mit seinem sittlichen Gewissen, den Widerstreit zwischen Täuschung und Ehrlichkeit, Verrat an Freunden und Vaterland und Befreiung seines Volkes.

Eine Heldensage. Ein handelnder und leidender Mensch, ein Spion, der den Aufstand probt, weil er ihn für notwendig hält. Der Held unterliegt am Ende. Aber sein Tod macht nicht nutzlos, was er Gutes für sein Vaterland und für die Staatenlenker der westlichen Hemisphäre unseres Planeten, für uns alle geleistet hat. Ich habe einige Geschehnisse, die sich im Verlaufe dieser außergewöhnlichen Agentenkarriere realiter zugetragen

haben und bereits von Oleg Penkowskij, Greville Wynne oder Frank Gibney geschildert worden sind, wenn sie im Plot meiner spy novel dramatisch wichtig waren, mit meinen eigenen Worten noch einmal erzählt und darüber hinaus Lücken geschlossen, das heißt, nachgetragen, was wesentlich war für das Verstehen meiner Figuren und nicht in den Quellen beschrieben wird.

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Leser nicht eine Adaptation zu erwarten hat, sondern eine Historisierung, die Darstellung eines Mythos als historische Wahrheit. Meine Kapitel »Flug nach Ankara«, »Schwüle Luft in Ankara« und »Die alten Militärs und Chruschtschow« enthalten die Exposition und Vorgeschichte. Hier erfährt der Leser, dass der »Held«, besser: antihero plötzlich Probleme bekommt bei seiner Arbeitsstelle in Moskau, beim sowjetischen Geheimdienst GRU, nachdem er eine Beschwerde über den ihm vorgesetzten Attaché der Sowjetischen Botschaft in Ankara auf dem Vermittlungsweg durch den mit dem GRU rivalisierenden sowjetischen Geheimdienst KGB nach Moskau geschickt hat. Penkowskijs Rückruf nach Moskau, wo er alles andere als freundlich empfangen und einer weniger geachteten Stelle, dem Vierten Büro der militärischen Abwehr, zugeordnet wird, führt zu seiner zunehmenden Unzufriedenheit mit seinem beruflichen Umfeld. Zum ersten Mal in seinem ehrgeizigen Lebenslauf ein richtiger Dämpfer. Er ist nicht gescheitert, fühlt sich aber zurückgesetzt und ungerecht behandelt.

Zu seiner beruflichen Unsicherheit nach seiner Rückkehr aus Ankara – die später noch verstärkt wird, als die sowjetischen Geheimdienste herausfinden, dass sein Vater bei der Armee der ›Weißen‹ im Sold gestanden hat – kommt das Erlebnis der Freiheit in Ankara, das er sich in seiner Erinnerung für seine Träume aufgehoben hat, für die dunklen Stunden später. Penkowskij bemerkt, als er wieder in Moskau ist, den Unterschied. Es ist, als hätte man ihm plötzlich eine Binde von den Augen gerissen: er sieht jetzt, wie traurig das Leben in der Sowjetunion wirklich ist. So vieles Schöne wird verboten, so viel vorgeschrieben, alles überwacht. Es gibt nichts in den Läden. Man sieht so selten das Lächeln einer Frau! Aufenthalt in der Türkei, beruflicher Absturz und die Erinnerung an seinen Vater, der von den ›Roten‹ erschossen worden ist, sind der letzte Auslöser eines inneren Konflikts, ja, einer Zerreißprobe des Protagonisten.

Noch ein Kapitel dieses kurzen Spionageromans möchte ich streifen: »Badeurlaub in Sotschi«. Dieser Urlaub im November 1961, kurze Zeit, bevor Oleg Penkowskij weiß, dass er überwacht wird, erscheint wie eine Flucht. Er wird in den Quellen zwar erwähnt, aber nirgends beschrieben. Die ganze Szene des Romans, die die Penkowskijs in einem glücklichen Ferienparadies zeigt, ist wie ein retardierendes Funktionszeichen: es verzögert, hält die Dramatik für kurze Zeit auf. Man könnte meinen:

Jetzt wird alles gut. Vera Penkowskaja wünscht es sich so sehr. Aber Oleg hat düstere Vorahnungen. Gleich danach – nur einen reichlichen Monat später – kommt der zweite, diesmal tödliche Absturz: Oleg Penkowskij muss erkennen, dass er permanent vom KGB überschattet und verfolgt wird. Er macht zwar weiter mit seiner aufreibenden Arbeit eines Doppelagenten, aber das geht auf Kosten seines Körpers und seiner Seele. Er verheimlicht weiterhin seine Doppel-Existenz vor seiner Familie.

Als Vertreter des Widerstands gegen die, die in der UdSSR mit einem Atomraketenkrieg spielen und gegen das vom KGB kontrollierte kommunistische System können wir insofern in ihm einen Helden sehen, als er, überzeugt von der Richtigkeit seiner Idee, tapfer und mutig seinen schweren Weg geht. Seine Seele hat er auf dem Spiel stehen, und er kämpft letztendlich für sein russisches Volk, dem er mehr Freiheit und Wohlstand wünscht. Wenn er auch leben will und nicht sterben, so kennt er doch die Gefahr, in die er sich begibt. Aber er lernt, mit ihr umzugehen. Heldenhaft ist sein Bestreben, seine Familie und seinen Helfer Greville Wynne vor einer Bestrafung als Kooperateure zu schützen. In den Geheimen Aufzeichnungen rechtfertigt, begründet er seinen Verrat, sein double crossing.

Er besitzt jenes Maß an Pathos und Gewissen, das ein Widerstandskämpfer haben muss. Einmal sagt er zu Greville Wynne: »Was wir beide erreichen können!« Ein anderes Mal, nachdem er sekundenlang die Gesichtszüge Johannes des Täufers auf einem Bild im Louvre angestarrt hat: »Er war einer von uns.«

Und immer wieder: »Böse ist nur das System. Das russische Volk hat sich nur verirrt.«

Er ist ein kräftiger, lebendiger ›Typ‹, ein Kämpfer, ein »Kerl«, blickt zurück auf eine erfolgreiche Offizierskarriere im Krieg. Weshalb er eher als ›Anti-Held‹ als als ›Held‹ bezeichnet werden muss: Er ist ein Träumer und ein Trinker (wenn auch kein Säufer), ein Frauenheld, ein kleiner Junge, ein Stimmungsmensch. Hier zeigt sich die weiche Seite seines Wesens. Er ist ein Held mit Fehlern, dessen Einsamkeit und dessen Träume, dessen Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Gutgläubigkeit, ja, Vertrauensseligkeit, Eitelkeit... den Geheimdiensten gerade recht kommen, um auf diesem Feuer ihre Suppe zu kochen.

Ein amerikanischer »Weltbestseller«-Autor unserer Tage bedankt sich in seiner »Thanksgiving« bei 35 Helfern für deren Mitwirkung bei der Entstehung seines Buches.

Ich habe, wenn ich absehe vom Druck, alles alleine geschafft. Aber mit Gottes Hilfe. In wenigen Wochen der zweiten Hälfte des Jahres 2007.

 

WINFRIED SCHUSTER

Dezember 2007

 

 

ERSTER TEIL

VORGESCHICHTE

 

We don’t live alone.

We are members of one body.

We are responsible for each other.

J. B. PRIESTLEY

An Inspector Calls

 

Wir leben nicht allein.

Wir alle gehören zu einer

menschlichen Gemeinschaft.

Wir sind verantwortlich für einander.

 

 

Eine Begebenheit im Krieg

Januar, Februar 1945

 

Oleg Penkowskij war Ende 1944 an die Front zurückgekehrt, zum 51. Panzerabwehrgarderegiment. Eine neue Offensive stand bevor. Und dann mahlte sich im Januar 1945 die russische Dampfwalze unerbittlich vorwärts durch den Schnee. Die wenigen deutschen Soldaten, die noch am Leben waren und am Boden: im Schnee kämpften, kriegsmüde, mit steifen Fingern in der Kälte, entmutigt und hungrig, auf dem Rückzug, ohne Treibstoff für ihre Panzer und ohne Patronen für ihre Gewehre, ohne Unterstützung durch die deutsche Luftwaffe, denn die gab es nicht mehr, waren den Massen von ausgeruhten Russen mit bestem, zum Teil britischem Kriegsgerät: Panzern, Panzerabwehrkanonen, Artillerie und Stalinorgel nicht gewachsen.

Olegs Regiment hatte am 31. Januar die Oder gerade überrannt, als seine Vorhut hinter Dzirgowitz auf ein winziges deutsches Widerstandsnest traf. Da stand auf einer kleinen Anhöhe am Rande eines Dorfes ein stattliches, weiß verputztes Haus mit grünen Fensterläden, das auf seinem Dach weiße Bettlaken ausgebreitet hatte.

Die russischen Soldaten der Vorhut des Regiments dachten: Schaut euch das an! Eine Frau mit ihren Kindern! Wollten das schon als Zeichen von Neutralität deuten und fingen schon an, Purzelbäume zu schlagen die »Podlescher Höhen« hinunter durch den Schnee, auf eine verschneite Wiese zu mit einem zugefrorenen Kanal, dahinter war noch ein Stück weit Wiese, und dann kam, querlaufend, eine Straße, und dahinter stand das stattliche Haus, als auf einmal Feuerstöße sie empfingen, mal hier, mal da, rund um das Haus. Ein deutsches MG!

Daraufhin ließen die Russen von ihrem Vormarsch ab und igelten sich ein in einem anderen Haus, das sie soeben schon erreicht hatten, gerade dem stattlichen Haus, in dem offenbar eine Handvoll deutscher Soldaten mit einem Maschinengewehr war, 200 Meter entfernt, gegenüber. Schnell versteckte sich an einem Fenster des deutschen Hauses, in dem die Russen jetzt schon waren, einer ihrer Scharfschützen, und durch das Objektiv auf seinem Gewehr konnte er ganz genau sehen, wenn sich die grüne Kellertür gegenüber einen Spalt breit öffnete und ein deutscher Soldat, ein weißes Babystrickjäckchen über dem Stahlhelm, vor seine Kimme kam. Dann machte das russische Gewehr »Peng!« Und schon krümmte sich, in den Bauch getroffen, der deutsche Soldat.

Nach dreitägigem pausenlosen Beschuss durch PAK, Stalinorgel und MG sah das deutsche Haus mit der grünen Kellertür wie zerfranst aus. Das Dach löcherig. Fensterrahmen und Fensterscheiben zum Teil herausgeschlagen. Gardinen flatterten verlassen im kalten Wind. Eine PAK-Kugel hatte das Haus von der Nordseite her der Länge nach durchschossen. Oleg, der gerade zurückkam zu der Vorpostenlinie von einer Inspektion der Verpflegungsstation und ihrer Bedeckungsmannschaft hinter der Front, die drei Tage in Anspruch genommen hatte, gab sofort zornig den Befehl, in dieser Nacht zum 2. Februar Punkt 24 Uhr aufzuhören mit der Schießerei.

»Wenn dort drüben im Keller noch eine deutsche Frau mit ihren Kindern ist, dann lasst sie in der Nacht entkommen! Schießt nicht auf sie!«

Er sah wütender aus, als ihn seine Soldaten je zuvor gesehen hatten.

 

 

Flug nach Ankara

Sommer 1955

 

Im Flugzeug nahm Vera plötzlich ungestüm seine Hand. Er blickte sie, verliebt fragend, an. Aber sie strahlte nur. Sie war kurz eingenickt und sah entzückend aus in diesem Augenblick.

»Warum hast du mich nicht geweckt, als wir über Sewastopol waren?« Weißt du, Kind, dort haben wir unsere Station mit Funkkontakten zu unserem Agentennetz in der Türkei, den ›Illegalen‹, razwjediwatjelnyj punkt! sagten seine Augen, aber er schloss schnell die Augen, wollte jetzt nicht daran denken, erst recht nicht davon reden! »Quand vous-êtes-vous mariés?« fragte sie ihren Ehemann, den sie vor zehn Jahren geheiratet hatte. Sie war damals in Moskau, im Herbst 1945, da war der Krieg gerade vorbei, 16, 17 gewesen, er 26, ein Oberstleutnant mit fünf Orden und sechs Medaillen, der gerade an der Frunse-Akademie studierte.

Er setzte ihr ein »Depuis êtes-vous mariées?« entgegen. Er wusste, dass sie gern ihr Französisch zeigte. Sie war darin besser als er, während er besser in Englisch war. Unter sich sahen sie die im beginnenden Tage glitzernden, hüpfenden Wellen des Schwarzen Meeres, und ihre Kämme hatten jetzt plötzlich in der Farbe der Morgensonne einen rötlichen Glanz.

Sie waren jetzt beide voller Erwartung, nahmen sich aber, jeder still für sich, vor, nicht zu viel von der Zukunft zu erhoffen, um dann nicht enttäuscht zu sein, wenn es nicht so gut lief. »Schwarzmalen« nannten sie das immer – risowatch w mratschnom swjetje.

›»So ein schönes Diplomatenpaar haben wir lange nicht geseh’n!‹ werden viele sagen! Tyj attasché w Ankarje – Du bist Attaché und Resident in Ankara!« Vera fing an zu träumen.

Eine Wolke überschattete plötzlich ihr Gesicht. »Ob sie uns Russen in Ankara mögen werden?« Er kam auf ihr Französisch zurück: »À quoi bon se faire des soucis? Wozu sich Sorgen machen?«

Beide hatten mit einem Male das Gefühl, dass eine neue Welt hier begann. Hier war Europa zu Ende! – Hier war Europa nicht zu Ende! Hier war die fast vergessene Vergangenheit von Europa! Hier war im Orient der Einfluss Europas! Hier war eine Brücke, die Europa mit dem Orient verband!

Hier strandeten Nomaden, die Nomaden blieben. Hier versuchten Menschen sesshaft zu werden, Wurzeln zu schlagen, für sich eine neue Heimat zu finden, eine neue Geschichte. Hier war schon der Westen. Hier wartete winkend der Westen mit so vielem Neuen.

 

 

Schwüle Luft in Ankara

Sommer 1956

 

General Sawtschenko alias Robenko kam herein in Olegs Büro, groß und breitschultrig wie ein Bauer, Misstrauen und Erfahrung blinzelten aus seinen Augen, er war sechzig, schien vom ersten Tag an neidisch auf Olegs Jugend zu sein. Seit er im Januar gekommen war, hatte die Amtsluft hier vor Spannung geknistert. Der General, der als Resident und Attaché der Sowjetischen Botschaft der neue Hausherr war, ließ Oleg, als Oberst Abteilungschef in der Hauptverwaltung der militärischen Abwehr der Roten Armee (GRU), der nun nicht mehr Attaché, sondern sein Untergebener war, den militärischen und diplomatischen Rangunterschied zwischen ihnen spüren: Er schikanierte ihn. Und das war für Oleg, der, um kreativ arbeiten zu können, das Wohlwollen seiner Vorgesetzten, wie die Luft zum Atmen, brauchte, geradezu Gift. Was war aus dem herrlichen Leben, mit den diplomatischen Empfängen in den mondänen Räumen der Botschaft, im ersten Halbjahr hier geworden! dachte Oleg oft. An Veras ängstlicher, unzufriedener Art wurde ihm erst richtig bewusst, dass er sich selbst verändert hatte!

Jetzt hatte sich der General vor Oleg aufgepflanzt, er war sehr blass, war offensichtlich verbittert, böse. Oleg hörte schon, bevor sein Vorgesetzter loslegte mit seinem Gepolter: Sie faulenzen hier auf Ihrem Stuhl und blasen mir den blauen Rauch Ihrer Machorka-Zigaretten in die Lunge! Draußen, über dem brütend heißen Häusermeer von Ankara, lastete schwer jetzt um die Mittagszeit der Dunst, Staub flimmerte in der schwülen Luft.

Robenko befeuchtete seine Lippen. Er leidet unter der trockenen, heißen anatolischen Hochgebirgswüstenluft! sagte sich Oleg. Robenkos Augen wurden schwarz.

»Was mir Jontschenko da aufgetischt hat, gefällt mir nicht, gefällt mir ganz und gar nicht!« grollte der General.

Das war der Anfang eines Gewitters. Oleg wusste selbst, dass es besser gewesen wäre, wenn er den Mund gehalten hätte. Deshalb erwiderte er nur leise: »Da, towarischtsch gjeneral. Jawohl, Genosse General!« Er wollte plötzlich noch etwas dem Thema »Jontschenko« hinzufügen, zog es aber vor, das hinunterzuschlucken.

»Wenn wir Agenten brauchen, dann brauchen wir sie – verstanden?« Die Wahl der Partizipialform des Präteritums »verstanden«, anstelle einer hier möglichen Personalform des Verbs »verstehen Sie?«, die mehr Menschlichkeit, mehr Verständnis – mehr kollegialen Umgangston zum Klingen gebracht hätte, war geradezu typisch für Robenkos Charakter, der nach Unterordnung, widerstandsloser Unterwerfung, Gehorsamkeit schrie.

»Ja«, sagte Oleg. »Aber Genosse Chruschtschow hat verboten, jetzt, wo der Schah von Persien auf Besuch bei uns ist, mit türkischen ›Illegalen‹ uns zu treffen. Kein Treffen mit Agenten während des Besuchs – « Weiter kam er nicht.

»Wer ist hier der General?« schrie Robenko. Jetzt schlugen Blitze ein rechts und links neben Oleg. »Wer bestimmt hier, was getan wird – schto nam nuzhno budjet? Stehen Sie gerade, wenn ein General mit Ihnen spricht!« Oleg sprang tatsächlich von seinem Bürostuhl hoch, eine Flamme rötete sein Gesicht.

»Hände an die Hosennaht!« hörte er den »Alten« brüllen.

Der ist verrückt! dachte Oleg. U njewo glupaja golowa! Flammen zuckten über sein Gesicht.

»Wer ist wichtiger«, gab Oleg halblaut zurück, »der erste Sekretär des ZK oder der Attaché der Botschaft?«