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Die 13-jährige Eva kümmert sich rührend um ihre kleine Schwester Maika. Die Mutter der beiden Mädchen ist drogensüchtig und somit nicht in der Lage, sich um ihre Töchter zu kümmern. Hinzukommt, dass der neue Freund der Mutter gewalttätig ist. – Kein leichtes Leben für die beiden. Doch zum Glück gibt es da noch Marianne, Evas beste Freundin. Als Mariannes Familie von dem Schicksal der beiden Mädchen hört, nimmt sie Eva und Maika ohne zu zögern bei sich auf. Doch alle wissen, dass dies nur eine Übergangslösung und keine Lösung auf Dauer ist. In Mariannes Haus ist der Platz begrenzt. Es gibt kaum Privatsphäre. Das bekommen auch Eva und Marianne zu spüren. Immer öfter streiten sich die beiden, auch, weil Eva ihre Macht über Maika nicht an jemand anderen abtreten möchte. Die Freundschaft zwischen Eva und Marianne wird so auf eine harte Probe gestellt. Rezensionszitat "Die Geschichte zeigt, wie eine Dreizehnjährige liebevoll ein wenig aus ihrer Überforderung befreit wird. Sie enthält zwar eine fast unglaubwürdige Häufung von familiärem Unglück und Zufällen, ist in ihrer Problemstellung aber realistisch genug." – Verena Stössinger, www.sikjm.ch "Mega schönes Buch über Freundschaft, Verantwortung und das Erwachsen werden." – Omnibus, www.mamikreisel.de Biografische Anmerkung Elin Ørjasæter wurde 1962 im norwegischen Oslo geboren und ist eine norwegische Schriftstellerin. Nach einem Wirtschafts- und Geografiestudium begann sie zu schreiben. Für ihr erstes Buch "Larry" erhielt sie 1992 den Preis des norwegischen Kulturministeriums.
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Aus dem Norwegischenvon Christel Hildebrandt
Saga
Es war in einer Nacht Anfang Dezember. Ich konnte nicht schlafen.
»Wir müssen ausziehen«, sagte Papas Stimme im Wohnzimmer. Mama und er sprachen leise und ernst miteinander. Ich versuchte zu lauschen, bekam aber nur mit, dass wir nicht mehr in Skiferlia wohnen können und dass Mama weinte, weil sie der Meinung war, es wäre hier doch schon eng genug.
Eng genug? Sollten wir etwa in eine kleinere Wohnung ziehen? Mikkel schnarchte neben mir. Ich wollte endlich ein eigenes Zimmer.
Ich hörte, wie Papa herumlief, die Türen zumachte und abschloss, alles noch mal kontrollierte, wie immer. Von hier fortziehen?
Gegen fünf muss ich eingeschlafen sein, denn ich wachte von Evas Zeitungskarren auf. Eva trägt jeden Morgen die Zeitung aus, obwohl sie eigentlich noch nicht alt genug dafür ist. Wir sind beide gerade dreizehn geworden.
Ich stürzte in die Küche und lief auf den Balkon. Der Karren stand da. Da entdeckte ich etwas. Mai-Katrin saß oben auf dem Karren, lutschte am Daumen und schlief. Evas kleine Schwester.
Ich lief auf den Flur, zog mir die Jacke über und sprang die Treppen hinunter. Eva war herausgekommen und versuchte, den Karren in dem dichten Neuschnee zu wenden.
»Ich bin’s, Marianne«, rief ich, als sie mich entdeckte. »Warum hast du Mai-Katrin mitgenommen?«
»Ich will sie nicht allein zu Hause lassen.«
»Ach, Eva, du, wir müssen ausziehen!«
Eva sah mich an.
»Wenn du wegziehst, dann sterbe ich! Dann melde ich Mama der Fürsorge und dann gehen Mai-Katrin und ich ins Kinderheim!«
»Ja«, sagte ich, »aber ich ziehe nicht weg. Verdammter Scheiß, ich zieh hier nicht weg.«
Wir sahen uns an. Es war, als stünde das ungewohnte Schimpfwort zwischen uns und lachte uns aus, statt den Ernst der Lage zu unterstreichen, wie ich es gedacht hatte. Wer waren wir denn, dass wir uns einbildeten, irgendwas verhindern zu können?
Mai-Katrin begann im Schlaf zu weinen. Ich war barfuß und hatte eiskalte Zehen. Dennoch blieb ich stehen und sah, wie Eva mit dem Karren weiterstapfte, mit der nuckelnden Schwester und all den Zeitungen.
»Eva«, rief ich ihr halblaut nach, »ihr könnt hinterher zu uns hochkommen!«
Aber Eva antwortete nicht. Sie stapfte einfach weiter, in die Dunkelheit hinein, ohne sich umzudrehen. Mit Mai-Katrin.
Wie üblich erwachte ich vom Krach. Jeden Tag der gleiche Krach oder genauer gesagt der gleiche Schrei von Mons im Zimmer nebenan.
Ich habe zwei Brüder, Mons, acht Jahre alt, und Mikkel, fünf. Mikkel und ich teilen uns ein Zimmer, weil niemand es aushält, das Zimmer mit Mons zu teilen. Als Belohnung dafür, dass er so schwierig ist, bekommt er also ein eigenes Zimmer.
»Wer hat meinen Hockeyhelm?«, brüllte er und trat mit aller Kraft gegen die Schranktür. Padabum, padabum, padabum sagten die Regale im Schrank; sie fallen nämlich immer herunter, wenn sie stärkerer Belastung ausgesetzt sind. Nachher muss Mama aufräumen und Papa reparieren, während Mons glücklich und zufrieden Video guckt und überbackenen Käsetoast isst.
Ich schaute auf den Boden, wo ich die Matratze für Eva und Mai-Katrin hingelegt hatte. Die Matratze lag unberührt da.
»Hast du meinen Hockeyhelm?« Mons steckte wutentbrannt den Kopf durch die Tür.
»Was soll ich denn damit?«
»Ich habe deinen Hockeyhelm nicht«, versicherte Mikkel, der auch aufgewacht war.
»OOOOHHH, wir haben heute einen Kampf, ich muss ihn unbedingt finden«, jammerte es draußen vom Flur, »ich muss, ich muss, ich muss.«
Jetzt hörte ich, wie er mit Gummistiefeln und Schuhen um sich warf. Der Arme.
»Wo hattest du ihn denn zuletzt?«
Das war Mama, mit müder Stimme.
»Hast du ihn gestern vom Training mitgenommen?«
Es kam heraus, dass Mons sich nicht mehr dran erinnern konnte, ob er ihn am Tag zuvor mit nach Hause genommen hatte. Höchstwahrscheinlich lag er da draußen in einer Schneewehe, wenn ihn nicht schon jemand mitgenommen hatte.
Wir löschten das Licht und gingen alle zum Wohnzimmerfenster, um Mons zuzusehen, der im Eiltempo durch den Schnee stapfte, übers freie Feld, um zur Schlittschuhbahn zu laufen und dort seinen Helm zu suchen. Mamas zaghaften Protesten zum Trotz war er nur in Pyjama und Jeansjacke losgestürmt. Plötzlich bekam ich ganz zärtliche Gefühle für ihn, meinen Bruder, der immer unter Aufbietung der gleichen wütenden, sinnlosen Energie wie um sein Leben rennt. Ich wünschte ihm, dass er den Helm bald finden würde.
Mama machte Frühstück und Papa kam aus dem Bad. »Wir können keinen neuen Helm kaufen«, sagte er.
»Ich weiß«, sagte Mama.
Ich ahnte den Zusammenhang, fragte aber nicht. Hatten sie kein Geld? Papa hatte vor zwei Monaten seinen Job verloren. Mussten wir etwa wegen des Geldes ausziehen?
Ich hörte Mons auf dem Flur. »Sorry, Mama«, rief er, »aber wir müssen heute ins Einkaufszentrum und einen neuen Helm kaufen.«
»Nein«, sagte Mama.
»Nein? Willst du, dass ich mir den Kopf auf dem Eis aufschlage? Weißt du, wie es aussieht, wenn die Hirnmasse nach einem Treffer mit dem Schläger auf den Hinterkopf rausquillt?«
»Mons«, sagte Papa. »Wir haben kein Geld für einen neuen Helm. Du kannst heute dann eben nicht spielen. Wir können es uns einfach nicht leisten.«
Papa stand abrupt auf und ging wieder ins Bad, als könnte er seine eigenen Worte nicht mit anhören.
»Könnt ihr denn nicht zur Bank gehen?«, schlug Mikkel vor.
Ich wollte ihm gerade erklären, wie das mit der Bank zusammenhing, als Mons so laut zu schreien anfing, dass das gar keinen Sinn hatte. »Was heißt das, ich kann heute nicht spielen. Bist du wahnsinnig, oder was?«
Er sah sich verzweifelt um, offensichtlich auf der Suche nach etwas, das er zertrümmern oder an die Wand schmeißen konnte.
Da klingelte das Telefon.
Ein Telefon, das klingelt, bedeutet immer auch eine Hoffnung. Wie ein ungeöffneter Brief im Briefkasten. Vielleicht wollte ja jemand mich und Eva zu einem Fest einladen, vielleicht war es ein Lehrer, der mir die Hauptrolle im Schultheaterstück anbieten wollte, oder es war die Lottogesellschaft, die Papa erzählen wollte, dass er eine Million gewonnen hatte ... Und ab und zu denke ich, wenn das Telefon klingelt, dass es John ist, der aus Amerika anruft, um mich zu bitten, ihm behilflich zu sein. Behilflich, Eva und Mai-Katrin zu kidnappen. »Mary-ann«, würde er mit seiner dunklen Stimme, die so dunkel ist wie seine Haut, sagen, »Mary-ann, do you wanna follow them over to the States?« Aber John ruft nie an, niemand hat von ihm gehört, seit er vor einem Jahr von Evas und Mai-Katrins Mutter weggegangen ist.
Jetzt hoffte ich, es würde jemand sein, der den Helm gefunden hatte. Mikkel stürmte ans Telefon. Er kann sich nichts Aufregenderes vorstellen, als sich mit »Rud, guten Tag« wie ein Erwachsener zu melden.
»Rud, guten Tag«, war auch ganz richtig draußen vom Flur her zu hören. Aber dann blieb es still. Eine ganze Weile.
»Hä«, sagte Mikkel schließlich.
Wieder Stille.
Dann noch einmal. »Hä?«
Dann legte er den Hörer beiseite und kam zu uns.
»Der da«, sagte Mikkel, »...«
»Hä?«, fragte nun Mons.
»Hä?«, fragte auch ich.
»Der da«, begann Mikkel von neuem, »der da, der hat gesagt ...« Er stockte. »... ich komm runter«, murmelte er wie zu sich selbst.
»Urgroßvater!«, rief Mama und lief auf den Flur »Das muss Urgroßvater sein. Wie nett«, hörten wir sie in einem merkwürdigen, steifen Ton. »Ja, das wird bestimmt schön. Willst du lange bleiben?«
Mons, Mikkel und ich saßen mucksmäuschenstill und lauschten. Urgroßvater ist ziemlich verschroben und sitzt immer auf seinem Stuhl da oben im Bjortal, wo Papa aufgewachsen ist. Urgroßvater ist fast hundert Jahre alt und hat da, wo eigentlich die rechte Hand sein sollte, einen Haken, weil er die Hand in eine Holzsäge gekriegt hat, als er noch jung war, und er trägt immer Lodenhosen und Arbeitshemden, die aus dem letzten Jahrhundert stammen.
»Urgroßvater kommt«, sagte Mama, als sie wieder in die Küche kam. »Hans!« Sie hämmerte an die Badezimmertür. »Urgroßvater kommt morgen mit dem Zug.«
»Was?«, fragte Papa und steckte den Kopf heraus. »Kommt Urgroßvater hierher?«
»Das Schlimmste ist«, sagte Mama, »dass er nicht sagen wollte, wie lange er bleiben will.«
»Na hör mal«, meinte Papa und sah sie sauer an, »das tut man nicht, da, wo ich herkomme. Auf dem Land ist immer Platz für die Verwandten.«
»Platz!«, zischte Mama. »Wo soll er denn schlafen, bei Mons oder wo?«
»Vielleicht kann Urgroßvater uns ja mit Geld helfen!«, flüsterte ich Mons zu.
»Der!«, flüsterte Mons zurück. »Der isst doch selbst nur Wassergrütze und alten Speck, der hat doch garantiert kein Geld!«
Eine halbe Stunde später standen Mikkel und ich draußen im Hausflur und warteten auf Papa. In letzter Minute war uns eingefallen, dass ja heute das Luciafest im Kindergarten stattfand, und Papa rannte wieder hoch, um ein weißes Oberhemd und Weihnachtsglitter zu holen, das wir dem Jungen umhängen konnten. Ich freute mich schon. Lucia! Das bedeutete leckere Luciakekse, gemütliches Schummerlicht und kleine singende Kinder mit Kerzen in der Hand. Wenn Papa mich anschließend zur Schule fuhr, konnte ich es schaffen, alles mitzukriegen.
Papa, Mikkel und ich gingen über das dunkle Feld zum Kindergarten. Von dort leuchtete ein warmes, gemütliches Licht. Im Umkleideraum wimmelte es von Erwachsenen und Kindern, von nassen Handschuhen, Winterstiefeln und Schneeanzügen in buntem Haufen.
Da kam Eva mit Mai-Katrin herein. »Ist heute irgendwas Besonderes?«, fragte Eva, während sie sich im Umkleideraum umsah.
»Heute ist Luciatag!«
»Oh nein«, rief Eva, »und ich habe für Mai-Katrin kein weißes Zeug!«
Sie setzte sich auf die Umkleidebank und sah ganz verzweifelt aus. Eine der Erzieherinnen kam herbei. »Wir haben noch ein weißes Hemd«, sagte sie schnell, »Mai-Katrin kann es ausleihen.«
»Und von uns kannst du Glitzer kriegen«, fuhr ich fort. »Papa hat eine ganze Menge mitgenommen, stimmt’s, Papa?«
»Nein, nein, nein«, brüllte Mikkel, »das ist mein Glitzer. «
»Du kannst ihn doch mit Mai-Katrin teilen«, entgegnete Papa bestimmt. »Guck mal, Eva, da hast du ein bisschen Weihnachtsschmuck, um sie herzurichten.«
Eva zog ihre Schwester um. Sie sah ganz erschöpft aus, als schaffe sie es kaum, Mai-Katrin das Hemd überzuziehen und die Glitzerkette um den Bauch zu binden. Mai-Katrin stand ganz still, ohne eine Frage zu stellen oder über irgendwas zu nörgeln.
Dafür war Mikkel umso schlimmer. »Nein«, rief er wieder, »die Knöpfe gehören andersrum, nicht so. Nein!«
»Die Leute müssen ja glauben, dass wir Kinderquäler sind«, flüsterte ich Papa zu, »so wie der Junge sich aufführt!«
Dann setzten sich alle Erwachsenen und großen Geschwister an einen Tisch und bekamen Luciakekse, die Deckenlampe wurde ausgemacht und wir hörten von der Küche her den Gesang näher kommen.
»Dunkel senkt die Nacht sich nieder, in Ställen und in Stuben«, sangen die Kinder. »Die Sonne ist verschwunden, die Schatten, sie drohen. Doch in unserem dunklen Haus, da erscheint mit hellem Licht Santa Lucia, Santa Lucia!«
Sie standen alle in einer Reihe, Andreas und Pål und Kristina und all die anderen Freunde von Mikkel. Mikkel schwenkte seine Kerze und johlte unbekümmert mit.
Mai-Katrin sah aus wie ein Engel. Ihr schwarzes, gekraustes Haar verlor sich im Dunkel, ihre braune Haut glänzte golden im Flackern der Kerzen und sie stand ganz ruhig, ein wenig abseits von den anderen Kindern, und schaute ernsthaft ihre große Schwester an. Eva saß wie eine Statue da, ihr langes, dunkles Haar verbarg fast ganz ihr weißes Gesicht. Keine von beiden sang, sie sahen einander nur an, als wären sie mit einem starken, unsichtbaren Band miteinander verknüpft. Wie zwei Fremde saßen sie da, unbeweglich und stumm, wie zwei Ausgeschlossene hier in der warmen, gemütlichen und ein wenig chaotischen Stimmung im Kindergarten, wo die Eltern und Geschwister Kekse mümmelten, flüsterten und den kleinen, singenden Zug fotografierten.
»Jetzt singen wir das Lied noch einmal«, sagte einer der Erwachsenen.
Ich kaute auf meinem Keks herum. Ich konnte ihn nicht hinunterschlucken. Plötzlich wurde mir klar, wovon das Lied handelte.
Dunkel senkt die Nacht sich nieder, in Ställen und in Stuben.
Die Sonne ist verschwunden, die Schatten, sie drohen.
Doch in unserem dunklen Haus,
da erscheint mit hellem Licht
Santa Lucia, Santa Lucia.
»Was wird nur aus Eva, wenn wir wegziehen«, dachte ich. »Ich bin doch die Einzige, mit der sie über alles Mögliche reden kann. Wer kann den beiden nur helfen?«
Die Nacht ist dunkel und still, aber auf einmal herrscht
ein Sausen in allen leisen Räumen
wie ein Flügelbrausen.
Schau, in unserer Tür steht sie da,
weiß gekleidet mit Kerzen im Haar,
Santa Lucia, Santa Lucia.
Papa fuhr Eva und mich in die Schule. In der ersten Stunde schrieben wir eine Mathearbeit, deshalb hatte ich viel Zeit, über alles nachzudenken. Ich dachte an Urgroßvater.
Urgroßvater ist Papas einziger Verwandter. Eigentlich ist er nicht mal ein richtiger Verwandter, sondern sein Pflegevater. Als Papa fünf Jahre alt war, starb seine Mutter und sein Vater hat sich kurz danach erschossen. Urgroßvater kümmerte sich seit dieser Zeit um Papa, als wäre er sein eigenes Kind.
Jeden Sommer fahren wir ins Bjortal, um ihn zu besuchen. Wir spielen im Stall und im Schuppen. Wir müssen uns mit einem Waschlappen in der Schüssel waschen, weil er keine Dusche hat, und aufs Plumpsklo gehen, wo es reichlich stinkt. Aber das Tollste in Bjortal ist Marius. Marius ist Urgroßvaters Schwein, jeden Sommer hat er ein neues. Wir dürfen ihm einen Namen geben und wir taufen es immer Marius. Und zum Mittagessen essen wir den Marius vom letzten Jahr, den Urgroßvater im Herbst geschlachtet und eingesalzen hat.
Urgroßvater nimmt uns gern auf den Schoß. Er riecht alt, wie Kleidung, die jahrelang im muffigen Keller gelegen hat. Dann sagt er ein oder zwei Kinderreime auf, die wir nicht verstehen, weil er so komisch redet, aber das macht nichts, denn Urgroßvater ist schon zufrieden, wenn er sie aufsagt.
Und jetzt wollte Urgroßvater herkommen! Es war total unmöglich, sich ihn an einem anderen Ort als in der grauen Küche in Bjortal vorzustellen. Wo sollten wir ihn hinsetzen, wenn sein Stuhl nicht da war?
Über all das dachte ich während der Mathearbeit nach. Eva und ich sind bei Mathearbeiten immer sehr schnell fertig, weil wir beide in Mathe so schlecht sind, aber wir dürfen nicht rausgehen, ehe alle fertig sind. Ich sah, wie ihr die Haare ins Gesicht fielen. Sie saß schräg vor mir. Dann schob sie ihren Zettel von sich und legte das Gesicht auf die Arme. Gleich würde sie sicher einschlafen, wie so oft.
»Eva«, sagte ich in der großen Pause, »warum bist du so traurig?«
Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Kann Mai-Katrin bei euch wohnen?«
»Mai-Katrin? Meinst du für immer?«
»Nein, nur für eine Weile ...«
»Ist Julie sehr krank?«, fragte ich. Julie ist Evas Mutter.
So nannten wir es: krank. Auch wenn Julie sagte, sie wäre auf dem Trip. Aber drogensüchtig zu sein oder Alkoholikerin ist doch wohl wie eine Art Krankheit. Julie war wohl beides zugleich, aber nur ab und zu. Mehrere Jahre lang war sie ganz gesund gewesen. In den Jahren, als John hier gewesen war.
»Roger schlägt Mai-Katrin«, sagte Eva.
Roger war Julies neuer Freund. Er wohnte jetzt seit einem Monat bei ihnen.
»Oh nein!«
»Doch, er schlägt sie und gestern hat er nach ihr getreten, sodass sie mit dem Kopf gegen die Wand geflogen ist und hinterher gespuckt hat. Deshalb habe ich sie zum Zeitungsaustragen mitgenommen. Aber ich schaffe es nicht immer. Bei ihr zu sein, meine ich.«
»Und Julie?«
»Ach ... Mama ... Die sitzt nur auf dem Sofa und ist so weggetreten, dass sie überhaupt nichts mitkriegt. Oder sie schläft. Wie sollte sie da auf Maika aufpassen können? Maika ist letzte Nacht gegen eins aufgewacht und hat geweint«, fuhr Eva fort, »und bevor ich irgendwas tun konnte, war Roger schon in unserem Zimmer, hat sie aus dem Bett gerissen und getreten. Da hat sie nicht mehr geweint. Erst wieder, als ich sie in mein Bett geholt habe. Da hat sie sich an mich geklammert und wieder angefangen zu weinen. Und dann hat sie gespuckt. Ich kann bald nicht mehr, Marianne! Maika weint dauernd und ich tröste sie wie eine Blöde, damit sie still ist und Roger nicht kommt. Ich versuche alles, um auf sie aufzupassen. Und trotzdem schaffe ich es nicht!«
»Was glaubst du denn, wie lange wird Roger bei euch bleiben?«
»Keine Ahnung. Eine Weile ...«
Plötzlich fiel mir Mikkels ewige Frage ein. »Marianne, wie lang ist eine Weile?« Darauf gab es keine Antwort.
Wir drehten mehrere Runden um die Schule, Eva und ich, und schmiedeten Pläne.
Mai-Katrin konnte in der Ecke zwischen dem Fenster und Mikkels und meinem Bett schlafen. Eva konnte sie jeden Morgen abholen, wenn sie in den Kindergarten sollte, und ich konnte Mikkel gleichzeitig hinbringen, das war ja praktisch. Dann konnte Eva abends mit Mai-Katrin kommen, wenn sie ins Bett gehen musste.
»Und du, Eva, hast du keine Angst vor diesem Roger?«
»Mich zu schlagen traut er sich nicht«, sagte Eva. »Er hasst mich, traut sich aber nicht zuzuhauen. Und irgendjemand muss doch auf Mama aufpassen. Was meinst du, ob deine Eltern das in Ordnung finden mit Maika?«
»Ja, natürlich«, sagte ich im Brustton der Überzeugung und graute mich bereits davor, es ihnen erzählen zu müssen.
»Mai-Katrin?«, sagte Mama. »Du meinst, die kleine Mai-Katrin soll bei uns wohnen?«
»Nur nachts«, erklärte ich. »Eva passt tagsüber auf sie auf, wenn sie nicht im Kindergarten ist.«
»Ist es nicht langsam an der Zeit, dass der Dame das Sorgerecht entzogen wird?«, fragte Mama sauer. Sie meinte Julie. »Das ist doch ein Fall für die Jugendfürsorge, nicht für die Nachbarn.«
»Eva ist keine Nachbarin, Mama, sie ist meine beste Freundin!«
»Und gerade deshalb sollten wir vielleicht etwas tun, um ihr zu helfen. Die Fürsorge anrufen und berichten, was da vor sich geht.«
»Und was meinst du, was dann passiert?«
»Dann kriegen die beiden sicher ein besseres Zuhause.«
»Mama, aber das, was du ein besseres Zuhause nennst, das ist ein anderes Zuhause, und dann müssen sie von hier fortziehen! Ist das vielleicht gerecht, dass Julie weiter in Skiferlia wohnen darf, während Eva und Mai-Katrin von allen, die sie kennen, wegziehen müssen? Außerdem, es ist ja nur so lange, bis dieser Roger wieder auszieht.«
Papa hatte dagesessen und seine Zeitung gelesen, aber jetzt sah ich, wie er zuhörte. Nun legte er die Zeitung hin.
»Wenn das Mädchen einen sicheren Platz zum Schlafen braucht«, sagte er, »dann lass sie verdammt noch mal hier schlafen.«
»Und Urgroßvater«, fast schrie Mama, »was meinst du, was er von uns denken wird? Und wie soll es hier werden, mit Urgroßvater auf dem Sofa und drei Leuten in Mariannes Zimmer, wer soll sich dann um alles kümmern?«
»Ich«, erwiderte Papa, »ich habe ja die Zeit, ein Pensionat zu führen.« Er sah ein wenig traurig aus, als er das sagte.
»Aber kannst du mir vielleicht sagen«, fuhr Mama fort, »kannst du mir sagen, warum um alles in der Welt Urgroßvater ausgerechnet jetzt herkommt?«
»Das«, antwortete Papa, »das möchte ich auch gern wissen.«
Urgroßvater kam am nächsten Tag. Papa holte ihn vom Bahnhof ab. Er musste aus unserem alten Lada regelrecht herausgeschält werden und dann stand er da, sagte »Ja, ja«, und dann sagte er gar nichts mehr.
Alle Kinder im ganzen Wohnblock liefen auf den Balkon und starrten hinunter. So ist es nun mal hier in Skiferlia; wenn was passiert, dann wissen alle davon, und alle wussten sofort, dass unser Urgroßvater kam und bei uns wohnen wollte. Und nun standen sie da, Andreas und Pål, Jo und Elin und Kristina und all die anderen, und glotzten stumm auf Urgroßvater hinunter, der langsam auf unseren Eingang zuging. Er hatte einen kleinen Rucksack, das war sein ganzes Gepäck.
»Ja, herzlich willkommen!«, sagte Mama in der Wohnungstür und sah aus, als gefiele ihr das ganz und gar nicht.
»Hier kannst du schlafen«, sagte Mikkel und zeigte begeistert aufs Sofa.
»Ja, ja«, sagte Urgroßvater.
»Hier kannst du schlafen«, sagte Eva vier Stunden später freundlich zu ihrer Schwester, die sich an sie klammerte.
»Buuääh!«, rief Mai-Katrin. »Eva nicht gehen! Eva nicht gehen!«
Mai-Katrin ist erst vier. Eva sagte mit Engelsgeduld: »Eva kommt morgen früh und bringt dich in den Kindergarten, du schläfst hier mit Mikkel und Marianne, du kennst doch Mikkel und Marianne, nicht wahr?«
»Nein, nein«, schrie Mai-Katrin, »Maika schlafen bei Eva!«
Und dabei hatten wir alles so schön geplant! Ich war so enttäuscht, dass Mai-Katrin so ein Theater machte, dass ich fast böse auf sie wurde.
»Guck mal, da ist auch dein Teddy«, versuchte ich es und hielt ihr den Teddybär vors Gesicht.
Aber Mai-Katrin wurde nur noch verzweifelter.
»Teddy und Maika schlafen bei Eva!«
Da stand Mama in der Tür. Sie schaute zu Mai-Katrin, die aus vollem Herzen weinte und sich an ihre Schwester klammerte. Maika hatte eine Beule auf der Stirn und an dem einen Auge einen großen, blauen Fleck.
Eva, die doch immer so erwachsen ist, sah plötzlich ganz verzweifelt aus, als könnte sie nicht ertragen, dass ihr schöner Plan nicht klappen würde.
»Eva«, sagte Mama, »ich denke, es wäre nett, wenn du heute Nacht auch hier schläfst.«
Ich war kurz davor, zu Mama zu stürmen und sie ganz fest zu drücken. Papa und ich holten Decken, Kissen und noch eine Matratze, und Eva lief, um ihren Pyjama zu holen.
Also schliefen wir mit vier Personen in meinem kleinen Zimmer. Und Mama lachte beim Frühstück und sagte: »Als ich heute Morgen zu euch reingekommen bin, roch es nach einem alten Hamster!«
Aber ich hörte, wie sie Papa im Badezimmer zuflüsterte: »Hans, wie sollen wir das nur schaffen, noch drei Leute mehr zu versorgen?«
Am nächsten Tag saßen wir alle um den Küchentisch und aßen zu Mittag, Mons und Mikkel, Eva und Mai-Katrin, ich, Mama, Papa und Urgroßvater.
»Ich hoffe, das Essen schmeckt dir«, sagte Mama.
Urgroßvater antwortete nicht.
»Ich habe gesagt«, versuchte Mama es ein wenig lauter, »dass ich hoffe ...«
Papa hob abwehrend die Hände.
»Ist schon in Ordnung, das Essen«, sagte Urgroßvater. »Wenn ich nur ’n bisschen Speck kriege, dann bin ich schon zufrieden.«
»Hurra!«, rief Mons, »jetzt gibt es endlich ordentliches Essen hier im Haus!«
Ich sagte gar nichts. Ich überlegte nur, dass das Einzige, was hier in der Stadt Urgroßvaters Speck ähnelte, der Frühstücksschinken war, und den bekamen wir nur sonntags, weil er so teuer war.
Mama stellte die Kartoffeln mit einem resignierten kleinen Knall auf den Tisch. Wir aßen in aller Stille. Plötzlich blickte Urgroßvater auf und sah Mai-Katrin an.
»Ist das deine?«, fragte er Papa. »Die sieht ja irgendwie ausländisch aus, oder?«
Eva und ich sahen einander an.
»Nein, das ist ein Nachbarsmädchen«, erklärte Papa, »und das ist die Schwester.«
Er deutete auf Eva.
»Das ist also auch nicht deine?«, fragte Urgroßvater. »Dann hast du also nur drei, oder?«
Eva und ich starben fast vor Lachen. Dass er sich nicht einmal daran erinnerte, wie viele Kinder Papa hatte!
»Was führt dich denn hierher?«, fragte Papa.
»Ach, so langsam verheddert sich alles für mich.«
»Verheddert?«, fragte Mons mit vollem Mund.
»Er meint, dass er sich nicht so gut fühlt«, erklärte Papa.
»Na ja, er ist doch auch sechsundneunzig«, meinte Mons. »In dem Alter verheddert es sich bestimmt für viele«, fügte er zu Urgroßvater gewandt hinzu. Manchmal gibt Mons wirklich sein Bestes.
»Hattest du denn eine schöne Reise?«, versuchte Mama ein Gespräch einzuleiten.
»Ach ja.«
»Ja?«
Mama sah etwas angespannt aus. Sie ist es gewohnt, dass die Leute erzählen, wenn man sie etwas fragt, und nicht nur »Ach ja« sagen und dann wieder den Mund halten.
»Hast du vielleicht nette Leute getroffen?«
»Ach ja.«
Stille.
»Hast du auch ’nen Kaffee gekriegt?«
Mama ließ nicht locker.
»Ja, ja, da war so ’ne Frau, die ist mit ’nem Wagen rumgefahren, weissnichwa.«
»Und bei ihr hast du dir einen Kaffee gekauft?«
»Na ja, wenn man das Kaffee nennen kann. Er war ganz dünn. Und reichlich teuer.«
»Weissnichwa«, sagte Mikkel fasziniert. »Ich gehe raus und spiele ein bisschen Weissnichwa, darf ich?«
»Ja«, sagte Mama matt.