Make My Wish Come True - Jana Schäfer - E-Book

Make My Wish Come True E-Book

Jana Schäfer

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Beschreibung

Make A Wish … Ein Filmdreh im glamourösen White Season Hotel in den Rocky Mountains – eigentlich müsste es das Traumpraktikum für Abby sein. Doch als Regiestudentin hatte sie auf einen Job in einem New Yorker Studio gehofft, statt bei eisiger Kälte durch den Schnee zu stapfen. Und dann wird ihr ausgerechnet der vorlaute, aber unverschämt attraktive Sohn der Hotelbesitzerin an die Seite gestellt. Das Letzte, was Abby will, ist, sich auf einen Mann einzulassen, doch Logans charmante Art, macht es ihr schwer, ihrem Vorsatz treu zu bleiben. Bis ein Skandal am Set die unerwartete Nähe zwischen ihnen auf eine harte Probe stellt … Der perfekte Schmöker für gemütliche Winterabende!

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Seitenzahl: 474

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Originalausgabe Als Ravensburger E-Book erschienen 2021 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH © 2021, Ravensburger Verlag GmbH Text © 2021, Jana Schäfer Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langenbuch & Weiss, Hamburg.www.langenbuch-weiss.de Covergestaltung: »das verlagsatelier« Romy Pohl Verwendetes Bildmaterial von © Ivan Negin/Shutterstock, © vitek3ds/Shutterstock und © Rolau Elena/Shutterstock Lektorat: Tamara Reisinger ( www.tamara-reisinger.de) Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51092

www.ravensburger.de

FÜR MEINE ELTERN.IHR GEBT MIR EINEN HAFEN ZUM ANKOMMEN UND FLÜGEL ZUM LOSFLIEGEN.

DANKE FÜR ALLES.

1. KAPITEL

Abby

»Es tut mir leid.«

Vier Worte, und mein Tag war gelaufen. Mirauch, hätte ich am liebsten erwidert. Sie haben nämlich diefalsche Entscheidung getroffen. Doch natürlich sagte ich nichts dergleichen. Stattdessen schluckte ich die Enttäuschung hinunter. »Verstehe, kein Problem. Ich weiß ja, dass Sie viele Bewerbungen erhalten haben.«

»Das haben wir tatsächlich. Falls es Ihnen ein Trost ist, Sie waren in der engeren Auswahl, Miss Jones, aber letztendlich haben wir uns dann doch für eine Bewerberin entschieden, die schon mehr Vorerfahrung aufweisen konnte.«

Ich biss die Zähne zusammen, um einen frustrierten Laut zu unterdrücken. »Verstehe«, sagte ich erneut, obwohl ich es kein bisschen verstand. Wie sollte ich jemals mit mehr Vorerfahrung in meiner Bewerbung glänzen können, wenn sie mich aufgrund zu weniger Praktika ablehnten? Das war doch bescheuert.

»Wir wünschen Ihnen auf jeden Fall weiterhin viel Glück.«

»Danke. Auf Wiedersehen«, sagte ich.

Seufzend steckte ich das Handy zurück in meine Tasche und sah mich um. Es war Mittwochnachmittag, und die Straßen waren wie üblich von unzähligen Menschen bevölkert. Wenn ich mich nicht bald dem Strom an Geschäftsleuten, Touristen und Spaziergängern anschloss, würde ich angerempelt oder mitgerissen werden. Stillstand passte nicht zu dieser Stadt. Oder zu meinem Leben.

Bevor ich noch länger hier herumstand, setzte ich mich in Bewegung und überquerte die Straße. Ein wolkenfreier Himmel erstreckte sich über New York. Das helle Blau hätte diesen Tag und meine Laune kaum weniger wiederspiegeln können. Am liebsten würde ich mich mit einem Becher Eis in meinem Bett verkriechen, doch in Selbstmitleid zu versinken, brachte mich auch nicht weiter. Entschlossen reckte ich mein Gesicht der Sonne entgegen. So leicht ließ ich mich nicht unterkriegen.

Ich schlug den Weg zu meinem Lieblingscafé ein, das in der Nähe des Campus der Filmakademie lag. Dort hatten sie die besten Muffins, die ich je gegessen hatte. Und wenn es einen Moment gab, in dem Frustessen angebracht war, dann jetzt.

Durch den Tipp eines Kommilitonen hatte ich überhaupt erst von dem Filmprojekt erfahren. Die Praktikumsstellen waren inoffiziell ausgeschrieben gewesen, und die Dreharbeiten hätten in ein paar Wochen, Anfang Dezember, begonnen. Ich hatte alles darangesetzt und mich durch sämtliche Kontakte telefoniert, um an die Nummer des Regisseurs zu kommen. Unter den Darstellern wäre niemand Geringeres als Chris Hemsworth gewesen, was vermutlich auch der Grund für die zahlreichen anderen Bewerbungen gewesen war. Dabei interessierte mich der Schauspieler nicht die Bohne. Klar wäre es ein Pluspunkt gewesen, einen Star wie ihn aus nächster Nähe zu sehen und mit ihm zusammenzuarbeiten, aber mein Interesse hatte ausschließlich Chase Mitchell gegolten, einem der derzeit besten Regisseure im Filmbusiness. Bei einem Film vom ihm zu assistieren, wäre der Hammer gewesen. Allerdings studierte ich erst im dritten Jahr Filmregie, und meine Möglichkeiten, überhaupt an irgendwelche Praktikumsstellen zu kommen, waren begrenzt.

Schon als Kind hatte ich gewusst, dass ich später in der Filmbranche arbeiten wollte, und seither tat ich alles, um mein Ziel zu erreichen. Eines Tages würde ich bei großartigen Produktionen mitwirken und dazu beitragen, wundervolle Geschichten zu inszenieren und zu erzählen. Das war es, was mich dazu gebracht hatte, nach New York zu ziehen und mich auf einen der begehrten Plätze an der New York Film Academy zu bewerben.

Als ich wenig später die Tür zu dem kleinen Café aufstieß, das wie üblich brechend voll war, fühlte ich mich sofort besser.

»Hi, Abby«, begrüßte mich meine Kommilitonin und Mitbewohnerin Bonnie, die gerade ein Tablett voller benutzter Tassen auf den Tresen stellte. Sie arbeitete neben dem Studium als Barista in dem Café, was meinen Kaffeekonsum auf ein ganz neues Level gebracht hatte. Dass sie manchmal vergaß, mein Getränk abzubuchen, machte es natürlich nicht leichter, mich einzuschränken.

»Hey, gut, dass du da bist.« Ich setzte mich auf einen Holzhocker, der vor einem kleinen Stehtisch in der Nähe des Tresens stand.

»Was ist los?« Sie musterte mich prüfend. Ihre schwarzen Haare trug sie heute zu einem hohen Zopf zusammengebunden, der bei jedem Schritt hin und her schaukelte.

»Ich habe eine Absage für die Praktikumsstelle bekommen. Du weißt schon, dieser Kinofilm, bei dem Chase Mitchell Regie führt …«

»Mist.« Sie schürzte ihre dunkelrot geschminkten Lippen. Was bei mir Ähnlichkeit mit einem schmollenden Kind gehabt hätte, wirkte bei ihr beinahe niedlich.

»Meine Chancen standen von Anfang an nicht sonderlich gut, aber es wäre einfach so verdammt cool gewesen«, sagte ich mit einem frustrierten Seufzen.

»O Mann, das tut mir leid.« Bonnies dunkle Augen wurden noch eine Spur größer, als sie ohnehin schon waren. »Warte kurz.« Mit diesen Worten verschwand sie hinter dem Tresen. Wenig später kam sie mit einer Tasse Kaffee mit einem Schuss Haselnusssirup – meine Standardbestellung – und einem Teller mit einem Schokomuffin zu mir zurück. »Hier, Zucker vertreibt Kummer und Sorgen. Und gib nicht auf, die nächste Chance wird kommen!« Aufmunternd drückte sie meine Hand.

»Danke.« Ich brach ein Stück von dem fluffigen Gebäck ab und steckte es mir in den Mund. Bonnie hatte recht gehabt, Zucker machte die schlechte Nachricht direkt erträglicher.

»Ich versteh echt nicht, wieso die dich nicht genommen haben. Niemand an der Akademie ist so engagiert wie du. Aber lass dich davon nicht entmutigen. Bestimmt klappt es beim nächsten Mal.«

Bonnie war geborene New Yorkerin und sprach, seit wir uns bei der Einführungswoche auf einer Tour durch die Akademie kennengelernt hatten, davon, dass sie Schauspielerin werden wollte. Das nötige Talent dazu hatte sie. Letztendlich war sie aber genauso wie ich auf die richtigen Kontakte angewiesen, um in der Branche überhaupt Fuß fassen zu können. Allerdings ließ sie sich davon nicht entmutigen. Bonnies Optimismus war zu einem wichtigen Antrieb in meinem Leben geworden. Sie erinnerte mich regelmäßig daran, die Dinge positiv zu sehen, und ich gab mein Bestes, ihre Ratschläge zu befolgen.

Nur heute schien mir das Optimistischbleiben nicht ganz zu gelingen. »Du weißt genauso gut wie ich, wie das läuft. Den Platz bekommen nicht diejenigen, die am engagiertesten sind oder es am meisten wollen.«

Das war etwas, das ich schnell gelernt hatte. Wenn ich eines Tages als erfolgreiche Regisseurin arbeiten wollte, musste ich mich tatsächlich reinhängen und alles geben. Doch selbst das war keine Garantie. Ich brauchte Kontakte und Empfehlungen von den richtigen Leuten. Und dafür musste ich Erfahrungen als Praktikantin machen. Dieses Semester hatten uns die Dozenten empfohlen, Praxiserfahrung zu sammeln, weshalb ich mich seit Wochen um einen Praktikumsplatz bemühte.

»Das schon, aber wie gesagt, gib nicht auf«, sagte Bonnie, bevor sie plötzlich das Thema wechselte. »Sollen wir heute Abend Sushi bestellen?«

»Gern, ich kann ein bisschen Aufmunterung gut gebrauchen.«

»Perfekt. Ich muss jetzt leider wieder zurück an die Arbeit.« Bonnie klopfte mir noch mal aufmunternd auf die Schulter.

Nachdem Bonnie hinter dem Tresen verschwunden war, griff ich nach der Tasse und schnupperte an dem süßen Getränk. Die Mischung aus Koffein und der Süße des Sirups beruhigte mich augenblicklich.

Die nächsten Minuten verbrachte ich damit, den Rest von meinen Muffin zu essen und meine Enttäuschung über die Absage mit dem süßen Kaffee hinunterzuspülen. Danach scrollte ich – entschlossen, mich nicht unterkriegen zu lassen – durch verschiedene Jobangebote und Praktikumsstellen. Voraussetzung: Erfahrung alsRegieassistenz. Nachdem ich den Satz zum gefühlt fünfzigsten Mal gelesen hatte, gab ich auf und bestellte mir einen weiteren Kaffee mit Sirup und ein Glas Wasser.

Das war doch alles Mist. In Filmen und Liedern ging es ständig darum, dass in New York Träume wahr wurden, doch in der Realität bedeutete, den Träumen nachzujagen, harte Arbeit und reihenweise Absagen. Ich wusste, dass das im Filmbusiness dazugehörte, trotzdem wünschte ich mir manchmal, es wäre ein bisschen leichter.

»Hier, bitte.« Bonnie stellte den Kaffee und das Wasser vor mir ab.

»Du bist die Beste.« Lächelnd griff ich nach dem Kaffee und sah mich zum ersten Mal richtig in dem Raum um.

Seit ein paar Tagen schmückten grüne Zweige und kleine Kerzen die Tische. Spätestens Ende November würde die ganze Stadt in den unterschiedlichsten Lichtern erstrahlen. Von rot blinkenden Weihnachtsmännern, weißen Lichterketten und der jährlich wiederkehrenden Playlist mit weihnachtlichen Liedern, die niemand mehr hören konnte, würde alles dabei sein. Zum Glück hatte ich mit Bonnie den Pakt geschlossen, dass unsere Wohnung dekofrei bleiben würde. Ich hatte noch nie viel für Kitsch übrig gehabt. Was als romantische und besinnliche Zeit verkauft werden sollte, war in Wahrheit nur noch mehr Stress, noch mehr Konsum und eine schmerzliche Erinnerung daran, dass die eigene Familie nicht so perfekt war wie in den Filmen. Dabei hatte ich Weihnachten mal geliebt. Damals, als meine Familie nicht nur aus Mom und mir bestanden hatte. Mit Dads Weggehen und dem Älterwerden war dann jedoch der Weihnachtszauber verschwunden.

Seufzend trank ich meinen Kaffee leer und stellte das Geschirr auf den Tresen. »Ich geh nach Hause und bereite das Seminar von gestern nach. Bis später.« Mit einem Winken verabschiedete ich mich von Bonnie, die mir kurz zunickte, bevor sie die Bestellung eines Kunden aufnahm.

Draußen wehte mir ein kalter Wind entgegen, und ich schlang meinen Schal enger um den Hals. In ein paar Tagen würde ich meinen dicken Wintermantel aus dem Schrank holen müssen. Ein weiterer Grund, warum ich Weihnachten nicht mochte. Kälte war einfach nicht mein Ding, schon als Kind war ich erst im Sommer so richtig aufgeblüht. Ich vergrub meine Hände in den Jackentaschen und lief los.

Die Straßen waren inzwischen noch voller, doch diesmal störte ich mich nicht so sehr daran. Der Aufenthalt im Café hatte meine Laune gehoben, und auch wenn ich von Bonnies Zuversicht noch weit entfernt war, fühlte ich mich besser. Sie hatte recht, irgendwann musste es mit einem Praktikum klappen. Denn trotz der Rückschläge war ich fest davon überzeugt, dass die Filmbranche genau das Richtige für mich war. Und kaum eine Stadt bot so viele Möglichkeiten wie New York. Obwohl mir der Lärm manchmal zu schaffen machte, liebte ich die Stadt. Während ich die Straße entlang zur U-Bahn lief, kamen mir die unterschiedlichsten Leute entgegen. Von Menschen in Designerklamotten mit Handtaschen, die ich mir vermutlich nie würde leisten können, bis zu Straßenmusikern und jungen Leuten in grellbunten Klamotten, war alles dabei.

In der U-Bahn steckte ich mir Kopfhörer in die Ohren und lauschte der neuen Folge meines Lieblingspodcasts, der von einer Yogalehrerin geführt wurde. Sie interviewte regelmäßig inspirierende Persönlichkeiten, die es geschafft hatten, ihre Träume zu verwirklichen. Ihre Gäste waren ganz unterschiedlich, was den Podcast so interessant machte. So ging es in der letzten Folge zum Beispiel um eine Frau, die ein Café eröffnet hatte, in das sie jeden Sonntag Autoren einlud, die ihre Geschichten vorlasen. Heute hingegen befragte sie einen ehemaligen Manager, der seine erfolgreiche Karriere an der Seite eines Musikstars gegen ein Leben auf dem Land getauscht hatte, wo er sein eigenes Gemüse anbaute.

Ob ich eines Tages ebenfalls zu den Menschen gehören würde, die ihren Traum wahr gemacht hatten? Ich wünschte es mir mehr als alles andere.

Zurück in Bonnies und meiner winzigen Wohnung, die aus zwei Zimmern, einer kleinen Kochnische und einem Bad bestand, goss ich als Erstes die Pflanzen auf meinem Fensterbrett. Ich besaß nicht viel und versuchte, mein Zimmer so minimalistisch wie möglich zu halten. Ein Kleiderschrank in der Ecke, ein Regal mit Büchern über Filmgeschichte und Theaterwissenschaften an der Wand und mein Bett füllten die zwölf Quadratmeter bereits vollkommen aus. Der Boden bot gerade noch genug Platz für meine Yogamatte. Inzwischen ging ich dafür jedoch meistens ins Studio, denn seit ich selbst unterrichtete, kam ich immer weniger dazu, nur für mich allein Yoga zu praktizieren.

Ich schaltete die Lichterkette an der Wand ein, die den Raum in ein angenehmes Licht tauchte. Mein Zimmer war mein Zufluchtsort, wenn ich eine Pause von der Stadt brauchte.

Nachdem ich meinen Laptop hochgefahren und meine Lern-Playlist angemacht hatte, die aus ruhigen, sanften Instrumentalstücken bestand, setzte ich mich mit meiner Mitschrift aus dem letzten Seminar an den Schreibtisch. Und da verharrte ich, bis Bonnie am Abend mit Sushi nach Hause kam und wir es uns auf ihrem Bett gemütlich machten.

Da in der Wohnung kein Platz für einen Esstisch war, aßen wir meistens am Schreibtisch oder auf einem unserer Betten. Während mein Zimmer minimalistisch und ordentlich war, herrschte bei Bonnie das reinste Chaos. Auf ihrem Schreibtischstuhl türmte sich ein Berg Klamotten, und auf dem Boden lagen lose Zettel mit Notizen sowie zwei Bücher über Schauspielgeschichte. Auf ihrem Regal an der Wand standen vier grüne Pflanzen, die ich regelmäßig vor dem Vertrocknen rettete. Dennoch mochte ich Bonnies Zimmer. Es war gemütlich und spiegelte ihre fröhliche, chaotische Art wieder.

»Wie war die Schicht noch?«, fragte ich.

»Lang.« Sie verzog das Gesicht. »Heute war die Hölle los. Das hier ist definitiv mein Tageshighlight.« Sie deutete auf die Portion Sushi vor sich.

Eine Weile herrschte ein angenehmes Schweigen. Wir hingen beide unseren eigenen Gedanken nach, während wir uns unserem Essen widmeten.

»Ich muss dir was gestehen«, sagte Bonnie irgendwann, als von der Portion Sushi nur noch die Hälfte übrig war.

Ihr zerknirschter Tonfall ließ mich aufschauen. Das konnte nichts Gutes bedeuten. »Spuck’s schon aus.«

Bonnie wand sich sichtlich, was untypisch für sie war. Normalerweise trug sie ihr Herz auf der Zunge und sagte, was sie dachte. Ihre Direktheit hatte mir von Anfang an gefallen. Es war etwas, das wir gemeinsam hatten. Bei allem anderen unterschieden wir uns, waren das genaue Gegenteil. Während sie chaotisch und verplant war, strukturierte ich meinen Alltag und brauchte das Gefühl, einen Plan zu haben. Er musste nicht zwanghaft jedes Mal aufgehen, aber ihn zu haben, fühlte sich gut an. Die Menschen, die behaupteten, dass sie Überraschungen mochten, waren mir schon immer suspekt gewesen.

»Ich werde mit Eric verreisen.«

»Was?« Irritiert blinzelte ich und schaute meine Mitbewohnerin an.

Zerknirscht wich sie meinem Blick aus. »Er hat gefragt, ob wir im Dezember eine Tour durch Europa machen. Ich habe dieses Semester so wenig Kurse und kann die Abwechslung gut gebrauchen. Außerdem spendiert Erics Dad die Hälfte der Reise, weil er immer noch denkt, dass er mit Geld gutmachen kann, dass er zu viel arbeitet und zu selten für seine Kinder da ist. Ich weiß, wir wollten die Vorweihnachtszeit zusammen boykottieren und uns hier eine schöne Zeit machen, aber das ist eine einmalige Chance, und …«

Bonnie redete noch eine Weile so weiter. Einmal angefangen, war sie manchmal nicht mehr zu stoppen. Kurz durchzuckte mich Enttäuschung, doch ich wusste, wie selten Bonnie Urlaub machte. Außerdem träumte sie schon seit Ewigkeiten davon, nach Europa zu reisen.

»Ist schon gut«, unterbrach ich sie. »Denkst du wirklich, ich wäre dir böse, weil du in der Weihnachtszeit mit deinem Freund eine Europa-Tour machst?«

»Ich weiß, wie wenig du diese Jahreszeit magst, und ich will dich nicht allein lassen.« Ein warmer Ausdruck lag in ihren dunklen Augen, als sie mich ansah, und spätestens jetzt war jeder Anflug von Groll verflogen.

»Das weiß ich doch, und deshalb bin ich froh, dich als Freundin zu haben. Aber ich komm gut allein klar.«

»Sicher?«

»Ganz sicher.« Ich warf ihr ein beschwichtigendes Lächeln zu. Seit ich vor zwei Jahren mit achtzehn von zu Hause ausgezogen war, trug ich die Verantwortung für mein Leben selbst und war bisher bestens zurechtgekommen. »Du kennst mich doch, ich werde die Tage mit alten Filmklassikern verbringen. Außerdem habe ich ja noch meine Yoga-Kurse, die mich gut beschäftigt halten. Zudem wird Mom darauf bestehen, dass ich an Weihnachten zu ihr komme. Mach dir also keine Sorgen.«

Bonnie wirkte nicht überzeugt, nickte aber und beließ es dabei. »Wie läuft’s eigentlich mit den Yoga-Kursen? Kommt der Hippie-Kerl immer noch?«, fragte sie.

»Tut er«, erwiderte ich grinsend. »Und es stört ihn kein bisschen, dass er der einzige Mann in der Gruppe ist …«

Bonnie lachte. »Das würde es mich an seiner Stelle wohl auch nicht …«

»Nein, nein«, wehrte ich ab. »So ist er nicht.«

Wir redeten noch eine Weile über meine Yoga-Kurse und unsere Arbeit, bevor wir uns über die Veranstaltungen an der Akademie unterhielten. In Bonnies Studiengang sollte im nächsten Semester ein Theaterstück eingeprobt werden, und sie hoffte, wie nicht anders zu erwarten, auf die Hauptrolle. Wie immer, wenn sie vom Schauspiel sprach, blühte sie auf. Ich fragte mich, ob mein Gesicht ähnlich strahlte, wenn ich über Filmproduktionen redete. Die Vorstellung gefiel mir, und auch wenn das Studium mir einiges abverlangte und die viele Konkurrenz mich manchmal ernüchterte, hoffte ich, dass ich meine Begeisterung dafür nie verlieren würde.

Es war schon ziemlich spät, als ich zurück in mein Zimmer ging. Draußen war es längst dunkel. Nachdem ich die Jalousien heruntergelassen hatten, schlüpfte ich in meinen Pyjama und schaute zum bestimmt hundertsten Mal Frühstück bei Tiffany, einen der wenigen Klassiker, bei denen mir der Kitsch nicht zu viel wurde. Lautlos bewegte ich meine Lippen zu dem Text, den ich größtenteils auswendig kannte, und verdrängte jegliche Gedanken an die weniger märchenhaften Teile meines Lebens.

Seit mein Dad uns verlassen und damit Moms Herz gebrochen hatte, glaubte ich nicht mehr an das Konzept einer richtigen, sich über alles liebenden Familie. Mein Dad überwies zwar monatlich einen beachtlichen Betrag auf mein Konto, womit ich mein Studium finanzieren konnte – und womit er mir vielleicht auch sagen wollte, dass ich ihm nicht völlig egal war –, aber das war es auch schon. Und auch die echte große Liebe existierte für mich nur noch auf der Leinwand. Denn im Gegensatz zum wahren Leben versöhnten sich die Figuren in den Filmen nach einem Streit wieder und gestanden sich ihre Gefühle. Meistens konnte ich das auch genießen, denn sie waren besser als nichts – und mit nichts meinte ich mein nicht vorhandenes Liebesleben.

Wie so oft, wenn ich Filme sah, dauerte es nicht lange, bis ich völlig in der Geschichte versank, die auf dem Bildschirm erzählt wurde. Ich vergaß, dass andere in meinem Studium bereits mehr Praktika aufweisen konnten und dass die Wahrscheinlichkeit, eines Tages eine bekannte Regisseurin zu werden, nicht besonders hoch war.

Doch eines Tages, das schwor ich mir, würde ich an Sets sitzen und mit Schauspielerinnen wie Emma Watson oder Anne Hathaway Filmgeschichte schreiben.

Das waren große, ambitionierte Träume, aber ich musste an ihnen festhalten. Sie waren alles, was ich hatte.

2. KAPITEL

Abby

Die nächsten Tage zogen in rasend schneller Geschwindigkeit an mir vorbei, und auch Bonnies Abreise rückte immer näher. Sie wurde zunehmend aufgeregter und hatte mit Eric schon eine genaue Route geplant, die durch Rom, Paris, Barcelona und andere tolle Städte führen sollte. Ein bisschen war ich neidisch, gleichzeitig freute ich mich für ihr Glück. Um nicht in Selbstmitleid zu versinken, konzentrierte ich mich auf mein Studium und den Job im Yoga-Studio.

Ich ging regelmäßig zu meinen Kursen an der Akademie, lernte in einer Vorlesung mehr über Drehbuchentwicklung und besuchte ein Seminar zu Kameraführung, Bildwirkung und Ästhetik. Wie immer machte ich mir zu allem Notizen, um meine Mitschrift später noch mal in Ruhe durchzuarbeiten. Zu Hause musste ich mittlerweile Slalom um Bonnies neuen Reiserucksack und ihre Wanderschuhe laufen. Jeden Abend erzählte sie mir von neuen Sehenswürdigkeiten, die sie unbedingt besuchen wollte.

Als ich am Freitag nach der letzten Veranstaltung das Gebäude verließ, wehte mir ein für Anfang November ungewöhnlich eisiger Wind entgegen. Ich wickelte meinen Mantel fester um mich und trat auf die Straße, auf der wie üblich sämtliche Passanten an mir vorbeieilten.

»Abby? Warte mal kurz.« Amar, ein Freund von Bonnie, der ebenfalls Schauspiel an der Akademie studierte, lief auf mich zu. Er hatte sich genauso wie all die anderen, die an die Filmakademie gingen, seiner Leidenschaft verschrieben und war bereit, für seine Ziele zu kämpfen.

Das mochte ich an diesem Ort so sehr. Die Studierenden kamen von überall aus der Welt, doch wir hatten alle einen Traum, eine Vision, für die wir bereit waren, alles zu geben. Diese Gemeinsamkeit verband uns und hatte dazu geführt, dass ich mich an der Akademie von Anfang an wohlfühlte.

»Du bist doch auf der Suche nach Praktikumsstellen, oder?«, fragte Amar, als er leicht außer Atem neben mir stehen blieb.

»Stimmt. Woher weißt du das?« Ich sah ihn überrascht an. Wir kannten uns nur flüchtig; Bonnie hatte ihn mir vorgestellt, als wir beide zufällig im Café gewesen waren. Seither wechselten wir jedes Mal ein paar Worte, wenn wir uns auf dem Campus trafen.

»Bonnie hat mir davon erzählt. Ist ziemlich schwer, in dieser Branche Fuß zu fassen.« Er verzog das Gesicht.

»Da hast du recht«, gab ich seufzend zu. »Stehen bei euch auch Praktika an?«

»Ich habe im Sommer bei einem Film eine Nebenrolle ergattern können, weshalb ich mich dieses Semester wieder mehr auf die Kurse an der Akademie konzentriere«, sagte er lächelnd.

»Das klingt ja toll! Glückwunsch.«

»Es war nur eine kleine Rolle.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber danke. Es ist ein Anfang, und darauf kommt es schließlich an.«

»Ganz genau.« Ich deutete die Straße entlang. »Musst du auch in die Richtung zur U-Bahn?«

»Nee. Ich muss in die andere Richtung, ich wollte dir nur sagen, dass ich von einer Praktikumsstelle gehört habe, die vielleicht etwas für dich sein könnte. Bonnie meinte, du wärst über jede Chance froh, allerdings starten die Dreharbeiten schon in zwei Wochen. Sie suchen spontan eine Praktikantin, weil wohl jemand kurzfristig ausgefallen ist.«

»Das klingt gut, erzähl mir mehr.« Obwohl ich es nicht wollte, stieg Hoffnung in mir auf. In zwei Wochen war zwar verdammt spontan und ich würde einige wichtige Kurse verpassen, aber die könnte ich immer noch nachholen. Außerdem diente dieses Semester dazu, Praxiserfahrung zu sammeln, weshalb unsere Dozenten uns auf jeden Fall unterstützen würden.

»Ein Freund kennt Jennifer Torres, sie hat in den letzten Jahren bei einigen tollen Produktionen Regie geführt. Ihr neuestes Projekt ist ein Film, der wohl so in Richtung Kriminalfilm gehen soll, und …«

Ungläubig starrte ich ihn an. Jennifer Torres? Natürlich kannte ich die Frau. Sie war eine bekannte Regisseurin und hatte für ihre Filme bereits unzählige Preise gewonnen. »Kannst du mir den Kontakt vermitteln?«, platzte es aus mir heraus. »Sorry, ich wollte dich nicht unterbrechen, aber das klingt einfach perfekt. Nach genau so einer Chance habe ich gesucht.«

Amar grinste. »Klar, ich kann dir die entsprechenden Kontakte geben. Da es recht spontan ist, könntest du Glück haben.« Amar kramte sein Handy aus der Hosentasche und schickte mir direkt die Nummer. Ich war kurz davor, mich selbst zu kneifen. Nie hätte ich erwartet, dass der Tag eine dermaßen gute Wendung nehmen würde.

»Tausend Dank! Dafür lade ich dich mal zum Essen ein«, versprach ich.

»Da sage ich nicht Nein. Ich drück dir die Daumen, gib Bescheid, wenn es geklappt hat. Ich muss dann auch los. Man sieht sich.« Mit diesen Worten tauchte Amar in den Strom von Menschen ein und verschwand um die nächste Ecke.

Sprachlos starrte ich ihm hinterher, unfähig zu begreifen, was gerade passiert war.

Nach ein paar Sekunden ließ der Schock nach und ich machte mich auf den Heimweg. Die Sonne hatte sich endlich wieder durch die Wolkendecke gekämpft und tauchte die Straße in ein mattes Licht. Mit einem Mal kamen mir die vielen Leute ein bisschen weniger anstrengend vor. Wenn das mit diesem Praktikum klappte, würde ich die nächsten Wochen in einem Filmstudio verbringen und mit Profis zusammenarbeiten. Besser könnte es gar nicht laufen.

Ich beschleunigte meine Schritte und nahm die nächste U-Bahn. Je schneller ich Jennifer Torres anrief und von mir überzeugte, desto besser. Ich würde ihr klarmachen, dass ich für diesen Job wie gemacht war. Die Skeptikerin in mir mahnte mich, mir nicht allzu große Hoffnungen zu machen, doch darin war ich noch nie gut gewesen. Ich hoffte schnell, zumindest wenn es um berufliche Dinge ging.

»Erzähl mir noch mal, wie genau das ablief«, sagte Bonnie und sah mich mit leuchtenden Augen an.

Es war früher Abend, und wir saßen mit einem gekühlten Eistee in unserer Stammbar, die mit den schwarzen Möbeln und den Fotoaufnahmen von New York im Retro-Style eine gemütlich-schicke Atmosphäre erzeugte. Wie üblich hatten wir es uns an einem kleinen Couchtisch in der Ecke gemütlich gemacht.

»Ich habe bei der Regisseurin angerufen und gesagt, wie sehr ich dieses Praktikum will. Daraufhin sollte ich meinen Lebenslauf, bisherige Erfahrungen und ein Empfehlungsschreiben von einem Dozenten schicken, was ich natürlich direkt erledigt habe.« Mit einem hoffnungsvollen Lächeln lehnte ich mich zurück.

»Das klingt echt cool! Ich bin mir sicher, dass es klappen wird. Es muss einfach klappen.«

»Hoffentlich hast du recht. Jetzt muss ich jedenfalls erst mal abwarten, wobei sie meinte, dass ich spätestens morgen Bescheid bekommen sollte. Das wäre einfach der Hammer, Bon. Ich würde endlich richtig am Set arbeiten. Mit Profis, die wissen, was sie tun.«

Gedanklich sah ich mich bereits mit den Zuständigen für Regie und Produktion im Studio sitzen, während wir über die Inszenierung einzelner Szenen sprachen. Natürlich würde ich in der Realität wohl eher den Kaffee holen und mir fleißig Notizen machen, während sie redeten, aber selbst das wäre ziemlich spannend. Mein einziges anderes Praktikum hatte nur zwei Wochen gedauert und war bei den Dreharbeiten einer Vorabendserie gewesen. Dort hatte ich tatsächlich nur Kaffee serviert und Requisiten durch die Gegend geschleppt, obwohl das nicht in den Bereich der Regieassistenz fiel. Falls es diesmal klappte, würde es hoffentlich anders laufen.

»Meine Daumen sind gedrückt. Wenn es jemand verdient hat, dann du. Außerdem müsste ich dann kein schlechtes Gewissen haben, weil ich dich allein lasse.« Bonnie verzog das Gesicht und strich sich eine dunkle Strähne hinters Ohr, die aus ihrem Zopf gerutscht war.

Mit ihren schwarzen Haaren und den bunten Klamotten, die sie auf Flohmärkten oder auf Hippie-Mode-Seiten im Internet bestellte, bildete sie auch optisch das genaue Gegenteil von mir. Ich trug schlichte Kleider, bevorzugt Jeans und Bluse, wobei ich darauf achtete, dass alles zusammenpasste. Nur heute hatte ich mich für ein knielanges schwarzes Kleid entschieden, in dem ich mich jedes Mal besonders elegant fühlte und so, als könnte ich es mit der ganzen Welt aufnehmen. Anders als Bonnie hatte ich außerdem lange blonde Haare und blaue Augen, die meine Mom oft mit der Farbe von Gebirgsseen verglich, was ich nie verstanden hatte, weil sie in ihrem ganzen Leben noch nie im Gebirge gewesen war. Aber sie benutzte gern bildliche Vergleiche und Metaphern. Ihr Herz hatte sie nach der Trennung von meinem Vater – ganz theatralisch – als einen Scherbenhaufen beschrieben.

»Danke, Bon. Aber du musst wirklich kein schlechtes Gewissen haben«, sagte ich und trank einen großen Schluck von meinem Eistee, als könnte das süße Getränk die Gedanken an meine Mom vertreiben.

Leise Musik plätscherte aus den Boxen an den Wänden, ein Mix aus Popsongs und alten Klassikern. Sie vermischte sich mit dem Stimmengewirr der Leute, was für ein angenehmes Hintergrundgeräusch sorgte.

»Alles okay?«, fragte Bonnie nach einer Weile und riss mich dadurch wieder zurück in die Realität.

»Ja, ich hab nur gerade daran gedacht, dass ich mich mal wieder bei Mom melden sollte.«

Normalerweise hatten wir spätestens alle zwei Wochen Kontakt. Meistens erzählte sie mir dann am Telefon von all den neuen Dingen, die sie ausprobiert hatte. Von Töpfern bis zu Backkursen war in den letzten Jahren alles dabei gewesen, wobei ihr Interesse für eine Sache nie lange anhielt.

Manchmal fragte ich mich, wie es sein konnte, dass ich von ihr abstammte, so unterschiedlich, wie wir waren. Während sie Abwechslung liebte, brauchte ich eine gewisse Stabilität. Deshalb gab ich inzwischen auch regelmäßig Yoga-Stunden. Die Ausbildung zur Lehrerin hatte ich zwar erst vor einem Jahr gemacht, allerdings praktizierte ich Yoga schon, seit ich vierzehn war. Es war der perfekte Ausgleich zu meinem trubeligen Alltag. Meine Art, runterzukommen und mich auf den gegenwärtigen Moment zu konzentrieren. Immer, wenn ich in der Vergangenheit durch eine Krise gegangen war, war Yoga die Konstante gewesen, die geholfen hatte.

»Diese Pflichtanrufe immer. Meiner steht auch demnächst an.« Bonnie schüttelte gespielt genervt den Kopf, dabei wusste ich, dass sie ihre Eltern über alles liebte und sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit besuchte. Da sie im Stadtteil Queens wohnten und wir in Brooklyn, musste sie dafür lediglich ein paar Stationen mit der U-Bahn fahren.

»So, ich muss mal kurz zur Toilette. Bin gleich wieder da.«

Kaum war Bonnie verschwunden, kam ein Kerl zu unserem Tisch geschlendert. Ich unterdrückte ein Seufzen. Solche Situationen hasste ich. Flirten lag mir gar nicht, genauso wenig wie Kerle abzuweisen, die plötzlich auftauchten und mich anmachten, obwohl ich nichts von ihnen wollte. Bonnie sagte immer, dass ich Kerlen zu selten eine Chance gab. Vermutlich hatte sie damit recht, aber meine Erfahrungen waren in dieser Hinsicht in den letzten Jahren bescheiden gewesen. Nachdem mein Vater uns verlassen hatte und Mom am Boden zerstört war, hatte mein Bild von der perfekten großen Liebe zum ersten Mal einen Riss bekommen. Ein weiterer Riss war hinzugekommen, als mein erster Freund nach einem Jahr mit mir Schluss machte, weil er sich in eine andere verliebt hatte, die er wohl auch schon ein paar Wochen hinter meinem Rücken getroffen hatte. Seither hatte ich mich nur auf lockere Affären eingelassen, wobei ich mich in den letzten Monaten vor allem aufs Studium konzentriert hatte und Typen grundsätzlich aus dem Weg gegangen war. Es war leichter, mein Herz zu schützen, wenn ich gar nicht erst jemanden nah genug an mich heranließ, der es brechen könnte.

»Hi.« Der Typ musterte eingehend mein Kleid. Ein Lächeln erschien auf seinen Lippen, und er fuhr sich langsam durch seine halblangen blonden Haare, die ihm im Sommer einen typischen Surfer-Look verpasst hätten, jetzt aber einfach nur ekelhaft schmierig wirkten.

»Darf ich dich auf einen Drink einladen?«, fragte er mich – oder vielmehr mein Dekolleté, an dem sein Blick hängen geblieben war. Widerlich.

»Meine Augen sind hier oben«, erwiderte ich betont ruhig, wobei meine Hände leicht schwitzen. Wo blieb Bonnie?

»Natürlich, ich …«

»So, hier bin ich wieder«, unterbrach Bonnie den Kerl und setzte sich mir gegenüber, wobei sie den Unbekannten mit hochgezogenen Augenbrauen musterte. »Gibt’s einen guten Grund, warum du hier stehst und auf das Dekolleté meiner Freundin starrst, oder liegt es nur an einem Mangel von Anstand?«

»Ich, äh … bin dann mal weg.« Abrupt drehte der Typ sich um und verschwand.

»So ein Idiot«, murmelte ich. »Und du wunderst dich, warum ich lieber Single bleibe.«

»Na ja, es sind ja nicht alle so wie der.«

»Vielleicht nicht. Aber die, die ich im letzten Jahr kennengelernt habe, waren nicht viel besser.«

»Könnte das vielleicht auch daran liegen, dass du den Männern, die keine Idioten sind, gar nicht erst eine Chance gibst?« Bonnie schlug einen scherzhaften Ton an, aber wir wussten beide, dass sie es ernst meinte. Seit wir uns kannten, lag sie mir damit in den Ohren, dass meine Einstellung viel zu pessimistisch war. Was vermutlich stimmte, immerhin gab ich den meisten Kerlen nicht mal die Möglichkeit, mich besser kennenzulernen. Aber ich konnte momentan keine Ablenkung gebrauchen. Und erst recht kein gebrochenes Herz.

»Nein«, wehrte ich ab, »aber ich habe im Moment einfach keine Zeit für irgendwelche Romanzen, und das weißt du.«

Bonnie stieß einen tiefen Seufzer aus, tat mir jedoch den Gefallen und wechselte das Thema. Sie erzählte von einem Casting, das noch vor ihrer Reise stattfinden sollte und bei dem sie sich gute Chancen erhoffte. Es ging um eine kleine Nebenrolle in einem Film, und ähnlich wie ich würde sie jede Möglichkeit ergreifen, die sie ihrem Traum ein Stück näherbrachte.

Nach einer Weile bestellten wir uns ein zweites Glas Eistee und eine Schale Erdnüsse dazu. Die Musik war inzwischen lauter gedreht worden, und an der Bar drängten sich immer mehr Leute in Cocktailkleidern und Anzügen. Irgendwann fing Bonnie wieder an, mir von ihren Europa-Plänen zu erzählen. Obwohl sie auch die letzten Tage schon ständig davon geschwärmt hatte, wie toll es werden würde, hörte ich ihr aufmerksam zu. Ich freute mich wirklich für sie.

Nachdem wir unsere Gläser leer getrunken hatten, machten wir uns auf den Heimweg. Es war ein kühler Abend, und ich stellte den Kragen meiner Lederjacke auf, um mich gegen den Wind zu schützen. Vermutlich hätte ich heute schon meinen Wintermantel rausholen sollen.

Wir steuerten gerade auf die nächste U-Bahn-Station zu, als mein Handy klingelte. Ich fischte es aus meiner Tasche und blickte auf die Nummer. Unbekannt. Stirnrunzelnd blieb ich stehen und nahm den Anruf an.

»Hallo? Abby hier.«

»Abigail Jones?«, fragte eine weibliche Stimme.

»Ja, genau.« Verwundert presste ich das Handy fester ans Ohr. Ich wurde nicht oft von unbekannten Nummern angerufen.

»Hier spricht Jennifer Torres.«

Ich erstarrte.

»Ich habe deine Unterlagen durchgesehen und hatte einen guten Eindruck. Wenn du flexibel und spontan bist, würde ich mich freuen, dich in meinem Team begrüßen zu dürfen.«

»Auf jeden Fall. Ich bin sehr flexibel und spontan«, sagte ich, ohne nachzudenken, und ignorierte Bonnies hochgezogene Augenbrauen.

»Sehr schön. Dann maile ich dir die Details. Eine Vergütung wird leider nur im geringen Maße möglich sein, dafür ist für Unterkunft und Essen während der Dreharbeiten gesorgt. Außerdem werde ich am Ende natürlich ein Zeugnis ausstellen. Ich habe einige Bekannte, die an der Filmakademie arbeiten, und freue mich, wenn ich jungen Talenten eine Chance wie diese bieten kann.«

Sie sprach ruhig und in einem angenehmen Tempo. Vor meinem Auge entstand das Bild einer Frau, die professionell und selbstsicher auftrat. Genau das, was ich gesucht hatte.

»Vielen Dank«, presste ich hervor und klang dabei vermutlich kein bisschen professionell.

»Gern geschehen. Dann sehen wir uns bald. Bis dann.« Kaum hatte sie aufgelegt, kreischte ich auch schon los.

»Was ist passiert?«, fragte Bonnie mit großen Augen. »Hast du die Zusage?«

»Das war Jennifer Torres am Telefon. Sie ist eine unglaubliche Regisseurin, und ich darf als Praktikantin in ihr Team. Ich!«

»O mein Gott! Das ist ja großartig.« Bonnie umarmte mich überschwänglich, und es fehlte nicht viel, dass wir einen albernen Tanz mitten vor der Treppe zur U-Bahn-Station aufführten. Einige Passanten warfen uns bereits neugierige Blicke zu, aber es hätte mich nicht weniger kümmern können.

»Ich fass es nicht. Davon träume ich, seit ich vor zwei Jahren mit dem Studium begonnen habe, wobei, nein. Davon träume ich im Grunde schon, seit ich ein Kind bin.« Ich strahlte über das ganze Gesicht und hakte mich bei Bonnie unter, die sich mindestens genauso sehr zu freuen schien.

Wir sprangen die Treppe hinunter und nahmen die nächste Bahn, wobei ich ohne Unterbrechung redete. Ich malte mir aus, wie ich bekannte Schauspieler kennenlernte, an Jennifers Seite arbeitete, dabei half, die Szenen zu inszenieren, und das Equipment des Studios begutachtete.

»Ich wusste, dass du es schaffst«, warf Bonnie lachend ein.

»Danke«, sagte ich. »Für alles. Auch, dass du Amar von meiner Suche erzählt hast und es dadurch erst geklappt hat.«

»Klar, liebend gern. Ich bin einfach nur froh, dass du nun doch eine Praktikumsstelle hast. Und dann auch noch eine so tolle!«

»Ich auch.« Genauere Details wollte Jennifer Torres mir noch per Mail schicken, doch bisher klang alles fantastisch. Wie könnte ich eine Chance wie diese ausschlagen?

In unserer Wohnung angekommen, warf ich meine Jacke und Tasche aufs Bett und griff nach meinem Handy. Tatsächlich war inzwischen eine neue Mail im Postfach gelandet.

Betreff: Details zumPraktikum beim Filmdreh »Trügerischer Winterzauber«.

O mein Gott, klang das gut. Meine Finger bebten, als ich die Mail öffnete.

Liebe Abigail, … Ich überflog die Zeilen, saugte alle Informationen in Sekundenschnelle in mich auf.

Der Dreh würde sich über mehrere Wochen erstrecken, von Mitte November bis Mitte Februar. Bei dem Film selbst handelte es sich um einen Krimi, der in den 20er-Jahren spielte, was mich ein zweites Mal aufkreischen ließ.

Ich hatte den Film Der große Gatsby sicherlich schon zehnmal gesehen und liebte die Kostüme aus dieser Zeit. Das konnte also nur gut werden.

Für Verpflegung istvor Ort gesorgt. Ein Tag in der Woche ist frei …

»Das ist einfach der Hammer«, flüsterte ich.

IchfreuemichsehraufdasgemeinsameArbeitenundbinmirsicher, dassdu eine echte Bereicherung für das Team sein wirst. Denkdran, warme Kleider einzupacken. An den freien Tagen besteht sicherdie Möglichkeit, selbst mal auf die Skipiste zu gehen.

Mitfreundlichen Grüßen, Jennifer Torres

Mein Lächeln erlosch. Irritiert las ich die letzten Zeilen ein zweites und drittes Mal.

Skipiste? Was für eine Skipiste? Warum sollte ich an meinem freien Tag raus aus der Stadt fahren, um auf eine Skipiste zu gehen? Ich scrollte in der Mail nach oben, wo etwas zu der Unterkunft stand. Den Teil musste ich versehentlich übersprungen haben. Ich hatte schließlich bereits ein Zimmer, zu dem ich abends zurückkehren konnte. Stirnrunzelnd schaute ich auf die Adresse. Wie hatte ich das überlesen können?

Der Dreh würde in einem Hotel namens White Season stattfinden. Es befand sich in einem Ort, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. Wenige Sekunden später wusste ich auch, wieso.

»Das darf doch nicht wahr sein!«

»Was ist los?«, fragte Bonnie und schielte über meine Schulter auf das Handydisplay. »Warum schaust du dir ein Hotel mitten in den Rocky Mountains an?«

Langsam ließ ich das Handy sinken. Nein, nein, nein. Ich hatte es bereits alles vor mir gesehen, das schicke Studio, die aufregenden Drehs an den unterschiedlichsten Orten in New York, die ich noch nicht kannte …

»Weil dort der Film gedreht wird.«

»Was?« In Bonnies Gesicht spiegelte sich Verwirrung.

»Ich werde für die Dreharbeiten nach Denver fliegen und die nächsten Wochen in einem Hotel mitten in den Bergen verbringen müssen. Im Schnee.«

Ihre Augen weiteten sich, doch statt dem erwarteten Mitleid schlug sie sich eine Hand vor den Mund und prustete laut los.

»Bonnie! Das ist nicht witzig. Ich habe die einmalige Chance, bei einem Filmdreh dabei zu sein, und dann muss ich ausgerechnet in den Schnee. Ich hasse Kälte. Das weißt du.«

»Du wolltest doch unbedingt dem Weihnachtsrummel in New York entkommen. Jetzt hast du die Möglichkeit dazu. Und wer weiß, vielleicht wirst du dich in die Landschaft noch verlieben. Schneebedeckte Berge, die im Sonnenlicht glitzern, eine malerische Atmosphäre und ein stilvolles Hotel klingen doch toll. Andere fahren dafür extra in den Urlaub.« Sie klang beinahe euphorisch, und obwohl ich ihren Optimismus normalerweise liebte, fiel es mir schwer, ihn diesmal zu teilen.

»Ich habe nicht mal vernünftige Winterstiefel«, murmelte ich und sank auf mein Bett.

»Wann geht es los?«

Ich klickte auf den Anhang. Ein Flugticket. Damit gab es kein Zurück mehr.

»Wir fliegen übernächste Woche.«

»Dann gehen wir morgen shoppen«, sagte sie bestimmt und ließ mir keine Möglichkeit, zu widersprechen. Die hatte ich sowieso nicht, denn ich brauchte mehr als nur neue Winterstiefel, wenn ich den Dreh in den Bergen ohne Frostbeulen überstehen wollte. Aber für diesen Job würde ich alles ertragen. Auch dicke Mäntel und Winterstiefel, in denen ich mir Blasen lief.

Zwei Wochen später war es so weit. Nervös stand ich im Foyer des Hotels in der Nähe des Flughafens. Jennifer Torres hatte die Crew eingeladen, einen Tag vor dem Flug nach Denver in einem Hotel zusammenzukommen, damit wir uns kennenlernen konnten, bevor es an die Planung der nächsten Wochen ging. Gedanklich war ich in den letzten Stunden hundertmal im Kopf durchgegangen, ob ich an alles gedacht hatte. Handy, Geldbeutel, Pass, Winterkleider, meine Yoga-Ausrüstung …

»Ich bin schon so gespannt auf die Dreharbeiten«, sagte plötzlich jemand ganz in der Nähe von mir. »Anscheinend gibt es noch eine andere Praktikantin, aber ich bin mir sicher, ich werde Jennifer Torres von mir überzeugen können und bald ihre Nummer eins sein.«

Neugierig drehte ich mich in die Richtung, aus der die Stimme kam, und entdeckte eine junge Frau etwa in meinem Alter. Sie hatte ihr Handy ans Ohr gepresst und war ganz offensichtlich meine zukünftige Kollegin. Oder eher Konkurrentin, denn so, wie sie sich anhörte, würde sie aus der Sache einen Wettkampf machen. Unauffällig folgte ich ihr. Sie bahnte sich zielsicher einen Weg durch den Eingangsbereich und steuerte auf eine Gruppe Leute zu, die in der Nähe des Empfangstresens standen.

Ich kniff die Augen zusammen, als mein Blick auf eine große Frau fiel. Sie trug einen dunklen, hochgeschnittenen Rock mit einer weinroten Seidenbluse und einem passenden Blazer dazu. Gerade redete sie mit einem Mann, der neben ihr stand. Ihre ganze Erscheinung strahlte Eleganz und Stärke aus. Ich wusste sofort, wer sie war, und Aufregung machte sich in mir breit.

Das war Jennifer Torres, die erfolgreiche Regisseurin, von der ich schon so viel gehört hatte. Ich straffte meine Schultern und ging auf sie zu. Die andere Praktikantin musste denselben Gedanken gehabt haben, denn sie steckte hastig ihr Handy weg und lief ebenfalls auf sie zu, sodass wir mehr oder weniger gleichzeitig vor ihr zum Stehen kamen.

»Hallo, ich bin Jill«, stellte sie sich vor. »Ich darf Ihnen während der Dreharbeiten als Praktikantin zur Seite stehen und freue mich schon riesig darauf. Es ist mir wirklich eine Ehre.«

Irritiert musterte ich sie von der Seite. Wer sprach denn heute noch so?

Wenn Jennifer Torres sich dieselbe Frage gestellt hatte, dann verbarg sie das ziemlich gut. »Ihr dürfte mich beide duzen«, erwiderte sie lächelnd, während ihr Blick von Jill zu mir glitt.

»Hi, ich bin Abigail«, sagte ich. »Aber alle nennen mich Abby.« Ich glaubte, Jill leise schnauben zu hören. Was war nur ihr Problem?

»Abby, wie schön. Ich freue mich, dass ihr dabei seid, und bin mir sicher, ihr werdet eine großartige Unterstützung sein. Ich bin schon gespannt auf eure Ideen. In einer Stunde treffen wir uns im Speisesaal des Hotels zum Abendessen. Bis dahin könnt ihr ruhig schon mal eure Zimmer beziehen.« Sie nickte uns noch mal kurz zu und wandte sich dann wieder dem Mann neben sich zu. Das Gespräch war damit wohl beendet.

Ich drehte mich um, ebenso wie Jill.

»Glaub ja nicht, dass du mir dieses Praktikum vermiesen kannst«, zischte sie, sobald wir außer Hörweite waren. »Ich habe hart für so eine Chance gearbeitet und werde jede Gelegenheit, in der ich aktiv werden kann, nutzen.«

Oookay. Sie hatte definitiv ein Problem mit Teamarbeit.

»Alles klar«, murmelte ich nur und wandte mich schulterzuckend von ihr ab. Mit ihrem übertriebenen Ehrgeiz würde ich mich später auseinandersetzen.

Mit wild klopfendem Herzen griff ich nach meinem Koffer und ließ mir an der Empfangstheke den Schlüssel für mein Zimmer geben. Einige andere Leute – die ich ebenfalls als Teil der Filmcrew vermutete – taten es mir gleich. Die Aufregung, die in der Luft lag, war beinahe greifbar. Alle schienen sich auf das Filmprojekt und die Dreharbeiten zu freuen. Ich unterdrückte den Drang, mich zu kneifen, um mich zu vergewissern, dass das hier wirklich passierte. Jennifer Torres kannte meinen Namen und freute sich auf die Dreharbeiten mit mir. Mit mir!

Grinsend schrieb ich Bonnie eine Nachricht. Für den Moment konnte nichts und niemand mir die Laune verderben. Nicht einmal die übereifrige Jill, die gerade einem Kameramann erzählte, wie viele Ideen sie jetzt schon für die Dreharbeiten hatte.

3. KAPITEL

Logan

Laute Musik dröhnte aus den Boxen. Frank Sinatras My Way schallte durch mein Zimmer und blendete alle anderen Geräusche aus. Normalerweise stand ich nicht so auf alte Klassiker und Swing, aber beim Malen hatten sie eine seltsam beruhigende Wirkung auf mich. Mit den Texten im Ohr konzentrierte ich mich ganz auf die Leinwand vor mir.

Ich hatte mit einem Bleistift begonnen und eine grobe Skizze gemalt, die ich jetzt mit dunkler Farbe ergänzte. Mein Schwerpunkt lag schon seit einer Weile auf Porträts. Was vor allem daran lag, dass die Gesichter von Menschen einem viel mehr über eine Person verrieten, als den meisten bewusst war. Und genau das aufs Papier zu übertragen, war für mich eine Herausforderung, der ich mir nur allzu gern stellte. Die Skizze vor mir zeigte einen älteren Mann, in dessen Gesicht das Leben seine Spuren hinterlassen hatte. Jeder Falte und Kerbe erzählte von den Jahren, die hinter ihm lagen.

Ich trat einen Schritt zurück und betrachtete das Bild. Wie üblich fand ich einige Stellen, die auszubessern wären. Dennoch ließ ich den Pinsel sinken und versuchte, die angenehme Ruhe zu genießen, die mich jedes Mal überkam, wenn ich malte. Meine Tage waren gefüllt mit oberflächlichen Konversationen, Kontaktaufnahmen und Bürokram. Seit meinem Schulabschluss vor drei Jahren griff ich Mom unter die Arme und half ihr im Hotel. Wenn ich nicht im Büro saß und Mails mit Buchungen und Anfragen beantwortete, schaute ich nach den Gästen, um mich zu vergewissern, dass es allen gut ging. Ich war derjenige, der gerufen wurde, wenn die Angestellten nicht weiter wussten und damit nicht direkt zur Chefin – meiner Mom – wollten. Im Grunde war ich so was wie der Kerl für alles, da ich nie eine richtige Ausbildung im Bereich Hotelmanagement gemacht hatte. Mir gefiel der Job, dennoch brauchte ich einen Ausgleich. Eine Tätigkeit, die ich nur für mich ausübte.

Ich stellte die Leinwand zum Trocknen in die Ecke neben den großen Ledersessel, den ich so gut wie nie benutzte, und wusch den Pinsel im Bad nebendran aus. Nachdem ich alles weggeräumt hatte, ging ich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, wo meine Eltern und meine beiden jüngeren Schwestern lebten.

Lautes Stimmengewirr empfing mich, als ich die Tür aufstieß. Im nächsten Moment stürzten sich meine kleinen Schwestern auf mich, und ich ging zu Boden.

»Attacke!«, rief Daisy und begann, mich zu kitzeln, während Zoey mich festhielt.

»Aufhören! Zwei gegen einen ist unfair.« Ich wand mich lachend unter ihnen und schaffte es, mich aus Zoeys Griff zu befreien.

»Hast du wieder gemalt?«, fragte Daisy und zeigte auf einen Farbspritzer auf meiner Jeans. Die Hälfte meiner Klamotten sah inzwischen so aus.

»Hab ich.«

»Ein Porträt von uns?«, wollte Zoey wissen.

»Nein«, stöhnte ich. »Davon gibt es nämlich schon ungefähr fünfzig Stück.«

Sie verzogen gleichzeitig das Gesicht. Mit ihren Schmollmündern, die sie perfekt beherrschten, und den blonden Locken sahen sie aus wie zwei kleine Engel, aber nach zehn Jahren mit ihnen in einem Haus wusste ich, dass das nur Schein war. Meine Schwestern hatten es faustdick hinter den Ohren. Sie nutzten ihre äußerliche Ähnlichkeit gnadenlos aus, führten Lehrer und Gäste an der Nase herum und waren seit dem Tag ihrer Geburt unzertrennlich. Nur wer sie näher kannte, wusste, dass Daisy die lautere der beiden war, während Zoey oft die Rolle der Beschützerin einnahm. In ihrem Wesen waren sie genauso unterschiedlich wie alle anderen Geschwister auch, dennoch bildeten sie als Zwillinge ein Team, gegen das niemand ankam.

Als ich mit elf Jahren erfahren hatte, dass ich gleich zwei Geschwister auf einmal bekommen würde, war ich nicht gerade begeistert gewesen, doch inzwischen würde ich alles für die beiden tun.

»Logan, schön, dass du mit uns isst.« Mom kam ins Wohnzimmer und warf mir ein breites Lächeln zu.

Obwohl wir in einem Haus lebten, hatte ich seit meinem achtzehnten Geburtstag das obere Stockwerk mit Bad, Küche und einem großen Zimmer für mich allein. Es hatte wenig Sinn gemacht, auszuziehen, da das Hotel direkt nebendran lag und ich so einen kurzen Weg zur Arbeit hatte.

»Daisy, Zoey, auf geht’s, Hände waschen. Das Essen ist in ein paar Minuten fertig.« Sie warf ihnen einen strengen Blick zu, und die beiden standen sofort auf. Mom war eine der wenigen Personen, die noch so etwas wie Kontrolle über die Zwillinge hatte. »Sie werden viel zu schnell groß«, murmelte sie, während sie ihnen stirnrunzelnd nachsah.

»Die beiden sind erst zehn«, warf ich ein. »Sie werden dich noch eine Weile brauchen.«

»Ich weiß. Trotzdem vergeht die Zeit viel zu schnell«, sagte sie, bevor sie mit einem Lächeln im Esszimmer verschwand, das direkt an die Küche anschloss.

Schwungvoll stand ich auf, um ihr zu folgen, und zumindest den Tisch zu decken, falls sie das nicht schon erledigt hatte.

Dad stand wie immer am Herd und kochte, weshalb es herrlich nach Curry und anderen Gewürzen roch. Obwohl er im Hotel als Koch arbeitete, stellte er sich an seinen freien Tagen auch bei uns in die Küche. Das Hotel hatte einst meinen Großeltern gehört, und nach ihrem überraschend frühen Tod hatte Mom es übernommen. Kurz darauf hatte sie Dad geheiratet, und inzwischen managten sie es gemeinsam, wobei Dad sich hauptsächlich um die Küche und das Praktische kümmerte, während Mom für das Personal zuständig war und dafür sorgte, dass die Gäste sich wohlfühlten. Sie hielt so gut wie nie inne, schmiss zusätzlich mit Dads Hilfe den Haushalt und trug trotzdem meistens ein Lächeln auf den Lippen. Die Angestellten liebten und respektierten sie, und ich hatte keine Zweifel, dass die Hälfte von ihnen nur ihretwegen so gern im White Season arbeitete.

»Es gibt übrigens Neuigkeiten von der Filmcrew«, sagte Mom, als alle, abgesehen von Dad, am Tisch saßen. »Morgen werden wie angekündigt der Produzent und die Regisseurin mit ihrem Team anreisen, die Schauspieler kommen allerdings erst einige Tage später. Die Etage, in der sie schlafen, ist bereits bezugsfertig, und die anderen Gäste sind informiert. Durch die Dreharbeiten wird es in den nächsten Wochen einige Veränderungen im Hotel geben, die sie mit uns absprechen wollen. Logan, ich hatte gehofft, dass du das übernehmen und dem Team bei Fragen zur Seite stehen könntest.«

»Klar«, erwiderte ich.

»Es kommen richtige Stars ins White Season?« Daisys Augen leuchteten begeistert auf. Anders als ich konnten sie und Zoey die Dreharbeiten kaum erwarten.

»Das sind auch nur Menschen«, warf ich ein, doch Daisy ignorierte mich.

Als meine Eltern mir vor einiger Zeit mitgeteilt hatten, dass ein Filmteam aus New York das Hotel drei Monate lang für Dreharbeiten gebucht hatte, war ich nur mäßig begeistert gewesen. Klar – für das Hotel war es ein Vorteil, und es würde sicher ein wenig Leben ins White Season bringen. Aber wir waren ein familiengeführtes Hotel in einem kleinen Ort mitten in den Bergen. Die nächste größere Stadt lag zwanzig Meilen entfernt, und ich glaubte kaum, dass Leute aus New York darüber begeistert sein würden. Das waren Großstadtmenschen, die vielleicht einmal im Jahr für ein paar Tage in die Berge fuhren, um in der winterlichen Idylle eine Auszeit von ihrem stressigen Alltag zu bekommen. Ich bezweifelte, dass sie die Kälte nach ein paar Wochen immer noch so romantisch fanden, und ich würde dann derjenige sein, der sich das Gemecker anhören durfte. Aber vielleicht konnte ich zumindest ein paar Fotos von den Dreharbeiten auf unserer Homepage veröffentlichen, um so Werbung für das Hotel zu machen.

»Ich werde mir auf jeden Fall Autogramme holen«, rief Zoey aufgeregt.

Daisy nickte begeistert. »Ich auch. In der Schule werden sie richtig neidisch auf uns sein.« Sie strahlte über das ganze Gesicht. »Vielleicht machen sie auch ein Foto mit uns!«

Ich verdrehte die Augen, musste im nächsten Moment jedoch schmunzeln. Die Aufregung der beiden war beinahe süß. Und das Ganze hatte ja auch seine Vorteile. Außerdem konnten wir das Geld und die Werbung gut gebrauchen. Dieses Jahr waren viel weniger Buchungen als sonst eingegangen.

»Ich bin sicher, es wird großartig werden«, sagte Mom. »Aber jetzt wird erst mal gegessen.« Wie aufs Stichwort kam Dad mit einem großen Topf aus der Küche und stellte ihn auf dem Tisch ab. Der Geruch nach Reis und Curry drang durch unser Wohnzimmer, und mein Magen knurrte prompt. In den nächsten Minuten machten wir uns schweigend über das Essen her, das wie immer fantastisch schmeckte und die Gedanken an die Dreharbeiten erfolgreich aus meinem Kopf verbannte. Darum würde ich mich kümmern, wenn es morgen tatsächlich so weit war.

Am nächsten Tag wachte ich um kurz nach sechs Uhr auf. Draußen war es noch dunkel, doch in einer knappen Stunde würde die Sonne sich über die Berggipfel schieben und die Schneelandschaft in eine glitzernde weiße Weite verwandeln.

Entschlossen stand ich auf, duschte und steckte zwei Scheiben Brot in den Toaster. Es gab noch einiges vorzubereiten, und ich hoffte, früher fertig zu werden, um am Nachmittag noch eine Runde auf die Piste gehen zu können, bevor die Filmcrew ankam. Das würde ich auf jeden Fall brauchen, um mich für den Rummel im Hotel zu wappnen. Mit meinen Arbeitszeiten war ich zwar flexibel, meistens ging ich jedoch frühmorgens ins Hotel, um mittags Feierabend machen zu können, wobei ich dann häufig aber doch länger blieb. Das war der Nachteil bei einem familiengeführten Hotel: Die Grenzen zwischen Job und Freizeit waren deutlich schwerer zu ziehen.

Seufzend griff ich nach meinem Handy, um Bettys Nachricht zu beantworten, die sie mir gestern noch geschickt hatte. Wir waren seit der Schulzeit befreundet, doch unser letztes Treffen lag inzwischen schon eine ganze Weile zurück, weshalb sie gefragt hatte, ob wir am Wochenende weggehen wollten. Es würde guttun, mal wieder rauszukommen, also sagte ich ihr zu und widmete mich dann wieder meinem Frühstück, bevor ich in Schuhe und Jacke schlüpfte und zum Hotel rüberging.

Wie zu erwarten, waren die Angestellten bereits am Arbeiten. An normalen Tagen checkten vier bis zehn Leute ein, heute würden es gleich zwanzig sein, und das war erst die Hälfte des Filmteams.

Ich half aus, wo ich konnte, überprüfte Zimmer, reparierte eine lose Türklinke und brachte die Tabelle mit den Daten der Gäste auf den neuesten Stand.

Als eine Familie am frühen Nachmittag nach dem besten Skigebiet in der Gegend fragte, ergriff ich meine Chance und bot an, sie ihnen direkt zu zeigen. Somit kam ich ebenfalls aus dem Hotel raus, bevor die Crew anreiste und die friedliche Stimmung mit ihrem Geschnatter durchbrach. Da es bis zur Piste ein halbstündiger Marsch war, den die wenigsten Gäste zu Fuß zurücklegen wollten, fuhr ich mit meinem Wagen voraus, während die Familie mit ihrem folgte.

Kurze Zeit später blickte ich auf einen schneebedeckten Hang. Die Sonne schien, es wehte kaum ein Wind und der wolkenlose Himmel strahlte in einem hellen Blau. Ein perfekter Tag zum Skifahren. Selbst der Schnee hatte heute die ideale Beschaffenheit, war weder zu pappig noch zu pulverig.

Ein breites Grinsen trat auf meinen Lippen, und ich zog voller Vorfreude den Helm auf. Nachdem ich ein paarmal die gut besuchte Route neben dem Skilift gefahren war, entschied ich mich für eine längere Abfahrt an einem Hang auf der anderen Seite des Lifts. Er wurde nur selten genutzt, da man ein ganzes Stück mit den Skiern – oder in meinem Fall mit dem Snowboard – wieder hochlaufen musste, um zu dem Lift zu gelangen, der einen zurück zur Spitze brachte.

Ich brachte das Snowboard in Position und fuhr los. Wie immer steigerte ich nach wenigen Metern das Tempo, bis ich das Gefühl hatte, über die weiße Oberfläche zu fliegen. Es war berauschend. Ich liebte den Adrenalinkick, die Freiheit, die ich verspürte, während ich den Hang hinunterrauschte. All meine Sinne waren auf die Strecke vor mir gerichtet. Ich legte mich in die Kurven und nahm jeden Schwung mit.

Für eine Sekunde erlaubte ich es mir, die Augen zu schließen und nichts zu denken. Es war eine Sekunde des absoluten Friedens, in der keine Sorgen und keine Pflichten existierten. Nur die menschenleere Piste, der Schnee und ich.

Doch mit diesem Gefühl war es schlagartig vorbei, als ich die Augen wieder öffnete und sah, dass ich geradewegs auf eine junge Frau zusteuerte, die mit ihrem Handy in der Hand mitten auf dem Hang stand.

Was zur Hölle?

In letzter Sekunde bremste ich ab und fuhr eine scharfe Kurve, um der Frau auszuweichen. Trotzdem raste ich viel zu knapp an ihr vorbei. Sie machte einen Sprung zurück und landeten mit dem Hintern im Schnee. Ich bremste vollständig ab und zog meinen Helm aus. Dann schnallte ich das Board von meinen Füßen und eilte zu ihr.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich besorgt.

Als sie aufsah, traf mich ein Blick aus kristallklaren blauen Augen, die vor Wut regelrecht funkelten. »Spinnst du?«, fuhr sie mich an. »Du hättest mich fast umgefahren.«

»Sorry, normalerweise ist niemand auf der Piste.« Ich fuhr mir durch die Haare und warf ihr ein entschuldigendes Lächeln zu. »Und wenn doch Leute hier spazieren gehen, achten sie normalerweise auf ihre Umgebung, statt nur auf ihr Handy zu starren«, schob ich hinterher, weil ich mir den Kommentar einfach nicht verkneifen konnte.

Ihr Mund klappte auf, und sie kniff ihre Augen zusammen. »Du könntest dich zumindest entschuldigen.« Sie richtete sich auf und klopfte den Schnee von ihrer Hose.

Automatisch glitt mein Blick über ihre enge Jeans, den beigen Wintermantel und den knallroten Schal, der in all dem Weiß leuchtend hervorstach. Sie hatte lange blonde Haare, die ihr in sanften Wellen über die Schulter fielen. Doch das Eindrucksvollste waren ihren Augen, die mit dem Himmel um die Wette strahlten. Oder vielmehr wütend funkelten.

»Das wird echt immer besser«, murmelte sie, mehr zu sich selbst. »Erst der Schnee, und dann das.«

»Es tut mir leid.« Abwehrend hob ich die Hände, wobei ich mir ein Lachen nur schwer verkneifen konnte.

Mit ihren nagelneuen braunen Stiefeln und dem wütenden Gesichtsausdruck passte sie eindeutig nicht hierher. Warum lief sie überhaupt mitten auf eine Piste, wenn sie Schnee nicht leiden konnte? Oder reiste in eine beliebte Skigegend in den Rocky Mountains?

»Das sollte es dir auch.« Sie presste ihre Lippen fest zusammen, doch mir war der versöhnliche Tonfall in ihrer Stimme nicht entgangen. Genauso wenig wie der musternde Blick, der blitzschnell über meinen Körper glitt. Ich konnte nicht ausmachen, ob ihr gefiel, was sie sah, doch als sie ertappt wegschaute, wertete ich das als ein Ja.

»Vielleicht kann ich es ja …«