Maja - Ina Jens - E-Book

Maja E-Book

Ina Jens

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Beschreibung

Die Autorin schreibt lebhaft und voller warmherziger Erinnerungen über ihre Kindheit in der Graubündener Alpen. Ihre Bücher sind für Kinder geschrieben, die dem Heidi-Alter entwachsen sind. 1. Auflage (Überarbeitete Fassung) Null Papier Verlag

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Ina Jens

Maja

Kindheitserinnerungen aus dem Bündnerlande

Ina Jens

Maja

Kindheitserinnerungen aus dem Bündnerlande

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-962810-53-5

null-papier.de/477

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Vor­wort

Mein Le­bens­ret­ter und mein Zeug­nis

Wie der lie­be Gott mir ein­mal ge­hol­fen hat

Die ge­stoh­le­ne Tee­kan­ne

Als ich aus­wan­der­te

Das him­melblaue Kleid

Ein bö­ser Dorf­ge­nos­se

Auf die Alm

Eva Bend­li

Os­tern

Et­was von ei­nem »Flo­ren­ti­ner«

Das ers­te ver­dien­te Geld

Eine Lei­chen­sit­zung

Kin­der­freund­schaf­ten

Ka­rus­sell­fah­ren

Dan­ke

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Vorwort

Mein Hei­mat­dorf liegt ir­gend­wo im lie­ben Bünd­ner­lan­de fried­lich ein­ge­bet­tet zwi­schen him­mel­ho­hen Ber­gen. Je­den Mor­gen, wenn ich der Son­ne die Fens­ter öff­ne­te, grüß­ten mich die ver­gol­de­ten wei­ßen Häup­ter der rä­ti­schen Al­pen. An­däch­tig sah ich dann wohl zu den stol­zen Hö­hen em­por, sah mit stau­nen­den Kin­derau­gen, wie über den za­cki­gen Fir­nen der gol­de­ne Son­nen­ball em­por­stieg und sei­nen Glanz wie einen schim­mern­den Schlei­er über wei­ße Hän­ge, dunkle Wäl­der, alte Bur­gen, ja über das gan­ze lieb­li­che Tal hin­warf.

Schön, wun­der­bar schön schi­en mir dann die Hei­mat; aber die See­le ei­nes Men­schen­kin­des ist vol­ler Rät­sel. Wenn man es am bes­ten und am schöns­ten hat, er­wacht die Sehn­sucht nach et­was noch Bes­se­rem, et­was noch Schö­ne­rem. Und so kam es denn auch, dass im­mer dann, wenn Berg und Tal be­son­ders herr­lich vor mir la­gen, ich wie aus end­lo­sen Wei­ten ein selt­sa­mes Lo­cken und Ru­fen zu hö­ren glaub­te. Bald schi­en der sil­ber­ne Ton aus den welt­fer­nen Ber­gen zu kom­men, bald schi­en er aus den Tie­fen mei­nes Her­zens zu klin­gen, bald tra­fen sich die Stim­men der See­le in sehn­suchts­vol­lem Zu­sam­men­klang, und dann rang es sich wie ein Ge­bet von mei­nen Lip­pen: »Wie gren­zen­los schön muss es erst dort hin­ter je­nen Ber­gen sein! Ein­mal, ein ein­zi­ges Mal nur über die ho­hen Fel­sen­tür­me weg in die Welt hin­aus, ach, wer das doch könn­te!«

Und die Zeit kam, wo ich das wirk­lich konn­te. Tief at­mend ließ ich die Hei­mat hin­ter mir und fuhr mit tau­send Er­war­tun­gen in die Welt hin­aus, die wie ein Mär­chen­land mir rief und wink­te. Ich wan­der­te durch vie­ler Her­ren Län­der, sah, wie sich über­all Schön­heit an Schön­heit reiht, sah end­lo­se Ebe­nen, leuch­ten­de, brei­te Flüs­se, wun­der­ba­re Städ­te, frem­de Men­schen, aber je wei­ter ich wan­der­te, um so grö­ßer, um so hei­ßer wur­de die Sehn­sucht. Im­mer wei­ter! Im­mer wei­ter! rief es in mir. Wo­hin? Wo­hin denn ei­gent­lich, du ru­he­lo­ses Herz? Und ich fuhr über das ufer­lo­se, un­be­grenz­te Meer bis an die herr­li­che Küs­te des Stil­len Ozeans, und da bin ich ge­blie­ben, denn ir­gend­wo muss der Mensch eine Heim­statt ha­ben. Das Land, in dem ich woh­ne, ist auch ein­zig schön. Die Ber­ge sind noch hö­her als die im lie­ben Bünd­ner­land, die Seen noch von tiefe­rem Grün, die Wäl­der ein­sa­mer, dunk­ler und ge­wal­ti­ger, der Bo­den frucht­bar wie Gar­ten­reich; die Blu­men von be­täu­ben­dem Duft, jahraus, jahrein in ewi­ger Schön­heit blü­hend, der Him­mel in strah­len­dem Blau und das Meer wie ein blen­den­der Spie­gel, ewig wech­selnd in Glanz und Far­ben­pracht …

Mei­ne Sehn­sucht müss­te schwei­gen, aber ach …

»Hei­mat, süße Hei­mat«

Alle Schön­heit der Welt gäbe ich hin, wenn ich ein­mal noch dein lie­bes Ant­litz wie­der­se­hen, ein­mal noch Hei­mat­luft at­men dürf­te, ein­mal noch mit Schnee und Win­ter­käl­te und Tan­nen­duft beim Klan­ge dei­ner Kir­chen­glo­cken Weih­nach­ten fei­ern könn­te in dem klei­nen Dor­fe, wo ich mei­ne Kin­der­zeit mehr als be­schei­den und doch so glück­lich ver­leb­te, wie es die nach­fol­gen­den, ein­fa­chen Er­zäh­lun­gen zei­gen mö­gen!

I. J.

Mein Lebensretter und mein Zeugnis

In un­se­rem Dörf­chen gab es eine Som­mer- und eine Win­ter­schu­le. Der Be­such der Win­ter­schu­le war ob­li­ga­to­risch. In die Som­mer­schu­le konn­te ge­hen, wer woll­te. Selbst­ver­ständ­lich be­such­te ich die Som­mer­schu­le, schon aus dem ein­fa­chen Grun­de, weil, wäre ich zu Hau­se ge­blie­ben, ich ta­ge­lang im glü­hen­den Son­nen­bran­de auf end­los wei­ten Wie­sen hät­te Heu nach­re­chen müs­sen.

Au­ßer­dem trieb mich in die­sem mei­nem zehn­ten Le­bens­jah­re ein fast krank­haf­ter Ehr­geiz in die­se Som­mer­schu­le. Ich hat­te näm­lich im ver­gan­ge­nen Jah­re ein sel­ten gu­tes Zeug­nis er­hal­ten, stand doch dar­in, dass ich wäh­rend des Schul­be­suchs »aus­ge­zeich­net flei­ßig« ge­we­sen sei, ein Zeug­nis, das Ge­ne­ra­tio­nen vor mir nie­mand auf­zu­wei­sen im­stan­de ge­we­sen wäre.

»Aus­ge­zeich­net flei­ßig!« Das gan­ze Dorf sprach da­von, näm­lich wenn ein Huhn ein Ei leg­te, sprach auch das gan­ze Dorf dar­über, so in­ter­es­siert wa­ren die lie­ben Mit­menschen da­mals in dem klei­nen Dor­fe. Die­ses Mal wa­ren auch alle merk­wür­dig ei­ner Mei­nung, näm­lich dass ich die­ses Zeug­nis über­haupt nicht ver­dient habe, dass ich ein ganz nichts­nut­zi­ges klei­nes Mäd­chen sei und man den Leh­rer ein­fach nicht be­grei­fen kön­ne. Ich je­doch küm­mer­te mich nicht im ge­rings­ten um die Gift­wor­te, die ich rechts und links zu hö­ren be­kam, son­dern bläh­te mich wie ein Frosch in der Son­ne, sah nur von Zeit zu Zeit in mein Zeug­nis, um mich zu ver­ge­wis­sern, dass das Wört­chen »aus­ge­zeich­net« auch wirk­lich und wahr­haf­tig noch da­stand und nicht etwa plötz­lich wie ein Vo­gel da­von­ge­flo­gen sei. Es stand aber un­ver­rück­bar da, lach­te mich an, ent­zück­te mich, be­rausch­te mich der­art, dass ich den fes­ten Vor­satz fass­te, auch in die­sem Jah­re mir die­ses wun­der­ba­re Prä­di­kat zu ver­schaf­fen, und mit die­sem, wie mir schi­en hei­li­gen Ent­schlus­se be­trat ich die Som­mer­schu­le.

Drei Mo­na­te gin­gen wie im Flu­ge vor­bei. Ich war wäh­rend der gan­zen Zeit ge­ra­de­zu über­flei­ßig und über­auf­merk­sam ge­we­sen. Un­ter al­len Ar­bei­ten stan­den die bes­ten No­ten, und über mein Zeug­nis brauch­te ich mir ge­wiss kei­ne Ge­dan­ken zu ma­chen. Ein zwei­ter Tri­umph, ein zwei­tes »Aus­ge­zeich­net flei­ßig« leuch­te­te lieb­lich wie ein Stern vor mei­ner See­le.

Die letz­te Schul­wo­che war da, und eine große Er­war­tung er­füll­te mich. Ich ging wie auf Ber­ges­hö­hen un­ter mei­nen Mit­schü­lern ein­her, sah in­ner­lich ge­ra­de­zu ver­ächt­lich auf sie nie­der und fühl­te mich gren­zen­los er­ha­ben. Das Sprich­wort von den Bäu­men, die der lie­be Gott nicht in den Him­mel wach­sen lässt, kann­te ich näm­lich nicht.

Es war Don­ners­tag. Am Frei­tag hat­ten wir noch Zeich­nen und Na­tur­ge­schich­te, und am Sonn­abend soll­ten wir un­se­re Zeug­nis­se er­hal­ten. Nun hat­te un­ser Leh­rer ein­mal den Wunsch ge­äu­ßert, wir möch­ten Stech­ap­fel su­chen, eine Pflan­ze, die bei uns sehr sel­ten vor­kam, und die zu fin­den als ein be­son­de­res Ver­dienst des be­tref­fen­den Schü­lers an­ge­se­hen wor­den wäre.

Was lag mei­nem Ehr­geiz nä­her, als alle He­bel in Be­we­gung zu set­zen, um die­se sel­te­ne Pflan­ze zu fin­den! Nach vie­len er­folg­lo­sen Fahr­ten durch Wäl­der, Wie­sen und Fel­der und nach end­lo­sem, ver­geb­li­chem Nach­fra­gen traf ich ei­nes Abends die Schin­der­lie­se, ein als Hexe weit und breit ver­schrie­nes al­tes Weib. So­fort kam mir der Ge­dan­ke, dass sie al­lein mir hel­fen kön­ne. Furcht­los trat ich auf sie zu und frag­te sie nach Stech­ap­fel – und sie­he – die Alte ver­sprach mir das herr­lichs­te Exem­plar, wenn ich ihr da­für ein Körb­chen Pflau­men brin­ge. Ich hät­te ihr in mei­ner Freu­de die Klei­der vom Lei­be ge­ge­ben.

Am Don­ners­tagnach­mit­tag, so ge­gen fünf Uhr, mach­te ich mich auf den Weg ins Schin­der­haus. Der Tag war trü­be und die Ber­ge mit Ne­bel ver­hängt. Das Schin­der­haus lag jen­seits des Flus­ses.

Statt nun den Weg über die hohe stei­ner­ne Brücke zu neh­men, stieg ich den Ab­hang hin­ter dem Dorf hin­un­ter und durch­kreuz­te das wei­te, stei­ni­ge Fluss­bett, zwäng­te mich müh­sam durch das dunkle, dich­te Er­len­ge­büsch und stand end­lich vor dem rau­schen­den Was­ser. Es ging nicht hoch, und über­all stan­den ge­wal­ti­ge Stei­ne, auf de­nen man leicht das jen­sei­ti­ge Ufer er­rei­chen konn­te. An ei­ner Stel­le teil­te es sich so­gar in zwei Arme, die ein klei­nes Stück Land um­spann­ten, und die sich wei­ter un­ten wie­der ver­ei­nig­ten. Ganz mü­he­los sprang ich über das Was­ser und er­reich­te das Schin­der­haus.

Nach un­ge­fähr ei­ner hal­b­en Stun­de kehr­te ich glück­lich mit dem schöns­ten Stech­ap­fel wie­der zu­rück. Ich ging wie im Trau­me. Das Ge­lin­gen nach den vie­len Be­mü­hun­gen, das vor­aus­sicht­li­che Lob des Leh­rers, mei­ne be­son­de­re Stel­lung in der Schu­le – al­les dies be­se­lig­te mich na­men­los.

Un­ter­des­sen war es aber dun­kel ge­wor­den. Ein hef­ti­ger Wind jag­te durch die Er­len, die sich rau­schend bo­gen und mich fast zur Erde war­fen. Als ich an den Fluss kam, woll­te ich mei­nen Au­gen nicht trau­en. Das Was­ser war merk­lich ge­stie­gen und wälz­te sich als eine schwar­ze, dro­hen­de Flut an mir vor­bei. Ich stutz­te wohl einen Au­gen­blick, aber ohne eine Ge­fahr zu ah­nen, sprang ich dort, wo sich das Was­ser teil­te, von Stein zu Stein über den ers­ten Arm hin­weg und stand nun auf fes­tem Bo­den, zu bei­den Sei­ten die schäu­men­den Was­ser. Als ich den zwei­ten Fluss­arm über­sprin­gen woll­te, sah ich plötz­lich, dass es eine Un­mög­lich­keit war. Die Wo­gen schos­sen hoch über den Stei­nen weg. Ein ge­wal­ti­ger Schre­cken er­fass­te mich, und ich ent­schloss mich rasch, wie­der über den an­de­ren Arm zu­rück­zu­keh­ren, aber als ich mich um­dreh­te, sah ich, wie auch dort das Was­ser in den we­ni­gen Au­gen­bli­cken ge­stie­gen war, dass ich nicht mehr zu­rück konn­te. Das Stück­chen Land, auf dem ich stand, wur­de zu­se­hends klei­ner und klei­ner. Ich sah die schreck­li­che Flut auf mich zu­kom­men, und eine ra­sen­de Angst er­griff mich. Mein Stech­ap­fel schoss auf den Wo­gen da­von. Ich sank auf die Knie, sprang wie­der auf, hob die Arme em­por, schrie, schrie wie eine Verzwei­fel­te. Auf der fer­nen Brücke sam­mel­ten sich Men­schen, die mir alle hef­ti­ge Zei­chen mach­ten, dass ich zu­rück soll­te. Die Ent­fer­nung ließ sie die große Ge­fahr nicht er­ken­nen, in der ich schweb­te.

Der Wind jag­te mich fast in die Flut hin­ein. In den Er­len rausch­te es un­heim­lich. Die Wo­gen tob­ten. Aus der fer­nen Schlucht schi­en sich ein Welt­meer über mich er­gie­ßen zu wol­len. Die Leu­te schri­en. Ich schrie, und die Nacht sank im­mer tiefer.

Da – teil­ten plötz­lich zwei Hän­de das Ge­büsch, und ein jun­ger Bur­sche tauch­te am Ufer auf. Mit ei­nem ge­wal­ti­gen Sat­ze sprang er in die Flut von Fels­block zu Fels­block bis in die Mit­te des Was­sers. Dort blieb er, wie ein Fich­ten­baum um­rauscht von den to­sen­den Was­sern, fest ste­hen und reich­te mir eine Hand hin­über, riss mich dann so ge­wal­tig über den Fluss, dass ich bei­na­he flie­gend das an­de­re Ufer er­reich­te.

Als ich mich nach mei­nem Ret­ter um­sah, war er ver­schwun­den. Ich kehr­te wie be­täubt ins Dorf zu­rück. Auf dem Rat­haus­platz stieß ich mit den Leu­ten zu­sam­men, die auf der Brücke ge­we­sen wa­ren. Sie schimpf­ten ganz ent­setz­lich auf mich ein und mein­ten, ich ver­dien­te sol­che Prü­gel, dass ich da­von acht Tage lang nicht ge­hen könn­te.

In­ner­lich wie er­starrt kam ich nach Hau­se. Mei­ner Groß­mut­ter wag­te ich nichts zu er­zäh­len, aber als ich im Bet­te lag, konn­te ich lan­ge nicht ein­schla­fen. Ich muss­te al­les noch ein­mal klar durch­le­ben und durch­den­ken, und bei die­ser Ge­le­gen­heit wur­de mir erst recht be­wusst, wie nah ich dem Tode ge­we­sen war und was für eine große Tat je­ner Bur­sche ei­gent­lich an mir voll­bracht hat­te. Ganz deut­lich stand er vor mir.

Mein Le­bens­ret­ter! Er hieß Jo­hann Mar­tin Am­bühl und war fünf­zehn Jah­re alt. Sei­ne El­tern wa­ren arme Leu­te, und er hat­te noch vier jün­ge­re Ge­schwis­ter. Wir kann­ten ihn als einen klu­gen, aber wil­den und ro­hen Mit­schü­ler, je­doch in mei­nen Au­gen war er nun ein En­gel.

Eine gren­zen­lo­se Dank­bar­keit für ihn er­füll­te mich. Le­bens­ret­ter pflegt man zu be­loh­nen. Das wuss­te ich, und plötz­lich ließ mich der Ge­dan­ke nicht mehr los, ich muss­te ihm ir­gend et­was schen­ken, ir­gend et­was, das ihm Freu­de mach­te.

Prü­fend er­wog ich al­les, was ich be­saß, aber nichts, nichts war da, das man ei­nem jun­gen Bur­schen schen­ken konn­te. Mein Be­sitz gip­fel­te da­mals in ei­nem Näh­körb­chen mit rosa sei­de­nen Kis­sen, ei­nem Spie­gel­chen und ei­nem sil­ber­nen Fin­ger­hut. Ich hät­te ihm das al­les mit über­vol­lem Her­zen ge­ge­ben, aber was soll­te er da­mit? Er hät­te mich nur aus­ge­lacht, und das wäre mir schreck­lich ge­we­sen.

Krampf­haft such­te ich wei­ter in mei­nen Schät­zen. Ich be­saß eine Knopf­samm­lung, etwa hun­dert Bil­der, einen Band von »Hei­di« – aber das ge­nüg­te mir al­les nicht – doch – ja – ich be­saß noch et­was.

Blitz­schnell sprang ich aus dem Bett und durch­such­te die Ta­schen mei­ner Schür­ze, und wirk­lich – nun hat­te ich es, hielt es in mei­ner Hand und schlüpf­te da­mit wie­der ins Bett. Es wa­ren zwan­zig Rap­pen! Zwan­zig Rap­pen! Für uns Kin­der da­mals ein Ver­mö­gen, denn – was konn­te man nicht al­les für zwan­zig Rap­pen ha­ben!

Also ich über­leg­te nun, was ich mei­nem Le­bens­ret­ter für zwan­zig Rap­pen kau­fen soll­te. Rote Zucker­stan­gen? Ein Leb­ku­chen­herz? Kan­dis­zu­cker? Bä­ren­dreck? Nein, nein, das schi­en mir al­les nicht das Tref­fen­de zu sein. Wer wuss­te denn, ob der Jo­hann Mar­tin Am­bühl über­haupt Bä­ren­dreck aß? Ich kann­te Kin­der, de­nen er viel zu süß war.

Also et­was an­de­res! Aber was? – Plötz­lich fiel es mir ein, wo­mit ich das Herz mei­nes Le­bens­ret­ters er­freu­en konn­te, denn um die­ses Ge­schenk, das ich ihm ma­chen woll­te, lag auch noch das strengs­te Ver­bot sämt­li­cher El­tern, Leh­rer und über­haupt der gan­zen dörf­li­chen Ob­rig­keit. Also war es um so köst­li­cher.

So fass­te ich denn an die­sem un­se­li­gen Don­ners­tag, abends um neun Uhr, im Bet­te den Ent­schluss, mei­nem Le­bens­ret­ter in ewi­ger Dank­bar­keit für zwan­zig Rap­pen Zi­gar­ren zu kau­fen!

Se­lig schlief ich ein, und se­lig wach­te ich am Frei­tag auf. Am Vor­mit­tag war es mir un­mög­lich, mei­ne Ein­käu­fe zu ma­chen. Am Nach­mit­tag je­doch trat ich mit po­chen­dem Her­zen in den klei­nen La­den des Bäckers Schmid am Rat­haus­platz. Ich muss­te lan­ge war­ten, bis je­mand kam, mich zu be­die­nen, und ich hat­te reich­lich Zeit, nach­zu­den­ken, wel­che Zi­gar­ren wohl die feins­ten sei­en.

Bei Schmid gab es da­mals zwei Sor­ten. Die einen wa­ren kurz und dick und hie­ßen »Stum­pen«, die an­dern wa­ren lang und dünn, mit ei­nem Stroh­halm durch die Mit­te, »Bris­sa­go« ge­nannt. Die­se kos­te­ten zehn, die Stum­pen da­ge­gen nur fünf Rap­pen!

Nach schwe­rem Kamp­fe ent­schloss ich mich für eine Stroh­halm­zi­gar­re und zwei »Stum­pen«. Mein klei­nes Pa­ket un­ter der Schür­ze ver­steckt, ging ich in die Schu­le.

Ich war die ers­te. Nicht lan­ge dar­auf er­schi­en – wie war mir das Glück doch ge­wo­gen! – mein Le­bens­ret­ter. Als er mich sah, lach­te er. Da ging ich auf ihn zu, und, ohne ein Wort zu sa­gen, steck­te ich ihm das Pa­ket in sei­ne Rock­ta­sche und lief da­von.

Wir hat­ten an die­sem Nach­mit­tage, wie schon ge­sagt, Zeich­nen und Na­tur­ge­schich­te und wa­ren alle in ei­nem ein­zi­gen Klas­sen­rau­me ver­ei­nigt.

Nach ei­ner Stun­de laut­lo­sen Ar­bei­tens stand der Jo­hann Mar­tin plötz­lich auf und bat um Er­laub­nis, hin­aus­zu­ge­hen.

Da er mir durch das Er­eig­nis des vor­her­ge­hen­den Ta­ges so na­he­ge­rückt war, in­ter­es­sier­te mich al­les, was er tat und ließ, und ich war­te­te da­her auch ge­spannt auf sei­ne Rück­kehr, aber – man stel­le sich mein Ent­set­zen vor – eine hal­be Stun­de war ver­gan­gen, und er war nicht wie­der­ge­kom­men. Eine wei­te­re Vier­tel­stun­de – und noch war er nicht da. Was war ge­sche­hen? Wo moch­te er sein?

Vom Kirch­turm her klang es mah­nend drei­mal voll und schwer. Da stutz­te der Leh­rer und frag­te ganz er­schro­cken: »Ist der Jo­hann Mar­tin nicht schon vor drei Vier­tel­stun­den hin­aus­ge­gan­gen?« Alle be­jah­ten es.

Da ging der Leh­rer hin­aus und kam auch nicht wie­der. Nun stan­den wir alle auf und gin­gen eben­falls hin­aus, denn wir wuss­ten, dass ir­gend et­was vor­ge­fal­len war.

Als wir in die Nähe ei­nes ge­wis­sen Or­tes ka­men, bot sich uns ein wirk­lich mit­lei­der­re­gen­des Bild. Die Türe stand weit of­fen. An der Wand lehn­te mein Le­bens­ret­ter – bleich wie eine Lei­che, das schwar­ze Haar wirr über der Stirn, die Au­gen wie im Tode ge­bro­chen, die Arme schlaff her­un­ter­hän­gend. Von Zeit zu Zeit mach­te er eine selt­sa­me Be­we­gung. Es war wie ein Krampf. Das Kinn schnell­te nach vorn, Hals und Brust nach hin­ten, und dazu er­tön­ten selt­sa­me, gur­geln­de Lau­te. Am Bo­den la­gen ein paar Dut­zend Streich­höl­zer, Über­res­te von Zi­gar­ren – – mei­ner Zi­gar­ren – und – – na – – lasst mich schwei­gen!

Der Leh­rer schäum­te vor Wut. Er pack­te den voll­stän­dig wil­len­lo­sen Bur­schen hin­ten am Kra­gen und stieß ihn vor sich her in die Klas­se zu­rück. Dort schleu­der­te er ihn ge­gen die Wand und schrie: »Du Lump! … Du elen­der Lüm­mel! … Dei­nen El­tern stiehlst du das Geld … .«

Da war es mir, als ob mir je­mand einen ge­wal­ti­gen Stoß nach vorn ge­ge­ben habe. Ohne Be­sin­nen trat ich aus der Men­ge der to­ten­stil­len Schar und rief: »Das ist nicht wahr! Ich habe ihm die Zi­gar­ren ge­ge­ben, weil er mir das Le­ben ge­ret­tet hat!«

Der Leh­rer sah mich ver­ständ­nis­los an. Dann frag­te er un­gläu­big: »Du hast ihm die Zi­gar­ren ge­ge­ben?«

Und ich ant­wor­te­te mit ganz un­er­hör­tem Mute: »Ich woll­te ges­tern über den Fluss nach Hau­se und war auf ein­mal mit­ten im Was­ser. Wenn er mich nicht ge­ret­tet hät­te, wäre ich tot, und dar­um habe ich ihm Zi­gar­ren ge­schenkt.«

Un­ter den Schü­lern be­gann ein bos­haf­tes Ki­chern. Da schick­te der Leh­rer alle hin­aus. Nur Am­bühl und ich soll­ten da­blei­ben.

Der Leh­rer ging ein paar­mal schwei­gend im Zim­mer auf und ab. Wäh­rend­des­sen war mir auch er­schre­ckend klar ge­wor­den, was für ein Un­recht ich be­gan­gen und in was für eine schlech­te Lage ich mich durch mein Ge­ständ­nis ge­bracht hat­te. Mein Zeug­nis fiel mir ein, und das Wei­nen saß mir zu­oberst.

Der Leh­rer stand jetzt am Fens­ter und rieb sich die Hän­de. »Wenn er doch spre­chen möch­te!« dach­te ich mit wür­gen­der Angst im Her­zen. End­lich kam er auf uns zu und sah uns lan­ge an. Dann sag­te er zu mir mit ei­nem so hä­mi­schen Aus­druck im Ge­sich­te, wie ich ihn noch nie bei ei­nem Men­schen ge­se­hen hat­te: »So eine bist du also!?« – Eine lan­ge Pau­se und dann je­des Wort be­to­nend: »Den Kna­ben läufst du nach und – ver­führst sie – zu sol­chen Schlech­tig­kei­ten!!« Wie­der eine Pau­se. »Das« – er at­me­te tief und schwer – »das hät­te ich von dir wahr­lich nicht er­war­tet!«

Dann setz­te er sich ans Pult und be­gann in die Zeug­nis­lis­te zu schrei­ben.

Ich hät­te in die Erde ver­sin­ken mö­gen. Ich – den Kna­ben nach­lau­fen?! Ich – sie zu Schlech­tig­kei­ten ver­füh­ren?! Mir lief ein Zit­tern durch den gan­zen Kör­per, aber kei­ne Trä­ne lös­te sich. Es war, als sei je­der Trop­fen vor solch gren­zen­lo­ser Ver­ach­tung, die mich ge­trof­fen, schon im Auge ver­eist.

Wir muss­ten uns dann auf un­se­re Plät­ze set­zen, be­ka­men aber merk­wür­di­ger­wei­se kei­ne Stra­fe.

Am an­dern Mor­gen je­doch er­hiel­ten wir die Zeug­nis­se. Ich war aus al­len Him­meln ge­stürzt und schlich als das un­glück­lichs­te Kind nach Hau­se, denn in mei­nem Zeug­nis stand groß und breit: »Ihr Ver­hal­ten wäh­rend der Som­mer­schu­le war kaum be­frie­di­gend.«

So lern­te ich un­ter bit­te­ren Trä­nen das Sprich­wort von den Bäu­men, die der lie­be Gott nicht in den Him­mel wach­sen lässt.

Wie der liebe Gott mir einmal geholfen hat

Die Schu­le hat­te wie­der be­gon­nen. Wir wa­ren von der ers­ten Klas­se in die zwei­te hin­auf­ge­rückt, und mit die­ser Be­för­de­rung war na­tür­lich viel Neu­es ver­bun­den.

In ei­nem lan­gen schwar­zen Rock stand ne­ben dem Pult un­ser Pfar­rer, ein erns­ter, ehr­wür­di­ger Herr, und wir blick­ten be­wun­dernd zu ihm auf.

Er sprach vom Glau­ben und Be­ten und er­zähl­te uns eine gar selt­sa­me Ge­schich­te, über die ich mich da­mals nicht ge­nug wun­dern konn­te.

Ir­gend­wo in Afri­ka, dort wo es da­mals noch Men­schen­fres­ser gab, war eine klei­ne Ge­mein­de from­mer Chris­ten im Hau­se ei­nes Mis­sio­nars ver­sam­melt. Selbst­ver­ges­sen san­gen sie geist­li­che Lie­der und merk­ten in ih­rer tie­fen An­dacht nicht, dass die wil­den Kan­ni­ba­len in Scha­ren drau­ßen das Haus um­ring­ten, um sie zu über­fal­len und ih­nen un­ter Qua­len ein schreck­li­ches Ende zu be­rei­ten. Als sie schließ­lich ihre Fein­de doch am Fens­ter ge­wahr­ten, wuss­ten sie, dass nur Gott al­lein ih­nen noch hel­fen könn­te.

Sie fie­len auf die Knie und be­te­ten und glaub­ten, glaub­ten fel­sen­fest an die Hil­fe des Him­mels, fan­den aber in ih­rer Verzweif­lung und To­des­angst nur we­ni­ge Wor­te, die sie im­mer wie­der vor sich hin­stam­mel­ten: »Herr, un­ser Hei­land und Gott, ver­birg uns vor den Au­gen des Fein­des! O, ver­birg uns vor sei­nen Au­gen!«

Und sie­he, ihre Hoff­nung und ihr Glau­be soll­ten nicht ge­täuscht wer­den. Das Wun­der­ba­re ge­sch­ah. Die Be­ten­den sa­hen wohl die Fein­de drau­ßen, aber die Fein­de sa­hen die from­men Men­schen in der Stu­be nicht mehr. Es war, als habe Gott den Wil­den die Fä­hig­keit zu se­hen ge­nom­men. Leer und öde er­schi­en ih­nen durch die Fens­ter das Zim­mer, und lang­sam ver­zo­gen sie sich wie­der in der dunklen Nacht.

Der Pfar­rer nann­te die­ses Er­eig­nis das Wun­der­bars­te, das je durch den Glau­ben ge­sche­hen sei.

»Seht, Kin­der«, sprach er, »so wun­der­bar hilft Gott den Men­schen, die an ihn glau­ben. Ein herr­li­cher Spruch in der Bi­bel schon sagt: ›So ihr Glau­ben habt, könnt ihr Ber­ge ver­set­zen.‹ Das heißt: das schein­bar Un­mög­li­che ist doch mög­lich durch un­se­ren gü­ti­gen Gott im Him­mel, aber glau­ben, ja glau­ben muss der Mensch. Und nun wie­der­holt mir mal die schö­nen Bi­bel­wor­te: ›So ihr …‹« Und wir fie­len alle im Chor ein: »So ihr Glau­ben habt, könnt ihr Ber­ge ver­set­zen.«

»Ja«, nick­te er, »so ihr Glau­ben habt, könnt ihr Ber­ge ver­set­zen, und nun wol­len wir be­ten.«

Wäh­rend wir an­däch­tig im Ge­bet ver­sun­ken wa­ren, tön­ten vom Kirch­turm her dumpf und fei­er­lich elf Schlä­ge zu uns her­ein. Die Schu­le war aus.

Wir wa­ren ge­ra­de im Be­griff, mit Ge­schrei und Map­pen­schwin­gen hin­aus­zu­stür­men, als un­ser Leh­rer er­schi­en und uns noch ein­mal zu­rück­schick­te.

Als wir end­lich mäus­chen­still und er­war­tungs­voll wie­der auf un­sern Bän­ken sa­ßen, be­gann er: »Für mor­gen habt ihr denn also fol­gen­de Bü­cher und Hef­te zu kau­fen: Ein Re­chen­buch, zwei­tes Schul­jahr, kos­tet sech­zig Rap­pen, ein Re­chen­rein­heft, kos­tet fünf­und­zwan­zig Rap­pen, und ein ein­fa­ches Re­chen­heft, kos­tet zehn Rap­pen. Das macht zu­sam­men fünf­und­neun­zig Rap­pen. Wie viel habe ich ge­sagt?«

Und wir brüll­ten alle zur Ant­wort: »Fün­fund­neun­zig Rap­pen!«

»Das ist sehr we­nig«, fuhr der Leh­rer fort, »und dar­um er­war­te ich, dass alle mor­gen ihre Sa­chen ha­ben. Und nun geht nach Hau­se! Auf!«

Mit ei­nem Ruck stan­den wir auf, und we­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter gin­gen wir die Dorf­stra­ße ent­lang.

Als ich nach Hau­se kam, stieß ich ge­ra­de auf die Groß­mut­ter. Sie kam aus dem Hüh­ner­stall und mach­te ein recht nie­der­ge­schla­ge­nes Ge­sicht.

«Groß­mut­ter!« rief ich. »Denk dir, es kos­tet nur fünf­und­neun­zig Rap­pen! Das ist doch nicht viel, nicht wahr?«

Ich sah, ihre Zu­stim­mung er­war­tend, an ihr em­por. Sie aber sag­te: »Was denn, Maja?«

Und ich be­gann: »Ein Re­chen­buch, zwei­tes Schul­jahr, kos­tet sech­zig Rap­pen, ein Re­chen­rein­heft, kos­tet fünf­und­zwan­zig Rap­pen, ein ein­fa­ches Re­chen­heft, kos­tet zehn Rap­pen.«

Als ich schwieg, sag­te die Groß­mut­ter et­was zö­gernd: »Maja, so viel Geld habe ich heu­te nicht.«

Ich war ganz er­schro­cken. »Ist das denn viel?« frag­te ich, dem Wei­nen nahe.

»Nein«, sag­te sie, »das ist gar nicht viel, aber ich habe es nicht.« Und als sie mei­ne Trä­nen sah, wisch­te sie mir die­sel­ben mit ih­rem Schür­zen­zip­fel aus den Au­gen: »Wei­ne nur nicht, Kind! Über­mor­gen ha­ben wir's schon. Du weißt ja, das Perl­hühn­chen, das Schopf­henn­li, die Spa­nie­rin und die Lah­me ha­ben seit vor­ges­tern kei­ne Eier mehr ge­legt, also wer­den sie es mor­gen ge­wiss tun. Dann habe ich ein Dut­zend, und die kannst du dann beim Bä­cker ver­kau­fen. Da­für kriegst du einen Fran­ken und zwan­zig Rap­pen, und da­mit kaufst du dir die Bü­cher.«

Ich ging wort­los von der Groß­mut­ter weg in den Gar­ten. Hin­ter dem Hüh­ner­stall war ein großer Stein und da­ne­ben ein al­ter, mit sei­nen Äs­ten bis auf den Bo­den rei­chen­der Ho­lun­der­baum.

Ich setz­te mich auf den Stein und war zu Tode be­trübt.