Make me stay - Doro Kayser - E-Book

Make me stay E-Book

Doro Kayser

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Beschreibung

Was hält die Liebe aus?

Die siebzehnjährige Sue Walsh hat nach dem Tod ihres Vaters nur ein Ziel vor Augen: Sie möchte, wie er, an der University of California Medizin studieren. Bis es soweit ist, lebt sie zusammen mit ihrer Gran in einer amerikanischen Kleinstadt. Als Sue in ihrem letzten Highschool-Jahr auf dem Herbstfest den gutaussehenden Nate trifft, ist ihr Interesse geweckt. Bald prickelt es gewaltig zwischen ihnen. Doch die beiden wissen, dass ihre Pläne für die Zeit nach der Highschool nicht kompatibel sind. Und so treffen Sue und Nate ein Abkommen: Freunde mit gewissen Vorzügen, aber nicht mehr!
Alles scheint perfekt, als Sue erfährt, dass ihre Gran an Alzheimer erkrankt ist. Für Sue und Nate bricht eine Welt zusammen und ihre Gefühle füreinander werden auf die Probe gestellt …

Der unglaublich berührende Debüt-Roman eines Ausnahmetalents

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Seitenzahl: 353

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Doro Kayser

Make me stay

Bei diesem Buch wurden die durch das verwendete Material und die Produktion entstandenen CO2 -Emissionen ausgeglichen, indem der cbj Verlag ein Projekt zur Aufforstung in Brasilien unterstützt.

Weitere Informationen zu dem Projekt unter: www.ClimatePartner.com/14044-1912-1001

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© 2023 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Geviert GbR, Grafik & Typografie

Umschlagmotive © Shutterstock.com (moobeer, vovan, Gluiki, moobeer)

skn · Herstellung: aw

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN978-3-641-28611-8V001

www.cbj-verlag.de

Für Lilli und Vali

Prolog

»Das Foto gefällt mir! Wann wurde das aufgenommen?«

Ihre Stimme klingt rauer als sonst, als würden sich ihre Stimmbänder langsam daran gewöhnen, nicht mehr allzu oft genutzt zu werden. Ich wende mich zu ihr um, um zu sehen, welches Foto sie meint. Auf ihrem Bett türmen sich in einem Halbkreis die Bücher, die ich ihr zur Ablenkung mitgebracht habe, auch wenn ich weiß, dass sie wahrscheinlich keines davon lesen wird. Aber als ich zu Hause vor dem Regal stand, musste ich sie mitbringen. Vielleicht, um mich selbst zu beruhigen, vielleicht, um etwas zu tun zu haben oder einfach aus bloßer Hoffnung, dass sie sich freuen könnte. Sie sieht schmaler aus, ihr Gesicht eingefallen. Früher hatte sie immer diese rosigen Wangen, doch mittlerweile hat ihre Haut die gleiche fahle Farbe wie die ausgewaschenen Laken ihres Bettes. Heute ist kein guter Tag, weder für sie noch für mich. In ihren blassen Fingern hält sie mir ein Foto hin, das ich auch aus der Entfernung, trotz meiner schlechten Augen, sofort wiedererkenne. Langsam richte ich mich auf, wobei eins meiner Knie leise knackt. Ich muss schlucken, als ich das Foto entgegennehme und auf die sechs grinsenden Gesichter starre. Eines davon ist mein eigenes. Mit dem Daumen streiche ich über den Knick in der Ecke. Es muss zwischen den Büchern herausgerutscht sein, als Gran sie auf dem Bett ausgebreitet hat. Ich drehe mich zu dem Stuhl um, der neben ihrem Bett steht, und ziehe ihn zu mir heran, damit sie mein Gesicht nicht sehen kann. Der Kloß, der sich schon den ganzen Tag in meiner Kehle festgesetzt hat, schwillt auf die Größe eines Tennisballes an, und beinahe verliere ich die Fassung. Sie jedoch bemerkt meine Unruhe überhaupt nicht, sondern sieht mich unverwandt aus schiefergrauen Augen neugierig an.

»Das war vor ein paar Monaten an Weihnachten«, antworte ich zögernd, lege das Foto zur Seite und greife nach ihrer Hand, um sie zu drücken.

»Ist der hübsche Junge neben dir auch nachher dabei?«, fragt sie mich weiter aus und zwinkert mir spielerisch zu.

Ich atme tief ein, bevor ich nicke. »Ja, er wird auch da sein.«

»Wie heißt er?« Ihre fast schon unschuldige Frage treibt mir fast die Tränen in die Augen und ich wende mich wieder dem Foto zu. Ist das wirklich erst drei Monate her?

»Nate«, flüstere ich. »Willst du nicht ein bisschen schlafen?«, räuspernd versuche ich, sie abzulenken, um weiteren Fragen zu entgehen, die ich schon viel zu oft in den letzten Wochen beantworten musste.

»Erzähl mir von ihm.« Sie ignoriert meinen Einwand, sieht mich weiterhin mit großen, interessierten Augen an. In dem Moment erinnert sie mich beinahe an ein wissbegieriges kleines Kind, das einen so lange mit Fragen löchert, bis man ihm alles erzählt, nur um Ruhe zu haben.

Wieder atme ich tief ein, um nicht ganz die Nerven zu verlieren. »Was willst du denn wissen?«, frage ich stirnrunzelnd.

»Woher kennst du ihn? Erzähl mir alles.«

Alles? Mit einer Hand greife ich wieder nach dem Foto, mit der anderen halte ich ihre kalte Hand weiter fest. Ich zögere, als müsse ich erst darüber nachdenken, als wäre ich mir nicht sicher, als wäre all das ein ungelöstes Rätsel. Dabei weiß ich es nur zu gut, zu oft habe ich schon darüber nachgedacht, zu oft habe ich den Tag immer und immer wieder in meinen Gedanken durchgespielt. Den Tag, an dem all das, dieses ganze verflixte halbe Jahr, begann.

»Genau genommen fing das alles damals am Herbstfest an.«

Kapitel 1

Zweiundzwanzigster September

Es ist schon lange dunkel, als wir zu dritt am Fluss, bei dem das alljährige Herbstfest stattfindet, ankommen. Für Ende September und ohne Sonne ist es noch immer warm genug, um bloß im Pulli oder leichter Jacke rumzulaufen. Als wir in Romys silbernem Klapperkasten auf dem Feld vor dem Fluss einbiegen, ergattern wir gerade so noch den letzten Parkplatz, der so klein ist, dass wirklich nur Romys Mini reinpasst. Sobald wir aussteigen, schallt uns laute Musik entgegen und das vorfreudige Bauchkribbeln setzt ein. Ich liebe dieses Fest mehr als alles andere, schon allein aus dem Grund, dass es meine Lieblingsjahreszeit einläutet. Die Menschenmengen tummeln sich um die gestreiften Buden mit den bunten Lichtern und der Geruch von Zimt, Punsch und frischem Gebäck lockt uns zu sich. Mein Blick fällt beinahe sofort auf das angeleuchtete Riesenrad, das am anderen Ende des Festgeländes steht und seine Runden dreht. Erst ganz am Ende des Abends, wenn das Rad seine letzte Fahrt macht, werden wir mitfahren. Das ist eine unserer seltsamen Traditionen. Charlie greift nach meiner Hand, drückt sie fest und grinst mich, von einem Ohr zum anderen, breit an. »Ich liebe es hier«, sagt sie so leise, dass nur wir sie verstehen können. Während Romy und ich uns bei dem Punschstand anstellen, kauft sich Charlie ihre über alles geliebte riesige Zimt-Zuckerwatte. Seitdem sie vor drei Jahren nach Harpers Ferry gezogen war, schaffte sie es jedes Jahr aufs Neue, so viel von dem süßen Zeug zu essen, dass sie sich beinahe übergeben muss. Untergehakt schlendern wir drei gemeinsam über das Fest, bis wir an den Heuballen ankommen, die inoffiziell als Treffpunkt für alle Jugendlichen dienen. Auch das ist so eine Sache, die einfach jedes Jahr schon so ist. Der Treffpunkt liegt ein Stück hinter den Buden, nahe am Fluss, und ist dadurch abgeschirmt von dem Trubel auf dem Fest. Hier kommt nie einer der Erwachsenen hin, obwohl sie wissen, dass wir hier heimlich Alkohol trinken, schließlich sind die meisten von ihnen selbst in ihrer Jugend hierhergekommen. Kaum sind wir in Sichtweite, löst sich eine große Gestalt aus einem der Grüppchen und kommt auf uns zu.

»Na endlich, Romy!« Luc torkelt uns entgegen und legt sogleich einen Arm um ihre Schulter. »Wo wart ihr so lange?«, fragt er und zieht dabei eine Schnute.

»Das Beste kommt stets zum Schluss«, beantwortet Romy die Frage schlicht, windet sich aus seinem Arm hervor und nimmt einen kräftigen Schluck von ihrem Punsch. Charlie und ich werfen uns ein kurzes Grinsen zu. Wieder zieht Luc einen Schmollmund, wendet sich von Romy ab und umarmt uns zur Begrüßung. »Wollt ihr’n Bier?«, fragt er und hickst.

»Nein, aber ich komme mit.« Charlie zieht Luc mit zu den Getränken, wobei er versucht, in ihre Zuckerwattewolke zu beißen, sie aber knapp verfehlt.

»Sei nett zu ihm.« Ich knuffe sie in den Oberarm, als sie das Gesicht verzieht.

»Ich bin nett zu ihm, aber er ist immer so anhänglich, wenn er betrunken ist.«

»Er mag dich eben.« Schulterzuckend ziehe ich sie mit zu den Heuballen, wo sie sich auf einen fallen lässt. Ich nehme einen Schluck von meinem Punsch und spüre die Wärme wohlig in meinem Bauch.

»Hi, da bist du ja!« Ella schiebt sich an mir vorbei und umarmt Romy. Zur Begrüßung lächelt sie mich unsicher und schmal an. Ich tue es ihr gleich, denn obwohl wir uns von der Schule flüchtig aus verschiedenen Kursen her kennen, haben wir nur wenig miteinander zu tun. Romy dagegen versteht sich gut mit ihr, seitdem Ella sie mal vor allen anderen vor Keith, Romys damaligen Freund, verteidigt hatte. Sie setzt sich neben Romy und verwickelt sie sofort in ein Gespräch über diesen Kinofilm, den sie letzte Woche gemeinsam sahen.

»Ich geh mal zu Charlie rüber«, informiere ich sie, da ich mir plötzlich wie das fünfte Rad am Wagen vorkomme. Romy winkt mir kurz zu, bevor ich mich von ihnen abwende. Charlie steht noch immer mit Luc am Getränkestand, bei dem ich mein Glas Punsch noch einmal auffüllen lasse.

»Wie geht’s dir, Sue?«, fragt mich Luc, während er sich an einem der Heuballen abstützt, um aufrecht stehen zu können. Seine Wangen sind durch den Alkohol so gerötet, dass sie beinahe genauso hell leuchten wie die bunten Lichterketten an den Ständen.

»Ganz gut und dir?« Schmunzelnd sehe ich zu ihm auf, wobei ich in meinen Punsch puste, um mir meine Zunge nicht zu verbrennen.

»Gut, gut«, sagt er und beugt sich weiter zu mir runter, damit ich seine leisen Worte verstehe. »Sag mal, das mit Romy und Keith … das is’ vorbei, oder?«

Ich nicke und mein Schmunzeln breitet sich zu einem echten Grinsen aus.

»Cool … cool.« Seine gläsernen Augen richten sich auf Romy, wobei sein Blick ganz abwesend wird.

»Schlag dir das aus dem Kopf«, rate ich ihm. Ein bisschen bedauere ich, dass Romy so gar kein Interesse an Luc zeigt. Er ist eben ein bisschen speziell, aber auf diese herzerwärmende Art. Seufzend lässt er sich wieder gegen den Heuballen fallen, fasst sich mit der freien Hand ans Herz und kippt sein Bier auf ex in sich hinein. »Wart’s ab«, sagt er mit einem frechen Grinsen auf den Lippen, bevor er nach einem weiteren Bier neben mir greift, das er und ein paar der anderen mitgebracht hatten.

»Oh Mann, ich glaube, dass wird heute Abend noch witzig werden.« Charlie kichert in mein Ohr und ich nicke ihr zustimmend zu.

Nach einem weiteren Punsch spüre ich die angenehme Wärme nicht nur in meinen Gliedern, sondern auch langsam in meinem Kopf. Als sich Luc nach einer Weile zu einer anderen Gruppe, näher bei Romy, gesellt hat, stößt Romy wieder zu uns.

»Er kann es nicht lassen«, stöhnt sie genervt auf, aber trotzdem sehe ich ein klitzekleines Zucken um ihre Mundwinkel. Ich lege einen Arm um sie und ziehe sie zu uns heran.

»Zu blöd, dass ich heute hierhin gefahren bin«, murmelt sie, als ihr Blick auf meinen Becher fällt.

»Trink ruhig, ich kann fahren.« Charlie deutet auf das Wasser in ihrer Hand und sofort bekommt Romy wieder bessere Laune.

»Hast du ein Glück, dass du noch keinen Führerschein hast und wir bereit sind, dich überall hinzukutschieren«, bemerkt sie mit einem Blick auf mich. Ich grinse und drücke ihr einen Kuss auf die Wange. »Dafür versorge ich dich jeden Morgen mit Kaffee.« Sie rümpft die Nase. »Den muss ich mir aber auch jedes Mal mit dir teilen.« Ich strecke ihr die Zunge raus, da ich weiß, wie gern wir beide an diesen kleinen Traditionen zwischen uns festhalten.

»Wollen wir uns wieder zu den anderen setzen?« Charlie deutet auf den freien Platz bei den Heuballen und schaut fragend in die Runde.

»Ich komm gleich nach«, sage ich, als ich bei einem Grüppchen Lina entdecke. Ein Mädchen, mit dem ich meine Leistungskurse habe und mit dem die anderen kaum was zu tun haben. Lina umarmt mich, stellt mir ihren Cousin vor, der über das Wochenende zu Besuch kam, und gemeinsam plaudern wir über unser Projekt, das wir bald einreichen müssen. Denn Lina und ich teilen nicht nur unsere Kurse miteinander, sondern auch die Vorliebe für die Naturwissenschaften.

Der Punsch bahnt sich angenehm seinen süßen Weg durch meinen Kopf, und ich versuche nicht, an die Schmerzen zu denken, die meinen Kopf morgen zertrümmern werden, als ich wieder zu meinen beiden Freundinnen gehen will. In meinem leicht angetrunkenen, übermütigen Zustand hopse ich über die Spannseile des kleinen Zeltes neben mir. Darauf bedacht, in der zunehmenden Dunkelheit keine Bekanntschaft mit dem Boden zu machen. Genau in dem Moment, in dem ich über eins der Spannseile springe, prallt jemand gegen mich. Während ich die Balance gerade so halten kann, strecke ich automatisch meine Arme nach vorne, um denjenigen, der da gerade gegen mich stolpert, abzufangen.

»Fuck. Entschuldigung«, murmelt er, während er mit meiner Hilfe ebenfalls seine Balance wiederfindet. »Warum zum Teufel beleuchtet man diese Dinger nicht«, flucht er weiter und dreht sich nach den Spannseilen um.

Mit hochgezogenen Brauen sehe ich ihn an, als sein Blick schließlich auf mir landet. »Tut mir leid. Ich habe weder dich noch diese Seile hier gesehen«, entschuldigt er sich abermals.

Ich nicke. »Alles o.k.«, sage ich schließlich und zucke mit den Schultern. »Die Idee mit der Beleuchtung wäre wohl nicht schlecht.«

Ich mustere ihn in der Erwartung, dass ich ihn bestimmt von einem meiner Kurse kenne, doch sein Gesicht sagt mir gar nichts. Stirnrunzelnd sehe ich ihn genauer an, was er mit einem verwirrten Lächeln erwidert. Er ist locker einen halben Kopf größer als ich, hat tiefschwarze Locken und ebenmäßige Gesichtszüge. Und ich hatte ihn tatsächlich noch nie in der Schule oder sonst wo gesehen, was in unserer Kleinstadt ungewöhnlich ist. Das Herbstfest war nahezu die einzige Veranstaltung, die wirklich Besucher in dieses kleine Nest locken konnte.

»Hab ich dir wehgetan?«, fragt er plötzlich, als wäre ihm just in dem Moment eingefallen, dass es höflich wäre, sich danach zu erkundigen.

»Mir geht’s gut«, antworte ich schlicht. »Und dir?«, schiebe ich hinterher und deute auf seinen Fuß, mit dem er über das Spannseil gestolpert ist.

»Bin nur umgeknickt, aber alles super«, sagt er und bewegt ihn probeweiser einmal hin und her.

Mein Blick folgt seiner Bewegung. »Super«, kommentiere ich seine Demonstration. Unschlüssig stehen wir uns gegenüber, wobei sein Lächeln zu einem Grinsen wird, bis sich in seiner linken Wange ein kleines Grübchen bildet. Einen Moment sieht er mich noch belustigt an, dann streckt er mir seine Hand hin. »Nate.«

Die Bewegung kommt so plötzlich, dass ich ihm reflexartig ebenfalls meine rechte Hand entgegenstrecke, nur dass sich darin bereits mein Becher mit dem Punsch befindet. Das warme Getränk schwappt über mein Handgelenk, als ich sie genauso schnell wieder zurückziehe, um ihm völlig überrumpelt meine linke Hand zu reichen. Ich spüre, wie meine Wangen rot werden, schüttele jedoch seine Hand, als wäre es das Normalste der Welt.

»Sue«, sage ich fest und blicke ihm in die dunklen Augen.

»Sue«, wiederholt er meinen Namen langsam, als würde er ihn austesten wollen, als würde er darüber nachdenken, ob ihm mein Name etwas sagt. Einen Moment sehen wir uns noch an, ehe seine Mundwinkel sich wieder zu diesem schiefen Grinsen verziehen und ich beschließe, dass ich hier schon viel zu lange herumstehe.

»Also dann, Nate.« Ich spreche seinen Namen genauso testend aus wie er zuvor meinen. »Ich wollte gerade da rübergehen. Bis dann also.« Ich deute hinter ihm auf die kleine Gruppe, ziehe meine Hand wieder zurück und gehe an ihm vorbei, bevor er etwas erwidern kann. Kurz bevor ich bei Romy und Charlie ankomme, drehe ich mich noch mal zu ihm um, aber zwischen den Spannseilen steht niemand mehr. Keiner von ihnen hatte etwas mitbekommen, und so setze ich mich zwischen Luc und Romy, die direkt die Gelegenheit nutzt, um ein bisschen zur Seite zu rutschen, um mir Platz zu machen. Luc ist so blau, dass er nur wieder eine seiner Schnuten zieht, sich aber nicht weiter darüber beklagt, bevor er mich mit einem breiten Grinsen willkommen heißt. »Ich hab’ nachgedacht«, nuschelt er, wobei er fast vom Heuballen fällt. »Wenn das Riesenrad sich aus seiner Verankerung löst, würde es dann nicht einfach wegrollen?«

Stirnrunzelnd betrachte ich ihn, denke einen Moment darüber nach und merke, dass der Alkohol mir tatsächlich zu Kopf gestiegen sein muss, denn ich lasse mich auf diese sinnlose Diskussion mit ihm ein.

Nach dem ich mich mit Luc darauf geeinigt habe, dass das Riesenrad mit Sicherheit einfach weiterrollen würde, wie ein angestupster Hula-Hoop-Reifen, schnappe ich mir Charlie, um mit ihr die Toiletten aufzusuchen. Romy ist so vertieft in ihr Gespräch mit Ella über irgendeine Musikerin, dass sie nicht mitbekommt, wie wir zwei uns kurz entfernten. Es ist mittlerweile so spät, dass alle Eltern mit ihren Kindern schon lange verschwunden sind, wodurch wir uns an den Toiletten zum Glück nicht mehr anstellen müssen. Über dem Waschbecken frische ich den dunkelroten Lippenstift im Spiegel wieder auf, spritze zur Abkühlung ein wenig kaltes Wasser auf meine geröteten Wangen und beobachte Charlie, wie sie an der Wand lehnt und auf ihrem Handy herumtippt.

»Jasmine?« Sie nickt, und dieses ganz bestimmte Grinsen überzieht ihr Gesicht, das seit dem Sommer immer öfters zu sehen ist. Mit einem Schulterzucken, als wäre alles nur halb so interessant, steckt sie ihr Handy wieder in die hintere Hosentasche und hakt sich bei mir unter, als wir wieder auf den Platz treten. Die Nacht kommt mir jetzt kühler vor als zuvor, weshalb ich die Ärmel meines Pullis über meine Hände ziehe und meine Jacke enger um mich schlinge.

»Ist das nicht schön?«, haucht Charlie neben mir in die dunkle Nacht, die nur durch die bunten Lichter und dem Riesenrad unterbrochen wird. Dabei sieht sie so sinnlich-glücklich aus, dass ich nicht weiß, ob sie mit ihren Worten das Fest oder ihren Beziehungsstatus meint. Ich muss lächeln und nicke ihr zustimmend zu. Bevor wir wieder zu den Heuballen gehen, statten wir dem Süßigkeitenstand noch einen Besuch ab. Der Zimtgeruch der riesigen Zuckerwatte, die Charlie neben mir genüsslich verspeist, ist so penetrant, dass ich mir einbilde, dass auch meine roten Gummischlangen danach schmecken. So wie wir hier zwischen den Ständen entlangschlendern, eingehakt und nur umringt von bunten Lichtern und dunkler Nacht, würde ich am liebsten kurz die Zeit anhalten. Mein Bauch kribbelt, und der Punschgeschmack, der noch immer auf meiner Zunge liegt, vermischt sich mit dem süßen Geschmack der Gummischlangen und dem Geruch nach Zimt. Jetzt gerade könnte die Welt aufhören sich zu drehen und es würde mir nicht im Geringsten etwas ausmachen. So könnte es ab sofort einfach bleiben.

Als wir wieder zu den anderen treten, ist Luc verschwunden, nur noch Ella und Romy sitzen auf den Heuballen und winken uns zu. Selbst Ella lächelt mich freundlich an, was wahrscheinlich an dem Alkohol liegt, durch den so ziemlich jeder zu besten Freunden werden kann. Durch mein aufkommendes Glücksgefühl erwidere ich ihr Lächeln und ignoriere die Tatsache, dass wir uns morgen wieder wie Fremde begegnen werden. Jetzt gerade ist einfach alles himmlisch. Breit grinsend lassen wir uns neben die beiden ins Heu fallen, strecken uns aus und sehen in den Himmel. Charlie erzählt mir irgendwas von Jasmine, aber ich höre gar nicht richtig zu, zu sehr bin ich damit beschäftigt, einfach den Moment zu genießen. Nächstes Jahr werden wir das Fest vielleicht gar nicht mehr erleben. Zumindest nicht so, nicht wir drei gemeinsam. Romy wird irgendwo in der Weltgeschichte herumbummeln und Charlie wird das College besuchen, genauso wie ich. Ab nächsten Sommer werde ich an der UCLA studieren, mich über Medizinbücher beugen und über den gleichen Campus wie Pa damals spazieren. Dies ist unser vorerst letztes Herbstfest, bevor sich so vieles ändern wird, wird mir auf einmal bewusst, und das Glücksgefühl flaut in meinem Bauch langsam ab, genauso wie der wärmende Alkohol in meinen Gliedern.

In dem Moment legt sich auch Romy neben mich. »Weißt du eigentlich, was heute für ein Tag ist?«

Ich sehe das diabolische Grinsen auf ihrem Gesicht und weiß ganz genau, was jetzt kommt. »Oh nein«, warne ich sie, doch sie ignoriert mich einfach.

»Heute ist Freitag und weißt du, was ich mich frage?«

Ich schüttele den Kopf, um sie am Weiterreden zu hindern.

»Nicht schon wieder«, seufze ich und vergrabe mein Gesicht in meinem Pullover.

»Ich frage mich, ob es hier nicht irgendeinen Typen gibt, der dir gefällt. Für ein bisschen Spaß, muss ja nicht gleich was Ernstes sein. Vielleicht Mike aus einem deiner Kurse? Oder einer vom Basketballteam?«, rätselt sie weiter, während ihr Blick über die herumstehenden Leute schweift.

»Bitte verschone mich mit deiner Freitagspredigt, nur dieses eine Mal«, bettele ich mit zusammengekniffenen Augen.

Schon seit Monaten liegt sie mir damit in den Ohren. Jeden Freitag fängt sie diese Diskussion an, und dabei geht es nicht um die Sache selbst, sondern einfach nur darum, mich zu ärgern, weil sie weiß, wie sehr ich es hasse.

»Ach komm schon, Sue! Du sagst immer, du willst Erfahrungen sammeln, aber so sammelst du keine.« Sprachlos sehe ich meine beste Freundin an.

»Das habe ich ein Mal gesagt und das ist ewig her. Heute ist das Herbstfest, bitte verschone mich.«

Romy sieht mich nachdenklich an. »Na schön. Aber nur heute.« Na vielen Dank. Entschlossen setze ich mich mit einem Ruck wieder auf, um diesem Gespräch auch physisch zu entfliehen, und entschließe mich dazu, diese Nacht einfach nur zu genießen.

»Will noch jemand was trinken?«, frage ich in die kleine Runde. Romy verneint, und an ihrem geröteten Gesicht sehe ich, dass sie schon genug Alkohol für heute hatte. Ella hält ihren vollen Becher hoch und Charlie knabbert noch immer an ihrer Zuckerwatte.

Allein mache ich mich wieder auf zum Getränkestand. Zum wievielten Mal schon? Ich sehe Luc im Vorbeigehen auf einem der Heuballen liegen und vermute anhand seiner ruhigen Atmung, dass er fest eingeschlafen ist, und muss bei dem Gedanken leise lachen. Immer noch grinsend fülle ich mir die süße dampfende Flüssigkeit in meinen Pappbecher.

»Schmeckt dieses süße Zeug wirklich?«

»Oh ja.« Selig lächelnd blicke ich zu der Gestalt neben mir auf, halte kurz inne, als ich Nate erkenne, und deute fragend auf die Becher neben mir. »Willst du auch?«

Er verzieht das Gesicht bei meiner Frage, wobei mir die schmale Narbe an seiner Augenbraue auffällt.

»Ich bleibe lieber bei Bier«, erwidert er, beugt sich auf einmal vor und greift an mir vorbei nach einer der braunen Flaschen. Angesichts seiner plötzlichen Bewegung und Nähe halte ich einen Moment überrascht den Atem an. Unbekümmert lehnt er sich wieder zurück, öffnet die Bierflasche, während ich ihn noch immer ansehe.

»Besuchst du hier jemanden?«, platzt mir die Frage heraus, ehe ich meine Neugierde zusammen mit dem Punsch runterschlucken kann. »Ich frage nur, weil es selten ist, wenn man hier mal ein fremdes Gesicht sieht«, erkläre ich ihm achselzuckend, als ich seinen überraschten Gesichtsausdruck sehe.

Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, wobei er mich so mustert, als hätte ich eine komplizierte Frage gestellt. Stumm sehe ich ihn weiter erwartungsvoll an, wodurch ihm wahrscheinlich bewusst wird, dass ich die Frage tatsächlich ernst meine. Zuerst presst er seine Lippen zusammen, um ein weiteres Grinsen zu unterdrücken, doch als er zum Sprechen ansetzen will, wird er unterbrochen. Ein Arm legt sich um seine breiten Schultern und Piet taucht neben ihm auf.

»Hey, Sue«, begrüßt mich Piet mit seinem schiefen Lächeln und nickt mir zu.

»Hi«, sage ich nur und nippe weiter an meinem Getränk.

Piet ist schlaksig, gefühlt doppelt so groß wie ich und seine hellen Augen leuchten in der Dunkelheit. Ich kenne ihn nur flüchtig aus einem einzigen Kurs, den wir gemeinsam belegen, auch wenn mir gerade nicht einfallen will, welchen. Aber auch ohne diesen Kurs würde ich genau wissen, wer er ist. Jeder kennt ihn einfach.

»Wie geht’s dir? Bist du schon auf dem Riesenrad gewesen?«, fragt er, wobei er Nate das Bier aus der Hand stiehlt, um selbst einen Schluck zu trinken.

»Nein, noch nicht, aber wir gehen gleich noch.«

Ich muss grinsen, als Nate fassungslos zu Piet schaut. Sorgsam trete ich dieses Mal einen Schritt zurück, um ihm Platz zu machen, damit er sich eine neue Flasche nehmen kann. Doch Nate schüttelt nur den Kopf, wobei seine Locken ihm in die Stirn fallen, und reibt seine Hände wärmend aneinander. Er sieht gut aus, denke ich in dem Moment, in dem sich unsere Blicke treffen.

Piet sieht zwischen mir und seinem Freund hin und her.

»Ach sorry«, hebt er an und klopft Nate dabei auf die Schulter. »Also das ist –«, will er seine Vorstellung weiterführen, als Nate ihm zuvorkommt.

»Wir kennen uns schon«, sagt er schlicht, während seine Augen noch immer auf mir ruhen.

Wieder spüre ich meine Wangen rot werden, räuspere mich, um was auch immer zu sagen, doch bevor ich den Mund aufmachen kann, stößt Charlie zu uns und zieht mich am Arm fort.

»Es wird Zeit, zum Riesenrad zu gehen«, informiert sie mich mit einem Blick auf ihre Uhr. »Los, Sue, am Ende verpassen wir noch die letzte Fahrt!«

Ich lächle sie breit an.

»Bis dann«, sage ich zu den zwei Jungs und lasse mich lachend von Charlie wegziehen, die schon ganz hibbelig vor Freude ist. Romy sieht uns winken und kommt ebenfalls zu uns geschlendert. Eingehakt schlendern wir nebeneinander an den Buden vorbei Richtung Riesenrad.

Gemeinsam setzen wir uns in eine der kleinen Gondeln und fahren hinauf zum höchsten Punkt. Ich muss daran denken, wie Gran immer sagt, dass Pa sich stets weigerte, mit uns hier hochzufahren. Ein Militärarzt, der inmitten von Krisengebieten verletzte Soldaten und Zivilisten verarztete, aber Angst vor einem Riesenrad hatte. Ein Beweis dafür, wie verwirrend und widersprüchlich Ängste sein können. Ich schüttele leicht den Kopf, um die Gedanken daran wieder loszuwerden, rutsche in meinem Sitz ein Stück runter und lege meinen Kopf in den Nacken. Ich spüre, wie Romy und Charlie ihr Gewicht verlagern, sich an mich schmiegen und ebenfalls den Kopf in den Nacken legen. Keiner von uns spricht, sondern wir alle hängen in diesem Augenblick nur unseren eigenen Gedanken hinterher. Ich atme die kühle Nachtluft ein und wünsche mir, dass diese Riesenradfahrt viel länger dauern würde.

Erst als immer mehr Buden ihre Lichter ausschalten und nur noch die paar wenigen bunten Laternen am Feldrand Licht spenden, gehen wir zusammen über den Platz, zurück zu Romys Auto.

Ella winkt uns zu sich, auf der Ladenfläche eines dunklen Jeeps sitzend, umringt von den letzten Jugendlichen, die auch noch nicht gehen wollen. Romy und Charlie setzen sich auf die letzten beiden Plätze auf der Ladefläche. Ich lehne mich an die Seite des Autos, um mich unauffällig von dem Grüppchen zurückzuziehen, zu müde, um mich noch groß zu unterhalten. Langsam lasse ich meinen Blick durch die Runde schweifen, bis er bei Nate hängen bleibt, der neben Piet steht. Direkt vor mir. Das erste Mal an diesem Abend nehme ich mir wirklich Zeit, ihn unbemerkt anzusehen. Seine kurzgeschnittenen dunklen Locken sind vom zunehmenden Wind zerzaust, sein Kinn ist kantig und seine hohen Wangenknochen von der Kälte leicht gerötet.

Als hätte er meinen Blick gespürt, richten sich seine Augen auf mich. Hitze steigt in meine Wangen, doch durch den plötzlichen Mut, den der Alkohol mit sich bringt, wende ich meinen Blick nicht sofort ab. Meine Augen wandern zu seinen Lippen und unwillkürlich zieht sich alles in meinem Bauch zusammen. Nur ein kleines Stück dreht er sich mir zu und schon fühle ich mich von den anderen abgeschirmt.

»Sue.«

»Nate«, sage ich, bemüht darum, dass meine Stimme genauso gelassen und ruhig klingt wie seine.

Er steht direkt vor mir und bei seinem Anblick muss ich an Romys abgebrochene Freitagspredigt denken. Ein guter Zeitpunkt, um Spaß zu haben.

Und obwohl ich eigentlich die Letzte bin, die sich so was trauen würde, stelle ich mich auf die Zehenspitzen, lege ihm meine Hand in den Nacken und presse meine Lippen auf seine. Sei es wegen dem Alkohol, der Freitagspredigt, meinem beschwingenden Glücksgefühl, der Tatsache, dass das hier womöglich mein vorerst letztes Herbstfest sein wird oder der bloßen Annahme, dass ich ihn nach diesem Wochenende eh nie wiedersehen werde, küsse ich, Sue Walsh, tatsächlich einen komplett Fremden. Eine einzige Sekunde überkommt mich die Angst, er könne mich zurückstoßen, mich für viel zu unattraktiv halten oder womöglich eine Freundin haben und ich mich völlig blamieren. Panisch will ich mich zurückziehen, mich entschuldigen und einfach nur flüchten, als er seine Überraschung überwindet, seine Hände an meine Hüften legt und den Kuss erwidert, sodass mir buchstäblich die Luft wegbleibt.

Kapitel 2

Erster Herbsttag

Ich weiß schon, bevor ich die Augen aufmache, dass ich sie lieber geschlossen halten sollte. Mein Schädel dröhnt, als würden die Bässe von letzter Nacht noch immer in meinen Ohren wummern, und das frühe Morgenlicht ist viel zu grell, selbst wenn ich meine Augen geschlossen halte. Stöhnend grabe ich mein Gesicht in die zahllosen Kissen, ziehe meine Bettdecke über den Kopf und wünsche mir, nichts von diesem Punsch je angerührt zu haben. Und als mir dann auch noch ein Bild von schiefergrauen Augen ins Gedächtnis kommt, ist keine Bettdecke dick genug, um mich annähernd so weit darunter zu begraben, wie ich es jetzt gerade gerne tun würde. Ein guter Zeitpunkt, um Spaß zu haben. Am liebsten würde ich Romy für ihre dämlichen Freitagspredigten umbringen und mich gleich mit, weil ich ihre Idee gestern Nacht nach fünf Punsch auch noch für gut befunden habe. Jetzt werde ich definitiv nicht mehr einschlafen können. Quälend langsam rolle ich mich auf den Rücken und starre an die weiße Zimmerdecke, bis mir das Glas auf meinem Nachttisch auffällt. Gott, ich liebe Gran. Gierig trinke ich das Wasser mit Aspirin, lasse mich dann wieder rückwärts in meine Kissen fallen und starre abermals an meine Zimmerdecke. Ist das gestern Abend wirklich passiert? Bei dem Gedanken ziehe ich mir wieder die Bettdecke über den Kopf und gebe einen kläglichen Laut von mir. Sonst hatte ich mich so was doch auch nicht getraut, warum musste ich das gestern tun? Ich atme tief durch und schiebe jegliche Peinlichkeiten von mir. Seufzend greife ich nach meinem Handy neben mir. Keine neuen Nachrichten. Romy und Charlie werden noch schlafen, was ich eigentlich auch besser tun sollte, aber jetzt, da ich einmal wach bin, ist bei den Kopfschmerzen an Schlaf nicht mehr zu denken. Heute wird einer dieser Tag, an denen ich einfach nur im Bett bleibe, esse und einen Film nach dem anderen schaue.

Der Geruch von frischem herben Kaffee dringt in meine Nase. Kaffee! In Jogginghose und Schlabberpulli schleppe ich mich nach unten in die Küche, lasse mich auf einen der Hocker vor dem Tresen fallen und lege den Kopf auf meine Arme.

»Guten Morgen.« Fröhlich summend kommt Gran in die Küche und auch ohne aufzusehen weiß ich, dass sie bei meinem erbärmlichen Anblick grinsen muss.

»Morgen«, grummele ich in meine Arme hinein und strecke eine Hand nach vorne.

Kichernd drückt sie mir eine warme Tasse in die Hand. Dankbar sehe ich sie an, schnuppere an dem Kaffee mit viel Milch und puste in meine Tasse. Bei dem Geruch werden meine Kopfschmerzen gleich besser.

»Einen schönen Abend gehabt?«, fragt Gran, während sie sich hinter mich an den Esstisch setzt und ihre Zeitung aufschlägt. Ich drehe mich auf dem Hocker zu ihr um, lehne mich an die Kante des Tresens und nicke.

»Ich glaube, Charlie hat drei Zuckerwatte-Wolken verdrückt.«

»Eine mehr als letztes Jahr.« Beeindruckt sieht sie von ihrer Zeitung auf und mustert mich dann von Kopf bis Fuß.

»Und du?«

Ich spüre wieder die Hitze in meinen Wangen und stehe auf, schaue in den Kühlschrank, damit sie mein Gesicht nicht sehen kann.

»Die meiste Zeit waren wir bei den Heuballen und am Ende waren wir wieder zu dritt auf dem Riesenrad. Eigentlich alles wie immer.« Ich zucke mit den Schultern und fixiere den Inhalt des Kühlschranks vor mir. »Hatten wir gestern nicht noch Orangensaft?« Stirnrunzelnd drehe ich mich um.

Grans Blick liegt noch immer auf mir, und auch wenn sie nichts sagt, weiß ich, dass sie vermutet, dass ich irgendwas nicht erzählen will. Aber sie fragt nicht nach, sondern widmet sich mit einem kleinen Schmunzeln wieder ihrer Zeitung und trinkt den letzten Schluck Orangensaft aus ihrem Glas.

»Tut mir leid, ich konnte nicht widerstehen«, sagt sie mit dem Blick auf das nun leere Glas.

Ich verziehe mein Gesicht. Orangensaft wäre jetzt klasse gewesen.

Während Gran weiter in der Zeitung vor sich blättert, summt sie leise vor sich hin. Einen Moment bleibe ich hinter ihr stehen, um ihr zuzuhören.

»Clair de Lune von Claude Debussy?«, rate ich und sehe triumphierend, dass Gran langsam nickt.

»Du hast zwar keine Musik in den Fingerspitzen, aber im Gehör bist du beinahe unschlagbar.«

Seitdem ich denken kann, spielen wir dieses Spiel: Meine Gran summt oder spielt mir etwas auf dem Klavier vor und ich errate das Lied. Damals war sie noch professionelle Pianistin, hatte Auftritte, zu denen sie mich manchmal mitnahm, oder komponierte eigene Stücke. Nachdem Pa gestorben war, unterrichtete sie am örtlichen College, doch mittlerweile hat sie auch damit aufgehört. Ich hatte sie lange nicht mehr spielen gehört, nur noch das Summen ist von ihrer Musik geblieben. Irgendwann hatte ich sie einmal nach dem Grund gefragt, doch als Antwort nur ein trauriges Lächeln bekommen. Ich vermute, dass es mit Pa zu tun hat, habe sie aber nie danach gefragt. Sie hatte ihre Gründe damals gehabt, vielleicht würde sie mich irgendwann daran teilhaben lassen.

Ohne etwas aus dem Kühlschrank zu nehmen, schließe ich die Tür wieder, nehme mir meine Kaffeetasse von der Anrichte und schleppe mich die Treppen hinauf in mein Bett.

»Ich muss noch mal schlafen«, rufe ich ihr zu, doch Gran ist wieder so vertieft in ihre Zeitung vor sich, dass sie mich gar nicht mehr hört.

Der Samstag zieht sich wie Kaugummi in die Länge, bis Romy am späten Nachmittag vor meiner Tür steht.

»Tut dein Kopf auch so weh?« Stöhnend lässt sie sich auf mein Bett plumpsen, greift nach der Bettdecke und zieht sie mir fast komplett weg.

»Nicht mehr.« Ich rolle mich auf die Seite zu ihr um und sehe die dunklen Augenringe, die sich bestimmt auch unter meinen Augen abzeichnen.

»Bis Weihnachten habe ich erst mal genug von Punsch«, murrt sie und blickt sich in meinem Zimmer um. Bei dem Gedanken an den Wein verziehe ich das Gesicht und hab sogleich das Gefühl, den süßlichen Geschmack wieder auf der Zunge zu haben.

»Wonach suchst du?«, frage ich sie stirnrunzelnd, als sie weiterhin ihren Blick durch mein Zimmer schweifen lässt, das ihr nur allzu bekannt ist.

»Hast du denn keinen Kalender hier irgendwo hängen?«

Verwirrt sehe ich sie mit zusammengezogenen Brauen skeptisch an. »Nein, wozu?«

Seufzend lässt sie sich enttäuscht zurück in die Kissen sinken. »Ich wollte dir den zweiundzwanzigsten September rot im Kalender markieren.«

»Warum?«, misstrauisch rücke ich ein Stück von ihr ab, als ich ihr stolzes Grinsen sehe. Oh nein.

»Ach, es war nur das erste Mal, dass du auf eine meiner Freitagspredigten gehört hast. So was muss doch für die Nachwelt festgehalten werden.« Ihr triumphierendes Grinsen wird so breit, als hätte sie höchstpersönlich die Menschenrechte etabliert.

»Ha-ha.« Genervt drehe ich mich von ihr weg. »Halt bloß die Klappe«, warne ich sie vor, kann mir ein Lächeln aber selbst kaum verkneifen. Rücksichtlos schmeißt sie sich lachend auf mich.

»Mann, Sue, ich dachte, ich kipp um, als ich dich mit ihm gesehen habe. Verdammt, wie kam es dazu?«

Meine Wangen werden heiß. »Können wir das bitte einfach ignorieren.«

Lachend lässt sie sich wieder hinter mich fallen. »Das war vorerst unser letztes gemeinsames Herbstfest, oder?« Ihre Stimme ist gedämpft von der Decke, die sie sich bis zur Nasenspitze hochgezogen hat. Mit geschlossenen Augen nicke ich.

»Wer weiß, wo wir nächstes Jahr um diese Zeit sind.«

»Ich werde irgendwo in Paris in irgendeinem Straßencafé sitzen und irgendwen unter meiner viel zu großen Sonnenbrille anschmachten.« Grinsend stößt sie mir einen ihrer Ellbogen in die Seite, um die bedrückende Stimmung wieder aufzuheben. Jetzt ist noch nicht der Moment gekommen, um sich über das nächste Jahr Gedanken zu machen. »Und du wirst am College sein, Medizin studieren, eine kleine Katze namens Brezel haben und irgendwas Wichtiges leisten. Wer weiß das schon.«

Ich muss lachen bei der Vorstellung, die sich wohl schon bildlich in ihrem Kopf verankert hat. »Und Charlie?«

»Charlie ist die pure Freiheit, sie wird so glücklich sein, dass wir wie ausgesetzte und begossene Pudel aussehen, und sie wird in einem großen Haus wohnen mit einem Atelier, das voll mit ihrer Kunst ist.« Schmunzelnd kuschele ich mich an sie. So könnte unsere Zukunft gerne aussehen.

Den ganzen Sonntag verbringe ich lesend auf der Couch, während Gran neben mir das Kreuzworträtsel in der Zeitung löst und sich am Nachmittag verabschiedet, um sich wie jeden Sonntag mit ihren Freundinnen zum Kaffee trinken zu treffen.

Am Montagmorgen steht Romy mit ihrem Auto beinahe pünktlich vor dem Haus, den alltäglichen Kaffeebecher stelle ich in den Halter zwischen den Sitzen. Mühsam bringen wir die erste Stunde Englisch hinter uns, bevor ich zu den Bioräumen abbiege, um dort auf eine abgehetzte Charlie zu treffen.

»Ich habe komplett verschlafen«, gähnt sie und sieht mich aus halb geschlossenen Augen aus an. »Ich glaube, ich brauche einen lauteren Wecker.«

Mit hochgezogenen Brauen sehe ich sie amüsiert an, verkneife mir aber den Kommentar, dass kein Wecker dieser Welt sie am Verschlafen hindern könnte. Wortlos reiche ich ihr meinen Kaffee und ziehe sie hinter mir in den Klassenraum.

»Wie weit bist du schon mit deiner Projektarbeit?«, fragt Charlie, als wir uns auf unsere Plätze in der hintersten Reihe ans Fenster setzen.

»Mir fehlen noch zwei Seiten. Und du?« Seufzend ziehe ich meine Unterlagen aus der Tasche und gehe im Kopf die ganzen Informationen durch, die ich noch irgendwie in meine Arbeit quetschen muss. Und das bis Ende der Woche.

Als ich mich wieder zu Charlie umwende, die sich über ihr Thema und den Mindestumfang beklagt, bleibt mir der Mund offen stehen. Oh Scheiße.

Direkt hinter Piet tritt noch ein weiterer Junge in den Raum, den schwarzen Rucksack über die eine Schulter gehängt, die kurzen Locken in allen Richtungen abstehend und über irgendwas lachend.

»Das ist doch …«, flüstert Charlie neben mir, die meinem starren Blick gefolgt ist, »… der Typ vom Herbst –«

»Ja«, unterbreche ich sie, um zu vermeiden, dass sie es überhaupt ausspricht. Noch hat er mich nicht bemerkt, und genau das ist der Zeitpunkt, in dem ich beschließe, cool zu sein. Ich atme tief durch, denn ich spüre die Hitze in meinen Kopf steigen, und habe das unangenehme Gefühl, bei etwas Verbotenem ertappt worden zu sein. Ich rutsche ein Stück in meinem Stuhl herunter, wende meinen Blick von Nate ab und sehe Charlie an. »Also, was ist jetzt mit deiner Projektarbeit?«

Mit offenem Mund starrt sie mich an, nicht sicher, wie sie meine Reaktion einordnen soll. Dann wandert ihr Blick wieder zu Nate, der sich drei Reihen vor uns neben Piet niedergelassen hat.

»Aber – also, ich wollte dich das sowieso schon die ganze Zeit fragen, aber warten, bis wir uns persönlich sehen: Freitagabend? Ich meine, wie kam es dazu?«, ignoriert sie meine Ablenkung.

Ich mache den Mund auf, um irgendwas zu erwidern, aber klappe ihn gleich darauf wieder zu, als genau in diesem Moment unser Biolehrer den Raum betritt und ich Charlie die Antwort vorerst schuldig bleibe. Sie wirft mir einen neugierigen Blick zu, der deutlich macht, dass ich so schnell keineswegs davonkommen werde. Die ganze Stunde sage ich kein Wort und bin ausnahmsweise froh über Charlies mangelndes Interesse an Naturwissenschaften, weil Nate dadurch keinen Grund hat, sich nach hinten zu uns umzudrehen. Am Ende schlüpfen Charlie und ich als Letzte aus dem Biologieraum und laufen in die entgegensetzte Richtung von Nate davon.

»So, und jetzt bitte mal alles von vorne«, fordert mich Charlie auf, als wir in der Mittagspause, mit einem Kaffee in der Hand, in Romys Auto sitzen.

Dicke Regentropfen prasseln gegen die Fensterscheiben, wodurch der Parkplatz beinahe menschenleer ist. Schulterzuckend nippe ich an meinem Kaffee und sehe meine besten Freundinnen an.

»Ich war betrunken, ziemlich gut drauf, aber auch ein bisschen melancholisch … na ja, weil es eben unser letztes gemeinsames Herbstfest war, und dann musste ich an deine blöde Freitagspredigt denken«, ich werfe Romy einen kurzen Seitenblick zu, »und kam auf die komische Idee, ihn zu küssen. Ich kann’s ehrlich gesagt nicht erklären, aber ist das denn jetzt so wichtig?« Wieder wende ich den Blick auf die Regentropfen, die auf der Außenseite des Fensters herunterrollen. »Nur dachte ich halt, dass er ein Freund von Piet ist oder so und nur zu Besuch da ist. Ich hätte nicht gedacht, dass er auf einmal bei uns in der Schule auftaucht, sonst wäre das alles gar nicht passiert.«

»Ich verstehe gar nicht, warum dir das so unangenehm ist. Im Gegenteil.« Romy nimmt einen kräftigen Schluck von ihrem Kaffee und sieht mich gelassen an. »Klar, irgendwie ist das nicht gerade typisch für dich, aber wir sind in der Highschool, da macht jeder Mal irgendwas Unüberlegtes und probiert sich eben aus.«

Dankbar sehe ich sie an, froh darüber, dass sie keine große Sache daraus macht. Charlie lehnt sich auf der Rückbank zurück und sieht uns beide abwägend an, während sie in ihr Sandwich beißt, kaut und langsam runterschluckt.

»Ja, Romy hat recht. Du solltest das nicht so verkrampft sehen«, sagt sie, ohne dabei wertend zu sein.

»Keine Ahnung. Ich habe mich einfach selbst überrascht«, erwidere ich ehrlich und blicke zwischen meinen Freundinnen hin und her. Die Tatsache, dass ich genauso überrascht war, dass er meinen Kuss überhaupt erwidert hat, gebe ich allerdings nicht zu.

»War er gut? Er sieht aus wie jemand, der gut küssen kann.« Charlie grinst mich an, wobei sie einen weiteren riesigen Bissen von ihrem Sandwich nimmt. Ich zucke mit den Schultern, als könne ich mich gar nicht mehr so recht erinnern. »Ja, ich denke schon«.

»Warte mal, wieso dachtest du, dass er nur zu Besuch da war?«, will Romy auf einmal wissen und sieht mich mit hochgezogener Braue fragend an.

Wieder zucke ich mit meinen Schultern. »Als ich ihn früher an dem Abend einmal gesehen habe, kam Piet zu uns, und es war offensichtlich, dass die zwei befreundet sind. Ich habe Nate hier noch nie gesehen, und dann dachte ich eben, er sei nur zu Besuch«, erkläre ich.

Romy presst ihre Lippen aufeinander, bevor sie den Kopf in den Nacken legt und in schallendes Gelächter ausbricht, bei dem mir mein Herz in die Hose rutscht.

Verwirrt sehe ich zu Charlie, die meinen Blick erwidert und Romy ansieht, als wäre sie vollkommen durchgeknallt.

»Was ist daran so lustig?«, frage ich zögernd, mit einem Male unsicher, ob ich die Antwort darauf überhaupt wissen will. Japsend schnappt Romy nach Luft, bevor sie mich schief grinsend ansieht, als wäre ich diejenige, die ohne Grund wie irre angefangen hat zu lachen.

»Mein Gott, Sue!« Wieder muss sie einen Lachanfall unterdrücken, als sie meinen ratlosen Blick sieht. »Nate Price, sagt dir der Name denn gar nichts?«

Mein Gesicht erstarrt, als mir klar wird, was sie gerade gesagt hat.

»Was?«, frage ich dämlich und dieses Mal rutscht mir mein Herz tatsächlich in die Hose.

»Nate Price, genau wie Ella Price.« Romy presst ihre Lippen aufeinander, als ich die flache Hand gegen meine Stirn schlage.