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Bei Tag schreibt Fallon Codes für ein Softwareunternehmen, bei Nacht spicy Romances. Damit sie es unter ihren männlichen Kollegen nicht noch schwerer hat als ohnehin, hält sie ihre Karriere als Autorin geheim und veröffentlicht unter dem Pseudonym Rosalie Golden. Umso zögerlicher reagiert sie auf den Vorschlag ihres Verlages, eine Lesung zu geben. Und tatsächlich: Ausgerechnet ihr Rivale Jesper steht vor ihr. Kurzerhand gibt Fallon sich als ihre erfundene Zwillingsschwester Rosalie aus. An der Jesper direkt ein unerwartetes Interesse hat. Als dieser daraufhin am Arbeitsplatz hilfsbereit ist wie nie zuvor, schmiedet Fallon einen Plan: Sie datet als Rosalie Jesper, bis sie die längst überfällige Beförderung erhält. Oder er sich in ihr Herz hackt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Bei Tag schreibt Fallon Codes für ein Softwareunternehmen, bei Nacht spicy Romances. Damit sie es unter ihren männlichen Kollegen nicht noch schwerer hat als ohnehin, hält sie ihre Karriere als Autorin geheim und veröffentlicht unter dem Pseudonym Rosalie Golden. Umso zögerlicher reagiert sie auf den Vorschlag ihres Verlages, eine Lesung zu geben. Und tatsächlich: Ausgerechnet ihr Rivale Jesper steht vor ihr. Kurzerhand gibt Fallon sich als ihre erfundene Zwillingsschwester Rosalie aus. An der Jesper direkt ein unerwartetes Interesse hat. Als dieser daraufhin am Arbeitsplatz hilfsbereit ist wie nie zuvor, schmiedet Fallon einen Plan: Sie trifft sich als Rosalie mit Jesper, bis sie die längst überfällige Beförderung erhält. Oder er sich in ihr Herz hackt.
Liebe Leserin, lieber Leser,
wenn du traumatisierende Erfahrungen gemacht hast, können einige Passagen in diesem Buch triggernd wirken. Sollte es dir damit nicht gut gehen, sprich mit einer Person deines Vertrauens. Auch hier kannst du Hilfe finden: www.nummergegenkummer.de
Schau gern hinten nach dort findest du eine Auflistung der potenziell triggernden Themen in diesem Buch. Um Spoiler zu vermeiden, steht der Hinweis hinten im Buch.
Für Sina und Vanessa ♥
Verstohlen warf ich einen Blick über die Schulter und versicherte mich nun schon zum dritten Mal innerhalb weniger Augenblicke, dass ich auch wirklich allein war. Doch nachdem Samuel, mein Chef, vor exakt drei Minuten das Großraumbüro für die Mittagspause als Letzter verlassen hatte, war bisher niemand wiedergekommen. Ein unruhiges Flattern breitete sich in meiner Brust aus, während ich nach dem Laptop in meinem Rucksack griff und ihn vor mir auf den Schreibtisch stellte. Ich versuchte, das Gefühl beiseitezuschieben, immerhin war es nicht so, dass ich etwas Verbotenes tat. Nur etwas, dass ich um jeden Preis geheim halten wollte. So wie damals, als ich mich heimlich für Twilight ins Kino geschlichen hatte, ohne dass Dad etwas davon mitbekam.
Mein Herz hämmerte mit der Wucht eines kleinen Presslufthammers gegen den Brustkorb, und nicht einmal das tiefe Ein- und Ausatmen half. Ich wollte nicht. Wirklich nicht. Aber es war nicht so, dass ich eine andere Wahl gehabt hätte.
Für einige Sekunden schloss ich die Augen und holte erneut Luft, ehe ich mir in Gedanken meinen Passsatz aufsagte und das erste Zeichen eines jeden Wortes des Refrains von Taylor Swifts I Did Something Bad ins Eingabefeld eintippte. Natürlich mit Satzzeichen und einigen Zahlen, die ich statt der entsprechenden Buchstaben verwendete. Immerhin hing von diesem Passwort praktisch mein Leben ab.
Sofort erschien mein Manuskript auf dem Display, und wie aus einem Reflex sah ich mich erneut um.
Ich war immer noch allein.
»Reiß dich zusammen, Fallon«, murmelte ich und legte die Finger auf die Tasten. Eigentlich hatte ich dieses Kapitel gestern Abend fertig schreiben wollen, war dann aber vor lauter Erschöpfung über der Tastatur eingeschlafen. Das machte sich nicht nur in extrem fiesen Nackenschmerzen bemerkbar, sondern auch reihenweise wirrer Buchstaben. Meine Wange war wirklich fleißig gewesen und hatte es geschafft, ganze zwanzig Seiten zu füllen, ehe ich mich ins Bett geschleppt hatte. Wenn ich auch nur halb so schnell schreiben würde, dann wäre das Manuskript in einem Monat fertig. Aber meine Finger und mein Gehirn waren im Vergleich zu meiner Wange nur zu Schneckentempo fähig, weswegen ich nun zu drastischeren Maßnahmen greifen musste.
Wie eben heimlich in der Mittagspause meiner eigentlichen Arbeit zu schreiben. Da sich alle Kollegen um diese Zeit durch das Mittagsangebot verschiedener Pubs probierten, hatte ich das Büro wenigstens für eine knappe Stunde für mich ganz allein.
Ein allerletztes Mal blickte ich mich um, doch der Testosteronspiegel in diesem Raum war noch nicht wieder gestiegen, also wandte ich mich dem blinkenden Cursor zu, der mich begrüßte. Zunächst löschte ich den riesigen Buchstabenblock, was meinem Wordcount zumindest keinen allzu großen Stich versetzte, da es nur als ein Wort gezählt worden war, ehe ich den Satz zu Ende schrieb, bei dem ich mittendrin aufgehört hatte.
Das Knacksen meiner Finger ertönte, dann legte ich diese wieder auf die Tastatur und begann, das Kapitel weiterzuschreiben. Es war diese Art von Szene, bei der ich als Leserin am liebsten Jetzt fallt doch endlich übereinander her! in ein Kissen geschrien hätte. Und meine Protagonisten waren kurz davor, immerhin waren sie gemeinsam in einer winzigen Abstellkammer des Bürogebäudes gelandet, in der man sie auf keinen Fall zusammen erwischen durfte.
Es wäre wirklich das perfekte Setting für eine erste heiße Szene, doch ich beschloss, die beiden noch ein wenig länger zu quälen. Sie und vermutlich auch meine Leserschaft. In der Hinsicht war ich keinen Deut besser als meine Kolleginnen. Wir liebten es einfach, andere zappeln zu lassen.
»Fallon, kann ich kurz mit dir reden?«
Mir wurde heiß und kalt zugleich, und wie aus Reflex schlug ich den Laptop zu, während ich mit aller Mühe versuchte, nicht auszusehen, als hätte ich heimlich Papier aus dem Drucker geklaut. Was verdammt schwierig war, da mein Chef plötzlich neben meinem Schreibtisch stand und mich misstrauisch musterte.
Verdammt. Wieso hatte ich nicht gehört, dass die Kaffeemaschine mit der Lautstärke eines Schlagbohrers durch den Raum dröhnte, während sich meine Kollegen um mich herum unterhielten? Das konnte ich nicht einmal auf den blöden Teppichboden schieben. Aber seine Schuld war es zumindest, dass Samuel Ninja-gleich neben mir aufgetaucht war.
Seine Augenbrauen waren noch immer auf die Art hochgezogen, als glaube er, mich bei etwas ertappt zu haben.
»Was gibt es?«, fragte ich und räusperte mich, während ich versuchte, an seinem Gesicht abzulesen, ob er das Dokument auf meinem Bildschirm gesehen hatte.
»Was hast du da gemacht?« Sein Blick war unverwandt auf den Laptop gerichtet, den ich eilig zurück in den Rucksack schob.
»Ich soll einen Schulaufsatz für meine Cousine korrigieren«, log ich und betete, dass ich den Laptop in meiner Panik schnell genug geschlossen hatte.
Denn »Erektion«, »Stöhnen« und »strich mit den Fingern die Innenseite meiner Schenkel empor« würden definitiv einige Fragen über die Schule aufwerfen.
»Verstehe.« Samuels Augenbrauen waren mittlerweile wieder von ihrem Besuch bei seinem Haaransatz zurückgekehrt, während er nickte, als würde er mir bei etwas zustimmen, auch wenn ich nicht sagen konnte, wobei. »Ich wusste gar nicht, dass du eine Cousine hast.«
Ja, ich auch nicht, dachte ich und zuckte nichtssagend mit den Schultern, weil ich nicht wusste, was ich ihm darauf antworten sollte. Dad hatte keine Geschwister, durch die ich welche haben könnte, und Mum hatte den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen, noch bevor sie meinen Dad kennengelernt hatte. Aber da mein Nachname praktisch alles war, was meine Kollegen über mich wussten, konnte ich ihnen auch den Tod meiner Grandma weismachen. Und ich würde es, wenn es dafür sorgte, dass meine Nebenbeschäftigung als Autorin weiterhin geheim blieb.
»Gut, gut«, sagte er und sah sich in dem Großraumbüro um, fast so, als wollte er sich vergewissern, dass uns niemand belauschte. Wenigstens war Ethan noch nicht wieder da, mit dem ich mir eine Zweiertischgruppe teilte und der mir somit gegenübersaß.
»Geht es um das Amber-Projekt?«, fragte ich mit dem Hauch einer unguten Vorahnung, nachdem Samuel mehrere Sekunden lang nichts gesagt hatte. Mein Vorgesetzter war sonst jemand, den man nur zum Schweigen brachte, indem man ihm seine über alles geliebten, scheußlich gemusterten Krawatten in den Hals stopfte. Wenn er also nicht wusste, was er sagen sollte, dann lag es meistens daran, dass die Nachrichten nicht gerade positiv waren.
»Ja«, gab er schließlich zu und hob beschwichtigend die Hände, ehe er mir überhaupt gesagt hatte, was los war. Was meine ungute Vorahnung noch ein klein wenig mehr befeuerte. »Ich kann dich nicht als Architektin für das Projekt einsetzen.«
Seine Worte trafen mich wie ein Fausthieb in die Magengegend. Immerhin hatte er mir nach dem letzten Projekt versprochen, dass ich diese Rolle bekommen würde. Weil ich mir die Nächte um die Ohren geschlagen hatte, damit wir unsere Deadline schafften, während sich meine Kollegen im Tynecastle Stadium Fußballspiele angesehen oder die Abende gemeinsam im Pub verbracht hatten. Ich wollte diese Rolle, um meinen Kollegen endlich beweisen zu können, dass ich nicht nur gut darin war, Code zu schreiben, sondern auch ein komplettes Projekt zu konzeptionieren. Mir zu überlegen, welche Technologien und Frameworks wir wie einsetzen und wie die einzelnen Komponenten ineinandergreifen sollten. Es wäre meine Chance gewesen, zu zeigen, dass ich mehr konnte als nur Vorgaben erfüllen.
»Wer wird es stattdessen?«, stieß ich durch zusammengebissene Zähne hervor, auch wenn ich die Antwort bereits kannte. Die einzige andere Person, die neben Samuel und mir an diesem Kundenmeeting teilgenommen hatte.
»Jesper.«
Auch wenn es offensichtlich gewesen war, machte es das nicht besser, ausgerechnet diesen Namen zu hören.
»Das war so nicht abgemacht«, sagte ich und bemühte mich, meine Stimme ruhig klingen zu lassen, auch wenn mir das Blut in den Ohren rauschte. Wie von selbst trommelten meine Finger energisch auf der Tischplatte herum. Ruhig bleiben. Ich musste um jeden Preis ruhig bleiben. Sonst wäre ich ja sowieso nur wieder viel zu emotional in seinen Augen.
»Ich weiß, ich weiß. Aber was soll ich machen?«, erwiderte er und zuckte mit den Schultern, wobei das Hemd aus dem Bund seiner Hose rutschte, was dem pseudoseriösen Outfit einen kleinen Knacks verpasste. »Der Kunde hat darauf bestanden.«
Ein Schnauben drang reflexartig aus meiner Kehle, und ich lehnte mich tief in das Polster des Schreibtischstuhls, die Finger in die Armlehnen gegraben, um meinem überaus rückgratlosen Chef nicht an den Hals zu springen. Denn ich war definitiv kurz davor. Und alles, was mich davon abhielt, war die Tatsache, dass sich ein Aufenthalt im Gefängnis nicht gut in meinem Lebenslauf machen würde.
»Natürlich hat er das«, erwiderte ich leise und rückte die Goldrandbrille auf der Nase zurecht, ohne die ich keine drei Schritte weit sehen konnte. »Was war seine Begründung?«
Samuel stieß einen schweren Seufzer aus, und seine sonst so blasse Haut färbte sich allmählich rot. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er sich aufregte, weil er keine Lust hatte, das zu diskutieren. Schön. Damit waren wir schon zu zweit.
»Mach es doch nicht kompliziert, Fallon. Er will nun einmal Jesper.«
»Aber er muss doch einen Grund genannt haben?«, versuchte ich es erneut in einem bemüht freundlichen Tonfall, der mir jedes bisschen Kraft abverlangte. Ich wollte nicht freundlich sein. Ich wollte, dass er zugab, dass es einzig und allein an der Tatsache lag, dass Männer andere Männer für kompetenter hielten. Insbesondere in einer männerdominierten Branche wie der Softwareentwicklung.
Mir war der abschätzige Blick dieses schmierigen Kerls nicht entgangen, als er mich bei unserem ersten Meeting vor einigen Wochen gesehen hatte.
Ich hatte mir stundenlang den Kopf darüber zerbrochen, wie ich mich stylen konnte, sodass er mich ernst nehmen würde, und in mir nicht nur das schmückende Beiwerk sah. Denn in der Vorstellung vieler Männer konnte eine gestylte Frau unmöglich kompetent sein. Aber ohne Make-up hätte er mich sicher gefragt, ob ich krank wäre. Also hatte ich einen Mittelweg gewählt. Und dennoch hatte er die Frechheit besessen, mir zu sagen, wie er seinen Kaffee trank, obwohl die Kanne, die Tassen sowie Milch und Zucker auf dem Tisch direkt vor ihm gestanden hatten.
Anschließend hatte er mir geraten, doch mehr zu lächeln, weil das als Samuels Sekretärin zu meinem Job gehören würde. Jesper hatte ebenfalls nicht gelächelt, sondern die ganze Zeit über eher den Eindruck erweckt, ihm würde ein Zeh abfrieren, aber bei ihm war es natürlich professionell. Immerhin war er ein Mann, und niemand würde jemals auf die Idee kommen, so etwas zu ihm zu sagen.
Und ich war einfach so verdammt freundlich geblieben, während ich ihm erklärt hatte, wer ich war, weil Samuel es nicht für nötig gehalten hatte. Weil ich professionell wirken wollte und nicht wie jemand, die sich wegen jeder Kleinigkeit aufregte oder aus der Fassung bringen ließ, nur weil ihr Gegenüber ein sexistischer Arsch war. Und nun bereute ich es, ihm nicht wenigstens seinen giftgrünen Energydrink über seine vor Gel triefenden Haare geschüttet zu haben.
Nach dem Meeting war nur einmal mehr klar gewesen, dass es Männern wie ihm egal war, wie ich auftrat. Ich würde sie nie davon überzeugen können, dass ich genauso gute Arbeit leistete wie meine männlichen Developer-Kollegen. Vielleicht glaubte er auch, dass die Entwickler den Code mit ihren Penissen schrieben.
»Fallon. Nimm das doch nicht so persönlich.« Samuels Kopf hatte mittlerweile die Farbe einer Tomate angenommen, seine Stimme klang angestrengt, und ich fragte mich für einen Moment, ob beides daran lag, dass er gerade keine Luft bekam. »Sieh es stattdessen als Chance, noch etwas mehr zu lernen.«
Ich biss die Zähne wieder zusammen, um zu verhindern, dass ich Samuel tausend Flüche an den Kopf warf, und kippte mit der Stuhllehne wieder nach vorn. So schwungvoll, dass mein Knie fast schmerzhafte Bekanntschaft mit dem Tischbein gemacht hätte. Heute war wirklich nicht mein Tag.
»Nach diesem Projekt befördere ich dich wirklich. Aber es ist zu wichtig, um es an die Konkurrenz zu verlieren.«
Mir lagen einige sarkastische Erwiderungen auf der Zunge, die ich eine nach der anderen herunterschluckte. Sicher verstand ich, dass dieses Projekt – der Aufbau des neuen Webshops von Cassie Amber – wichtig war. Extrem wichtig, immerhin handelte es sich bei ihr um eine Beauty-Influencerin, die mittlerweile über acht Millionen Menschen via Social Media an ihrem Leben teilhaben ließ.
Genau genommen war sie also unsere Kundin, doch Cassies Manager war derjenige, der uns beauftragte und mit uns verhandelte. Und Samuel verbog und verrenkte sich für diesen Typen, der über Cassies Projekt sprach, als wäre sie ein naives, kleines Mädchen, das mit Spielgeld versuchte, einen Laden zu eröffnen.
Und nun war ausgerechnet Jesper zum Architekten befördert worden. Nachdem wir uns bereits bei dem letzten gemeinsamen Projekt mehrfach in die Haare bekommen hatten, hegte ich keine Zweifel, dass das hier auch wieder so sein würde. Nur dass er dieses Mal als Architekt das letzte Wort hatte. Mr Perfect himself, der alles besser wusste und besser konnte. Was hatte ich dem Universum getan, dass es mich so bestrafte?
Gern hätte ich gegen das Tischbein getreten, doch am Ende tat mir das mehr weh als dem Holz, also ließ ich es sein. Es war nur so unfair. Jesper war einfach vor nicht einmal einem Jahr bei We Solve IT aufgetaucht und hatte die Herzen aller Kollegen mit seinem arroganten Gehabe im Sturm erobert, während ich seit meiner Studienzeit hier arbeitete, Überstunden machte, aber trotz allem nur eine von vielen im Backend-Team war.
Was wichtig war, immerhin waren wir für alles zuständig, was man auf den ersten Blick nicht sah. Wie in einem Webshop die Nutzer verwaltet oder die Bestellungen verarbeitet wurden. Oder die Anbindung der Datenbank, damit neu angelegte Produkte bald im Shop auftauchten. Ohne uns ging nichts. Und trotzdem fühlte es sich mies an.
»Schön«, sagte ich knapp, nachdem mir bewusst wurde, dass mich Samuel noch immer erwartungsvoll anstarrte. Mein Kiefer tat mittlerweile weh, und ich hatte keinen Nerv mehr, weiter mit ihm zu reden. Zumindest nicht, ohne zu explodieren. Seine angespannten Gesichtszüge wurden weicher, und seine Haut nahm wieder eine menschlichere Farbe an. Er lächelte erleichtert. Was vielleicht daran lag, dass ich ihn nicht mehr so anfunkelte, als wollte ich ihm gern einen kleinen Schubs die Treppe hinunter geben.
»Schön«, wiederholte er zufrieden und nickte bekräftigend, ganz so, als wären damit alle Probleme aus der Welt geschafft. Für ihn waren sie das auch. »Dann bis später.«
Ich sah ihm aus den Augenwinkeln nach, wie er das Büro durchquerte, vorbei an gereckten Hälsen, die keinen Zweifel daran ließen, dass meine Kollegen das Gespräch belauscht hatten. Ein unangenehmes Gefühl von Scham mischte sich zu der Wut, weil nun alle wussten, dass mich weder Samuel noch dieser Manager-Typ für fähig hielten. Und das tat mehr weh, als es sollte.
Damit es nicht so aussah, als würde ich Samuel mit meinen Blicken erdolchen, wandte ich mich meinem Mailpostfach zu, in dem sich in der letzten halben Stunde fünf Benachrichtigungen zu abgestürzten Jobs auf der Datenbank tummelten. Die gehörten zu einem beendeten Kundenprojekt, für das sie einen Wartungsvertrag abgeschlossen hatten, sodass wir sicherstellen mussten, dass alles reibungslos lief. Das war in den meisten Fällen relativ unspektakulär, und wenn nicht, dann war es eine halbe Katastrophe. Es gab einfach nichts dazwischen.
Seufzend klickte ich mich durch die Absturzmeldungen und versuchte nachzuvollziehen, wieso unser Kunde den Admin-Account für den Zugriff auf die Datenbank gelöscht hatte. Vielleicht war er mit der Maus ausgerutscht. Vielleicht war auch seine Katze über die Tastatur gelaufen. Aber nicht einmal mein Groll darüber schaffte es, Jespers dunkle Stimme auszublenden, die von der anderen Seite des Büros erklang. Er bedankte sich bei Samuel. Es war nicht so, dass er besonders laut redete, doch wann immer er sprach, hatte ich plötzlich das Gehör einer Fledermaus.
Gerade hätte ich einen Arbeitsplatz in der Etage über uns bevorzugt. Und das musste etwas heißen, denn dort trieb Hank sein Unwesen, ein eigenartiger Typ um die vierzig, der mitten am Tag die benutzten Kaffeetassen von den Schreibtischen der anderen klaute und diese dann auf der Fensterbank direkt neben sich aufreihte. Niemand wusste, wieso er das tat. Aber er war der Einzige, der sich freiwillig mit unserer internen Infrastruktur herumschlug. Denn an der war in den letzten Jahren so viel herumgebastelt worden, dass dieses mosaikartige Wirrwarr Gerüchten zufolge bereits einige der besten Entwickler in den Wahnsinn getrieben hatte. Lediglich Hank schien dagegen immun zu sein. Und da niemand seinen Job übernehmen wollte, falls er kündigte, nahmen wir es einfach hin. Und zumindest räumte er die Tassen am Ende des Arbeitstags immer in die Spülmaschine, während ich mich bei einem Großteil meiner Kollegen fragte, ob sie diese neumodische Technologie schon einmal von innen gesehen hatten.
Über den Rand meines Monitors hinweg spürte ich Ethans Blick, der in den letzten fünf Minuten offensichtlich wieder aufgetaucht war und mich mit einem süffisanten Grinsen ansah. So wie seine Mundwinkel zuckten, gab er sich nicht einmal Mühe, seine Schadenfreude zu verbergen.
Ich versuchte, ihn zu ignorieren, und war fast dankbar über den Anruf des Kunden, dem mittlerweile auch aufgefallen war, dass auf seiner Webseite für exotische Fische gerade nur noch Fehlermeldungen angezeigt wurden.
Nachdem ich das Telefonat beendet hatte, war Ethan nicht mehr an seinem Platz, sondern stand zusammen mit Harvey und Will bei Jesper, als wäre dieser Regina George persönlich.
Es war mir egal. Völlig egal. Immerhin hatte ich Wichtigeres zu tun. Wie den Server-Agent wieder zum Laufen zu bringen.
Bis dieser endlich wieder den Dienst aufgenommen hatte, war das Büro wie ausgestorben. Dass Samuel bereits den Feierabend eingeläutet hatte, überraschte mich nicht, denn obwohl er unser Abteilungsleiter war, kam er morgens als Letzter und ging als Erster. Doch auch der Rest der Devs, die auf dieser Etage saßen, hatte sich in Luft aufgelöst. Ich machte mir nicht die Mühe, die noch offenen Programme zu schließen, sondern versetzte den Rechner in den Ruhemodus und durchquerte den menschenleeren Raum. Gerade als ich fast die Tür zu unserer Etage erreicht hatte, schwang diese auf, und zu meinem Leidwesen waren doch nicht alle nach Hause gegangen.
»Wieso bist du noch hier?«, fragte Jesper und klang nicht minder überrascht, während die Tür hinter ihm wieder ins Schloss fiel und somit meinen einzigen Fluchtweg aus dieser Situation versperrte. In seiner Hand hielt er eine Tasse, von seinem Laptop keine Spur. Er kam näher, der Duft seines holzig zitronigen Parfüms kitzelte meine Nase.
»Weil ich noch zu tun hatte, statt Kaffeepausen mit den Kollegen zu machen«, erwiderte ich reflexartig und sah zu ihm hoch. Seine ohnehin schon ebenholzfarbenen Augen wirkten hinter den Gläsern seiner rahmenlosen Brille noch dunkler als sonst, und der oberste Knopf seines tiefblauen Hemdes war offen, was ihn aber zu meinem Leidwesen nicht einmal weniger perfekt aussehen ließ.
Er schnaubte. »Ich hatte ein Meeting.«
»Keiner von euch schafft es, sich während eines Meetings Notizen auf dem Rechner zu machen«, erwiderte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Verzeih mir, wenn ich nicht glaube, dass du plötzlich auf Papier schreibst.«
Das wusste ich, weil ich diejenige war, die in jeder einzelnen Besprechung dafür zuständig war, das Protokoll zu tippen oder wichtige Notizen festzuhalten. Teilweise wurde ich zu Calls eingeladen, an deren Projekten ich überhaupt nicht teilnahm.
Jesper verdrehte die Augen, und seine sonst so bemüht kontrollierte Fassade bekam einen winzigen Riss. »Ich bin durchaus in der Lage, mir ein paar Details zu merken. Das kann das Gehirn für gewöhnlich, wenn man nicht so kleinlich darauf besteht, alles aufzuschreiben.«
»Ich bin kleinlich, weil ich in einem Ticket mehr stehen haben will als nur die Überschrift?«, erwiderte ich leicht genervt.
»Nein, du bist kleinlich, weil du einen halben Roman in der Beschreibung erwartest.«
Bei dem Wort Roman zuckte ich innerlich zusammen, auch wenn dem rationalen Teil meines Gehirns klar war, dass er in einem völlig anderen Kontext davon sprach.
»Tickets sollen so geschrieben sein, dass jeder Dev sie bearbeiten kann«, verteidigte ich mich und machte einen Schritt auf ihn zu. »Und wir können nun mal nicht in deinen Kopf sehen, um an die Infos zu kommen, die du möglicherweise hast.«
»Mag sein, dass das in der Theorie so ist«, erwiderte er, »aber unsere Projektteams sind so klein, dass von vornherein klar ist, wer welche Aufgabe übernimmt. So was ist damit also überflüssig.«
Ich biss die Zähne zusammen, weil ich genau wusste, dass Samuel ihm recht geben würde. Aber ich war davon überzeugt, dass das Chaos des letzten Projekts durch eine schlechte Kommunikation und Dokumentation entstanden war.
»Ich hoffe, dir ist klar, dass du als Architekt nun dafür verantwortlich bist, unsere Tickets aufzubereiten. Falls Samuel uns nicht doch noch einen Businessanalysten herzaubert«, antwortete ich schließlich, wohl wissend, dass er das nicht tun würde. Bei We Solve IT war jeder irgendwie alles, und eine richtig klare Aufgabenverteilung gab es kaum, was mich regelmäßig in den Wahnsinn trieb.
»Ich denke, dass meine Kompetenzen dafür mehr als ausreichend sind.«
»An deinen Kompetenzen zweifle ich auch nicht. Nur an deiner Fähigkeit, mitzuschreiben.«
Es würde nur noch wenige Sekunden dauern, bis ich ihm an die Gurgel springen würde. Was sich schwierig gestalten könnte, immerhin war er fast einen Kopf größer, was mich aber nicht davon abhalten würde, es zumindest zu versuchen.
Er fuhr sich mit den Händen durch die dunklen Haare, ehe er seine Arme vor der Brust verschränkte. Einige dicke silberne Ringe schlangen sich um seine langen Finger und verliehen seinem sonst so professionellen Aussehen etwas Verwegenes. Seine Kiefermuskulatur spannte sich an, und sein eben noch so neutraler Blick wurde merklich kühler. »Ich freue mich wirklich, nicht mehr ewig mit dir diskutieren zu müssen.«
»Würdest du dir mal eingestehen, dass du nicht immer alles besser weißt, dann müssten wir das auch gar nicht«, entgegnete ich und erntete dafür ein genervtes Kopfschütteln.
»Wieso habe ich gehofft, dass es dieses Mal anders wird? Nur zur Info, ich reiße mich nicht um eine Zusammenarbeit mit dir. Das letzte Projekt hat mir schon gereicht.«
»Wenigstens da sind wir uns einig«, erwiderte ich und stürmte an ihm vorbei, ohne seine Antwort abzuwarten.
Jack machte einen Schritt auf mich zu, während mein Herz so stark gegen den Brustkorb schlug, dass dieser zu zerbersten drohte. Dann noch einen. Und noch einen, bis er endlich vor mir stand, der Duft seines holzigen Parfüms meine Nase kitzelte und ich in dem tiefen Braun seiner Augen versinken konn–
Ich hielt inne. Etwas fühlte sich falsch an, also wechselte ich zur Charakterbeschreibung, in der Jacks Augen definitiv nicht braun waren. Außer vielleicht, das Meer glich neuerdings eher einem Moor. Und war sein Duft wirklich holzig? Mir war so, als hätte ich ihn wenige Seiten vorher anders beschrieben … Meine Finger zitterten, während ich versuchte, sie halbwegs koordiniert um den Henkel der »Fuck the Patriarchy«-Tasse zu schlingen. Hastig trank ich einige Schlucke daraus, so als würde der Kaffee meine innere Unruhe einfach wegzaubern.
Ich liebte meinen Nebenjob als Autorin, aber manchmal bereitete er mir schlaflose Nächte. Wortwörtlich, denn irgendwie musste ich das Manuskript ja beenden. Und nachdem ich bereits für mein letztes um eine Fristverlängerung gebeten hatte, weil ich mir die Nächte für das damalige Projekt um die Ohren geschlagen hatte, wollte ich das dieses Mal um jeden Preis vermeiden. Ich legte die Finger erneut auf die Tastatur und tippte den letzten Satz zu Ende, ehe ich mit dem nächsten begann.
»Willst du das wirklich?«, wisperte er, sein warmer Atem strich mir wie eine sanfte Berührung über die Haut.
»Ja«, sagte ich, leise, doch bestimmt. Ein gehauchtes Stöhnen entwich meinen Lippen, als er seine Hand auf meine Taille legte und mich näher an sich zog. Der Stoff seiner Hose rieb gegen die nackte Haut meiner Beine und fachte das Feuer in meinem Inneren noch weiter an. Meine Hände wanderten wie von selbst zu seinem Gesicht, strichen über seine glatte Haut.
Unsicher warf ich erneut einen Blick in meinen Charakterbogen, in dem ich Jack eindeutig einen Bart verpasst hatte. Den ich auch schon an anderen Stellen erwähnt hatte, immerhin hatte meine Protagonistin Chloe bereits mehr als einmal darübergestrichen.
Ich wechselte zurück ins Manuskript, versuchte das Bild von Jack vor meinem geistigen Auge zu speichern. Vielleicht sollte ich es auf dem zweiten Monitor einfach anzeigen lassen, aber zu viel visueller Input lenkte mich beim Schreiben meistens ab. Und noch mehr Ablenkung konnte ich gerade nicht verkraften.
»Konzentrier dich, Fallon«, ermahnte ich mich und griff nach Ada, meiner Gummiente, benannt nach Ada Lovelace, die zwischen den Monitoren saß und mich durch ihre nicht verglaste Plastikbrille fast vorwurfsvoll anstarrte.
Meine Freundin Amira hatte sie mir geschenkt, nachdem sie über den Begriff Rubber Duck Debugging gestolpert war, weil ihrer Meinung nach jede Softwareentwicklerin eine Gummiente brauchte, um mit ihr über ihre Probleme reden zu können. Gerade dann, wenn mich die Arbeit bis nach Hause verfolgte. Mittlerweile musste sich Ada aber nicht nur meine Code-Probleme anhören, sondern alle. Wenn mich Jesper wieder einmal aufregte. Wenn ich wieder einmal erkältet war, weil in unserem Büro dauerhaft Eiszeit herrschte. Und auch wenn ich beim Schreiben nicht weiterkam. Es war klischeehaft, aber es half. Nicht weil Ada tatsächlich antwortete, wofür ich ziemlich dankbar war, sondern weil sie mir erlaubte, meine Gedanken laut zu formulieren, ohne mich dabei zu fühlen, als würde ich Selbstgespräche führen.
»Jack riecht nach Minze, trägt einen Bart und hat ozeanblaue Augen«, sagte ich und hob sie auf meine Handfläche. Die kleine Brille auf ihrem riesigen roten Schnabel verrutschte leicht. »Er hat keine braunen Augen, keine glatt rasierte Haut und ist kein arroganter Besserwisser, der Chloe sagt, wie sie ihren Job zu erledigen hat. Auch wenn er nun ihr Chef ist.«
Ich wiederholte die Worte noch einige Male, bis ich merkte, dass das unruhige Rumoren in meinem Inneren allmählich nachließ und das Herz nicht mehr panisch raste. Hätte Ada sprechen können, dann hätte sie mir vermutlich schon nach der zweiten Wiederholung gesagt, dass ich endlich die Klappe halten und weiterschreiben soll. Oder dass ich mir Schreibfreundinnen suchen musste, die ich mit meinen Problemen nerven konnte. Deswegen war ich froh, dass sie mein Gerede stumm ertragen musste. Ich setzte sie zurück an ihren Platz direkt neben einen der Monitore und atmete tief durch.
Seine Lippen strichen quälend langsam über meine Stirn, wanderten weiter über die Wangen und verharrten einen Augenblick direkt am Ohr. Und obwohl das Blut tosend rauschte, hörte ich seine nächsten Worte ganz deutlich.
»Ich reiße mich auch nicht um eine Zusammenarbeit mit dir.«
Verärgert löschte ich den letzten Satz von Jack, der wirklich wusste, wie man die Atmosphäre einer heißen Szene im Keim erstickte.
Verdammt. Ich lehnte mich in dem Bürostuhl zurück, kippte leicht nach hinten und starrte an die Decke. Was war heute nur mit mir los? Seit Wochen schon freute ich mich, endlich die erste explizite Szene zwischen den beiden schreiben zu können, und dann waren meine Gedanken offensichtlich ganz woanders. Oder besser gesagt, bei jemand anderem. Und das, obwohl ich heute sogar meine Chili-Socken trug, damit die heißen Szenen besonders spicy wurden.
Gott, konnte Jesper mich nicht mal in meiner Freizeit in Ruhe lassen? Reichte es ihm nicht schon, mich während der Arbeit mit seiner Existenz in den Wahnsinn zu treiben? War sicher schön, wenn man sich mit allem so leichttat. Wenn man nicht dauernd infrage gestellt wurde. Wenn einem alles in den Schoß fiel und man nicht erst nett dafür lächeln musste. Oder für alles dankbar sein sollte.
Ich kippte wieder nach vorn, riss mir die Kopfhörer von den Ohren und stand auf. Mein Kaffee war leer, und für einen weiteren war es mittlerweile fast zu spät, immerhin wollte ich auch nicht die ganze Nacht wach liegen und mich immer wieder über den Verlauf unseres Gesprächs aufregen. Knochen knacksten, als ich mich streckte, ehe ich den Laptop zuklappte.
Es war kurz nach halb acht, und auch wenn ich für das Schreiben heute keinen Kopf mehr hatte, war mein Feierabend noch in weiter Ferne. Denn meine Social-Media-Kanäle schmissen sich leider nicht von allein, und sofern ich gegen die anderen Tausenden von talentierten Autorinnen auch nur den Hauch einer Chance haben wollte, kam ich da nicht drum herum.
Also widmete ich mich im Badezimmer dem Kampf mit den Kontaktlinsen. Selbst nach zwei Jahren hatte ich mich noch nicht an das Ziepen gewöhnt, wenn ich sie einsetzte. Was auch zum Großteil daran lag, dass meine Augen vom ständigen Starren auf diverse Bildschirme unglaublich trocken waren. Doch meine große, runde Brille war einfach zu auffällig. Und ganz ohne Sehhilfe schaffte ich es kaum unfallfrei durch die Wohnung, diese Glanzleistung fiel mir schon mit Brille häufig schwer genug.
So häufig, dass ich von meiner Freundin Mick zu meinem letzten Geburtstag neben einem wunderschönen Notizbuch, in das ich niemals auch nur ein einziges Wort schreiben würde, eine Packung mit Gummiecken bekommen hatte. Genug, um jeden Tisch und jeden Schrank damit auszustatten und zu verhindern, dass ich mich versehentlich aufspießen würde.
Nachdem die dunkelblauen Linsen endlich das Graugrün meiner Iriden verdeckten, beträufelte ich sie noch mit einem Spritzer Augentropfen, damit ich nachher nicht aussah, als hätte ich die letzten drei Stunden geheult.
Dann ging es ans Make-up. Man sah mir an, dass ich die letzten Nächte viel zu lang geschrieben hatte, denn die dunklen Stellen unter meinen Augen verschwanden erst nach drei Schichten Concealer.
Fast perfekt, dachte ich, nachdem ich den roten Lippenstift aufgetragen hatte, und holte einige Bobby-Pins und ein Haargummi aus einer anderen Schublade. Zunächst flocht ich mir einen Zopf, dann steckte ich mir meine dunkelbraunen, schulterlangen Haare am Kopf fest und zog die blonde, ewig lange Perücke darüber. Wenn mein Zweitname, den ich als Pseudonym benutzte, schon dem der blonden Vampirin aus Twilight glich, dann konnte es mein Aussehen ebenso.
Wenn man einmal von dem übergroßen Hoodie absah, auf dem der berühmte Entwicklerspruch »It’s not a bug, it’s a feature« stand, dann hätte ich mich auf der Straße nicht einmal selbst wiedererkannt.
Und genau so sollte es ja auch sein. Fallon, die sich nichts aus hübschen Klamotten machte und sich stattdessen so wenig körperbetont wie möglich kleidete, damit man sie ernst nahm. Und Rosalie, die sich gern schminkte und für das perfekte schwarze Kleid sterben würde.
Gerade, als ich mit der schönen dunkelgrünen, aber verflucht engen Bluse kämpfte, klingelte mein Handy. Hastig zog ich den Stoff über meinen Kopf und stolperte zum Schreibtisch, auf dem es sich vibrierend der Kante näherte. Kurz erhaschte ich einen Blick aufs Display, ehe ich auf den grünen Button drückte.
»Hey, Dad«, sagte ich und klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter, um den linken Arm durch den Ärmel zu zwängen. »Wie geht es dir?«
»Gut, gut«, erklang sein tiefes, warmes Brummen. Vereinzelt konnte ich Vogelgezwitscher im Hintergrund ausmachen.
»Bist du wieder am See?«, fragte ich und ließ mich gegen die Wand auf den Boden sinken. Die Erinnerung an warme Sonnenstrahlen, die auf dem Wasser glitzerten, trieben durch meine Gedanken. Ebenso wie die unzähligen Mückenstiche, die nach wenigen Stunden meinen halben Körper bedeckt hatten.
»Wollte mal schauen, wie die Fische dieses Jahr beißen.« Wie zur Bestätigung plätscherte es. »Hatte noch keinen Erfolg. Aber das wird noch.«
Ich lachte leise auf, bei der Vorstellung, dass mein ruhiger, stoischer Vater vermutlich schon seit Sonnenaufgang am Ufer des Sees saß und optimistisch genug war, zu glauben, dass er heute noch ein paar Fische an die Angel bekam.
»Ganz bestimmt«, bestätigte ich amüsiert, und er lachte ebenfalls, auf seine Teddybärenart.
»Was macht dein neuer Job?«, fragte er dann, und mein Herz sank ein klein wenig tiefer.
»Hab ihn nicht bekommen«, gab ich zerknirscht zurück.
»Wieso das?«
»Wenn ich das nur wüsste.« Natürlich wusste ich es. Zumindest war ich mir mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfundneunzig Prozent sicher. Doch ich brachte es nicht über mich, das Dad gegenüber auszusprechen. Nicht, wenn ich das Gefühl hatte, es würde in seinen Ohren wie eine Ausrede klingen, die ich nur suchte, um mir nicht eingestehen zu müssen, dass ich nicht so gut war wie Jesper.
»Hm«, machte er nur, und für einen Moment sagte er nichts, stattdessen lauschte ich dem Singen eines Vogels. »Wer hat ihn dann bekommen?«
»Mein Kollege. Der mich immer so aufregt.«
»Ach der.« Er schnaubte nur abfällig, was meine Laune ein klein wenig hob. »Mach dir nichts draus, Fallon. Dein Chef beweist nur, dass es im Arbeitsleben nicht auf Kompetenz ankommt.«
»Dad!«, brachte ich prustend hervor, weil die Art und Weise, wie er das sagte, seine Aussage wie eine unumstößliche Tatsache klingen ließ. »Danke.«
»Hm? Wofür?« Trotz seiner Frage hörte ich das Grinsen in seiner Stimme, das mir ziemlich deutlich machte, dass er sehr wohl wusste, was ich meinte. Dann stöhnte er entnervt auf.
»Was ist los?«, fragte ich irritiert, ehe ich ein lautes Kreischen durch die Leitung hörte. »Hast du jemanden mit deiner Angel erstochen?«
»Noch nicht«, gab er emotionslos zurück und murmelte einige unverständliche Flüche in seinen langen Bart. »Die Töchter von den Millers sind hier. Die waren letzte Woche auch schon da. Plappern den ganzen Tag nur über Jungs, Klamotten und Make-up und machen Fotos. Die stellen sie dann ins Internet, damit ihnen irgendwelche Leute Komplimente machen. Das soll einer verstehen.«
»Wenn ich reich bin, kaufe ich dir einen Privatsee. Dann kannst du ganz in Ruhe angeln«, versuchte ich ihn abzulenken, während mein Blick über das Fotoequipment glitt. Und über das Chaos der verstreuten Deko-Artikel ringsherum.
»Haben die wirklich nichts Besseres zu tun?« Er stieß erneut einen tiefen Seufzer aus. »Ich bin froh, dass du nicht so geworden bist.«
Ich brachte nur ein halbes, unangenehm berührtes Lachen hervor, weil ich es nicht übers Herz brachte, ihm auch noch verbal zuzustimmen. Aber ich wollte auch nicht das Bild zerstören, dass mein Dad von mir hatte. Immerhin war er derjenige gewesen, der mich in meinem Wunsch, Informatik zu studieren, von Anfang an unterstützt hatte. Er war derjenige, der an mich geglaubt hat, ganz gleich, wie oft ich über das Studium, und noch mehr über meine Kommilitonen, geflucht hatte. Ich wollte, dass er stolz auf mich sein konnte.
Und das war er – auf Fallon, seine Softwareentwickler-Tochter. Nicht auf Rosalie Golden, die heiße Liebesromane schrieb.
»Heute beißt hier nichts mehr«, sagte Dad plötzlich. »Wenn du Zeit hast, können wir mal wieder zusammen angeln. Vielleicht beißen sie ja dann.«
»Gern«, antwortete ich mit belegter Stimme und räusperte mich. »Hab dich lieb, Dad.«
»Ich dich auch, meine Kleine.«
Auch nachdem das Display bereits wieder verdunkelt war, verharrte ich noch einige Minuten am Boden, bis ich endlich die Motivation aufbrachte, auch den rechten Arm durch den Ärmel zu schieben. Dann rappelte ich mich auf, auch wenn das flaue Gefühl im Inneren nicht verschwand, und ging zu meiner Schmuckschatulle, aus der ich eine Kette hervorzog.
Rosalie Goldens Outfit war komplett.
Zumindest die obere Hälfte meines Körpers, denn aus der Jogginghose quälte ich mich heute nicht. Die sah sowieso niemand, also konnte ich es mir damit auch bequem machen, während ich mich vor der Kamera drapierte und mein Buch vor die Linse hielt.
Probehalber verzog ich die Lippen einige Male zu einem Lächeln. Jetzt war der falsche Zeitpunkt für schlechte Laune.
»Hallo, zusammen«, begrüßte ich meine Followerinnen und Follower. »Ich bin Rosalie Golden, Autorin, und hier sind fünf Gründe, wieso du meinen Roman Loveless Touch unbedingt lesen solltest.«
»Schön, dass du nicht gekündigt hast«, begrüßte mich Diana, nachdem sie die Tür zur ersten Etage geöffnet hatte. Der graue Betonboden bildete einen starken Kontrast zu dem Teppich in unseren Etagen, ebenso wie die höhenverstellbaren Schreibtische, die sich überall in dem Co-Working-Space befanden. Ich wäre neidisch gewesen, wenn es hier unten nicht ungefähr noch zehn Grad kälter gewesen wäre als in unseren Büros.
»Hattest du Angst, dass ich nach deinem Urlaub nicht mehr hier bin?«, erwiderte ich mit einem Grinsen und schlenderte zu dem riesigen Empfangstresen herüber. Die drei Wochen in Italien hatten ihrem sonst so blassen Teint ziemlich gutgetan.
»Du brauchst gar nicht zu lachen. Ich wundere mich jeden Tag, wieso du noch hier bist.« Sie warf ihre Arme dramatisch in die Luft, ehe sie aufstand und um den Tresen herum zu mir kam. Das vertraute Klackern ihrer High Heels hallte durch das leere Foyer.
»Ach, da muss schon ein bisschen mehr passieren«, erwiderte ich leichthin und umarmte sie. Ihre wunderschönen roten Locken kitzelten meine Nasenspitze. Diana war vermutlich knappe zehn Jahre älter als ich, die Managerin des Co-Working-Space und damit eine der wenigen Frauen im ganzen Gebäude. Ihr Chef war mindestens ein so großer Arsch wie Samuel und behandelte sie teilweise mehr wie seine persönliche Assistentin. Denn für gewöhnlich stand es nicht in der Aufgabenbeschreibung einer Managerin, Geschenke für die Kinder ihres Bosses auszusuchen. Oder die für seine Frau.
Kurzum – wir waren Leidensgenossinnen.
Deswegen regten wir uns in unregelmäßigen Abständen nur zu gern über unsere Kollegen auf.
»Also, was habe ich verpasst?«, fragte sie auf dem Weg zur Küche, die wir bisher für uns ganz allein hatten. Was um halb acht auch kein Wunder war. Die meisten hier kamen erst gegen neun, was uns noch ein wenig Zeit verschaffte.
»Eigentlich nichts.« Ich zuckte mit den Schultern und nahm die Tasse entgegen, die mir Diana reichte.
»Was ist mit deiner Beförderung?«, fragte sie und stellte ihre eigene Tasse unter den riesigen Kaffeeautomaten.
Ich verzog das Gesicht, spürte die Enttäuschung, die ich immer noch mit mir herumtrug, erneut aufwallen. »Welche Beförderung?«
»Na die von dem Proje…« Sie brach mitten im Wort ab, als sie begriff, was ich meinte. »Echt jetzt?«
»Jepp.« Nachdem Dianas Kaffee fertig war, stellte ich meine Tasse darunter. Samuel war zu geizig, wirklich gute Bohnen zu kaufen, weswegen ich dankbar für jede Chance war, hier unten welchen trinken zu können. »Aber das nächste Projekt kommt bestimmt.«
Zumindest versuchte ich, mir das einzureden. Mir und meinen beiden besten Freundinnen, die davon nicht ganz so überzeugt waren.
»Ich weiß nicht, wie du das aushältst.«
»Zumindest werde ich nicht wiederholt gefragt, ob ich Kaffee holen kann«, erwiderte ich mit einem grimmigen Lächeln, und Diana stieß ein leises Seufzen aus. Durch die vergleichsweise aufwendige Ausstattung war der Co-Working-Space nicht ganz günstig, was in direktem Verhältnis zu den Kunden stand.
Bei diesen handelte es sich neben einigen vielversprechenden Start-ups überwiegend um Anzug-Typen, die den ganzen Tag telefonierend durch die Etage liefen, dafür aber nicht einmal den Unterschied zwischen »dediziert« und »dezidiert« kannten.
»Wenn du irgendwann einen besseren Job gefunden hast, nimm mich mit, ja? Wenn das Gehalt nicht so gut wäre, hätte ich mich längst woanders beworben.«
»Mache ich«, erwiderte ich mit einem kleinen Schmunzeln, weil sie genauso gut wie ich wusste, dass das nicht passieren würde. »Genug davon – erzähl mir von deinem Urlaub.«
Als eine Dreiviertelstunde später doch die ersten Gäste kamen, verabschiedete ich mich von Diana und ging zurück in das vergleichsweise warme Treppenhaus, wo ich die Stufen bis zur dritten Etage nach oben stieg.
Kaum dass ich die Tür mit dem Transponder geöffnet hatte und mir der klebrig süße Geruch von Mikrowellenpopcorn aus der Küche entgegenschlug, stellten sich mir die Härchen auf. Zügig ging ich an der Sitzecke und einer Dreier-Tischgruppe vorbei, an der William besagtes Popcorn in sich hineinschaufelte, als wäre er im Kino und der Vorspann würde gerade laufen.
»Pff«, schnaubte Ethan mit einem Blick auf mich, kaum dass ich mich hingesetzt hatte.
»Was ist?«, erwiderte ich, auch wenn ich es eigentlich gar nicht wissen wollte. Doch Ethan würde dieses Geräusch sonst in den nächsten zehn Minuten noch ungefähr zwanzigmal machen, also brachte ich es lieber gleich hinter mich.
»Dein Shirt. Ich hätte dich echt nicht für so eine gehalten.« Er wackelte ominös mit den Augenbrauen, während er dabei so breit grinste, als hätte er mich erwischt, wie ich heimlich Toilettenpapier mitgehen ließ.
Ich sah an mir herunter, auf das verwaschene Black-Sabbath-T-Shirt, bei dem ich für den Bruchteil einer Sekunde befürchtet hatte, es heute früh im Halbschlaf auf links angezogen zu haben. Aber der Aufdruck war da, wo er sein sollte, und Diana hätte mich ziemlich sicher darauf hingewiesen. Normalerweise trug ich im Büro fast ausschließlich einfarbige Sachen, doch die waren gerade in der Wäsche, die ich schon seit drei Tagen machen wollte.
Statt erneut nachzufragen, ließ ich mich auf den Stuhl fallen und zog die Strickjacke enger um mich. Es war Mai, und draußen liefen die meisten Menschen in sommerlicher Kleidung bei angenehmen dreiundzwanzig Grad durch die Gegend, während meine Kollegen offenbar allesamt der Meinung waren, dass das mindestens zehn zu viel waren.
»Kannst du mir drei Songs nennen?«
»Sogar alle Songs aller Alben in chronologischer Reihenfolge«, erwiderte ich ungerührt und ohne ihn anzusehen. Immerhin war das Dads Lieblingsband. Und offiziell meine, weswegen er uns beiden Partnershirts gekauft hatte, worüber ich mich wirklich gefreut hatte. Wenn es auch eher die Geste gewesen war, denn auch wenn ich sämtliche Lieder und Texte kannte, war es einfach nicht meine Musik. Doch ich musste Ethan mein Dasein als heimliche Swiftie nun nicht noch auf die Nase binden.
Ich checkte meine Mails und sah eine Besprechungseinladung um zehn Uhr für das neue Projekt. Jesper hatte wirklich ein Talent dafür, wie er mir schon frühmorgens den Tag ruinieren konnte. Auch wenn es keine allzu große Überraschung war. Schließlich versuchte Jesper seit dem offiziellen Projektstart vor drei Wochen, die Anforderungen einzuholen, wohl mit mehr oder weniger großem Erfolg. Mr Trey schien nicht sonderlich kooperativ zu sein, und davon einmal abgesehen, wusste er nicht, was er wollte. Ich konnte nicht verhindern, ein klein wenig schadenfroh zu sein, auch wenn mir Jesper tatsächlich ein bisschen leidtat. Einfach nur, weil Mr Trey selbst ohne den Sexismus ein Arsch war.
Aber das Amber-Projekt war für Zukunfts-Fallon. Gerade musste sich Gegenwarts-Fallon noch um eines ihrer anderen drei Projekte kümmern.
»Also?«
Irritiert sah ich auf und begegnete Ethans Blick, der mich über den Rand seines Monitors hinweg prüfend ansah.
»Also was?«
»Na, auf, auf – die Titel!«
Ich verband mich mit dem VPN des Kunden, um auf seine Datenbank zugreifen zu können. Dieser hatte bei uns vor einem Jahr einen Webshop für Haarpflegeprodukte beauftragt und wollte nun für sämtliche Einträge einen neuen Text, Fotos und Preisänderungen. Was eine verdammt nervige und langweilige Arbeit war.
»Wenn du sie nicht weißt, dann google sie doch einfach«, sagte ich schließlich, als mir auffiel, dass er mich immer noch ansah.
»Ich wollte wissen, ob du sie kennst.« Mit einem winzigen Anflug von Genugtuung stellte ich fest, dass er unzufrieden klang. Weil ich nicht wie ein dressiertes Hündchen durch die Reifen sprang, die er mir hinhielt.
»Das habe ich dir bereits gesagt«, entgegnete ich bemüht ruhig.
Ethan schnaubte, murmelte dann noch so leise etwas, dass ich es nicht verstand, und wandte sich endlich seinen eigenen Aufgaben zu.
Ich machte mich daran, die Einträge zu ändern. Meine Konzentration wurde nur hin und wieder von Samuel unterbrochen, der so laut telefonierte, dass der gesamte St Andrew Square ihn sicher hören konnte.
Dennoch bemerkte ich Jespers Anwesenheit erst, als er sacht auf meinen Tisch klopfte. Der Teppichboden schluckte wirklich jedes Geräusch, und etwas sagte mir, dass sich Jesper auch mir zuliebe keine Glocke um den Hals hängen würde.
»Was ist?«, fragte ich knapp, frustriert von den letzten Wochen, in denen ich seinetwegen mit meinem Manuskript kaum weitergekommen war.
»Wir haben um zehn einen Termin oben im Besprechungsraum«, sagte er, und erneut umhüllte mich der Duft seines Parfüms.
»Ich weiß«, erwiderte ich und versuchte, Ethan auszublenden, der uns vollkommen ungeniert beobachtete. Das hatte doch die letzten beiden Stunden auch ganz gut geklappt. The Man von Taylor ertönte in meinem Kopf, wie so häufig, wenn ich mit Jesper reden musste. »Es ist noch nicht zehn.«
»Du hast die Meeting-Einladung nicht angenommen.«
»Ich habe sie trotzdem gesehen.«
Und vergessen. Zumindest, sie anzunehmen.
Mein Handy, das mit dem Display nach oben auf meinem Schreibtisch lag, vibrierte lautstark, und der Name »Margo Heather« war groß und deutlich darauf zu erkennen. Meine Lektorin bei LoveLit.
Ohne Jesper irgendeine Erklärung zu geben, beugte ich mich hastig über den Tisch und griff mit klopfendem Herzen danach. Margo rief mich so gut wie nie an, was ihren Anruf jetzt nicht gerade weniger beunruhigend machte. War etwas mit dem neuen Buch? Hatte ich mich bei meiner Deadline um mehrere Monate vertan und längst Abgabe gehabt?
Ich hastete an Jesper vorbei aus dem Büro ins Treppenhaus. In meinem Nacken glaubte ich, seinen vorwurfsvollen Blick zu spüren, denn das Kribbeln auf meiner Haut ließ erst nach, als die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war.
»Hallo?«, sagte ich atemlos und warf einen Blick die Treppen hinunter, doch niemand schien sich gerade hier aufzuhalten.
»Hallo, Fallon«, sagte Margo freundlich, was meine unruhigen Gedanken zumindest ein klein wenig abschwächte. »Hast du kurz Zeit?«
»Sicher.« Ich atmete leise aus und holte tief Luft, während ich einige Stufen nach unten ging, um nicht direkt vor der Bürotür zu stehen. Dann lehnte ich mich gegen das Fenster. Sonnenlicht wärmte meine kühle Wange, und ich schloss für einen Moment die Augen. »Was kann ich für dich tun?«
»Die Buchhandlung Bookberry hat dich für eine Lesung angefragt.«
Ich riss bei ihren Worten die Lider wieder auf, spähte erneut nach oben und unten, doch niemand außer mir schien hier zu sein.
»Wirklich?«, fragte ich leise.
Mein Herz, das sich bis eben gerade wieder halbwegs beruhigt hatte, legte nun einige Saltos hin. Das wäre meine erste Lesung vor einem Publikum. Bookberry war zwar nicht Waterstones, aber ich stöberte dort gern, wenn ich zwischen der Arbeit und dem Schreiben ein bisschen Luft zum Atmen hatte.
»Ja, sie würden sich freuen, wenn das klappt. Es ist etwas kurzfristig, am Samstag in zwei Wochen. Was sagst du?«
Nein, war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss. Nein. Vor der Kamera in meinen eigenen vier Wänden konnte ich alles kontrollieren, was ich ins Netz stellte. Jedes Bild, jedes Video, bei dem ich das Gefühl hatte, dass Fallons Mimik zu verräterisch war, wurde einfach gelöscht. Aber während einer Lesung war ich nicht in der Lage, zu verhindern, dass ich gefilmt wurde. Dass ich erst dann die Videos und Bilder zu sehen bekam, wenn es vielleicht schon zu spät war und mich jemand erkannt hatte.
»Ich würde gern darüber nachdenken«, entgegnete ich schließlich, nachdem die Stille zwischen uns immer länger geworden war und Margo sich leise räusperte, als wollte sie sichergehen, dass ich noch nicht aufgelegt hatte. »Ich habe eine Deadline für ein Projekt bei der Arbeit.«
»Verstehe«, sagte sie, und ich konnte nur allzu deutlich hören, dass sie sich eine andere Antwort erhofft hatte. Eine, die ich ihr auch wirklich gern gegeben hätte. »Bis wann kannst du das klären?«
Verdammt, das war so eine tolle Chance. Meine Bücher verkauften sich zwar ganz gut, doch eine Lesung bot noch einmal eine vollkommen andere Möglichkeit, meine Leserinnen zu erreichen. Eine andere Beziehung zu ihnen aufzubauen. Offline, ohne einen Bildschirm zwischen uns.
»Ich melde mich spätestens morgen bei dir.« Auch wenn ich da genauso wenig eine Antwort haben würde.
»Alles klar.« Sie machte eine Pause, was für mich das Ende unseres Gesprächs einleitete, doch dann fuhr sie fort: »Hör zu, ich will dir da nicht reinreden, aber ich denke, du solltest es wirklich machen, Fallon. Ich meine …«
Ich verstand nicht mehr, was sie sagte, denn plötzlich wurde am oberen Ende der Treppe die Tür aufgerissen, und meine Kollegen strömten laut lachend heraus.
Verdammt, das Meeting.
»Ich muss Schluss machen. Bis morgen dann«, würgte ich sie ab und hastete die Stufen nach oben, doch die Tür fiel krachend ins Schloss, und ich starrte einen Moment verdattert darauf. Wenn ich den Transponder dabeigehabt hätte, der zusammen mit meinem Rucksack unter dem Schreibtisch war, wäre ich auch allein wieder hineingekommen. We Solve IT belegte leider nicht das komplette Gebäude, sondern nur zwei Etagen, weswegen ich das Ding normalerweise in meiner Hosentasche trug, wenn ich unsere Etage verließ. Normalerweise. Nun war ich gezwungen, auf die Klingel zu drücken, die durch den ganzen Raum hallte. Keine drei Sekunden später schwang die Tür auf, und Jesper stand vor mir, der eigentlich schon längst im Meetingraum sein sollte, statt hier wie die Inquisition auf mich zu warten. Sein Blick, so von oben herab, wirkte ausnahmsweise nicht ganz so hochmütig. Stattdessen lag mehr eine ungewohnte Anspannung darin.
»Schlüssel vergessen«, antwortete ich zerknirscht auf seine ungestellte Frage, auch wenn die Antwort offensichtlich war.
»Nimm deinen Laptop, und komm mit nach oben. Die anderen warten schon.«
Es ärgerte mich, dass ich mich nicht über ihn ärgern konnte, denn das hier war meine eigene Schuld. Ebenso wenig konnte ich es ihm übel nehmen, dass seine Stimme so vorwurfsvoll klang, also nickte ich nur und huschte an ihm vorbei, um den Laptop zu holen.
Als ich zur Tür zurücklief, stellte ich fest, dass Jesper dort wartete, ganz so, als wollte er sichergehen, dass ich ihm auch wirklich folgte.
Während wir Stufe um Stufe nach oben stiegen, machte sich ein eigenartiges Rumoren in meinem Magen breit, und Margos Stimme klang erneut in meinen Ohren.
Eine Lesung. Ich hatte die Chance auf eine Lesung. Vor echten Menschen, nicht nur vor dem Display meines Handys. Vor Leuten, die meine Bücher mochten. Ich konnte signieren. Leuten Widmungen schreiben. Das Lächeln auf ihren Gesichtern sehen.
Was sollte ich jetzt tun? Am liebsten wäre ich nach Hause gefahren und hätte mich in meinem Bett verkrochen. Doch das war als Fünfundzwanzigjährige leider keine akzeptierte Art mehr, mit seinen Problemen umzugehen. Auch wenn es das dringend werden sollte.
Der restliche Arbeitstag zog sich mehr als meine Schreibsessions, nur dass ich jetzt nicht einfach meinen Laptop zuklappen und etwas anderes machen konnte. Stattdessen musste ich mir über zwei Stunden unseren Schlachtplan anhören, wie wir den Manager von Cassie Amber mit einem, natürlich, viel zu knapp kalkulierten Zeitplan zufriedenstellen würden. In den Gesichtern meiner Kollegen sah ich vereinzelt Zuckungen, die ziemlich sicher auch auf meinem Gesicht zu sehen waren. Es war so typisch Samuel. Ich arbeitete mittlerweile lang genug hier, um zu wissen, dass kein Einwand ausreichen würde, den Zeitplan anzupassen. Einen kompletten Webshop in drei Monaten für einen Typen, dessen Meinung sich schneller änderte als das schottische Wetter im April. Noch mochte das alles halbwegs machbar aussehen, doch mich beschlich das Gefühl, dass es nicht lange dauern würde, ehe das Chaos ausbrach.
Nicht, dass sich irgendwer außer uns Devs dafür interessierte. Denn am Ende funktionierte es ja irgendwie, doch dass wir dafür unzählige Überstunden schieben mussten, war unseren Chefs völlig egal. So wie praktisch alles, außer unseren Umsatzzahlen. Einen Vorteil hatte ihre Gleichgültigkeit allerdings, zumindest für mich: Kaum dass sie mir damals meine Nebentätigkeit als Autorin ohne weitere Nachfragen bestätigt hatten, hatten sie es kurz danach wieder vergessen. Womit ich mir zumindest keine Sorgen machen musste, dass sie es irgendwem erzählten.
Jesper stand neben der Leinwand, auf die der uralte Beamer die PowerPoint-Präsentation projizierte, und trug, trotz der Kälte hier, ein kurzärmeliges dunkles Hemd, das sich über seine Brust spannte. Die silbernen Ringe an den Händen reflektierten immer wieder das Licht und zogen meine Aufmerksamkeit nahezu magisch auf seine langen Finger. Wäre er nicht so ein arroganter Besserwisser gewesen, dann hätte er mit seinem markanten Kinn, den hohen Wangenknochen und den dunklen Haaren als Vorbild für einen meiner Protagonisten dienen können.
Aber eher würde ich nie wieder ein einziges Wort tippen, als dazu gezwungen zu sein, beim Schreiben freiwillig an ihn zu denken. Er raubte mir jetzt schon außerhalb der Arbeitszeit die Nerven.
»Also, ich hab von dieser Cassie noch nie gehört. Ist die wirklich berühmt?«, fragte Benjamin, der sich wie ein Achtzigjähriger im Körper eines Mannes Anfang dreißig benahm. Er betonte wahnsinnig gern, dass es diesen »Social-Media-Quatsch« zu seiner Zeit nicht gegeben hatte, ganz so, als hätte er dafür eine Auszeichnung verdient. In unserer Abteilung war er als Tester für die Qualitätssicherung zuständig, damit wir dem Kunden nachher kein Produkt vorsetzten, bei dem alle drei Minuten eine kryptische Fehlermeldung aufploppte. Aktuell brauchten wir ihn eigentlich nicht, da noch kein Produkt existierte, dass er testen konnte. Aber er musste dabei sein, um einzuschätzen, wie lange die Testphase dauern würde.
Jesper zuckte mit den Schultern, woraus ich schlussfolgerte, dass er sie vor diesem Auftrag auch nicht gekannt hatte. »Sie ist im Netz durch ihre Make-up-Videos bekannt geworden.«
»Dafür muss man echt viel können«, sagte Jamie feixend, und ein Zucken ging durch meinen Körper, als das vereinzelte Gelächter meiner Kollegen an meine Ohren drang.
Jamie war gemeinsam mit Ethan und mir im Backend-Team, und ich hatte jetzt schon keine Lust mehr auf die Zusammenarbeit. Der Vierte für dieses Projekt war Harvey, der ständig grinste, so als hätte es jemand auf seinem Gesicht festgetackert. Ich hatte noch nie erlebt, dass er jemals schlechte Laune gehabt hatte, was mir ziemlich suspekt vorkam.
»Cassie Amber leidet an einer Hautkrankheit und zeigt deshalb anderen Menschen, wie sie sich schminkt, damit man die betroffenen Stellen in ihrem Gesicht nicht mehr sieht«, warf ich bemüht ruhig ein, auch wenn ich das Gefühl hatte, damit ein Klischee zu bedienen, weil ich als die einzige Frau Cassie Amber kannte. Ihre Videos tauchten regelmäßig auf der For-You-Page meines privaten TikTok-Kanals auf, und ihre Make-up-Tipps waren wirklich Gold wert.
Jesper schien für den Bruchteil einer Sekunde irritiert von meinem Einwurf zu sein und starrte mich an, als wäre ihm erst jetzt eingefallen, dass ich ebenfalls in diesem Raum saß. Allem Anschein nach hatte er bisher noch nicht bemerkt, dass ich fleißig daran arbeitete, ihm mit meinem Todesblick ein Loch in den Kopf zu brennen.
»Wie auch immer«, versuchte er das Thema zurück auf seine Präsentation zu lenken. »Fakt ist, dass wir es uns mit ihrem Management nicht verscherzen wollen.«
Der Satz klang verdächtig nach einem Briefing von Samuel. Ich musste mich zusammenreißen und das Projekt hinter mich bringen. So, dass selbst Samuel danach gezwungen war, anzuerkennen, dass ich in der Lage war, ein Projektteam zu leiten.
Zumindest sofern Jesper nicht mit an Bord war.
Mir schien die Energie für mindestens zehn Lebensjahre abhandengekommen zu sein, als ich gegen fünf Uhr endlich Feierabend machte. Margo hatte sich nicht noch mal gemeldet, aber ich musste ihr spätestens morgen eine Antwort geben. Blöd war nur, dass ich die Antwort nicht kannte und allein auch nicht finden würde.
Kurzerhand zog ich mein Handy aus der Hosentasche und tippte eine Nachricht an Amira und Mikayla, während ich fast über die Leine eines Hundes stolperte, der einmal quer über den Gehweg gerannt war.
Ich: Heute Abend ins Black Rose?
Amira: Ja! Ich muss endlich aus dem Labor raus.
Mikayla: Du warst schon letzte Woche draußen. Reicht das nicht?
Amira: Ich fange an, mit meinen Egeln zu sprechen. Ist dir das Antwort genug?
Ich: Ich rede ständig mit Ada. Ist das nicht normal?
Mikayla: Ihr seid wirklich zu wenig unter Menschen. 20 Uhr.