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Nach einem Familienstreit gerät der 13jährige Tom in die magische Anderwelt. Er entkommt dort nur knapp mit Hilfe des Kobolds Magnus, der ihn zu seiner Familie zurückbringen soll. Das ist schwieriger als gedacht, da Tom einen Zeitsprung ausgelöst hat. Seine Welt ist 14 Jahre gealtert, er hingegen nur 14 Stunden. Während Tom versucht, das Unfaßbare zu akzeptieren, wird ihm bewußt, daß auch für die Wesen der Anderwelt sein Eindringen gravierende Konsequenzen hat. Eine Gruppe Zwerge trachtet ihm sogar nach dem Leben. Doch die eigentlichen Schwierigkeiten beginnen erst, als Tom seine Familie wiederfindet. Sein unerklärliches Verschwinden hat diese tief gezeichnet. Wird es Tom mit Hilfe des Kobolds gelingen, der Rache der Zwerge zu entkommen und einen neuen Platz in seiner Familie zu finden?
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Seitenzahl: 282
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Für die Ubayette, mit deren Gemurmel die Idee entstand, den Col de Flassin, an dessen Schulter sie Form annahm und den Lac d'Apollinaire, wo der größte Teil geschrieben wurde.
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Kapitel XIII
Kapitel XIV
Kapitel XV
Kapitel XVI
Kapitel XVII
Kapitel XVIII
Kapitel XIX
Kapitel XX
Kapitel XXI
Kapitel XXII
Kapitel XXIII
Kapitel XXIV
Kapitel XXV
Kapitel XXVI
Kapitel XXVII
Kapitel XXVIII
Kapitel IXXX
Kapitel XXX
Kapitel XXXI
Kapitel XXXII
Kapitel XXXIII
Kapitel XXXIV
Kapitel XXXV
Kapitel XXXVI
Kapitel XXXVII
Kapitel XXXVIII
Kapitel XXXIX
Kapitel XL
Das Haus stand auf einem kleinen Hügel und es war unbewohnt. Es hatte drei Stockwerke und jedes Stockwerk schien in einem anderen Jahrhundert erbaut worden zu sein. Tatsächlich hatte das Haus mehrfach gebrannt – mal mehr, mal weniger. Und ein Erdbeben hatte es teilweise zum Einsturz gebracht. Oder etwas Ähnliches, denn Erdbeben sind im Norden Englands eher selten. Deshalb mußten die verschiedenen Eigentümer es wieder und wieder aufbauen lassen, so daß es jetzt aussah, als wenn es aus Teilen und Stilen ganz unterschiedlicher Häuser zusammengefügt wäre.
Die Larson Familie hatte sich vor ihrer klapprigen Familienkutsche aufgereiht und sah den Hügel hinauf. Ed, der Vater, hatte einen Blick von erschöpfter Befriedigung, wie am Ende einer langen Reise. Nora, die Mutter, hatte einen Blick voll Unsicherheit. Tatsächlich sah sie nicht wirklich das Haus an, sondern warf verstohlene Blicke auf die anderen Familienmitglieder, insbesondere die beiden Kinder. Diese waren Tom, 13 Jahre alt, und Fred, 11 Jahre alt. Toms Blick zeigte unverhohlene Ablehnung gegenüber dem Gebäude, in dem er von nun an leben sollte. Fred hingegen blickte mit erwartungsvoller Neugier.
Die treibende Kraft hinter dem radikalen Umzug von einer Stadtwohnung in dieses einsame Anwesen war Ed gewesen. Er benötigte erheblich mehr Ruhe und Frieden für seine Berufstätigkeit. Jedenfalls war das seine Begründung. Ed arbeitete als selbständiger Übersetzer für besonders komplexe Bedienungsanleitungen. Dabei hatte er sich recht individuelle Arbeitszeiten angewöhnt. Manchmal arbeitete er tagsüber, aber häufig auch bis tief in die Nacht. Dies hatte in der Vergangenheit regelmäßig zu Konflikten mit den Nachbarn und sogar mit der eigenen Familie geführt. Denn entweder konnte Ed nicht in Ruhe arbeiten oder nicht in Ruhe schlafen. Außerdem brauchte Ed Ruhe zum Nachdenken oder um einfach einmal Ruhe zu haben und das war es, was alle vier an den Fuß des Hügels gebracht hatte, auf dem das Haus stand.
Es dauerte eine Weile, bis Ed die richtige Position für den großen, alten Schlüssel in dem großen, alten Schloß gefunden hatte. Dann öffnete er die Eingangstür und sie betraten einen herrschaftlichen Empfangsraum. Eine imposante Freitreppe führte in die oberen Stockwerke. Ed übernahm die Führung durch die zahlreichen Wohnräume in den oberen Stockwerken. Toms Widerwille wurde dennoch nicht besänftigt. Er hatte sich in der Vergangenheit durchaus nach etwas mehr Privatsphäre gesehnt. Jetzt konnte er zwischen drei verschiedenen Räumen für sich alleine wählen und doch wünschte er sich von ganzem Herzen in das alte Zimmer zurück, daß er so lange mit Fred hatte teilen müssen. Die letzten Besitzer des Gebäudes hatten einen Teil ihrer Möbel zurückgelassen. Das kam der Larson Familie gelegen, denn das eigene Umzugsunternehmen brauchte noch zwei Tage.
Sogar Teller, Töpfe und andere Küchenutensilien waren noch vorhanden. Es war ein großes Durcheinander und man konnte den Eindruck gewinnen, daß das Haus recht hastig verlassen worden war.
Fred, der sich in der Regel hinter seinem großen Bruder einreihte, wählte sein neues Zimmer als Erster aus. Tom seufzte und entschloß sich für das daneben liegende. Im Augenblick wollte er seinem Bruder nahe sein, trotz ihrer regelmäßigen kleinen Kämpfe.
Vor dem Abendessen ging Tom nach draußen. Er wollte sich nicht im Haus aufhalten und beschloß, im stillen Protest die Umgebung zu erkunden. Der kleine Hügel war dicht mit Bäumen, Büschen und Dornengestrüpp bewachsen. Der Immobilienmakler hatte das Haus mit den Worten angepriesen: "Eingebettet in einen Garten von der Größe eines Parks!" Nun, die Größe eines Parks war nicht übertrieben, allein der Garten fehlte. "Wir leben jetzt in der Wildnis, in der Mitte von Nirgendwo", dachte Tom. Das allerdings war übertrieben, denn das nächste Dorf war kaum 20 Minuten Fußweg entfernt. "Ihr müßt nur mit euren Fahrrädern ins Dorf hinunter fahren, dort den Schulbus nehmen und alles in allem werdet ihr nur wenige Minuten länger benötigen als bisher." Das hatte ihr Vater auf seine Einwände entgegnet.
"Nur wenige Minuten! Nur ein paar klitzekleine Minuten", zischte Tom und hieb mit einem Stock gegen Baumstämme und Farnwedel. "Und wenn es regnet?" "Das sind nur ein paar Minuten mehr." Er imitierte die tiefe Stimme seines Vaters.
Tschack! Ein Farn hing in Fetzen. "Und wenn es schneit?"
"Das sind nur ein paar Minuten", preßte Tom hervor. Tränen füllten seine Augen, die er mit einer hastigen Bewegung abwischte. Er stürmte jetzt durch das Unterholz. Tschack! Ein Zweig brach ab. "Es kümmert ihn überhaupt nicht, was ich darüber denke!" Tom schrie den Baum an, den er mit seinem Stock traktierte.
Wieder äffte er seinen Vater nach: "Eine Entscheidung für die Familie, ist wichtiger, als eine Familienentscheidung." So hatte Ed ihren letzten Streit wegen des Umzugs beendet.
"Das ich nicht lache!" Doch Tom lachte nicht. Er war auf die Knie gesunken und Tränen der Ohnmacht flossen ihm über das Gesicht. Nach einer Weile legte sich seine Wut und zurück blieb nur eine dumpfe Leere. Tom begann wieder, auf seine Umgebung einzuschlagen. Das fühlte sich irgendwie gut an und half gegen das Gefühl der Hilflosigkeit. Plötzlich traf sein Stock etwas Hartes und zerbrach mit einem hohlen Geräusch. "Mist", murmelte Tom und untersuchte die Stelle näher.
Irgend etwas war im Boden eingelassen. Es war nichts zu erkennen, so überwachsen war die Stelle. Tom rupfte Ranken und Farne aus und legte nach und nach eine alte Falltür frei. Diese war mit einem rostigen Vorhängeschloß gesichert und in der Mitte prangte ein verblichenes Schild, auf dem stand: "Zutritt verboten!" Tom rüttelte vergeblich an dem Schloß. Dann hörte er seine Mutter rufen und er machte sich zögernd auf den Rückweg durch das Dickicht. Aber er warf der Falltür einen letzten Blick zu und murmelte: "Glaub' mal nicht, daß ich so schnell aufgebe!"
Das Abendessen war ein Desaster. Nach anfänglicher Stille kam der Streit und mit dem Streit kam der Ärger und Tom wurde auf sein neues Zimmer geschickt. Er schloß die Tür ab, warf sich zornig auf das Bett und griff sich seinen alten Game boy, den er auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Kurz danach klopfte es an der Tür und die Stimme seiner Mutter versuchte ihn zu erreichen, aber er reagierte nicht und nach einer Weile hörte er, wie sich Schritte entfernten. Tom begann leise zu weinen, doch trotzig blieb er in seinem Zimmer bis er irgendwann eingeschlafen war.
Der nächste Tag war ein Mittwoch und auf den darauf folgenden Donnerstag, den 12. August 2010, hatten sich Fred und Tom schon eine Ewigkeit gefreut. Soweit sich beide zurückerinnern konnten, hatte ihr Vater sie immer in der Nacht vom 12. auf den 13. August mitgenommen, um den Sternschnuppenregen der Perseiden zu beobachten. Das war den beiden wichtiger als Geburtstage und Weihnachten zusammen. Nur einmal war die Aktion wegen schlechten Wetters ausgefallen. Ed liebte die stille Einsamkeit irgendwo außerhalb der großen Stadt, wo fast kein Streulicht die Dunkelheit störte. Und seine Söhne liebten es, von ihrem Vater zu dem kosmischen Abenteuer mitgenommen zu werden. Wachbleiben bis nach Mitternacht. Nur sie drei. Die Brüder hatten sich ihrem Vater nie näher gefühlt.
Auch in diesem Jahr wollten sie gemeinsam den Höhepunkt des nächtlichen Feuerwerks erleben. Der Wetterbericht war positiv und prophezeite einen fast wolkenlosen Himmel. Zudem versprach ein später Aufgang des Mondes eine perfekte, dunkle Nacht. Aber die Vorbereitungen waren gestoppt worden, als sich der Immobilienmakler gemeldet hatte, mit der "Gelegenheit, die sich nur einmal im Leben bietet. Ein Landsitz für den Preis einer Wohnung." Damit hatte er das Haus auf dem Hügel gemeint. Ed hatte noch mißtrauisch nachgefragt, weshalb das Haus denn so überaus günstig sei. Das mußte doch einen Haken haben. Aber der Makler hatte nur mit den Schultern gezuckt. "Es ist natürlich keine teure Gegend, aber vor allem haben es die Verkäufer außerordentlich eilig. Solche Gelegenheiten sind selten. Wenn Sie nicht zugreifen, wird es jemand anders tun." Daraufhin hatte Ed den Kaufvertrag sofort unterschrieben. Die Jungs waren in einer neuen Schule angemeldet worden, was während der Sommerferien vergleichsweise einfach war, und das ganze Familienleben war in kürzester Zeit umgekrempelt worden. Fred und Tom hatten noch nicht einmal vor dem Einzug das Haus besichtigen können. So schnell war alles gegangen. Sie waren von einem Tag auf den anderen aus ihrem gewohnten Umfeld entwurzelt worden und während Fred dies hinnahm, nahm Tom nichts davon hin.
Ed hatte verkündet, daß die alljährliche Nacht der Perseiden sogar noch besser als bisher werden würde. Zum ersten Mal könnten sie auf ihrer eigenen Terrasse sitzen und es wäre nicht mehr nötig, eine mühsame Reise in die Dunkelheit zu unternehmen. Keine Stadtlichter, keine Lichtverschmutzung, wie er es nannte, würden sie hier in ihrem neuen Heim stören. Auch nicht das kleine Dorf mit seinen drei oder vier Straßenlaternen, erklärte Ed enthusiastisch. Aber für die Jungs war die nächtliche Reise ein wichtiger Teil des Ereignisses gewesen. Genauso wie die methodische Vorbereitung, in die sie jedes Jahr einbezogen worden waren. Es ging um die Vorfreude und um das gemeinsame Erleben mit ihrem Vater. Tatsächlich waren sie bislang immer inmitten des Sternschnuppenspektakels vor Erschöpfung eingeschlafen, aber sie liebten diese Nacht. Für die beiden Brüder ging es gar nicht in erster Linie um die Sternschnuppen. Diese waren beeindruckend und faszinierend, aber die Nacht mit ihrem Vater teilen zu können, war für sie das eigentliche Erlebnis.
Die Terrasse des alten Hauses auf dem kleinen Hügel war tatsächlich ein perfekter Ort, um die Perseiden bei ihrem Eintritt in die Atmosphäre zu beobachten, aber es fühlte sich einfach nicht richtig an. Darüber waren sich die Brüder im Stillen einig.
Allerdings war es noch nicht Donnerstag. Es war erst Mittwoch und am Mittwochabend ging Ed ins Pub. Er ging sonst selten aus. Die Angewohnheit stammte noch aus der Zeit, als er für einen Großkonzern gearbeitet hatte. Die Kollegen seiner Abteilung waren immer Mittwochs nach der Arbeit gemeinsam losgezogen. Sie nannten das: "Die Halbzeit der Woche begießen." Vor einigen Jahren hatte der Konzern alle technischen Übersetzer entlassen. Sie sollten sich als unabhängige Freiberufler selbständig machen. Besonders viel Unabhängigkeit bekamen sie dadurch nicht, denn ihr alter Arbeitgeber versorgte sie weiter mit Aufträgen. Das wurde Neuorganisation genannt. Jedenfalls hatten die nun selbständigen, ehemaligen Kollegen sich zuerst weiter getroffen. Solange bis die Tradition eingeschlafen war. Ed ging immer noch jeden Mittwoch ins Pub, auch wenn er dort nur noch selten alte Kollegen traf. Das Haus hatte Ed in eine gehobene Stimmung versetzt und so entschloß er sich, seine ganze Familie zu seinem ersten Gang in das Dorf-Pub mitzunehmen. Eine Entscheidung, die er später zutiefst bereute.
Der Tag war für alle Familienmitglieder anstrengend und intensiv gewesen. Sie hatten immerhin ein neues Haus zu erobern. Auch Tom hatte sich für den Moment in sein Schicksal ergeben und gemeinsam mit seinem Bruder jeden staubigen Winkel des Dachbodens und jede dunkle Ecke des Kellers untersucht. Sie hatten ein echtes Schwert gefunden, welches ihnen sofort und trotz ihres Protests wieder abgenommen worden war. Dann waren sie auf drei alte Gewehre gestoßen, wenn auch ohne Munition und diese zeigten sie ihren Eltern folgerichtig nicht. Es war ein unfaßbarer Schatz und die Grundlage für ein großartiges Spiel im Freien. Sobald ein Spieler den anderen zuerst aus der Deckung kommen sah, schrie er "Peng!". Dann mußte der Getroffene für wenigstens 10 Sekunden tot am Boden liegenbleiben, bevor er wieder in das Spiel einsteigen durfte.
Das ging so den ganzen Nachmittag, bis Nora die beiden in einem unvorsichtigen Augenblick durch ein Fenster beobachtete und ihnen auch die beiden Gewehre abgenommen wurden. Sie hatten eine kurze aber ernste Diskussion mit ihrer Mutter darüber, die sie naturgemäß verloren. Danach versteckten sie das dritte Gewehr mit größter Umsicht vor den Erwachsenen.
Nach diesem ereignisreichen Tag freute sich die ganze Familie auf den Ausklang im Pub. Die Jungs schmachteten einem großen Teller Pommes Frites entgegen und die Erwachsenen freuten sich auf ihre erwachsenen Speisen und Getränke. Sie erreichten das Dorf nach einem Fußmarsch von exakt 20 Minuten. Ed hatte die Zeit gestoppt. Die kurze Hauptstraße mit dem kleinen Gemischtwarenladen und dem Pub mit seiner geschwärzten Holzverkleidung sah einladend aus. Der Pub hieß "The Goblin's Share". Das bedeutete "Der Anteil der Kobolde". Er bestand aus nur einem großen Raum, der aber durch geschickt plaziertes Mobiliar in einen Speise- und einen Trinker-Bereich unterteilt war. Es war ein friedlicher und schöner Abend, bis der Barkeeper Ed gutmütig fragte, wo sie herkämen. Eds Antwort ließ alle in Hörweite am Tresen verstummen.
"Wollen Sie damit sagen, daß Sie das alte Anwesen auf dem Hügel gekauft haben?", vergewisserte sich der Barkeeper ungläubig.
"Genau das!", antwortete Ed. "Unser erster Tag als neue Nachbarn."
"Das wird nicht lange so bleiben", kam prompt die Antwort von hinter dem Tresen.
"Verzeihung. Ich glaube, ich habe Sie nicht richtig verstanden?"
"Ach nichts. Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten. Es ist nur so, daß seit ich diesen Pub führe, niemand lange dort oben geblieben ist. Nichts für ungut."
"Und warum meinen Sie, ist dem so, wenn es überhaupt der Wahrheit entspricht?", Ed fühlte sich ganz offensichtlich zu nahe getreten.
"Es tut mir leid, mein Herr. Ich möchte Ihnen nicht den Abend verderben." Der Barkeeper entwich den Tresen entlang zu den anderen Gästen, die Ed und seine Familie neugierig anstarrten.
"Nun, Sie verderben mir gerade den Abend!" Eds Stimme war deutlich lauter geworden. "Sie erklären mir jetzt ihre Andeutung, wenn ich bitten darf."
Einer der anderen Gäste mischte sich ein: "Es spukt dort in dem Haus. Das ist alles, was dazu zu sagen ist."
"Wie bitte?", fragte Ed ungläubig, als wenn er sich verhört hätte. "Es spukt? Sie meinen, eh wir uns versehen, hüpft Dracula aus seinem Sarg?"
"Abwarten! Sie werden schon sehen", sagte der Gast, beendete sein Glas mit einem Schluck, nahm seinen Hut, nickte in Richtung des Barkeepers und ging.
Ed wandte sich diesem erneut zu. Jetzt war er aufgebracht. "Soll das so eine Art Aufnahmeritus in die Dorfgemeinschaft sein, oder ist das ihr ländlicher Humor?"
"Kein Grund, beleidigend zu werden, mein Herr", auch der Barkeeper zeigte nun seinen Ärger. "Ich bitte Sie, ihr Glas auszutrinken. Denn das ist das letzte, was Sie heute abend hier bekommen werden."
Ed war sprachlos. Der ganze Raum schien sich auf ihn niederzusenken. Er war in seinem ganzen Leben noch nicht aus einem Pub geworfen worden. Ohne ein weiteres Wort bezahlte er und sagte "Wir gehen!" zu seiner Familie. Fred fragte, ob er seine Pommes Frites noch aufessen dürfe, aber ein Blick seines Vaters ließ ihn verstummen. Sie verließen den Pub schweigend. Draußen auf der Straße fragte Nora, worum es eigentlich gegangen sei, aber Ed knurrte nur unzusammenhängend von abergläubischen Landeiern und mittelalterlichen Zuständen und das war das Ende ihres glorreichen zweiten Abends auf dem Lande.
Am nächsten Tag, dem Tag der Perseiden, hing das Erlebnis im Pub wie ein giftiger Nebel über der Familie. Beim Frühstück war die Stimmung so angespannt, daß die beiden Brüder so schnell wie möglich den Erwachsenen aus dem Weg gehen wollten. Jedoch entzündete sich zwischen ihnen bald ein heftiger Streit, wer zuerst mit dem einen verbliebenen Gewehr spielen durfte und dabei wurden sie von Ed ertappt. Diesmal gab es nicht nur eine Standpauke, sondern beide erhielten eine gepfefferte Ohrfeige, was für ihren Vater ungewöhnlich war, und bekamen für den Rest des Tages Stubenarrest. Fred tat wie ihm geheißen, aber Tom dachte nicht daran.
Nur kurz nachdem er sich mit knallender Tür in sein Zimmer verzogen hatte, stieg er aus dem Fenster. Er hatte sein Multi Tool, eine Taschenlampe und seinen Game boy eingepackt. Außerdem eine kleine Flasche Wasser, die noch von der Nacht neben seinem Bett gestanden hatte. Er war entschlossen, seinem Vater einen Denkzettel zu verpassen. Er hatte keinen richtigen Plan. Irgendwann im Verlauf des Tages würde er wieder zurückkommen. Aber er wollte, daß seine Eltern sich Sorgen um ihn machten. Und sein Vater sollte ordentlich Schuldgefühle bekommen. Wegen der Ohrfeige und überhaupt. Außerdem war er so aufgebracht, daß er es unmöglich in seinem Zimmer aushalten konnte. Dort würde er vor Wut platzen. An der Hauswand war ein hölzernes Gestell befestigt, welches über und über mit Efeuranken bewachsen war. An diesem kletterte er hinab, und verschwand im Unterholz.
Er ging nicht auf direktem Weg zu der Falltür. Eine merkwürdige Unentschlossenheit hielt ihn davon ab. Dann siegten Neugier und Abenteuerlust. Das Vorhängeschloß hielt eine Weile stand. Letztlich war es aber seinem Multi Tool mit der feinen Metallsäge und einer Portion roher Gewalt nicht gewachsen. Die Falltür selbst war ziemlich schwer und durch Erdreich und Wurzelwerk verklemmt. Zu Beginn konnte er sie nur einige Zentimeter öffnen. Aber nachdem er alle Wurzeln gekappt und den Rand freigelegt hatte, stemmte er sie unter Einsatz all seiner Kräfte auf. Darunter befand sich ein dunkles Loch mit einer verrosteten Leiter. Seine Taschenlampe war nicht besonders hell. Er konnte nicht ausmachen, wohin die Leiter führte. Noch einmal zögerte er. Dann gab er sich einen Ruck und stieg in die unbekannte Dunkelheit hinab.
Am Ende der Leiter stand er in einem hohen, großen, unterirdischen Raum. Tom und seine Taschenlampe begannen, die Geheimnisse dieses Ortes zu lüften. Er entdeckte eine Einfassung aus dicken Holzbohlen mit einer kleinen Tür in der Mitte. Ansonsten war der Raum völlig leer. Das Holz war modrig und feucht. Wassertropfen liefen ununterbrochen daran hinab. Die kleine Tür war erneut mit einem Vorhängeschloß gesichert. Ein Schloß, welches wie der Urvater aller Vorhängeschlösser aussah: Unhandlich, groß, schwer und fürchterlich alt. Als Tom sich allerdings mit seinem Werkzeug daranmachte, zerfiel das verrostete Metall regelrecht unter seinen Fingern. Tom lockerte den Riegel, schob ihn zur Seite und öffnete die Tür. Erst jetzt fiel ihm ein weiteres Schild auf. Es war derart mit Rost bedeckt, daß es kaum zu entziffern war. Darauf stand in altmodischen Buchstaben: "Gefahr! Tod! Wegbleiben!"
Tom hielt inne. Er dachte über die Warnungen nach und beinahe wäre er umgekehrt. Dann holte ihn die Erinnerung an seine ganze Misere ein und seine Dickköpfigkeit siegte. Hinter der Tür begann ein niedriger und grob gehauener Tunnel. Tom konnte nur stellenweise aufrecht gehen. Es ging spürbar nach unten, dann nach rechts, links, rechts und wieder war der Weg versperrt. Diesmal von einem mannsgroßen Felsbrocken. "Hier brauche ich wohl nicht nach einem Vorhängeschloß suchen", seufzte Tom enttäuscht.
In der Mitte des Felsbrockens entdeckte er Zeichen im Stein, die mit roter Farbe ausgemalt waren. Er entfernte Staub und Dreck und legte die Umrisse einer Hand frei. Einer kleinen Hand. So klein, wie die eines Kindes, aber mit viel zu langen Fingern und davon nur vier. Der Daumen war besonders lang und die übrigen drei Finger endeten in langen, krallenähnlichen Fingernägeln. Unter der Hand war ein Pfeil in den Fels gemeißelt, der nach oben oder vorne zeigte und durchgestrichen war. Dann waren da noch so etwas wie Runen, deren Bedeutung Tom nicht kannte.
Er war verwirrt. Das schien nicht das Werk von Erwachsenen zu sein. War das Teil eines Spiels? Ein Spiel, welches Kinder hier unten vor langer Zeit gespielt hatten? War das am Ende das Geheimnis hinter dem Spukhaus? Toms Neugier war nun übermächtig und er hatte auch ein wenig Angst, was zu seiner Neugier noch beitrug, wie es eine gewisse Anspannung manchmal tut. Allerdings führte kein Weg durch diesen Felsen. Soviel war klar. Er drückte ein bißchen auf der linken Seite und dann auf der rechten, aber natürlich ohne Erfolg. Als er schon aufgeben wollte, rutschte seine Hand ab und ertastete einen Spalt zwischen Fels und Wand, den er zuvor nicht wahrgenommen hatte. Tatsächlich war der Spalt praktisch unsichtbar, selbst wenn er mit seiner Lampe direkt auf die Stelle leuchtete. Nur seine Hand konnte ihn fühlen. Tom wunderte sich. Das war seltsam. Dann quetschte er sich wild entschlossen in den Spalt und drückte sich hindurch. Seine Jacke bekam einen langen Riß und es fehlte ein Stück, aber sonst war alles an seinem Platz.
Tom hatte seine Taschenlampe vorher weggesteckt, weshalb er den Schimmer in der Dunkelheit sofort wahrnahm. Dort vorne mußte ein Licht sein! Hinter dem Felsbrocken begann ein neuer Tunnel. Nach rechts führte dieser in die Dunkelheit, aber in der anderen Richtung konnte Tom die Umrisse des Tunnels schemenhaft erkennen. Er ging vorsichtig weiter und nach einer Windung entdeckte er die Lichtquelle. Kristalle! Kristalle und Edelsteine! Feinsäuberlich in die Tunnelwand eingelassen. Und sie leuchteten! Tom war bewußt, daß er eine bedeutende Entdeckung gemacht hatte. Edelsteine und Kristalle leuchten für gewöhnlich nicht. Seine Augen hatten sich in der Zwischenzeit an das Halbdunkel gewöhnt und so fiel es ihm nun leicht, im Schein der Steine dem Tunnel weiter zu folgen. Bald wurde ihm klar, daß die Steine immer an Biegungen oder Kreuzungen angebracht waren. Gerade genug, um von einem Lichtschimmer zum nächsten zu gelangen. An einer Kreuzung leuchtete ein roter Edelstein so hell, daß er nicht widerstehen konnte und ihn aus seiner Fassung herausbrach. Der würde bestimmt später nützlich sein.
Er folgte noch eine Weile dem Gang von Licht zu Licht, bis ihm auffiel, daß er dringend seinen Weg markieren mußte. Andernfalls würde er sich hoffnungslos verirren. Er überlegte kurz und brach dann einen Stein aus der Wand, um ihn wie einen Richtungspfeil auf den Boden zu legen. Er ging weiter und bei jeder Kreuzung markierte er erneut seinen Weg. Er legte die Steine immer mit der Spitze in der Richtung, in die er weiterging.
So erforschte er das Labyrinth von Gängen mit unermüdlichem Eifer. Ob das ein ehemaliges Bergwerk war? Gut möglich. Aber das erklärte nicht die geheimnisvollen Steine. Irgendwann war seine Wasserflasche fast leergetrunken und der Gang, dem er folgte, nahm einfach kein Ende. Er überlegte, ob es nicht besser sei, jetzt abzubrechen und mit der richtigen Vorbereitung an einem anderen Tag wieder zu kommen. Er drehte um und folgte seinen Markierungen bis zu der Kreuzung, an der er den ersten Stein auf den Boden gelegt hatte. Von dort ging er den Weg zurück, wie er ihn vor einigen Stunden gekommen war. Doch er konnte den Eingang bei dem Felsbrocken nicht wieder finden. Ihm wurde mulmig. Er ging zurück zu der Kreuzung mit dem ersten Stein. Er war sich sicher, daß er den richtigen Weg genommen hatte. Aber mußte sich wohl täuschen. Also probierte er einen anderen Gang. Aber auch dieser führte nicht zu dem Spalt, durch den er das Labyrinth betreten hatte. Jetzt war nur noch ein Gang übrig, den er noch nicht überprüft hatte. Mit klopfendem Herzen folgte Tom diesem Gang, der ihm völlig unbekannt vorkam. Und tatsächlich. Auch diesmal fand er den Spalt mit dem rettenden Ausgang nicht. Panik stieg in ihm auf.
Aber Tom war nicht leicht zu verunsichern. Er atmete tief durch, trank seinen letzten Schluck Wasser und begann noch einmal von vorn. Er mußte den Spalt übersehen haben. Noch zweimal überprüfte er alle Gänge, die von der Kreuzung abzweigten. Aber es half nichts. Der Zugang hinter dem großen Felsbrocken war wie vom Felsboden verschluckt.
Am Ende war er völlig erschöpft und schleppte sich leise wimmernd nur noch langsam voran. Jetzt verspürte er große Angst. Er hatte keine Verpflegung, kein Wasser mehr, war inmitten eines Netzes von endlosen Tunneln gefangen. Niemand wußte, wohin er gegangen war. Und selbst wenn seine Eltern die offene Falltür finden würden: Er war sich sicher, daß niemand außer einem Kind in der Lage wäre, sich durch den schmalen Spalt bei dem Felsbrocken zu quetschen. Wahrscheinlicher war, daß die Erwachsenen den unsichtbaren Spalt gar nicht finden würden. Er mußte hier vermutlich sterben. Verhungern und vorher verdursten, das war ziemlich wahrscheinlich.
Als ihn der letzte Rest Durchhaltekraft und Lebenswille verlassen hatte, sank er dort, wo er gerade stand, an der Tunnelwand zu Boden. Er kramte durch seine Taschen in der Hoffnung auf irgendeinen wundersamen Zufall. Und tatsächlich fand er etwas in seiner Jacke, woran er in den vergangenen Stunden nicht mehr gedacht hatte: Seinen Gameboy. In einer unbeschreiblichen Mischung aus Todesangst und Erschöpfung schaltete er das Gerät ein und spielte sein Lieblingsspiel. Aber er bekam gar nicht richtig mit, was auf dem kleinen Bildschirm passierte.
Und in diesem Zustand fanden sie ihn.
Die drei Kobolde schlichen vorsichtig die Tunnelwand entlang. Sie kamen von einem Jagd-und-Sammel-Ausflug zurück und ihre schweren Säcke waren voll mit Waldfrüchten, Holzäpfeln, Pilzen und anderen Köstlichkeiten. Als sie auf eine zerstörte Lichtfassung und den sorgsam auf den Boden gelegten Stein trafen, gab es keinen Zweifel, daß etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Zudem wurde dieser Tunnel nicht selten von Zwergen benutzt. Sie hatten die Beleuchtung vor langem installiert, da sie im Dunkeln nicht so gut sehen konnten. Jeder wußte, wie sich Zwerge anstellten, wenn es um ihre Lichtsteine ging. Nicht anfassen, nicht mitnehmen und natürlich auch nicht kaputtmachen! Das würde richtig Ärger geben. Aber sie hatten außerdem diese böse Vorahnung, weshalb sie zur Pforte am kleinen Hügel abbogen.
Als sie diesen Zugang in die Himmelswelt erreichten, bestätigte sich, daß das Problem viel größer als nur Ärger mit den Zwergen war. Dies war eine Katastrophe! Und ein Wettlauf gegen die Zeit, denn mit jedem verstrichenen Augenblick würde diese Katastrophe noch furchtbarer werden. Wie eine Lawine, die zuerst aus einem Schneeball besteht und dann ein ganzes Tal unter sich begräbt. Sie mußten schnell handeln.
Die Pforte war schon eine ganze Weile nicht mehr in Nutzung. Sie hatte die Aufmerksamkeit der Menschen erregt. Deshalb war der Zugang in beiden Richtungen getarnt worden, damit kein Wesen mehr hinaus- oder hineinschlüpfen konnte. Nur die Kobolde aus dem nahegelegenen Dorf kannten die Stelle, an welcher der Spalt durch den Fels führte. Die Pforte wurde hauptsächlich aus Sturheit und für Notfälle noch offen gehalten. Das Haus auf dem kleinen Hügel war einfach zu nah. Deshalb war es in der Vergangenheit auch zu den Begegnungen gekommen. Irgendwelche unverbesserlichen Menschen hatten sogar eine Leiter in die obere Höhle gebaut. Die Kobolde hatten ihnen daraufhin besonders übel mitgespielt, aber ohne wirklichen Erfolg. Schon seitdem das Haus gebaut worden war, hatten sie immer wieder versucht, die Menschen von dort zu vertreiben. Immerhin war die Pforte schon lange vorher dagewesen. Es war Koboldgebiet! Es war ihr Hügel! Letztlich sahen sie sich aber gezwungen, einen Teil der Höhlen zum Einsturz zu bringen. Das hatte an dem Haus schwere Schäden verursacht, wie die Kobolde mit Genugtuung feststellten. Der vordere Teil des Zugangs war dann von den Menschen selbst verschlossen worden. Die Kobolde waren es zufrieden. Aber trotzdem machten sie den Hausbewohnern weiterhin das Leben schwer.
Nun, da die drei Kobolde vor der verborgenen Spalte im Fels standen, wurden ihre schlimmsten Befürchtungen wahr. Eindringlinge in der Anderwelt! Ein Mensch hatte sich offenbar durch den Spalt gequetscht, denn ein Tier konnte es nicht gewesen sein. Außer wenn Tiere jetzt Kleidung trugen. Kürzlich hatte ein Erkundungsteam die Geschichte von einem kleinen und seltsam verformten Wolf erzählt, der nicht nur eine Leine sondern auch eine Art Jacke getragen hatte. An der Leine war ein Mensch gehangen und der Wolf hatte ihn offenbar irgendwohin gezerrt. Seltsame Geschichte. Aber der Kleidungsfetzen, den sie am Fels fanden, war für einen Wolf mit Jacke zu weit oben abgerissen. Und das Material wies auf Mensch hin. Kein Wesen aus der Anderwelt trug derart zerbrechliche Kleidung.
Schon seit geraumer Zeit war es gelungen, die Menschen von der Anderwelt fern zu halten. Jedes Wesen, nicht nur die Kobolde, war bemüht, ein Eindringen und die dadurch hervorgerufenen Zeitsprünge zu verhindern. Vielleicht hatten es aber auch einfach weniger Menschen versucht.
Die Furcht und die Erinnerung, was alles passieren konnte, wenn es passierte, war bei allen Völkern der Anderwelt tief verankert. Dörfer waren in einem Wimpernschlag zerstört worden. Ganze Gebiete waren nach Zeitsprüngen verschwunden, als hätten sie nie existiert. Statt dessen breiteten sich nun überall menschliche Siedlungen und völlig veränderte Landschaften aus. Wo einst Höhlensysteme gewesen waren, gab es nun Steinbrüche oder Bergwerke. Untergrundzüge, Kanalisation und andere riesige Anlagen der Menschen, deren Namen und Zweck sie nicht kannten, zerschnitten das Land. Nach jedem Zeitsprung hatte die Anderwelt an Größe verloren und die menschliche Welt hinzugewonnen.
Den dreien war bewußt, was auf dem Spiel stand, als sie den Zugang zum kleinen Hügel endgültig verschlossen und versiegelten. Meterdicker Stein trennte nun an dieser Stelle die Himmelswelt von dem Höhlensystem. Dann eilten sie weiter, auf der Suche nach dem Eindringling. Es konnte sich auch um eine ganze Gruppe handeln, angesichts des mutwillig angerichteten Schadens.
Aber es war keine Gruppe zerstörungswütiger Barbaren, die sie schließlich fanden. Es war ein weinendes Kind. Mindestens einen Kopf größer als der Kleinste von ihnen, aber ein Kind nichtsdestotrotz. Es kauerte am Boden und die Geräusche, die es beim Weinen machte, waren höchst eigenartig. Es klang wie Biep, Biep, Bäng, Ratsch und Ping, aber die Tränen, die ihm übers Gesicht liefen, ließen keinen Zweifel aufkommen. Noch waren sie mißtrauisch und prüften die Umgebung, aber da war sonst niemand zu sehen oder zu riechen. Als sie ihr Opfer einkreisten, hob das Kind plötzlich den Kopf und hörte auf zu weinen. Es war eher ein Junge und kein Kind mehr. Einen Augenblick starrten sie sich gegenseitig an. Keiner sagte etwas, nur das Biepen und Ratschen ging unvermindert weiter.
Tom war so überrascht, daß er vor Schreck das Weinen vergaß. Der Game boy in seinen Händen machte noch einige Geräusche, bis der still stehende Avatar von einer violetten Sumpfschlange in einem Stück verschlungen wurde. Vor Tom standen drei Kreaturen, die aus einem gräßlichen Albtraum ausgebrochen sein mußten. Sie waren einen Kopf kleiner als er, mehr oder weniger und hatten kräftige Gliedmaßen. Ihre Arme waren länger, als sie bei ihrer Körpergröße sein sollten und die vier Finger ihrer Hände endeten in krallenartigen, langen Fingernägeln. Ihre Köpfe waren etwas zu groß für ihre robusten Körper. Sie hatten spitze Ohren, lange, krumme Nasen und fast keine Behaarung. Ihre Augen funkelten in kräftigem Rot, Gelb und geflecktem Grün. Aber das Erstaunlichste war ihre Haut.
Jede der drei Kreaturen hatte eine andere Haut. Die mit den grün-gefleckten Augen hatte eine wie aus flexiblen, ineinander verschiebbaren kleinen Steinplatten. Rissig und uneben mit Linien von milchigem Weiß, Schwarz, Grau und dunklem Grün zwischen den Plattensegmenten. Die Kreatur mit den gelben Augen hatte eine Haut wie grünlich-schwarze abgestorbene Rindenborke. Auch diese war ineinander verschiebbar. Kleine tropfsteinähnliche Gebilde stachen hier und dort aus ihr hervor. Die Linien waren gelb und purpurn und von ihnen ging eine Art Dampf aus, der nach abgebrannten Schwefelhölzern roch. Und die dritte Kreatur, die mit den roten Augen, hatte eine dunkelgraue Haut mit Sprengseln von rostigem Rot. Einige der Hautsegmente schimmerten metallisch, andere waren matt. Diese Haut war feiner als die der anderen und erinnerte entfernt an grob gestrickte Wolle oder an ein Kettenhemd, so klein waren die einzelnen Segmente. Die Linien, die in komplexen Mustern über den ganzen Körper liefen, waren rot und golden und pulsierten im schummrigen Licht.
Gelbauge leckte sich mit einer langen, spitzen Zunge über die dünnen Lippen und zu Toms größtem Erstaunen sprach das Wesen: "Laßt es uns aufessen und fertig!" Grünauge nickte langsam. Nur Rotauge zögerte und schob seine Mütze zurück, die aus dem Kopf eines Dachses gemacht war. Das Wesen trug eine kurze, lederne Hose, keine Schuhe und eine Art ärmellosen Mantel aus einem großen Dachsfell, mit dem Dachskopf am Ende. Es kam näher und näher, bis die Spitze seiner langen Nase nur noch wenige Zentimeter von Toms Nase entfernt war. Tom blickte in zwei glühend rote Augen, wie in den Kern einer Eisenschmelze, und das Wesen blickte in Toms vom Weinen rote Augen. Es schüttelte den Kopf und richtete sich auf.
"Es ist nur ein Kind, Magrogh! Du ißt ein verängstigtes Kind und du wirst schlecht träumen, glaub' mir." Rotauge konnte offensichtlich auch sprechen, allerdings mit einem starken französischem Akzent, der an Eds aus der Mode gekommene Lieblingsfernsehserie 'Allo 'Allo! erinnerte.
"Heute wieder ein weiches Herz, Magnus? Seltsam, bei deinem Stein …", sagte Gelbauge und es klang verächtlich. Rotauge löste den Blick von Tom und wandte sich seinem Widersacher zu.
"Exacte!", sagte er drohend. Gelbauge war sichtbar größer und schwerer und doch machte er einen Schritt zurück. "Der Dorfrat wird das entscheiden", fügte Rotauge hinzu.
"Haben wir … dafür Zeit, Magnus?", fragte Grünauge langsam.
"Der Schaden ist bereits angerichtet, aber der Zeitsprung wird erst einsetzen, wenn das Kind die Anderwelt wieder verläßt. Ich werde kein Kind töten und es ist an keinem von uns, dies alleine zu entscheiden. Mag sein, daß wir ein paar Jahre mehr verlieren, aber dann ist es zumindest eine Entscheidung von uns allen."
"Nicht nur wir … verlieren … diese Jahre", gab Grünauge zu bedenken.
"Wieviel Zeit ist das Leben dieses Kindes wert, dites moi? Eine Woche? Ein Jahr? Das Schlimmste kann nach einem Tag bereits eintreten und wir alle können mit Glück auch drei Jahre mehr überleben", sagte Rotauge. Das beendete die Debatte.
Die drei Kreaturen schulterten ihre Säcke, nahmen Tom in ihre Mitte und liefen mit erstaunlicher Geschwindigkeit los. Tom sollte nie die wilde Jagd über verschlungene Wege durch Tunnel und Kavernen vergessen. Er war geschwächt, verängstigt und völlig überwältigt. Drei sehr reale Figuren aus einem Märchen oder einem Horrorfilm hatten ihn gerade gefangengenommen und um ein Haar aufgefressen.
Nach einer Weile erreichten sie das Dorf der Kobolde. Einige Dutzend der Kreaturen wuselten herum und andere kleine Wesen mit Flügeln flogen durch die Luft. Etwas wie ein gehender Baumstumpf überquerte gerade auf seinen Wurzeln einen Bach, der sich durch das Dorf schlängelte. Und da waren auch einige stämmig gebaute, bärtige Wesen, bei denen es sich nur um Zwerge handeln konnte. Einfach, weil Zwerge genau so aussehen. Nur die Mützen, die fehlten.