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Die Steine, die Magenta Zwiebelberg ins Wasser wirft, verschwinden seltsamerweise, ohne Ringe zu hinterlassen, nur mit einem leisen ,plb', unter der Wasseroberfläche. Doch macht sie das schon zu einer Hexe? In diesem Sommer lähmt eine schrecklichen Dürre das ,Land-diesseits-der-Berge'. Der sonst so tiefe Sarfan-See trocknet aus und gibt den Zugang zu einem verborgenen Labyrinth frei. Das darin Schlummernde, längst Vergessene, erwacht und findet hungrig seinen Weg zu den Menschen. Auf einmal erweist sich Magentas Nichtfähigkeit als ausgesprochen nützlich und sie begibt sich auf den langen Weg durchs Labyrinth.
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Seitenzahl: 307
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Wenn man einen Stein ins Wasser wirft und er keine Ringe zieht, stimmt irgend etwas nicht. Entweder mit dem Stein oder mit dem Wasser. Oder mit der Schwerkraft. Dann ist man allerdings wahrscheinlich auf dem falschen Planeten. Oder es stimmt etwas nicht mit demjenigen, der den Stein wirft. Magenta Zwiebelberg wußte, daß mit ihr etwas definitiv nicht stimmte. Das zu wissen, machte sie nicht fröhlicher und so stapfte sie ziemlich übellaunig den Pfad entlang, der von den Bauern, die ihre Waren nach Hammelvest brachten, ausgetreten worden war.
Obwohl der Weg sie durch einen wunderschönen Sommerwald voller Buchen, Eichen, Birken, Tannen, Farne und zwitschernder Vögel aller Art führte und die Sonne warm und hell vom Himmel schien, war Magenta nicht gut gelaunt. Es hatte in der Nacht zuvor geregnet und der Wald war voller Pfützen. Magenta konnte Pfützen nicht ausstehen, genau sowenig wie jede andere glatte Wasseroberfläche, sei es nun eine Pfütze, eine Tasse Tee oder der Sarfan-See. Jede glatte Wasseroberfläche schien sie höhnisch anzugrinsen, zu verspotten und herauszufordern. Magenta wußte, daß sie es nicht tun sollte, aber sie konnte es sich nicht verkneifen, die Herausforderung anzunehmen und in wirklich jede Pfütze mindesten einen Stein zu werfen, um ihm dann minutenlang hinterher zu starren und zu beobachten, wie sich keine Kreise auf der Wasseroberfläche bildeten. Egal wie viele Steine sie auch warf, oder auch wohinein sie sie warf, ob in eine Pfütze, einen Tümpel oder einen großen See, von mir aus auch nur in ein Faß oder eine Regentonne: nie bildeten sich um die von ihr geworfenen Steine Ringe auf der Wasseroberfläche. Magenta wußte das schon lange und ebenso lange konnte sie an keiner Wasserfläche vorbeigehen ohne einen Stein - oder viele - hineinzuwerfen.
Zu allem Überfluß - als hätte sie es nicht vorhersagen können! - kam ihr hinter der nächsten Wegbiegung auch noch Thomas entgegen. Mitsamt seinen Adlaten, Adjutanten, Kumpels - also seiner gesamten Räuberbande. Nur Ziegenbart konnte sie nicht entdecken. Weiß der Himmel, wo ihr Bruder wieder steckte. Früher hatte sie Thomas eigentlich immer recht gern gehabt. Sie hatten sich gut verstanden. Bis zu dem Tag, an dem er ihr partout hatte beibringen wollen, wie man einen Stein ins Wasser wirft. Wie man ihn richtig ins Wasser wirft. So, daß er Kreise macht. Den ganzen Nachmittag lang hatte er immer wieder Steine ins Wasser geschleudert und sie aufgefordert, es ihm nachzumachen. Ganz genau so zu machen wie er. Sie hatte es ganz genauso gemacht wie er. Doch während seine Steine fünf-, sieben- oder gar zwölfmal über das Wasser sprangen wie kleine Elfen und jedesmal dabei wunderhübsche konzentrische Kreise hinterließen ehe sie elegant mit einer letzten Drehung unter Wasser glitten, verschwanden Magentas Kiesel nur einfach mit einem kaum hörbaren ‚pblb’ unter Wasser. Sie machten nicht einmal ein richtiges Geräusch. Thomas zeigt es ihr immer wieder: „So mußt Du es machen, siehst Du, so mußt Du den Stein halten, so das Handgelenk drehen beziehungsweise so nicht drehen, so mußt Du mit den Arm ausholen, flach, flach…“ und Magenta machte es hundertmal genauso, wie Thomas es ihr zeigte, sie hielt den Stein genauso, - flach, flach! -drehte das Handgelenk genau so und genau so nicht, holte genau so mit dem Arm aus. Nur erzielte sie damit nicht genau solche Kreise. Nur das immer gleiche ‚pblb’. Bis Thomas mit geballten Fäusten vor ihr stand und sie wütend anschrie: „Wie kann man nur so verbohrt sein! Wieso machst Du es nicht einfach so wie ich es Dir zeige!“ und Magenta, den Tränen nahe, zurückschrie: „Ich HABE alles GENAUSO gemacht wie Du, es funktioniert bei mir nicht. Es liegt an MIR! ICH KANN ES NICHT!“ Sie schleuderte vehement eine ganze Handvoll Steine ins Wasser, ohne Drehung und Ausholen, einfach so, und sie verschwanden alle sang und klanglos, nur mit ein paar lustlosen ‚pblbs’ im See. Die Wasseroberfläche blieb davon auf ganzer Linie unbeeindruckt. Sie kräuselte sich nicht einmal.
Seitdem waren sie sich aus dem Weg gegangen. Jetzt standen sie sich unvermittelt gegenüber. Thomas’ Adjutant zur Rechten, der Jüngere Kieselbert, grinste breit. Thomas hakte die Daumen hinter den Gürtel und sagte: „Ah, sieh da, das Hexlein.“ Magenta zuckte innerlich zusammen. Ein Stich in die Leber, einer ins Herz, einer in den Magen.
„Nicht mehr Hexe als Du, Thomas Westermann.“ grummelte sie, ohne sich auch nur ein Wort zu glauben. Inzwischen hatte sich das Grinsen auf allen Jungsgesichtern breitgemacht. Sie suchte mit ihren Augen den Wald nach einer Möglichkeit ab, sich zu verdrücken ohne die ganze Bande auf den Fersen zu haben. In einiger Entfernung, hinter einem Baum, meinte sie auch endlich ihren feigen Bruder zu erspähen. Er würde nicht hervorkommen, bis sie fort war. Thomas lachte grob.
„Ha, für diese Anschuldigung könnte ich Dich vor den Richter bringen.“
„Du hast mich zuerst beschuldigt.“ verteidigte sich Magenta müde.
„Seit wann ist denn die Wahrheit eine Beschuldigung?“ Thomas sah sich Zustimmung heischend in der Runde um, wo sie ihm auch pflichtschuldigst gewährt wurde. Magenta hatte keine Lust, ihm noch länger zuzuhören.
„Laßt mich einfach in Ruhe. Ich möchte weitergehen.“
Nach kurzem Zögern gaben die ‚Gentleman’ einen schmalen Weg frei, bildeten eine Art Spalier links und rechts und als Magenta zwischen ihnen hindurchlief verbeugten sie sich nach höfischer Manier, schwenkten dabei imaginäre Hüte, ließen ihre Mützen aber auf den Köpfen, und lachten ihr höhnisch hinterher als sie das Weite suchte.
„Hexe, Hexe!“ klangen die Stimmen in ihren Ohren als sie weiterlief.
„Ich bin keine Hexe!“ versuchte Magenta sich zu beruhigen. „Ich weiß das! Ich kann keinen einzigen Zaubertrick oder etwas in der Art! Tiere kommen nicht, wenn ich sie rufe, ich kann keine verloren Sachen wiederfinden, Kräuter verdorren in meinem Beet, ich träume nichts, was dann eintritt … ICH BIN KEINE HEXE!“ Wütend trat sie gegen einen Stein. Der flog ein paar Meter weit, landete in einer Pfütze und machte keinen Kreis. Magenta war zum Heulen. Vielleicht war genau das ihr Problem, daß sie keine Hexe war. Möglicherweise war sie sogar das genaue Gegenteil einer Hexe: Hexen bewirken etwas, sie finden verlorene Sachen, sie rufen Tiere herbei, sie … alles Mögliche. Magenta bewirkte nicht einmal Kreise im Wasser.
Deswegen war Magenta auch nicht auf dem Weg zum Markt, sondern zu Fräulein Drollich. Fräulein Drollich war eine Hexe und Magenta war zu ihr geschickt worden. Weil etwas mit ihr nicht stimmte. Mit Magenta, nicht mit Fräulein Drollich, mit der war alles in Ordnung, sie war ja eine Hexe. Und das war so in Ordnung, wie es nur sein konnte. Mit Magenta war nichts in Ordnung, sie war keine Hexe.
Fräulein Drollich lebte in einem reinlichen kleinen Haus an dem Ende von Hammelvest, an dem die respektablen Leute lebten, wie der Lehrer, der Uhrmacher oder der Buchstabensetzer und ihr Haus sah genauso aus wie das der anderen, nur daß es noch reinlicher und netter war, die Fensterläden rosa gestrichen waren und der Vorgarten unter der Flut der dort gedeihenden Blumen kaum noch zu erkennen war. Scharen von kleinen Singvögeln schwirrten in den prächtigen, sorgfältig gepflegten Obstbäumen umher und labten sich an Unmengen von Kirschen. Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte – das war der Punkt, an dem sich Magenta fragte, wo denn die ganzen Schmetterlinge eigentlich herkämen, sie wußte, daß Schmetterlingsraupen am liebsten Brennesseln fraßen und in Fräulein Drollichs Garten gab es ganz gewiß keine einzige Brennessel, wenn sie nicht Fräulein Drollich absichtlich angepflanzt hatte, um Tee daraus zu machen, und dann wäre es gewiß die prächtigste und gedeihendste Brennessel im Umkreis von 20 Meilen und keine Raupe hätte es gewagt, sie auch nur hungrig anzusehen, wenn sie nicht in einen Nachtfalter verwandelt werden wollte.
Das Innere des Hauses war genauso reinlich und nett. Die Wände waren mit Tapeten im Rosenmuster tapeziert, das gleiche Muster hatten die säuberlich drapierten Sofakissen, an den Fenstern hingen schwere rosa Samtvorhänge und auf dem Kaminsims standen zierliche Porzellanfigürchen: Schäferinnen mit ihren langen Schäferstäben, die eigentlich schon vom bloßen Hinsehen hätten abbrechen müssen, - weshalb Magenta es auch vermied allzu heftig hinzuschauen -Hündchen und Kätzchen, die mit ebenso porzellanenen Wollknäueln spielten, sowie, zu Magentas großer Verblüffung, ein weißer Frosch im Schneidersitz. Staub hingegen war nirgendwo zu finden. Auf keinem Regal, auf keinem der Figürchen und wahrscheinlich nicht einmal unter dem Bett. Fräulein Drollich duldete keinen Staub oder dergleichen, und der Staub wußte das und vermied es deshalb, ihr auch nur zu nahe zu kommen. Er betrat das Haus gar nicht erst.
Fräulein Drollich selbst war natürlich genauso reinlich und nett wie ihr Häuschen und ihr Gärtlein. Etwas anderes wäre tatsächlich nicht natürlich gewesen. Zudem war sie sehr hübsch. Auf eine sehr gesunde, und rosige Art. Alles an ihr strotzte vor rosiger Gesundheit und Wirksamkeit. Alles was sie tat und jedes ihrer Worte wirkte. Ihre Salben, sowohl die rosafarbenen wie auch die gelben, grünen, braunen oder die so schön schlammfarben glänzenden, wirkten gegen alle erdenklichen Krankheiten, mit denen die Leute zu ihr kamen. Dazu bekamen sie auch noch ein, zwei tröstende Worte und einen Zauberspruch und dann waren sie wieder gesund.
Sie trug ein sehr hübsches, hellrosa Kleid mit vielen Rüschen und zierlichste cremefarbene Schuhe, die niemals schmutzig wurden. Selbstverständlich. Und es muß dazu gesagt werden, daß die Farbe Rosa, so wie sie Fräulein Drollich überall und in allen Schattierungen vorzog, ein allerschönstes eindeutiges Rosa war, so wie es bei Blumen, sagen wir mal bei Rosen oder Nelken, vorkommt. Weder war es schweinchenrosa oder fleisch- oder lachsfarben und schon gar nicht war es ein grelles, aufdringliches, vorlautes Pink. Daran hätte Fräulein Drollich keinen Gefallen gefunden.
Fräulein Drollich hatte Magenta bereits erwartet. Sie stand auf der Schwelle ihrer Türe und hinter ihr duftete es nach wunderbarem Tee und selbstgebackenen Keksen. Sie war blond, groß und schlank und hatte ein schmales, fast strenges Gesicht, doch mit rosa Bäckchen und freundlichen Augen. Fräulein Drollich war einfach perfekt. Genauso perfekt, wie ihre Kekse, ihr Tee, ihr Haus und ihr Garten. So viel Perfektion konnte niemand mit einfachen menschlichen Mitteln erreichen. Es war offensichtlich, daß hier jede Menge Hexerei investiert worden sein mußte. Magenta wollte überhaupt nicht perfekt sein. Kein bißchen. Magenta wollte nur, daß Steine, die sie ins Wasser warf, Kreise machten. Vielleicht war ihr größter und einziger Wunsch, perfekt normal zu sein.
Das perfekte Fräulein Drollich hingegen fand Magenta ihrerseits reichlich normal, um nicht zu sagen durchschnittlich, geradezu mittelmäßig. Sie hatte von Magentas Unfähigkeit gehört, und fand es sehr sonderbar, daß ein Mädchen mit einer solchen Eigenart keine Hexe sein sollte. Deshalb ruhte ihr freundlichstrenger Blick auch besonders aufmerksam auf Magenta, die die Teetasse sorgfältig balancierte, um keinen Tee zu verschütten und sich offensichtlich unbehaglich fühlte. Fräulein Drollich nahm sehr wohl zur Kenntnis, daß sich dabei auf der Oberfläche des Tees keinerlei Ringe zeigten.
Sie ließ sich Zeit, Magenta zu betrachten. Sie gab sich wirklich Mühe, etwas hexenhaftes an Magenta zu entdecken, wenigstens ein stechender Blick oder eine spitze Nase, einen kleinen Hauch Selbstbewußtsein vielleicht oder auch nur ein wenig Überheblichkeit, oder - irgend etwas, das darauf hingedeutet hätte, daß Magenta sich ihrer selbst überhaupt bewußt war, daß sie eine Ahnung davon gehabt hätte, daß sie existierte. Aber obwohl Fräulein Drollich alle ihre Sinne strapazierte, war alles, was sie sah, ein unscheinbares, mageres und beinahe unerträglich schüchternes Mädchen von elf oder zwölf Jahren. So unscheinbar, das es gar nicht wirklich da zu sein schien. Nicht nur unscheinbar sondern fast durchscheinend, kam es Fräulein Drollich vor. Es fiel sogar ihr schwer, Magenta wahrzunehmen, die Aura von Verzagtheit, die Magenta umgab, verbarg alles, das ein Charakter hätte sein können. Fräulein Drollich war auch bislang nicht zu Ohren gekommen, das Magenta irgend etwas besonders gut gekonnt hätte. Magentas Einzigartigkeit war ihr Nichtkönnen. Fräulein Drollich seufzte.
Es war womöglich ein klein wenig hinterhältig von ihr, als sie im süßesten Tonfall „Zucker?“ fragte. Magenta nahm zwei Stück und ließ sie so vorsichtig wie möglich in ihren Tee gleiten. Trotzdem konnte sie es nicht verhindern, daß der Tee über den Rand der Tasse floß und die Untertasse anfüllte. Es war ihr sehr peinlich. Und es hatten sich natürlich keine Ringe auf der - äh -Teeoberfläche gezeigt. Sie war einfach zu und zu ungeschickt! Am liebsten wäre sie im rosenstoffgepolsterten Stuhlkissen versunken. Aber Fräulein Drollich hatte es bemerkt und lächelte nur zufrieden, ja fast ein wenig selbstgefällig: Dieses Kind hatte keine Ahnung von seinen Begabungen. Sie rührte in ihrem Tee. Ohne, daß etwas überschwappte.
Jedoch wollte selbst ihr nichts Gescheites zu Magenta einfallen. So viel Mittelmäßigkeit hatte sie noch nie an einem einzelnen Mädchen gesehen. Fast schien es ihr, als wäre Magenta eigentlich viel zu klein und dünn für so viel Mittelmaß.
Nachdem eine Weile nichts passiert war, außer, daß beide in ihre Teetasse gestarrt hatten, als wäre dort die Zukunft zu lesen, ergriff Fräulein Drollich das Wort: „Sooo, Magenta, du möchtest also Hexe werden, möchtest, daß ich dich als Lehrling aufnehme?“
„Ja?“, was eine Antwort sein sollte klang wie eine Frage. Fräulein Drollich hatte es befürchtet.
„Wessen Idee war es denn, daß du zu mir kommen solltest?“
„Mein Vater?“ Magenta kiekste. Schnell trank sie einen Schluck Tee, um ihre Stimme wieder in den Griff zu kriegen.
„Dein Vater meint also, Hexe wäre der richtige Beruf für dich?“
„Naja, weil ich doch...“ fing Magenta den Satz an, der dann halbfertig hilflos in der Luft hängen blieb.
Fräulein Drollich schaute freundlich.
„Was weißt du denn eigentlich über Hexen?“ fragte sie.
„Oh,“ die Frage war harmlos. „Hexen können sehr viel und sind sehr wichtig.“ Fräulein Drollich seufzte innerlich.
„Zum Beispiel?“ sie blieb ebenso freundlich wie beharrlich.
„Zum Beispiel haben sie alle möglichen Medizinen gegen alle möglichen Krankheiten ...“ Magenta blickte sich dabei im Raum um. Nirgendwo standen hier Fläschchen oder Tiegelchen, auf dem Regal an der Wand standen nur die Porzellanfigürchen, keinerlei Gerätschaften und nichts, was irgendwie magisch ausgesehen hätte. Nicht einmal Unmagisches, wie z.B. ein Kochtopf. Sie versuchte sich vorzustellen, wo und wie Fräulein Drollich hier in diesem ihrem Häuschen ihre Tränke und Salben herstellte. Aber gewiß hatte sie dafür eine eigene Hexenküche. Irgendwo weiter hinten im Haus.
„Ja, Magenta, die habe ich allerdings,“ sagte Fräulein Drollich, „aber du schweifst vom Thema ab. Wenn du willst zeige ich sie dir nachher.“ Magenta erschrak, sie hatte nicht gehört, daß sie etwas laut ausgesprochen hätte. Das, was ihr auf dem Weg hierher durch den Kopf gegangen war fiel ihr wieder ein: daß eine Hexe Tiere herbeirufen kann, daß sie Kräuter zieht und daraus magische Tränke braut, verlorene Dinge auf geheimnisvolle Weise wiederfindet und im Traum die Zukunft erkennen kann. All diese Sachen. Aber bis auf die Kräuter hatte sie nichts davon bei Fräulein Drollich gesehen. Und über die Hexen in den anderen Orten des Landes hatte sie bisher nicht viel gehört. Aber was davon hätte sie Fräulein Drollich antworten können?
Fräulein Drollich hörte Magenta eine Weile beim Schweigen zu und kam zu dem Schluß, daß es weiter nicht viel zu hören geben würde ehe sie Magenta eine letzte Frage stellte: „Magenta, was möchtest Du? Kannst Du es mir sagen, das, was Du wirklich willst, wirklich sein willst?“ Magenta fühlte sich, als wäre sie aus Sand, am liebsten wäre sie zerbröselt. Ihr Kopf benahm sich wie eine Höhle voller Echos: ‚Ich will, daß Steine, die ich werfe, Ringe im Wasser machen. Sonst nichts. Ich will normal sein.’ hallte die einzig mögliche Antwort laut in Ihrem Kopf. ‚Ich will normal, sein, ICH WILL NORMAL SEIN!’ echote es immer wieder. Es tat schon weh. Der Satz fand den Weg in ihren Mund, lag auf ihrer Zunge, schmeckte bitter nach Blei. Sie kaute auf ihm herum, er war unaussprechbar, je mehr sie kaute, um so zäher wurde er, wie Rindfleisch, trockener und zäher und mehr, so daß man fast daran erstickt. Und eklig, er wurde immer ekliger, traniger. Sie konnte ihn nicht ausspucken, denn dann hätte etwas unbeschreiblich, unaussprechlich ekliges vor ihr auf Fräulein Drollichs nettem Teppich gelegen und Fettflecke hinterlassen, also mußte sie ihn herunterwürgen, am Stück, was genauso eklig war und in ihrem Hals einen Kloß zurückließ, an dem sie noch lange würgte. ‚Ich will doch nur normal sein.’ hallte ein letztes kleines Echo durch ihren Kopf.
Fräulein Drollich stellte ihre Teetasse auf den Tisch, beugte sich vor und betrachtete den Teppich vor Magentas Füßen, auf dem nichts lag, ausgiebig und mit großem Interesse. Magentas Nackenhaare stellten sich auf. Fräulein Drollich stand auf, trat ans Fenster, schaute eine Weile hinaus, aber der Ausblick schien ihr nicht das zu zeigen, was zu sehen sie erhofft hatte. Sie wandte sich mit einer ungeduldigen Bewegung ab, beugte sich zum Kamin, in dem kein Feuer brannte, stocherte mit einem zierlichen Schürhaken in keiner vorhandenen Asche, hängte den Schürhaken wieder an seinen Platz, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und musterte eine Stelle über dem Kaminsims an der Wand, genauso wie sie vorher aus dem Fenster geschaut hatte. Nun fing auch Magentas Nase an zu kribbeln. Fräulein Drollich starrte sehr konzentriert die Wand an, die ihr das Bild zu zeigen schien, das das Fenster ihr nicht gewährt hatte. Magenta sah allerdings nur die Tapete.
Dann, zögernd, sagte Fräulein Drollich: “Weißt Du, Magenta, manchmal sind wir nicht die, die wir zu sein glauben, und manchmal sind wir nicht das, was die Leute von uns glauben. Und manchmal ist es schwierig, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Sie drehte sich um und sah Magenta an. Magenta ihrerseits sah Fräulein Drollich recht verständnislos an. Sie wußte sehr genau, was sie war, bzw. was sie nicht war, dachte sie. Und alle anderen wußten es auch. Glaubte sie. Sie schaute sicherheitshalber noch mal auf den Teppich, da lag nichts. Fräulein Drollich lächelte.
„Soso,“ sagte sie, „aber was glaubst Du, wer ich bin?“ Magenta rechnete damit, sprachlos zu sein, aber sie hörte sich zu ihrem eigenen Erstaunen sehr ernsthaft antworten: „Sie sind Fräulein Drollich, unsere wunderhübsche und kluge Hexe, von der jeder sich gerne Rat und Hilfe holt.“ Sie fand, daß es sich ein wenig wie auswendig gelernt anhörte, aber es war doch, was sie dachte. Fräulein Drollich lächelte immer noch. Und sah wieder auf den Teppich vor Magentas Füßen.
„Sich über etwas sehr sicher zu sein, ist eine schöne Sache. Noch schöner ist allerdings, wenn das, worüber wir uns so sicher sind, auch so ist, wie wir es sehen. Manchmal allerdings“ - und hier hörte Fräulein Drollich abrupt auf zu lächeln - „tun uns die Dinge den Gefallen und werden so, wie wir sie haben möchten, um uns zu ärgern ... denn wenn sie das tun, haben sie ihre eigene Art ablegen müssen und sind nicht mehr das, was sie wirklich waren, und die Wirklichkeit ist verdreht.“ Fräulein Drollichs Stimme klang jetzt leise und wie aus weiter Ferne. Magenta fühlte sich ein wenig schwindelig – sie hatte kein Wort von dem verstanden, was Fräulein Drollich gesagt hatte und je mehr sie darüber nachzudenken versuchte, weil sie das Gefühl hatte, daß es ungeheuer wichtig sei, desto mehr entglitten ihr die Gedanken und es fühlte sich an, als hätte sie alles schon wieder vergessen, oder als sei in ihrem Kopf eine Tür zugefallen. Aber nun sah Fräulein Drollich sie wieder mit ganz klarem Blick an, kicherte und sagte: „Was heißt schon normal?“ Sie verzog die Mundwinkel. Und mit einer kleinen verscheuchenden Bewegung ihrer elegant abgewinkelten Hand sagte sie zärtlich: „Geh jetzt nach Hause, Magenta Zwiebelberg. Du bist keine Hexe.“
Magenta rutschte gehorsam vom Stuhl und machte, daß sie aus diesem wunderhübschen, geblümten, perfekten Irrsinn herauskam.
Als Magenta fort war trat Fräulein Drollich nachdenklich vor ihren kleinen Spiegel und nahm die -perfekte - Perücke ab. Sie war nicht kahl, aber ihre Haare waren kurzgeschoren und dunkel. Aus dem Spiegel blickte ein fremdes Gesicht.
„So ist das also“, sagte der Spiegel und Fräulein Drollich nickte.
„Ich brauche Dich hier.“ sagte Fräulein Drollich.
„Stets zu Deiner Verfügung, meine Liebe.“ sagte Fräulein Drollichs fremdes Spiegelbild. Fräulein Drollich legte den Spiegel beiseite, mit dem Glas nach unten, drehte sich um und setzte sich zu ihrem Gast an den Teetisch.
*
Auf dem Heimweg, bei dem sie einen Umweg machen mußte, um beim Bauern Handzahm noch eine Kanne Milch abzuholen, wünschte sich Magenta einmal mehr nichts sehnlicher, als der einzige Mensch auf der Welt zu sein. Dann könnte sie überall hingehen, ohne befürchten zu müssen, daß Leute, die ihr begegneten, sie verspotteten. Sie könnte dann alles tun, was ihr einfiele, es würde niemanden stören. Sie müßte nichts sein lassen, um brav zu sein. Und ihr Anderssein würde niemandem auffallen. Sie wäre nicht mehr der Stein des Anstoßes. Und der Grund für ständige Diskussionen zwischen ihren Eltern. Ja sogar zwischen ihren Großeltern. Und ihren Tanten. Selbst ihre Geschwister fürchteten sich vor ihr, wenn sie sich nicht über sie lustig machten. Entweder müßte sie der einzige Mensch sein – oder unsichtbar. Oder normal. Nur wer normal ist, ist unsichtbar.
Alphonse Handzahm füllte die große Milchkanne der Familie Zwiebelberg bis unter den Rand mit Milch und gab Magenta den wohlgemeinten Rat, nicht zu stolpern. Magenta seufzte innerlich, sagte aber brav: „Jawohl, Onkel Alphonse.“ und machte sich auf den geradesten Weg nach Hause. Sie stolperte nicht.
Sie stolperte nicht, sie wackelte nicht, sie schwenkte die Kanne nicht. Die Kanne hing senkrecht wie ein Lot an Magentas Arm. Es war ganz schön schwierig, zu vermeiden, daß sie in dieser Haltung auf dem Boden aufstieß, wenn eine Wurzel den Weg kreuzte oder der Weg abschüssig wurde. Aber Magenta schaffte es. Trotzdem bemerkte sie schon unterwegs, daß Milch in langen Spuren an der Außenwand der Kanne herunterlief und zu Boden tropfte. Magenta konnte nur hoffen, daß es nicht allzuviel war.
In der Küche nahm ihr die Mutter sofort die Kanne ab, stellte sie auf die Bank und schaute herein.
„Ach du liebe Güte!“ rief sie. „Da fehlt ja wieder ein viertel Liter! Mein Gott, Magenta! Was ist bloß los mit Dir, wie hast Du das denn jetzt schon wieder fertig gebracht! Bist Du gestolpert?“
„Nein“ antwortete Magenta, noch ruhig.
„Aber irgendetwas mußt Du doch gemacht haben! Die Milch läuft doch nicht von alleine über! Kind, kannst Du denn nie was richtig machen!“ Sie tat den Deckel wieder auf die Kanne und wandte Magenta den Rücken zu.
„Nein“ sagte Magenta.
Ihre Mutter stellte die Kanne in die Kühlkammer. Magenta standen die Tränen in den Augen, aber das brauchte niemand zu sehen. Als ihre Mutter aus der Kühlkammer kam, drehte sich Magenta um und ging auf ihr Zimmer.
Beim Abendessen fragte ihr Vater, was denn Fräulein Drollich gesagt habe, ob sie sie als Lehrling nehmen würde. Magenta konnte nur die Schultern bis an die Ohren hochziehen und leise den Kopf schütteln.
So wurde Magenta also keine Hexe in Ausbildung und alles blieb beim alten und veränderte sich nicht.
Aber dann wurde dieser Sommer der heißeste und trockenste seit Jahrzehnten.
Der sonst kristallklare Sarfan-See verwandelte sich langsam aber unaufhaltsam in einen trüben Tümpel und selbst die Yvre, sonst ein munteres Flüßchen, brachte kaum noch frisches Wasser aus den Bergen. Es wurde so heiß, daß Magenta sich nicht erinnern konnte, jemals einen so heißen Sommer erlebt zu haben. Es wurde so heiß, daß sogar die Großeltern und die anderen Ältesten im Dorf sich nicht erinnern konnten, jemals einen so heißen Sommer erlebt zu haben. Sie saßen im Schatten auf den Holzbänken vor ihren Häusern und unterhielten sich ausgiebig darüber. Sie wußten viel über vergangene Sommer. Sie erinnerten sich gut, an Jahreszahlen, Monate, Hitzegrade, Ernterekorde, Mißernterekorde und wenn sie sich nicht erinnerten, erinnerten sie sich gegenseitig daran, korrigierten sich gegenseitig und übertrafen sich gegenseitig mit ihrer Kenntnis von Einzelheiten.
Magenta wunderte sich ein wenig. Meist erinnerten sich die Großeltern nicht einmal an die Namen ihrer Enkel oder ob sie schon gefrühstückt hatten. Aber daß es im Jahre Anno 75 so heiß gewesen war, daß im Juli der alljährliche Froschregen in Quakenbrück aus gebratenen Froschschenkeln bestanden hatte - das wußten sie noch ganz genau. Magenta dachte sich, daß Außergewöhnliches eben besser im Gedächtnis haften blieb, sie mochte diese außergewöhnlichen Einzelheiten, hörte gut zu und beschloß, sie sich zu merken.
Und doch hätten die Leute gestaunt, wenn sie gewußt hätten, daß der Sommer tatsächlich sogar der heißeste seit mehr als 1000 Jahren war.
Hitze und Dürre lagen über dem Land wie ein alter, mottenzerfressener, alles erstickender Teppich. Das Gras wurde gelb und die Getreideähren hingen müde an den Halmen, hielten sich mit Mühe noch in der krümeligen Erde aufrecht, die sich langsam in Staub verwandelte. Wer Kühe hatte brachte sie in die Berge, auf höhere Weiden, wo sich noch ein Rest Feuchtigkeit halten konnte, die Schafe kauten mit zunehmender Verdrießlichkeit auf den trockenen Halmen herum, die jeden Geschmack verloren hatten. Die sonst so grünen Wälder, die Hügel und Hänge bedeckten und das Tal und das Dorf auf drei Seiten umgaben, verloren ihre saftige Farbe und wirkten schon fast grau im ungebrochnen, gleißenden Licht der Sonne. An den steilen Felswänden des Wolkenhorns, die sich hinter den Hügeln emporschoben, veränderte sich das Grüngrau des trocknenden Waldes in ein blasses Blaugrau; mit der Höhe der Berge näherte sich auch ihre Farbe dem Himmel an, der sich nicht mehr in sattem Blau über die Welt spannte, sondern wie ein metallener Spiegel graublau schimmerte und seinerseits die Hitze, die vom Boden aufstieg zu reflektieren schien.
Dort, wo sich der Sarfan-See sonst glitzernd und einladend an die Flanken der steilen Berghänge schmiegte, erschienen, als der Wasserspiegel sank, breite Streifen aus trocknendem, splitterndem Schlick, besetzt mit austrocknendem, harten braunen Gestrüpp mit scharfen Kanten, die gerne in unbeschuhte Füße schnitten. Niemand ging mehr zum Angeln, es lohnte sich nicht, die Fische hatten sich an den tiefsten, unzugänglichsten Stellen des Sees versteckt.
Und es wurde immer noch heißer. Magenta fing an zu überlegen, ob sie sich über einen Regen aus gebratenen Froschschenkeln wohl freuen würde. Die Leute gingen dazu über, so wenig Kleidung wie möglich zu tragen und sich so wenig wie möglich zu bewegen. Trotzdem schwitzten sie alle. Sogar die Fliegen saßen im Schatten an der Wand und rührten sich nicht. Wahrscheinlich schwitzten auch sie.
Mit der Hoffnung auf ein wenig Abkühlung lief Magenta zum See. Eigentlich war es viel zu heiß zum Laufen, aber sie trabte munter los. Alle anderen Kinder wären bestimmt auch schon da. Alle anderen. Kinder. Da.
Magentas linkes Bein hörte diesen Gedanken und verlor sofort alle Lust zu traben. Es spürte den Widerstand der Luft und bekam Probleme, sich durch die zähe Masse weiter nach vorne zu bewegen. Es blieb in der Luft stecken. Magenta wäre fast umgefallen, denn auf einem Bein läßt sich schlecht laufen. Aber sie schaffte es, auch den linken Fuß wieder auf den Boden zu stellen, nur mußte sie dazu stehen bleiben. Sie wollte zum See. Sie wollte auch zu den Kindern. Einerseits. Andererseits wollte sie keinesfalls zu den Kindern, wollte nicht wieder verhöhnt werden. Ob es sich im Dorf herumgesprochen hatte, daß Fräulein Drollich sie nicht ausbilden würde? Ihr jegliche Hexenbegabung abgesprochen hatte? Vorsichtig versuchte Magenta, den linken Fuß anzuheben. Es funktionierte zwar, aber nur widerstrebend ließ sich der Fuß davon überzeugen, einen kleinen Schritt zu machen. Immerhin. Ein kleiner Schritt war ein kleiner Fortschritt. Magenta vermutete, daß sie sich auf die dörflichen Nachrichtenkanäle verlassen konnte und inzwischen alle darüber informiert wären, daß sie keine Hexe sei und sie also von nun an in Ruhe gelassen werden würde. ‚Eigentlich merkwürdig,’ dachte sie, Hexe zu sein, war ein angesehener Beruf, warum war es für sie eine Schmähung? War es nun gut oder schlecht, daß sie keine Hexe war? Würde es möglicherweise alles noch schlimmer machen? Jetzt blieb ihr rechtes Bein in der zähen Luft stecken. Natürlich würden sie sie weiterhin beschimpfen. Es hatte sich ja nichts geändert! Sie war nach wie vor das Mädchen mit der Unfähigkeit, das Selbstverständlichste zuwege zu bringen. Sie war nach wie vor das Monster, die Mißgeburt. Genausogut hätte sie zwei Köpfe haben können. Oder drei Arme. Oder vielmehr keine Arme, denn ihr fehlte ja etwas. Und sie hatte nichts, womit sie das hätte ausgleichen können.
Aber Magenta wollte zum See – solange noch etwas davon übrig war. Sie schaute zu ihren Beinen herab und gab ihnen den ausdrücklichen Befehl, sich gefälligst wieder in Bewegung zu setzen. Sie gehorchten, wenn auch nicht ohne zu murren.
*
Wie sie vermutet hatte, waren alle anderen Kinder längst da, als Magenta den See erreichte. Denen, die im Wasser standen, reichte das Wasser bis zur Hüfte. Es war also gerade noch tief genug, um zu plantschen und sich gegenseitig mit vollen Händen naßzuspritzen, man konnte gerade noch schwimmen, ohne sich die Knie anzustoßen. Einige spielten mit einem großen Ball, ein paar saßen oder liefen am Ufer oder bauten Sandburgen. Alles war gleichzeitig fröhlich und friedlich. Magenta hielt Ausschau nach einem Plätzchen, an dem sie nicht mitten zwischen die spielenden Kinder geriete, aber auch nicht so weit weg war, daß es so aussähe, als würde sie sich absichtlich von ihnen fernhalten. Sie wollte nicht zu allem anderen auch noch für eigenbrötlerisch und eingebildet gehalten werden. Aber es machte keinen Unterschied, keines der anderen Kinder suchte ihre Nähe. Man nahm einfach keine Notiz von ihr. Magenta war erleichtert. Sie ließ ihr Kleid am Ufer und tapste ins Wasser.
Nachdem sie eine Weile alleine herumgeplanscht hatte, sich im Wasser die Trockenheit abgespült und sich etwas abgekühlt hatte, tauchte plötzlich ihr Bruder neben ihr auf. Ihm war es tatsächlich gelungen, sich unter Wasser an sie heranzupirschen, wohl weil er so dünn war. Magenta schaute sich um, nein, sie stand auch an einer Stelle, an der das Wasser tiefer war. Es reichte ihr fast bis an die Brust. Und lag spiegelglatt um sie herum. Bis auf die Stelle, an der Ziegenbart - der überhaupt noch keinen Bart hatte - jetzt prustend und lachend neben ihr auf-und-ab hüpfte.
„Na, Nicht-Hexlein!“ kicherte er, „wir haben drüben etwas entdeckt. Komm mit, dann können wir gleich sehen, ob Nicht-Hexen schwimmen können!“ Magenta konnte zwar seinen Worten überhaupt nichts Komisches abgewinnen, aber auf keinen Fall wollte sie sich die Entdeckungen der anderen Kinder entgehen lassen und tauchte sofort hinter ihm her. Magenta konnte sehr gut schwimmen, natürlich wußte ihr Bruder das. Und fast noch besser tauchen. Sie konnte sogar unter Wasser die Augen aufmachen und sich umschauen, nur Atmen konnte sie nicht unter Wasser, aber wahrscheinlich fiel in dieser trüben Brühe sogar den Fischen das Atmen schwer. Das Wasser war so dick geworden, daß alles dunkelgrün aussah und Magenta nur noch die Umrisse der Gegenstände in ihrer unmittelbaren Nähe erkennen konnte.
Aber sie brauchten nicht weit zu schwimmen. An der Seite des Sees, an dem er kein flaches Ufer besaß sondern blanker Fels steil, fast senkrecht, und schroff aus dem See aufstieg, und die man normalerweise nur schwimmend erreichen konnte ohne auch nur Boden unter den Füßen zu finden da der See hier am tiefsten war, standen Kinder - in ihrer Mitte Thomas - im Wasser, das ihnen nur noch bis an die Knie reichte. Sie spähten in ein Loch im Felsen, das sonst unter der Wasseroberfläche gelegen haben mußte. Niemand von ihnen hatte es schon einmal gesehen. Das Loch war so groß, daß Thomas problemlos aufrecht darin stehen konnte – was er gerade bewies indem er hineinkletterte – und hatte die Form und das Aussehen eines aufgerissenen Fischmauls. Magenta fand es gruselig. Nach und nach stiegen alle Kinder in das steinerne Fischmaul, das sich tatsächlich als Einstieg zu einer großen Grotte erwies. Im Inneren des Berges ging es erst einmal wieder ein Stück bergab und ein weiterer See lag vor ihnen. Nein, dachte Magenta, es mußte ein Stück vom Sarfan-See sein, der hier im Berg einfach weiterging. Klar, denn normalerweise lag der Höhleneingang ja unter Wasser. Jetzt aber konnten sie um diesen inneren See herumgehen, ein sanft abfallendes Ufer aus Sand und Geröll umgab ihn, fast wie ein von Menschen geschaffener gemütlicher Spazierweg. Hier und dort ragten aus dem Wasser Felsbrocken unterschiedlicher Größe, streckten sich steil der Höhlendecke entgegen, die ein ganzes Stück über ihren Köpfen eine fast runde Kuppel bildete, deren genaue Form sich aber im Halbdunkel verlor. Das durch den Eingang fallende Licht hätte nur ausgereicht die Umgebung ein paar Schritte weit zu erkennen, aber die Wände der Höhle waren mit unterschiedlich großen Ausbuchtungen, Beulen und Dellen übersät, die den hellbraunen Stein fast wie gedengelte Bronze aussehen ließen und auch das Licht so reflektierten. Die ganze Grotte schimmerte geradezu. Auch von der Wasserfläche ging ein mattes Leuchten aus. Draußen, im Sonnenschein, war es sehr viel heißer gewesen. Hier drin war die Luft kühl und feucht. Fast bedrückend. Die Kinder wurden still als sie Thomas am Ufer entlang folgten. Nur noch ihre Schritte waren zu hören und ab und zu rollte ein Stein ins Wasser. Magenta ging das Wort ‚verwunschen’ durch den Sinn. Ja, diese Höhle hatte etwas Verwunschenes, Geheimnisvolles an sich.
,Geheimnisvoll ist ja auch kein Wunder’, dachte Magenta, es hatte bis heute niemand von der Existenz der Höhle gewußt, oder auch nur vermutet, daß sich im Inneren des Berges etwas anderes befinden könne als Stein.
Die Kinder hatten jetzt die gegenüberliegende Höhlenwand erreicht, und obwohl es vom Eingang aus gewirkt hatte, als sei der Hintergrund der Höhle im Dunklen verborgen, war es, wenn man hier stand, nicht dunkel. Die Höhlenwände schimmerten auch hier in diesem milden, goldfarbenen Licht, von dem Magenta sich nicht erklären konnte, woher es kam. An dieser Seite des Sees mündeten drei Tunnel in die Höhle. Keiner von ihnen hatte die Form und das Aussehen eines Fischmauls, wie der vordere Eingang zur Höhle. Ein Eingang war klein und machte nach einem Meter sofort einen scharfen Knick, der zweite war sehr weit und offen, lief nach kurzer Zeit jedoch spitz zusammen wie ein Trichter und führte bergauf. Der dritte befand sich ein ganzes Stück von den anderen entfernt und schien einfach nur ein schlichtes Loch in der Wand zu sein. Auch hatte die Höhle noch mehrere andere große und kleinere Ausbuchtungen, von denen die Kinder von dort aus, wo sie jetzt standen, noch nicht erkennen konnten, ob sie sich als Gänge entpuppen würden und noch irgendwo anders hinführten oder einfach nur Beulen in der Höhlenwand waren.
Nach einer Weile, in der alle nur geschaut und sich gewundert hatten, ergriff Thomas das Wort: „Na, da haben wir ja mal eine Entdeckung gemacht!“ rief er und stemmte die Hände in die Hüften.
„Acht, -acht, -acht ...“ echote es. Die Kinder zuckten zusammen. Echos gab es sonst nur ganz oben in den Bergen, dort wo im Winter Straßen und Wege unpassierbar waren, weil der Schnee metertief lag und man, wenn man Pech hatte und dort oben wohnte, monatelang vom Tal und allen anderen Menschen abgeschnitten war und wo es tiefe Schluchten gab, in denen sich der Wind verfing und heulte und alle Geräusche von einer Felswand zur anderen geworfen wurden.
Nach der vorangegangenen Stille besaß Thomas sofort die ungeteilte Aufmerksamkeit. „Wer weiß, womöglich finden wir hier noch einen Drachen, der seinen Schatz bewacht!“ Er grinste wild.
„Es gibt keine Drachen mehr. Die sind ausgestorben.“ entgegnete Halunke trocken, „Schatz alleine wär’ nicht schlecht.“ (Natürlich ist ‚Halunke’ ein blöder Name für einen Jungen, aber es konnte sich im ganzen Tal niemand daran erinnern, daß ihn irgend jemand, nicht einmal seine Eltern jemals anders als ‚du kleiner Halunke’ gerufen hätte.)
„Ha!“ Thomas hatte seine Freude daran, in dieser Höhle laut zu sein, zu rufen, Echos zu erzeugen und zu sehen, wie die Kinder, wenigstens die kleineren, jedesmal zusammenschraken.
„Von der Höhle wußten wir ja auch nichts! Vielleicht war die auch ausgestorben!“ Er war der einzige, der lachte, bis wenigstens seine Adlaten ein höfliches Kichern beitrugen. Die meisten Kinder fühlten sich gar nicht so wohl in ihrer Haut. Der viele Stein über ihren Köpfen war ihnen nicht geheuer. Und Thomas legte noch nach: „Seeschlangen sind nicht ausgestorben!“ behauptete er sehr überzeugt. Seeschlangen! Magenta spürte, daß sie zornig wurde. Drachen wären ja noch gegangen, die waren wenigstens in der Luft, also draußen, während Seeschlangen sich hier in diesem unterirdischen See wahrscheinlich sogar recht wohl gefühlt hätten. Ein paar der Kinder sahen so aus, als würden sie plötzlich frieren. Ludmilda, die tatsächlich Thomas ältere Schwester war, aber so gar nichts von seiner angeberischen Art an sich hatte, bemerkte es auch.
„Also mir ist hier zu kalt.“ sagte sie, „ich geh wieder raus, in die Sonne. Wer kommt mit?“ Erleichtert schlossen sich ihr einige Kinder an. Zwei oder drei Kleinere wurden einfach mitgenommen. Kälte ist immer ein guter Grund, von irgendwo zu verschwinden.