Rosebery Avenue, Band 1: Acting Brave - Jana Schäfer - E-Book

Rosebery Avenue, Band 1: Acting Brave E-Book

Jana Schäfer

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Beschreibung

In der traumhaften Rosebery Avenue … … kannst du endlich sein, wie du bist. … findest du ein Zuhause. … wirst du dein Herz verlieren. Als Audrey im Theater auf der Rosebery Avenue steht, hat sie das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Hier soll ihr selbst geschriebenes Stück inszeniert werden – der Traum jeder angehenden Dramaturgin. Und das Drama ist vorprogrammiert, als Audrey Miles trifft, der sie vor Jahren tief verletzte und nun die Hauptrolle in ihrem Stück spielt. Dennoch wird die Anziehung zwischen ihnen immer stärker, aber auch die Zweifel, ob sie ihm vertrauen kann. Denn die Vergangenheit scheint sich zu wiederholen. Cozy. Prickelnd. Einfühlsam. Band 1 der neuen gefühlvollen New-Adult-Reihe von Jana Schäfer. Noch mehr knisternde Romance von Jana Schäfer: The Way We Fall, Edinburgh-Reihe, Band 1 The Hope We Find, Edinburgh-Reihe, Band 2 Make My Wish Come True

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Seitenzahl: 566

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TriggerwarnungDieses Buch enthält Themen, die potenziell triggern können. Hier befindet sich ein Hinweis zu den Themen.ACHTUNG: Dieser enthält Spoiler für die gesamte Handlung.Als Ravensburger E-Book erschienen 2023Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag © 2023, Ravensburger Verlag GmbHText © 2023, Jana SchäferLektorat: Tamara Reisingerwww.tamara-reisinger.deDieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langenbuch & Weiß, Hamburg.Umschlaggestaltung unter Verwendung von Motiven von © Bokeh Blur Background, © Flipser, © ntnt, alle von ShutterstockAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN 978-3-473-51163-1ravensburger.com

Für meine Freundinnen. Ohne euch wäre ich nicht, wer ich heute bin.

Playlist

Right Where You Left Me    Taylor Swift

Ghost Of You    5 Seconds of Summer

Find My Own Way    RAIGN

Let’s Fall in Love for the Night    FINNEAS

Complicated    Olivia O’Brien

The Story Never Ends    Lauv

Lose You Now    Lindsey Stirling, Lzzy Hale

Empty Space    James Arthur

Conversations in the Dark    John Legend

The Art Of Starting Over    Demi Lovato

Do You Remember    Jarryd James

Begin Again    Taylor Swift

Deja Vu    Olivia Rodrigo

1. KAPITEL

Audrey

Unfähig mich zu rühren, stand ich da und starrte auf das Gebäude auf der anderen Straßenseite. Das Theater ragte hoch vor mir auf. Die Steinfassade glänzte im Licht der Nachmittagssonne und ließ die Verzierungen an den Säulen im Eingangsbereich noch ein wenig unwirklicher aussehen. Eingebettet zwischen kleinen Läden, Cafés und den dunklen Straßenlaternen, die die Rosebery Avenue in regelmäßigen Abständen säumten, wirkte das Theater beinahe majestätisch groß. Es war zwar eines der kleineren Theater in England, doch der Gedanke, dass dort in ein paar Monaten mein Stück aufgeführt werden würde, war unglaublich.

Ich holte tief Luft und widerstand dem Drang, mich zu kneifen. Mein Traum ging tatsächlich in Erfüllung: Heute war der Tag, auf den ich jahrelang hingefiebert hatte.

Vergeblich kämpfte ich gegen die Aufregung an, die meinen Körper erfasste. Ein breites Lächeln lag auf meinen Lippen. Es war schon seit heute Morgen da, und jedes Mal, wenn ich in der Glasfront eines Schaufensters einen Blick auf mein Spiegelbild erhascht hatte, war es noch breiter geworden. Ich konnte es immer noch kaum glauben. Direkt nach dem Studium eine solche Chance zu bekommen, war alles andere als selbstverständlich. Jedes Jahr gab es für die Absolventen der Akademie für Theaterwissenschaften und Dramaturgie die Möglichkeit, im Rahmen des Kurses Szenisches Schreiben ein eigenes Stück zu entwickeln. Die besten wurden im Anschluss an einem von insgesamt fünf ausgewählten Theatern aufgeführt, was nur dank einer Kooperation zwischen der Akademie und den Theatern möglich war und den Absolventinnen den Einstieg ins Berufsleben erleichtern sollte. Und mein Stück war unter den besten gewesen!

Ich umklammerte den Riemen meiner Tasche fester und setzte mich endlich in Bewegung. In wenigen Minuten begann das offizielle erste Kennenlernen des Teams. Joanne Shaw, die Regisseurin, hatte mir die Mail vor ein paar Wochen geschickt. Sie wollte das gesamte Team noch vor den Proben versammeln, damit alle sich schon mal aneinander gewöhnen konnten, bevor es dann richtig losging.

Nervös strich ich mir eine Strähne hinters Ohr, die sich aus meinem Zopf gelöst hatte, und überquerte die Straße. Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich das Theater betrat und mich umsah. Das Foyer war groß und lichtdurchflutet. Der Boden bestand aus hellem Marmor, und ich konnte mir bereits vorstellen, wie sich die Gäste hier kurz vor der Aufführung um die Stehtische herum versammelten und darüber spekulierten, wie das Stück werden würde.

Ich ging durch den Eingangsbereich und entdeckte Joanne vor einer der großen Türen, von denen ich annahm, dass sie zum Theatersaal führten. Sie unterhielt sich gerade mit einer jungen Frau, sodass ich sie unbemerkt mustern konnte. Joanne war groß, um einiges größer als ich, elegant gekleidet und trug ihre braunen Haare schulterlang. Sie war Ende zwanzig und arbeitete seit einigen Jahren als Regisseurin – zumindest hatte ich das bei meiner Internetrecherche über sie gelesen –, was mich automatisch mit einem gewissen Grad an Respekt erfüllte.

Was jedoch nicht den sympathischen Eindruck verringerte, der sich bereits in dem kurzen Videocall bestätigt hatte, in dem sie mir direkt das Du angeboten hatte, da wir hier alle über mehrere Wochen hinweg eng zusammenarbeiten und wie eine Familie sein würden.

»Joanne?«, fragte ich, als sie das Gespräch beendete, und ging auf sie zu.

Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Audrey. Hallo.«

»Hi.«

Sie schüttelte kurz meine Hand. »Es freut mich, dass wir uns endlich persönlich sehen. Wir sind alle schon so gespannt auf das Projekt!«

»Frag mich erst.« Ich lachte nervös und strich mir über den Arm, bis ich das geflochtene Armband berührte, dass Mum mir als Glücksbringer mitgegeben hatte. Es lag direkt über dem Tattoo, das ich mir vor ein paar Jahren hatte stechen lassen und das mich daran erinnern sollte, dass das Leben weiterging und dass bei genauerem Hinsehen in fast allem Schönheit und Stärke zu finden waren.

»Das glaube ich dir sofort. Aber wir machen die Kooperation mit der Akademie schon seit Jahren, und bisher konnten wir einige tolle Stücke umsetzen. Deins wird da keine Ausnahme sein.«

Ich nickte und dachte an den Moment zurück, als ich erfahren hatte, dass mein Stück ausgewählt worden war. Ich war für ein paar Minuten quietschend auf- und abgesprungen und hatte es überhaupt nicht glauben können. Als ich es am Telefon meinen Eltern erzählen wollte, hatte ich vor lauter Heulen kaum einen Ton rausbekommen und musste ihnen erst mal klarmachen, dass nichts Schlimmes passiert war, sondern sich ein Lebenstraum erfüllt hatte. Ab dem Moment hatte ich das Ende des Semesters kaum noch erwarten können. Erst recht nicht, da das Theater in der Kleinstadt Chesthill lag. Das machte die ganze Sache sogar noch besser. Ich hatte mich schon bei den Fotos aus dem Internet in das gemütliche Flair der Stadt verliebt: die kleinen gepflasterten Kopfsteingassen, die bunten Häuserfassaden in der Innenstadt, die Straßenlaternen … Zwar war ich bisher nur einmal kurz durch die Stadt geschlendert, aber die Atmosphäre, die schon auf den Fotos rübergekommen war, war in Echt sogar noch beeindruckender. Ich hatte keinen Zweifel, dass ich mich hier wohlfühlen würde. Der Vertrag galt erst mal nur für dieses Stück, und ich sollte dem hauptverantwortlichen Dramaturgen und der Regisseurin bei der Inszenierung helfen, um einen Einblick in die Theaterwelt zu bekommen und so erste Kontakte zu knüpfen. Aber wenn ich mich gut anstellte, würde ich vielleicht auch zukünftig hier am Theater arbeiten können.

So oder so begann mein Einstieg in die Berufswelt mit der Erfüllung eines Traums, und allein das war es wert gewesen, London zu verlassen.

»Komm, ich zeig dir einmal die Bühne und den Theatersaal. Einige aus dem Team sind bereits da. Wir werden in den nächsten Wochen zwar zwischendurch woanders proben, aber für den Start dachte ich, es wäre schön, direkt die Atmosphäre des Theaters zu spüren.« Joanne wirkte energisch und freundlich zugleich, als sie mich in den Theatersaal führte. »Wenn der Saal ausgebucht ist, passen knapp dreihundert Besucher rein.«

Ich nickte bloß und schaute mich mit großen Augen um. Obwohl ich Fotos davon kannte, hielt ich kurz die Luft an. Rot gepolsterte Stühle reihten sich nebeneinander, der Boden war mit einem roten Teppich versehen und an der Decke schwebte ein kleiner Kronleuchter. Trotz der überschaubaren Größe des Theaters strahlte alles hier etwas Pompöses aus. Es brauchte nicht viel Fantasie, um sich auf den Zuschauerplätzen in vornehme Kleider gehüllte Gäste vorzustellen. Ich blickte zur Bühne, und eine plötzliche Wärme durchströmte mich. Das hier passierte wirklich. Nur mit Mühe unterdrückte ich ein aufgeregtes Quietschen.

»Hinter der Bühne befindet sich ein kleiner Aufenthaltsraum. Der führt dann wiederum zu einem Gang mit der Kostümkammer, einem zweiten Raum für die Maske und einem weiteren Zimmer, aber das ist jetzt am Anfang noch gar nicht so wichtig.« Joanne ging den Mittelgang entlang in Richtung Bühne, wo bereits Leute aus dem Team standen und sich unterhielten.

Ich folgte ihr, wobei ich immer wieder kurz stehen blieb, um mich umzusehen. Am liebsten hätte ich direkt Hunderte von Fotos geschossen, um sie später meiner besten Freundin Debby zu schicken, aber die Anwesenheit der anderen Leute aus dem Team hielt mich davon ab. Bei der Vorstellung, sie gleich kennenzulernen, erfüllte mich ein nervöses Kribbeln.

Doch Joanne schien das nicht zu merken. »Das ist Audrey Walker«, stellte sie mich den anderen vor, als wir die Gruppe erreichten. »Sie hat, wie ihr wisst, das Stück geschrieben und wird uns während der Proben und auf dem Weg zur Aufführung begleiten. Ihre Rolle ist ein wenig besonders, da sie von der Londoner Akademie vermittelt wurde, aber das kennen die meisten von euch ja schon.«

»Hallo«, sagte ich. Als ich in die fremden Gesichter sah, begegnete ich ausschließend freundlichen Mienen, was meine Nerven sofort etwas beruhigte.

Der Reihe nach stellten sich alle vor. Den Anfang machte Simon, der Dramaturg. Er umarmte mich direkt und betonte mehrmals, dass er sich auf die Zusammenarbeit freue. Ich hatte gar nicht viel Zeit, die Begegnung zu verdauen, denn gleich darauf lernte ich Dan kennen, einen Bühnen- und Kostümbildner, sowie Felicity, die Schauspielerin, die die weibliche Hauptfigur verkörperte. Sie gratulierte mir zu dem Stück und der Kooperation und klang dabei dermaßen aufrichtig, dass ich sie sofort ins Herz schloss. So ging es immer weiter, und mir schwirrte schon nach wenigen Minuten der Kopf von den vielen Namen. Aber alle waren unglaublich freundlich und ein wenig aufgeregt.

Während die anderen sich weiter unterhielten, nahm ich die ganze Atmosphäre in mich auf. Vorfreude lag in der Luft, und ich strich breit lächelnd über mein knielanges schwarzes Kleid, das ich extra für heute gekauft hatte. Mit zweiundzwanzig bereits so eine Möglichkeit zu bekommen, war mehr als ich mir je erhofft hatte.

Nach einer Weile ging Joanne auf die Bühne, vermutlich um eine kleine Rede zu halten, in der sie uns alle offiziell willkommen hieß. Doch gerade als sie anfing, betrat eine weitere Person den Theatersaal. Ich bemerkte sie zuerst nur aus dem Augenwinkel, aber irgendetwas ließ mich innehalten, und ich drehte mich ganz um. Der lässige Gang, das selbstbewusste Lächeln und der offene Gesichtsausdruck waren mir nur allzu vertraut.

Ich holte scharf Luft, als ich ihn erkannte. Mein Puls schnellte nach oben und ich blinzelte mehrmals, doch der Kerl löste sich nicht wie durch ein Wunder in Luft auf.

Obwohl er zu spät war, steckten seine Hände in den Hosentaschen, während er gemütlich zwischen den rot gepolsterten Stuhlreihen entlangschlenderte. Seine dunkelbraunen Haare waren einen Tick länger, als ich sie in Erinnerung hatte, und sahen aus, als wäre er eben erst mit den Fingern hindurchgefahren. Mit einem erwartungsvollen Lächeln sah er sich um. Joanne, die ihn ebenfalls bemerkt hatte, kürzte ihre Rede ab und trat auf ihn zu, während ich wie in Schockstarre dastand und ihn reglos musterte. Mein Herz raste und diesmal nicht vor Aufregung oder Glück.

Miles Wilson.

Knapp vier Jahre war es her, seit ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Trotzdem zog sich bei seinem Anblick alles in mir zusammen. Als wäre es erst gestern gewesen. Ich rang nach Atem. Das konnte nur ein schlechter Scherz sein.

»Das ist Miles«, hörte ich Joanne wie durch einen Nebel zu den anderen sagen. »Er wird den männlichen Hauptpart übernehmen. Miles, kennst du schon Audrey? Sie ist die Autorin unseres Stücks und kommt frisch von der Akademie.« Sie deutete nichts ahnend in meine Richtung, und das Lächeln auf Miles’ Gesicht gefror.

Seine Augen weiteten sich, doch er fing sich schnell wieder und kam auf mich zu.

Ich regte mich nicht, sondern wartete noch immer darauf, dass jemand auflachte und erklärte, dass das alles nur ein Witz sei. Dass Miles natürlich nicht die Hauptrolle in meinem Stück spielen würde. Dass der Junge, der mir in der Schule das Herz gebrochen hatte, nicht derjenige war, den ich ab jetzt regelmäßig sehen musste. Dass ich mich nicht mit der schlimmsten Nacht meines Lebens wieder und wieder auseinandersetzen musste, weil Miles’ Anblick schonungslos die Erinnerungen zurückbrachte.

Doch niemand lachte. Niemand sagte, dass ich mich irrte.

»Hi.« Er blieb zwei Schritte vor mir stehen und fuhr sich durch die Haare. Den Tick hatte er früher schon gehabt. Ich glaubte, Unsicherheit in seinem Gesicht aufflackern zu sehen, doch vielleicht bildete ich es mir nur ein. »Es ist lange her, dass wir uns gesehen haben.«

Ich unterdrückte ein Schnauben. Nicht lange genug.

Endlich schaffte ich es, mich aus meiner Starre zu lösen. Ohne ihm zu antworten, sah ich zu Joanne. »Sorry, ich muss kurz an die frische Luft«, murmelte ich. »Ich, äh, bin gleich wieder da.« Dann lief ich los und floh aus dem Theater.

Sobald ich draußen an der frischen Luft war, atmete ich tief ein. Ein paar Wolken hingen am Himmel, doch die Sonne schien weiterhin, als wollte sie mich mit ihren Strahlen verhöhnen. Ich ignorierte die Menschen, die auf der Rosebery Avenue entlangliefen, ignorierte die schönen Fassaden und die unzähligen Läden und Cafés. Stattdessen ging ich ein paar Schritte vom Gebäude weg und umfasste die Kette an meinem Handgelenk. Nur langsam beruhigte sich mein Puls wieder. Was zur Hölle war da eben passiert? Verdammt, darüber, dass ich vor den Augen aller anderen einfach weggelaufen war, durfte ich gar nicht nachdenken. Der erste Eindruck war wichtig, und ich tat gerade mein Bestes, ihn zu versauen.

»Audrey?« Miles’ Stimme ertönte hinter mir, und ich fuhr herum.

»Sag mir, dass das nicht wahr ist!« Ich merkte selbst, dass meine Stimme viel zu schrill klang. Doch ich hatte nicht mit ihm gerechnet. In einer Milliarde Jahren nicht, und dass es mich jetzt aus der Bahn warf, während meine – unsere – Kollegen drinnen warteten … Es war nicht fair.

»Ich wusste nicht, dass das Stück von dir ist«, begann er und blieb atemlos vor mir stehen. »Hör mal, ich weiß, dass wir nicht im Guten auseinandergegangen sind. Und auch wenn ich mich bis heute frage, warum du mich im gesamten letzten Schuljahr ignoriert hast …« Er holte tief Luft. »Wir sind jetzt keine Teenager mehr. Dass ich die Rolle spielen darf, ist ’ne riesige Sache für mich. Und ich nehme mal an, dass sich für dich auch gerade ein Traum erfüllt. Also lass uns die Vergangenheit vergessen und neu anfangen, ja?«

Er streckte mir eine Hand entgegen und lächelte hoffnungsvoll. Als ich die Grübchen auf seinen Wangen bemerkte, die mein Herz früher hatten höherschlagen lassen, hätte ich am liebsten geschrien. Die Vergangenheit vergessen? Wenn er wüsste, welcher Albtraum mich bis heute verfolgte, was ich alles getan hatte, um zu vergessen, was damals geschehen war, würde ihm das Lächeln vergehen.

»Klar«, stieß ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Seine Hand ignorierte ich. »Lass uns einfach neu anfangen.« Ich wusste nicht, was mit mir los war und warum ich es nicht schaffte, wieder zu meiner Professionalität zurückzukehren. Vermutlich war es der Schock, der tief in meinen Knochen saß und mein Herz zum Beben brachte. So hätte das alles nicht laufen sollen.

Er ließ die Hand sinken und sah mich ratlos an.

Ich biss auf die Innenseite meiner Wange und unterdrückte den Drang, umzudrehen und wegzulaufen. So etwas machte ich nicht mehr. Ich lief nicht weg, weil es unbequem wurde. Mit einem hatte Miles recht: Dass das Stück ausgewählt und am Theater inszeniert wurde, war mein Traum. Und den ließ ich mir nicht kaputt machen. Nicht von ihm und auch nicht von mir selbst.

»Ich muss das erst verdauen«, sagte ich daher bemüht ruhig, weil schreien gerade keine Option war. Doch ich konnte nicht verhindern, dass die Vergangenheit wieder hochkam.

In seiner Version der Geschichte hatten wir uns ein einziges Mal geküsst, bevor er mich einfach stehen ließ und mir damit das Herz brach. Seine Entschuldigungsversuche hatte ich damals alle abgeblockt, denn meine Version der Geschichte hatte ein Zusatzkapitel – und das sah ein bisschen anders aus.

Hastig schüttelte ich die Bilder ab, die in meinem Kopf aufstiegen, und konzentrierte mich wieder auf die Gegenwart. Ich straffte die Schultern und sah Miles direkt an. »Aber du hast recht, das hier ist mein Traum, und ich werde alles dafür tun, damit er wahr wird.«

»Selbst wenn es bedeutet, mit mir zusammenzuarbeiten«, schloss er und musterte mich aus seinen bernsteinfarbenen Augen, in denen ich mich damals zu oft verloren hatte.

»Genau. Machen wir es nicht kompliziert und konzentrieren uns auf den Job. Vergessen wir die Vergangenheit. Am besten vergessen wir, dass wir uns bereits kennen.«

»So meinte ich das eigentlich nicht«, setzte Miles an, nickte aber dann. »Na schön. Auf einen Neuanfang.« Wieder streckte er mir seine Hand hin, und wieder ignorierte ich sie. Die Angst, dass es bei seiner Berührung unmöglich sein würde, die Erinnerungen an früher unter Verschluss zu halten, war zu groß.

Er sah mich noch einmal nachdenklich an, sagte aber nichts mehr und ging zurück ins Theater. Ich folgte ihm mit etwas Abstand und murmelte vor Joanne etwas von Kreislaufschwäche und zu viel Aufregung. Keine Ahnung, ob sie es mir abkaufte, aber weder sie noch die anderen fragten nach, sondern nahmen meine kurze Abwesenheit und die Tatsache, dass Miles mir gefolgt war, kommentarlos hin.

Ich stellte mich wieder zu meinen zukünftigen Kollegen und versuchte, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Dan schwärmte bereits von Kostümideen, und ich lauschte Felicitys Erzählungen von ihrem letzten Stück, in dem sie eine drogensüchtige Politikerin gespielt hatte. Obwohl ich die Begeisterung der anderen genoss, konnte ich nicht wie vorhin wieder voll in sie hineintauchen. Immer wieder huschte mein Blick zu Miles, und jedes Mal zog sich etwas in mir schmerzhaft zusammen.

Als Joanne nach einer Stunde das Treffen schließlich beendete, ging ich als Erste nach draußen. Mit schnellen Schritten lief ich die Rosebery Avenue – die schönste und bekannteste Straße der Stadt – entlang, ohne einen Blick für die idyllischen Häuserfassaden, die gemütlichen Cafés, hippen Bars oder die große Kathedrale hinter dem Park zu haben. Ich wollte nur noch nach Hause.

Meine neue Wohnung lag zum Glück nur eine Seitenstraße von der Rosebery Avenue entfernt und befand sich somit direkt im Zentrum. Ein absoluter Glücksgriff. Durch die verwinkelte Innenstadt kam mir die Lage dennoch nicht zu trubelig vor, denn anders als in London, wo ständiger Straßenlärm und Menschenmengen zum Alltag gehört hatten, ging es in Chesthill deutlich ruhiger zu. Auch hier waren zwar viele Leute unterwegs, aber es hatte dennoch etwas Heimeligeres.

Erst, als ich die Wohnung erreichte, wo ich später noch meine zwei neuen Mitbewohner kennenlernen würde, die ich bisher nur auf dem Bildschirm gesehen hatte, ließ ich die Tränen zu. Heiß brannten sie in meinen Augen. Ich ballte die Hände zu Fäusten und löste sie wieder.

Seit zwei Monaten, seit ich das Studium in London abgeschlossen hatte, freute ich mich auf heute. Als ich vor einigen Stunden mit meinen Eltern nach Chesthill gefahren war, hatte ich es kaum mehr erwarten können, endlich das Theater zu betreten. Wir hatten meine Sachen daher nur schnell in der neuen Wohnung abgestellt und waren in einem Burgerladen essen gegangen, bevor meine Eltern zurückmussten. Ich war danach noch mal zurück in die Wohnung, um mich umzuziehen, und hatte vor Vorfreude am ganzen Körper gezittert.

Dieser Tag hätte der beste meines Lebens werden sollen. Mein erster Tag in Chesthill. Der Start eines neuen Kapitels. Und jetzt das. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass das erste Treffen mit den Theaterleuten eine solche Wendung nehmen würde.

Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und stürmte regelrecht in den ersten Stock hoch, in dem sich die Wohnung befand. Kurz kämpfte ich mit dem Impuls, Mum anzurufen, aber ich wusste, dass ich dann erst recht anfangen würde zu heulen. Und das wollte ich an diesem Tag um jeden Preis vermeiden.

»Das hier ist der Anfang deiner Karriere, Audrey«, murmelte ich, während ich die Wohnungstür öffnete. »Du hast dafür gekämpft und du wirst es dir von Miles nicht kaputt machen lassen.«

Dann hatte er mir eben das Herz gebrochen. Ich stand trotzdem hier und hatte erreicht, wovon viele andere träumten. Das ließ ich mir nicht nehmen. Und so schlimm würden die Proben mit ihm bestimmt nicht werden. Immerhin waren es nur ein paar Monate. Solange ich den Erinnerungen an damals keinen Raum gab, sollte ich auf der sicheren Seite sein.

Ich schüttelte den Kopf über mich selbst, ging an dem kleinen Wohnzimmer, das aus einem abgewetzten Sofa, einem Couchtisch und einem Sessel bestand, vorbei und den Flur entlang in mein Zimmer. Es war das hinterste und lag direkt neben dem Badezimmer. Das große Fenster mit dem breiten Sims hatte mich direkt überzeugt, es zu nehmen. Auch wenn es gerade mal zwölf Quadratmeter umfasste und ich mich inzwischen doch fragte, wie ich mein ganzes Zeug dort unterkriegen sollte.

Als ich die Tür eine Spur zu heftig öffnete, stieß sie gegen einen der Kartons, der prompt umfiel. Stifte, Bücher und Postkarten rutschten über den Boden. »Verdammt«, fluchte ich. Aber ab jetzt konnte es eigentlich nur noch besser werden, oder?

Ich hängte meine Handtasche über die Türklinke, holte mein Handy heraus und suchte nach einer Playlist, die ausschließlich aus rockigen Songs bestand. Dann drehte ich die Musik laut auf, tauschte das Kleid gegen eine Jogginghose und einen Pullover und nutzte meinen aufgestauten Frust, der mich seit Miles’ Anblick im Griff hatte, zum Auspacken.

Nachdem ich den dritten Karton aufgerissen und einen Stapel Klamotten einfach nur auf das Bett geworfen hatte, hielt ich atemlos inne.

Wem wollte ich hier eigentlich etwas vormachen?

Ich konnte mir noch so sehr einreden, dass alles gut gehen würde. Aber aus meinem perfekten Start in die Theaterwelt würde definitiv nichts werden. Wäre ja auch zu schön gewesen.

2. KAPITEL

Audrey

Ich war bei meinem vorletzten Karton angekommen, als es energisch an der Tür klopfte. Sofort drehte ich die Musik leiser und öffnete sie mit einem entschuldigenden Lächeln. Während der letzten Stunde war ich so mit Frust-Auspacken beschäftigt gewesen, dass ich kurz vergessen hatte, wo ich mich befand.

»Hi«, sagte ich und pustete mir eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. »Sorry für die laute Musik!«

»Kein Problem.« Vor mir stand ein Typ in einer verwaschenen Jeans und einem schwarzen Pullover. Er trug seine dunklen Haare kurz und schaute mich neugierig an. »Ich wollte dich nur kurz herzlich willkommen heißen, Audrey. Ich bin Wyatt, aber das weißt du ja schon von unserem Videocall.«

Ich nickte. »Danke. Und sorry noch mal. Ich mache hier vermutlich keinen besonders guten ersten Eindruck.« Ich verzog das Gesicht und sah mich in dem Chaos hinter mir um.

»Ach was …«, winkte er ab. »Laute Musik und Chaos sind wir hier gewöhnt.«

»Wir? Sprich gefälligst nur für dich. Wenn ich nicht ständig hinter dir aufräumen würde, wärst du so was von verloren.«

Sutton, eine blonde junge Frau in Jogginghose und einem engen türkisen Top tauchte neben Wyatt auf. »Hey, Audrey. Schön, dass du es geschafft hast! Wird Zeit, dass wieder ein bisschen Leben in die Bude kommt. Sollen wir dir beim Auspacken helfen?« Sie schob sich in das Zimmer, in dem Klamottenstapel, Bücher, Dekokissen, zwei Pflanzen und mehrere Ordner mit Unterlagen aus den Vorlesungen an der Uni ein heilloses Durcheinander bildeten. In einer Ecke lag der Teddybär, den Dad mir gekauft hatte, als ich noch ein Kind war, und dahinter Mums alter Plattenspieler, den ich mir erbettelt hatte, bevor wir gefahren waren.

Überrumpelt sah ich Sutton an. »Äh, ihr müsst das wirklich nicht tun. Hier sieht es gerade ziemlich wild aus, und hinter mir liegen ein paar stressige Stunden …«

»Sutton, du verschreckst sie mit deinem Übereifer. Warum kannst du Leute nicht erst mal ankommen lassen?«, warf Wyatt ein. Er hatte sich an den Türrahmen gelehnt und musterte seine Mitbewohnerin mit einer Mischung aus Belustigung und Vorwurf.

»Ich bin nur hilfsbereit« verteidigte sich Sutton.

Schmunzelnd beobachtete ich die beiden. Hatte ich nach dem Desaster im Theater noch mit den Tränen gekämpft und mich nach Hause zu meinen Eltern gewünscht, so schlich sich jetzt die Hoffnung ein, dass mein Start in Chesthill vielleicht doch nicht ganz so übel werden würde.

»Also, wenn es euch echt nichts ausmacht …«, sagte ich. »Ich bin völlig verloren, wenn es darum geht, ein Zimmer schön zu gestalten, und dieses Chaos hier macht mich dezent nervös.«

»Na also«, meinte Sutton mit einem triumphierenden Blick in Wyatts Richtung. »Wir werden hier gebraucht. Hol du doch schon mal drei Gläser Wein. Ich überlege mit Audrey, in welcher Reihenfolge wir am besten ihre Sachen einrichten. Ich bin mir sicher, das Zimmer wird in zwei Stunden eine Wohlfühloase sein.«

Sie strahlte mich an, und ich war kurz davor, ihr um den Hals zu fallen. »Danke«, brachte ich hervor.

»Kein Problem.« Sie winkte ab. »Wir helfen uns hier gegenseitig, wenn jemand was braucht. Zwar zieht sich hier auch jeder mal zurück, aber wir wollen ein familiäres Zusammenleben. Aber das weißt du ja aus der Wohnungsanzeige, nicht wahr?«

»Ja, das war einer der Hauptgründe, warum ich mich darauf gemeldet habe«, sagte ich. Immerhin kannte ich in Chesthill niemanden, und Mitbewohner waren ein guter Anknüpfpunkt. In London hatte ich in einem winzigen Apartment gewohnt, das ich mir nur dank der finanziellen Unterstützung meiner Eltern hatte leisten können. Im Vergleich dazu war diese Wohnung mit ihren drei Zimmern und dem kleinen Wohnzimmer eine echte Steigerung.

»Sehr gut. Wie wär’s, wenn wir erst mal deine Klamotten in den Schrank räumen und danach mit dem Regal weitermachen?«, schlug Sutton vor.

»Gern.« In der Stimmung, in der ich war, hätte ich vermutlich jedem Vorschlag zugestimmt.

Wyatt kam kurz darauf mit drei Gläsern Wein zurück, und als wir auf meinen Einzug anstießen, breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus, das echt war. Ich verdrängte sämtliche Gedanken an Miles und die Erinnerungen und widmete mich ganz meinen neuen Mitbewohnern. Ich war hierhergekommen, um mir einen Traum zu erfüllen, und wenn ich in den letzten Jahren eines gelernt hatte, dann, dass es auf die positiven Dinge ankam. Und darauf würde ich mich ab jetzt konzentrieren.

Nach einem großen Schluck Wein verdonnerte Sutton Wyatt dazu, meine zwei Bilder über dem Bett aufzuhängen. Mum hatte sie gemalt, ein dunkles Meer mit endlos weitem Horizont und eine grau-grüne Berglandschaft, die sich vor einem hellen Himmel erhob. Zwei Sehnsuchtsorte – das Meer für mich und die Berge für sie und Dad. Bei Familienurlauben waren wir immer an Orte gereist, an denen es beides gab: weite Strände und Wasser und Berge zum Wandern.

Ich sortierte meine Kleider in den Schrank ein, den ich so wie alle anderen Möbel von der Vormieterin hatte übernehmen können, während ich Sutton bat, meine Bücher und Ordner in das Regal neben der Tür einzuräumen.

Eine Stunde später war das meiste an seinem Platz. Die Pflanzen standen auf dem Fenstersims, eine Lichterkette schlang sich an der Wand zwischen den beiden Bildern hindurch und der Traumfänger, den ich als Kind gebastelt hatte, hing über meinem Bett. Es fehlten noch ein Teppich und ein Sessel oder eine andere Sitzgelegenheit, aber dafür würde ich in den nächsten Tagen einkaufen gehen. Für heute war ich froh, ein Zimmer zu haben, in dem ich schlafen konnte und in dem ich mich tatsächlich auf Anhieb wohlfühlte.

»Danke«, sagte ich zu Wyatt und Sutton, die sich zufrieden in dem Zimmer umsahen. »Ohne euch hätte ich das niemals hinbekommen.«

»Hättest du schon. Aber so ging es definitiv schneller«, erwiderte Sutton lächelnd. »Ich wäre jetzt dafür, Abendessen zu kochen.«

»Das ist dann wohl mein Stichwort«, murmelte Wyatt und seufzte übertrieben.

»Du kennst doch die Aufteilung: Ich putze, du kochst. Ist für unser aller Wohl am besten so.« Sutton stieß ihm spielerisch ihren Ellenbogen in die Seite, woraufhin er lachend auswich.

»Stimmt. Wir wollen schließlich nicht, dass du die Küche abfackelst«, sagte er und wandte sich in Richtung Küche. »Dann zeig du inzwischen Audrey mal den Rest der Wohnung.«

»Das hatte ich sowieso vor.« Schwungvoll drehte sie sich zu mir um. »So wahnsinnig viel gibt es nicht zu sehen, und du kennst die Wohnung ja schon vom Videocall. Aber ich zeig dir trotzdem alles.«

Ich folgte ihr ins Badezimmer, das mit hellen Fliesen ausgestattet war und erstaunlich sauber glänzte. Es gab zwei Waschbecken, eine Dusche und ein kleines Regal mit drei Fächern, wobei das unterste frei war, während sich in den oberen beiden Shampoos, Deos und andere Kosmetikartikel stapelten.

»Wir haben hier keinen Putzplan, versuchen aber, jeden Sonntag in der Wohnung klar Schiff zu machen. Falls du gern einen Plan hättest, können wir das aber einführen«, sagte Sutton und lotste mich den Flur entlang in das Wohnzimmer. Es grenzte an die Küche an, wobei eine Tür verhinderte, dass der Essensgeruch durch die ganze Wohnung zog. Doch im Moment stand sie noch offen, und ich sah Wyatt in der Küche hantieren.

»Die Möbel sind alle schon ziemlich abgenutzt.« Sutton zeigte auf das Sofa, dessen Stoff ein paar Risse hatte, und den blassgrünen Sessel, der aussah, als würde er schon ewig dort stehen. An den Wänden hingen Fotos von Wyatt, Sutton und einigen anderen Leuten. Ein Wandbehang aus Makramee, in das kleine Perlen eingeflochten worden waren, hing hinter dem Sessel an der Wand und hellte den Raum auf.

»Ich mag es«, platzte es aus mir heraus. »Es ist gemütlich und hat irgendwie Charakter.«

Ein breites Grinsen erschien auf Suttons Lippen. »Ich weiß schon, warum wir dich als Mitbewohnerin ausgewählt haben. Die Küche zeige ich dir später. Wenn Wyatt erst einmal loslegt, kommt man ihm besser nicht in die Quere.«

»Das habe ich gehört!«, rief Wyatt, der gerade eine Pfanne auf den Herd stellte. »Ich mach hier aber mal zu, damit es nicht gleich überall nach Zwiebeln riecht.« Er schloss die Tür, und ich setzte mich auf den Sessel, während Sutton sich auf die Couch fallen ließ.

»Was macht ihr zwei eigentlich genau?«, fragte ich. »Du meintest bei dem Call ja, dass du in einem Blumenladen arbeitest. Bist du dann gelernte Floristin?«

Sutton schüttelte lachend den Kopf. »Nein. Ich arbeite da nur und bin über eine Freundin an den Job gekommen. Nebenher helfe ich in einem Tattoostudio die Straße runter aus. Das macht mir deutlich mehr Spaß.«

»Das kann ich mir vorstellen! Ist bestimmt eine spannende Arbeit.«

»Nicht ganz so spannend, wie in einem Theater das eigene Stück zu inszenieren, aber es ist auf jeden Fall nicht übel, und zu manchen Tattoos gibt es wirklich witzige Storys.« Sie grinste mich verschmitzt an. »Ach so, und Wyatt ist Barkeeper und schiebt ab und zu tagsüber auch Schichten in einem Touriladen, wo er den Leuten Souvenirs und so einen Kram verkauft. Er kann dir da sicher auch ein paar lustige Geschichten erzählen. Wir ticken beide eher so, dass der Job seinen Zweck erfüllen und Geld bringen muss. Solange es trotzdem auch bisschen Spaß macht und genügend Zeit für Freunde bleibt, sind wir zufrieden.« Sie lehnte sich zurück und sah mich fragend an. »Wie ist es bei dir? Was genau machst du jetzt am Theater, und wie bist du zu der Stelle gekommen?«

»Na ja, ich habe vor ein paar Wochen mein Studium beendet und hatte das Glück, dass mein Stück inszeniert werden soll. Und ich darf dabei helfen. Es ist eine Art Stipendium-Schrägstrich-Praktikum, das durch die Zusammenarbeit des Theaters und der Uni zustande kommt. Mein Traum wäre es aber, auch zukünftig am Theater zu arbeiten und bei den Produktionen zu helfen.«

»Cool. Was interessiert dich daran so?«, fragte Sutton, ehrlich interessiert. »Ist ja jetzt nicht unbedingt ein Standardberuf, in einem Theater zu arbeiten und sogar selbst Stücke zu schreiben.«

Ich lächelte verhalten. »Stimmt. Meine Eltern lieben das Theater und haben mich, seit ich ein Kind bin, regelmäßig mitgeschleppt. Zu sehen, wie die Aufführungen die Leute begeistern und mitreißen, hat mich immer fasziniert. Lange dachte ich, ich würde gern Schauspielerin werden, aber als ich in der Schule in der Theater-AG war, war mir schnell klar geworden, dass ich mich eher hinter der Bühne sehe. Irgendwann habe ich angefangen, selbst Stücke zu schreiben, mir zu überlegen, wie man die Szenen inszenieren könnte, welche Kostüme, welche Kulissen und so weiter, und auf der Akademie habe ich dann im Rahmen eines Kurses tatsächlich ein Stück beendet. Aber ich fände es auch total spannend, in der Dramaturgie zu arbeiten, wo alles zusammenkommt und man quasi in jede Rolle schlüpfen kann.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich schätze, so ganz genau weiß ich noch nicht, in welchem Bereich ich dann tatsächlich arbeiten will. Das Studium war in vielerlei Hinsicht eben doch eher theoretisch. Mal sehen, wie ich das in ein paar Wochen sehe. Durch die Kooperation mit der Akademie habe ich auf jeden Fall die einmalige Chance, mal überall reinzuschnuppern und sowohl mit der Regisseurin als auch mit dem Dramaturgen zusammenzuarbeiten, was ziemlich cool ist.«

»Oh ja. Das ist auf jeden Fall cool. Worum geht es in deinem Stück?«

Ich verzog kurz das Gesicht. »Sorry, im Zusammenfassen von Inhalten bin ich immer furchtbar, auch wenn ich das beim eigenen Stück vermutlich nicht sein sollte. Es ist ein modernes, zeitgenössisches Stück mit einer Liebesgeschichte, das aber auch ein paar gesellschaftskritische Aspekte mit drin hat. Ganz entfernt ist es auch von Romeo und Julia inspiriert, wobei die Hauptinhalte stark abgewandelt sind.«

»Uh, das klingt gut! Und die Schauspieler hast du schon kennengelernt?« Suttons Blick bekam etwas Träumerisches wie bei den meisten Leuten, die bei dem Stichwort Theater als Erstes an attraktive Schauspieler dachten.

Kurz tauchte Miles vor meinem inneren Auge auf, aber ich schob das Bild rasch beiseite. »Ja, heute Nachmittag waren sie ebenfalls da. Mit ihnen kann es ziemlich cool, aber auch anstrengend werden. Ich lass mich überraschen.«

»Das klingt echt gut. Du musst uns dann unbedingt von den Proben berichten. Und von dem Drama, das sich hinter den Kulissen abspielt. Auf so was steh ich total, auch wenn ich weiß, dass das ’ne Schwäche ist.« Sie blitzte mich vergnügt aus ihren blauen Augen an, und ich dachte nicht zum ersten Mal an diesem Abend, dass ich mit der Wohnung einen Glückstreffer gelandet hatte. Bestimmt würde es auch hier Momente geben, in denen mich etwas nervte, aber ich war zuversichtlich, dass es nur Kleinigkeiten waren, die direkt angesprochen werden konnten.

»Mach ich«, versprach ich.

Kurze Zeit später kam Wyatt aus der Küche und stellte einen Topf Nudeln mit einer Gemüsesoße auf den kleinen Couchtisch. Sutton holte aus dem Schrank neben dem Herd Teller und Besteck, während ich noch leicht überfordert den routinierten Handgriffen der beiden folgte.

»Danke fürs Kochen«, wandte ich mich an Wyatt, als er sich neben Sutton aufs Sofa setzte und uns Essen auf die Teller schöpfte.

»Kein Ding. Ich mach das gern. Entspannt mich irgendwie.«

»So geht’s mir beim Backen«, gab ich zu. »Das mach ich auch immer dann, wenn ich mal runterkommen muss.«

»Du backst?«, fragte Sutton begeistert. »Fühl dich frei, die Küche und den Ofen jederzeit zu benutzen. Ich kauf dafür auch regelmäßig Cider und Klopapier.«

Ich lachte. »Das klingt nach einem guten Deal.«

Sutton nickte zufrieden und machte sich über die große Portion her, die Wyatt ihr aufgeladen hatte.

In den nächsten Minuten sprach keiner von uns. Wir waren zu beschäftigt mit dem Essen, das mit frischen Kräutern gewürzt war und besser schmeckte als jedes Nudelgericht, das ich gekocht hätte.

»Das ist verdammt gut«, sagte ich nach ein paar Bissen und sah anerkennend zu Wyatt. »Ich glaub, ich verstehe, warum Sutton sich freiwillig zum Putzen anbietet.«

Lachend schob er sich eine Gabel in den Mund. »Vielen Dank!«

»Man kann über Wyatt vieles sagen, aber das mit dem Kochen hat er wirklich drauf«, sagte Sutton. »Musst du morgen eigentlich direkt arbeiten?«

Ich nickte und schluckte die Nudeln, die ich gerade im Mund hatte, herunter. »Ja, es geht morgen ziemlich früh los. Ich hatte eigentlich schon am Wochenende herkommen wollen, um mich in Ruhe einzurichten, aber meine Eltern hatten erst heute Zeit, weil sie bei Freunden zu einem Geburtstag eingeladen waren. Und sie wollten mich unbedingt herbringen.«

Da heute Montag war, hatten sich die beiden extra freinehmen müssen, aber meinen Vorschlag, allein zu fahren, hatten sie direkt abgeschmettert. Loszulassen fiel ihnen manchmal immer noch schwer, obwohl ich bereits seit fast vier Jahren nicht mehr bei ihnen wohnte. Also waren wir heute Morgen zu dritt von Birmingham, wo ich seit meinem Abschluss vor zwei Monaten vorübergehend wieder gewohnt hatte, um Miete zu sparen, nach Chesthill gefahren. Obwohl die Fahrt nur zwei Stunden gedauert hatte, ich also nicht völlig aus der Welt war, musste ich ihnen versprechen, sie bald zu besuchen.

»Aber ist doch nett von deinen Eltern«, warf Wyatt ein. »Eine Mutter oder Vater hört schließlich nie auf, sich um das eigene Kind Sorgen zu machen.« Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht, aber er war so schnell wieder weg, dass ich ihn mir vielleicht auch nur eingebildet hatte.

»Das stimmt wohl«, murmelte ich, und daraufhin kehrte wieder Stille ein, während wir uns unserem Essen widmeten.

»Hach, das war erstaunlich gut!«, sagte Sutton mit einem verschmitzten Grinsen und stellte ihren leeren Teller auf den Tisch.

»Erstaunlich?« Wyatt hob übertrieben die Augenbrauen. »Kannst ja das nächste Mal selber kochen.«

Grinsend aß ich meine Nudeln, während die beiden sich weiter zankten.

»Soll ich dir eigentlich mal noch zeigen, in welchen Fächern du dein Essen verstauen kannst?«, wandte Sutton sich an mich, als ich ebenfalls meinen leeren Teller auf den Tisch gestellt hatte.

»Gern.«

Wyatt entschuldigte sich bei uns, da er nachher noch arbeiten musste, und verschwand in seinem Zimmer. Sutton und ich machten den Abwasch zusammen, und nachdem Sutton mir noch den Rest der Küche gezeigt hatte, zog auch sie sich zurück. Ich räumte in Ruhe die Vorräte, die Mum und Dad mir mitgegeben hatten, in mein Schrankfach und ging dann ebenfalls in mein Zimmer.

Draußen war es inzwischen dunkel, und ich schnappte mir mein Handy und setzte mich aufs Bett. Der Geruch, der im Zimmer hing, war noch fremd. Meistens brauchte ich ein paar Nächte, bis ich an einem neuen Ort gut schlief. Anfangs, wenn die Geräusche der Umgebung noch unbekannt waren, schreckte ich bei jedem Knarren und Knacksen zusammen. Doch das würde sich legen, und Wyatt und Sutton machten es mir unglaublich leicht, mich direkt wohlzufühlen.

Die Entscheidung, nach Chesthill zu ziehen, anstatt in London mein Glück zu versuchen, war mir angesichts der Chance, die ich am Theater bekam, leichtgefallen. Trotzdem hing mir der Abschied von London noch nach. Ich hatte dort einige gute Freunde, und auch wenn wir uns versprochen hatten, regelmäßig zu telefonieren und uns zu besuchen, wusste ich, wie schnell sich solche Kontakte auch wieder im Sand verliefen.

Debby war tatsächlich die Einzige, die sich auch nach meinem Abschluss fast täglich meldete. Wir kannten uns seit Jahren, waren zusammen zur Schule gegangen und hatten gemeinsam in London studiert. Ich Theaterwissenschaften und Dramaturgie, sie Geschichte und Literatur. Wenn es jemanden gab, dem ich von meinem turbulenten ersten Tag in Chesthill erzählen wollte, dann war sie es. Ich öffnete meine Kontakte und wählte ihre Nummer.

Sie ging nach dem dritten Klingeln dran.

»Ich habe schon den ganzen Tag auf ein Lebenszeichen gewartet«, begrüßte sie mich. »Wie geht es dir? Wie war das Kennenlernen im Theater?« Sie klang beinahe so aufgeregt, wie ich mich vor dem Treffen gefühlt hatte, dabei war sie die Ruhige von uns beiden. Diejenige, die in Krisen standhaft und geduldig blieb, während ich sofort reagierte und versuchte, eine Lösung zu finden. Handelte ich manchmal zu überstürzt und impulsiv, so zerdachte sie die Dinge zu sehr. Zusammen ergaben wir eine ziemlich gute Kombination, die in den letzten Jahren zu einer wunderbaren Freundschaft geführt hatte.

»Es war … interessant.« Ich schluckte und suchte nach den richtigen Worten, dabei wusste ich, dass die Neuigkeit so oder so wie eine Bombe einschlagen würde, ganz gleich, wie ich sie verpackte.

»Interessant? Was heißt das?«

Ich schnappte mir ein Kissen und schob es hinter mich, sodass ich mich an der Wand anlehnen konnte. »Also das Theater ist atemberaubend, und dass sie mein Stück aufführen, der absolute Wahnsinn. Durch den Saal zu laufen, hat sich irre angefühlt! Er hat rote Samtstühle und einen Teppich, und es ist … na ja, ein richtiges Theater eben. Ich glaube, ich werde noch eine Weile brauchen, um das richtig zu realisieren. Das ist im Grunde genau das, wovon ich geträumt habe.«

»Und warum klingst du dann so, als würde ein Aber folgen?«, hakte sie nach, denn natürlich hörte sie an meiner Stimme, dass etwas nicht ganz in Ordnung war.

»Weil Miles dort aufgetaucht ist.«

»Miles? Welcher Miles?« Ich konnte ihr Stirnrunzeln förmlich vor mir sehen.

»Miles Wilson. Miles aus unserer alten Schule.«

Stille.

Es raschelte kurz, als hätte Debby sich hingesetzt. »Du verarschst mich.«

»Nope. Er stand plötzlich da. Mitten im Theater, und dann hat Joanne – die Regisseurin – verkündet, dass er die Hauptrolle in dem Stück spielen werde. Ich konnte es gar nicht glauben. Ich meine, ich wusste, dass er Schauspieler werden will, aber damit hätte ich niemals gerechnet.«

»Natürlich nicht. Wie krass ist das bitte?«

Ich seufzte. »Ja, ich bin natürlich total durch den Wind gewesen und erst mal aus dem Theater gerannt.« Ich konnte nur hoffen, dass Joanne, Simon und die anderen sich wirklich nicht zu viel dabei gedacht hatten und mich nicht für unprofessionell hielten.

»Kein Wunder. Wie geht’s dir damit?« Sie wusste genau, was mit Miles’ Auftauchen unweigerlich an die Oberfläche trieb.

Ich zuckte mit den Schultern, obwohl Debby es nicht sehen konnte. »Keine Ahnung«, sagte ich leise, und in der Stille, die daraufhin zwischen uns schwebte, stiegen wieder Erinnerungen an damals in mir auf. Schlagartig wurde es eng in meiner Brust. Ich rang nach Luft und kämpfte gegen den plötzlichen Druck an, der es mir erschwerte, frei zu atmen. Die Bilder waren so greifend nah. So lebendig. Als wäre es erst gestern gewesen.

»Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren«, sagte ich, und obwohl es wehtat, sprach ich weiter. »Andererseits will ich es unbedingt. Wir sind nicht mehr dieselben wie damals. Zumindest ich bin es nicht. Miles ist mir hinterhergelaufen und meinte, wir sollten uns auf das Jetzt konzentrieren. Und auf die Ziele, die wir uns jeweils gesteckt haben. Auf unsere Träume. Ich denke, das ist tatsächlich das Beste, was ich jetzt tun kann.«

Aber dennoch. Vier Jahre war es nun her, und während ich in London die Erinnerungen tief in mir vergraben und den Blick auf die Zukunft gerichtet hatte, waren sie durch Miles schlagartig wieder auf mich eingeprasselt. Vermutlich gab es Erlebnisse, die ließen einen nie wieder los. Ganz gleich, wie viel Zeit verging und wie sehr man sie ausblendete.

»Soll ich nächstes Wochenende zu dir kommen? Vorher schaffe ich es vermutlich nicht, weil ich jeden Tag Vorlesungen habe, aber wenn du mich jetzt brauchst, kann ich die bestimmt auch nachholen.«

Ich zwang mich, mich zusammenzureißen und die Bilder abzuschütteln. »Das ist lieb, aber nicht nötig. Ich muss mich wahrscheinlich einfach erst mal an meinen neuen Alltag gewöhnen. Mit der Zeit wird es sicher leichter. Und meine Mitbewohner scheinen echt nett zu sein. Ich werde hier schon zurechtkommen.«

Debby atmete hörbar aus, und ich hätte wetten können, dass sie gerade mit den Fransen des Kissens spielte, das immer auf ihrem Bett lag. Wie schön es wäre, mich nur für ein paar Stunden zu ihr beamen zu können …

»Immerhin«, sagte sie schließlich. »Ich hoffe, sie machen dir den Start etwas leichter. Du darfst dich auf jeden Fall jederzeit melden! Vielleicht musst du Miles ja auch gar nicht so oft sehen.«

Ich stieß ein Lachen aus, das mehr verzweifelt als fröhlich klang. »Er spielt die Hauptrolle. Ich werde ihm nicht wirklich aus dem Weg gehen können. Aber das alles ist Jahre her. Wie gesagt, wenn ich den ersten Schock überwunden habe, wird es bestimmt leichter, mit seiner Anwesenheit klarzukommen.«

»Das hoffe ich«, sagte Debby, aber ich hörte die Zweifel in ihrer Stimme. Sie war damals dabei gewesen und wusste als eine der wenigen, was wirklich passiert war und warum ich mit Miles während des letzten Schuljahrs kein Wort mehr gesprochen hatte. Warum ich jeden seiner Entschuldigungsversuche abgeblockt hatte. Und dass ich all das in meinem Stück verarbeitet hatte.

»Ich werde mir das nicht verderben lassen«, sagte ich entschlossen und wusste nicht, wen ich mehr überzeugen wollte, sie oder mich. Aber morgen war mein erster Tag in meinem neuen Job, und ich wollte mich darauf freuen können. Ich wollte aufgeregt sein und es kaum erwarten können. Schließlich hatte ich genau darauf hingearbeitet.

»Natürlich nicht«, sagte Debby sofort. »Dafür bist du viel zu tough. Außerdem redest du seit wir Teenager sind davon, irgendwann am Theater zu arbeiten.«

»Eben.« Ich richtete mich entschlossen ein Stück auf. »Ist bei dir alles gut?«

»Ja, bei mir ist alles beim Alten. Das letzte Semester fordert noch mal viel, aber es macht auch Spaß. Ich muss leider auch gleich los, weil mein Yogakurs anfängt, aber wir reden morgen wieder, okay? Und wann immer du dich melden willst, du weißt ja, ich bin da.«

»Ja, ich weiß«, sagte ich und kämpfte gegen den plötzlichen Kloß in meinem Hals an. »Ich hab dich lieb, Debby. Danke für alles.«

»Immer.«

Nachdem wir uns verabschiedet und aufgelegt hatten, schnappte ich mir das Buch, das ich vorhin auf meinen Nachttisch gelegt hatte. Ein Thriller, der gerade eine völlig überraschende Wendung genommen hatte.

Das Gespräch mit Debby und das Essen mit Wyatt und Sutton hatten zwar meine angeschlagenen Nerven beruhigt, aber ich ahnte, dass ich noch etwas Ablenkung brauchte, bevor ich später schlafen ging. Wenn es jetzt zu ruhig in meinem Kopf wurde, tauchte nur wieder Miles’ Gesicht darin auf, und ihn würde ich so oder so früh genug wiedersehen.

3. KAPITEL

Miles

»In der ersten Szene, wenn du die Bühne betrittst, brauche ich direkt starke Emotionen von dir. Wir müssen deine Wut spüren, die Enttäuschung darüber, dass die Eltern deiner Geliebten dich ablehnen.« Joanne sah mich mit konzentrierter Miene an, und ich nickte und machte mir eine Notiz im Skript, während Felicity neben mir aufmerksam zuhörte.

Wir saßen seit heute Morgen im Proberaum, der sich nur ein paar Gehminuten vom Theater entfernt in einem eher unscheinbaren Gebäude in einer Seitenstraße zur Rosebery Avenue befand. Es strahlte nicht dieselbe Atmosphäre aus wie das Theater, aber der Raum war dennoch wie ein kleiner Saal eingerichtet mit einer Bühne und ein paar wenigen Sitzreihen. Zum Proben also genau richtig. Heute gingen wir aber nur das Skript durch. Dazu hatte Joanne auch erst mal nur mit Felicity und mir sprechen wollen. Die Chemie zwischen uns musste schließlich auf der Bühne stimmen, wobei ich mir da keine Sorgen machte. Felicity und ich hatten uns nach dem Kennenlerntag gestern für heute Morgen im Coffee Corner, einem netten kleinen Café gegenüber vom Theater, verabredet und dann länger unterhalten, bevor wir zum Proberaum mussten, und sie war mir sofort sympathisch gewesen. Sie war offen und aufgeschlossen, aber dennoch professionell. Obwohl sie bereits mehr Theatererfahrung hatte als ich, ließ sie das jedoch nicht unangenehm heraushängen. Was ganz angenehm war, denn ich selbst machte mir über solche Dinge nicht wirklich Gedanken.

Es war schon immer mein Traum gewesen, Schauspieler zu werden. Bereits als Kind hatte ich gemerkt, wie leicht es mir fiel, in andere Rollen zu schlüpfen. Als könnte ich meine eigenen Gedanken und Gefühle wie eine zweite Haut abstreifen und stattdessen in die eines anderen schlüpfen. Egal ob Helden, Schurken oder den eifrigen besten Freund. Sie zu spielen, bedeutete, eine Pause von meinem Leben zu nehmen, und das hatte ich am Schauspiel immer gemocht.

Es gab Kollegen, die erzählten, dass sie ihre eigenen Erfahrungen und Emotionen in die Rollen steckten und sie dadurch lebendig machten. Bei mir war es anders. Ich hatte die Rollen immer als Flucht vor meinen eigenen Gefühlen genutzt. Vor allem früher, als ich noch intuitiv gespielt hatte. Inzwischen wusste ich, wie ich verschiedene Techniken anwenden, mit Stimme, Gestik, Mimik und meiner Körperhaltung arbeiten konnte, doch wenn es um die Emotionen der Rolle ging, wählte ich immer noch die Flucht.

»Okay«, sagte Joanne und riss mich aus meinen Gedanken. »Und hier an dieser Stelle müssen wir darauf achten, dass Felicity nicht zu sehr in den Hintergrund rückt.«

»Alles klar.« Felicity machte sich eine Notiz, während Joanne bereits zu dem nächsten Punkt überging.

So ging es noch eine ganze Weile weiter, und als wir die erste Szene komplett durchbesprochen hatten, klappte Joanne zufrieden das Skript zu. »Das war es fürs Erste von meiner Seite. Nachher kommt Simon vorbei, der auch noch ein paar Anmerkungen zu dem Stück hat. Wie ihr wisst, haben wir es ein wenig gekürzt und abgewandelt, auch wenn Audreys Skript schon sehr gut war. Mit den Proben starten wir erst nächste Woche richtig, aber bis dahin könnt ihr ja schon mal für euch ein paar Szenen durchgehen, um miteinander warm zu werden.« Sie stand auf und verstaute das Skript in ihrer Handtasche. »Ich habe gleich noch ein Treffen mit Walter, dem Produktionsleiter. Um zwei Uhr kommen die anderen dazu, und dann geht’s hier offiziell weiter.«

»Alles klar«, erwiderte Felicity und wandte sich mir zu. »Sollen wir den Dialog aus der ersten Szene mal durchsprechen? Um so ein bisschen ein Gefühl zu bekommen, wie die beiden miteinander umgehen? Wir können ja auch erst mal unsere eigenen Worte dafür nehmen, damit wir uns auf die Beziehung zwischen unseren Rollen konzentrieren.«

Ich richtete mich ein Stück auf dem Stuhl auf. »Von mir aus gern. Sollen wir uns dafür auf die Bühne stellen? Mir fällt es dort immer leichter, in die Rolle reinzufinden.«

Sie nickte. »Klar, geht mir genauso.«

Wir stellten uns zwei Schritte voneinander entfernt auf der kleinen Bühne auf und sprachen erst mal nur die Szene durch, bevor wir ein paar Dialoge durchspielten, ohne uns strikt an den Text zu halten. Das würde später kommen. Obwohl es erst der Anfang war, durchströmte mich bereits ein vorfreudiges Kribbeln. Es war zwar nichts im Vergleich zu dem Rausch, der mich ergreifen würde, sobald wir richtig probten, aber schon jetzt rückte alles andere in den Hintergrund. Die Angst, es als Schauspieler nicht zu schaffen, verblasste genauso wie der Gedanke daran, dass meine Eltern bisher kein einziges Mal gefragt hatten, wie der Start in Chesthill lief. Und genau das war es, wonach ich mich so sehr sehnte.

Tatsächlich lief es ganz gut zwischen Felicity und mir. Obwohl wir heute das erste Mal zusammen auf der Bühne standen, fanden wir ziemlich schnell einen guten Zugang zu unseren Rollen. Was vielleicht auch an Felicity lag. Auf der Bühne bewegte sie sich mit einer Selbstverständlichkeit, die mir gefiel. Ich bezweifelte nicht, dass sie es weit bringen würde. Dennoch war ich überrascht, wie gut es zwischen uns funktionierte, und ich freute mich schon darauf, mit ihr und den anderen zusammenzuarbeiten.

»Seit wann spielst du schon?«, fragte Felicity, als wir uns nach etwa einer halben Stunde an den Rand der Bühne setzten. Geschickt band sie sich ihre schulterlangen braunen Haare zu einem Zopf, während sie mich aus ihren dunklen Rehaugen musterte, die von dichten Wimpern umrahmt wurden.

Kurz tauchte eine andere Frau vor meinen Augen auf. Lange dunkle Haare, die in leichten Wellen über den Rücken fielen, blaue Augen, die einen heftigen Kontrast dazu bildeten und es unmöglich machten, sich nicht in ihnen zu verlieren. Die Andeutung eines Lächelns, das bei meinem Anblick jedoch sofort verschwand.

Ich hatte Audrey jahrelang nicht gesehen, trotzdem war sie nie ganz aus meinen Gedanken verschwunden. Hin und wieder, wenn ich von einer dunkelhaarigen Schönheit in einer Bar auf einen Drink eingeladen worden war, hatte ich mich unwillkürlich gefragt, was Audrey machte. Wie es ihr ging. Ob sie glücklich war. Doch gleichzeitig war immer die Frage aufgetaucht, was zwischen uns so verdammt schiefgelaufen war, dass sie mich im letzten Schuljahr komplett ignoriert hatte. Ich wusste, dass ich ein Idiot sein konnte. Dass ich nicht gerade der emotional stabilste Mensch war und es vermutlich einen Grund gab, warum sämtliche Beziehungen in den letzten Jahren nur von kurzer Dauer gewesen waren. Dennoch hatte ich bei Audrey alles richtig machen wollen. Sie hatte mich von Anfang an fasziniert mit ihren hellen Augen und ihrem fröhlichen Lachen, das regelrecht ansteckend war. Und dann hatten wir uns geküsst, und ich dachte wirklich, es könnte mehr daraus werden. Doch irgendetwas musste ich falsch gemacht haben, denn am Tag darauf war ich Luft für sie geworden. Was immer es war, sie hatte mir nicht mal annähernd dafür verziehen – das war bei unserer kurzen Begegnung gestern eindeutig geworden.

»Miles?« Felicitys Stimme holte mich schlagartig zurück.

»Sorry«, murmelte ich. »Ich war grad in Gedanken. Was hast du gefragt?«

»Seit wann du schauspielerst?«

»Eigentlich schon seit Jahren, aber wirklich beruflich noch nicht so lange«, erwiderte ich und konzentrierte mich wieder auf Felicity und unser Gespräch. »Mit zehn oder so war ich zum ersten Mal in einer Theater-AG, und danach habe ich bei allen möglichen Projekten mitgewirkt, bis ich dann nach dem Schulabschluss ein Stipendium an der Oxford School of Drama erhalten habe. Wie ist es bei dir?«

»Ähnlich.« Felicity strich eine Strähne hinters Ohr und lächelte versonnen. »Meine Eltern haben mich mit acht oder so in meinen ersten Theaterkurs geschickt, und seither bin ich nicht mehr davon losgekommen. Auch wenn die Branche manchmal sehr hart ist, würde ich nichts anderes machen wollen.«

»Geht mir auch so«, stimmte ich zu. »Auf der Bühne bin ich zu Hause. Ich wüsste gar nichts mit mir anzufangen, wenn mir das genommen werden würde.«

»Ich weiß genau, was du meinst«, sagte Felicity, und nach einem Blick auf die Uhr fügte sie hinzu: »Ich hab mit Dan ausgemacht, dass wir uns gleich im Coffee Corner treffen. Hast du Lust mitzukommen? Dann können wir uns einen Kaffee holen und das schöne Wetter nutzen und uns ein bisschen die Stadt ansehen, bevor es weitergeht.« Sie stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose, der sich auf der Bühne gesammelt hatte.

»Dan?«, hake ich nach und erhob mich ebenfalls.

»Er arbeitet hier im Theater als Kostüm- und Maskenbildner.«

»Ach, stimmt.« Ich erinnerte mich vage an den blonden Mann, den ich gestern kurz kennengelernt hatte. Tatsächlich klang das nach einer super Idee. Ich war erst vor ein paar Tagen nach Chesthill gezogen und kannte daher noch keine Leute, und neue Kontakte waren nie verkehrt. Außerdem hatte ich bisher auch noch nicht besonders viel von der Stadt gesehen. »Also von mir aus gern.«

Nach der Pause im Coffee Corner schlenderten wir noch ein wenig durch die Rosebery Avenue. Für Mai waren die Temperaturen überraschend mild, und Felicity reckte ihr Gesicht genießerisch der Sonne entgegen. Als wir an einem antiken Buchladen vorbeikamen, blieb Dan direkt stehen und sah sich die Auslage davor an. Es lagen hauptsächlich Klassiker wie Der große Gatsby und Werke von Shakespeare aus, aber dazwischen entdeckte ich auch aktuelle Literatur, die mir jedoch wenig sagte. Dan griff nach einer alten Ausgabe von Sommernachtstraum und murmelte etwas davon, dass das Exemplar nach Geschichte und Sehnsucht roch. Felicity und ich tauschten einen belustigten Blick, den Dan mit »Kulturbanausen« kommentierte, bevor er schnell hineinging und das Buch kaufte.

»Ist so was eigentlich normal?«, fragte ich, als Dan – um ein Buch glücklicher – zurückkam und wir weiterliefen, und deutete auf die dunklen gusseisernen Straßenlaternen, die in regelmäßigen Abständen am Wegrand standen. Blumenkörbe waren an ihnen angebracht worden, und die blauen und roten Blüten der Pflanzen sorgten für bunte Tupfer. »Ich meine nicht die Straßenlaternen, sondern die Blumen, die müssen doch alle regelmäßig gegossen werden. Das ist doch verrückt.«

»Es ist Chesthill«, meinte Felicity schulterzuckend. »So was steht hier ganz oben auf der Prioritätenliste.«

»Faszinierend«, murmelte ich, konnte mich aber dem Zauber der Straße nicht ganz verwehren. Die Auslagen der Läden waren liebevoll gestaltet. Es gab einen Kreativladen mit bunten Farbpaletten und gefalteten Papierkranichen im Schaufenster, sowie einen Keramikladen mit handgetöpferten Schalen und Tassen. Am beeindruckendsten war jedoch die Kathedrale, die sich hinter einem kleinen Park mit einigen Bänken erhob. Wir hatten nicht viel Zeit, sie anzusehen, weil wir zurückmussten, aber ich nahm mir vor, sie irgendwann noch mal richtig zu besuchen.

Als wir uns kurz darauf wieder mit Joanne, Simon und Audrey im Proberaum versammelten, erklärte Joanne noch mal den Ablauf der nächsten Wochen, bevor Simon die Änderungen im Skript durchging und uns einen ersten Entwurf des Spielplans zeigte. Es waren alles wichtige Informationen, und obwohl ich aufpassen sollte, schweifte meine Aufmerksamkeit ständig ab.

Audrey saß zwei Plätze weiter, und da nur Felicity, die nicht sonderlich groß war, zwischen uns saß, hatte ich einen direkten Blick auf sie. Was nicht hilfreich war. Doch mein Gehirn hatte es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu mustern und mit meinen Erinnerungen an sie zu vergleichen. Ihre Haare waren noch genauso lang wie damals, doch ihre Gesichtszüge waren schmaler geworden. Sie hatte eine sportlichere Figur bekommen, und in ihrem Blick lag eine wilde Entschlossenheit, die früher noch nicht so ausgeprägt gewesen war. Den bunten Blusen und Röcken waren ein Blazer und eine enge Jeans gewichen, wobei das vielleicht auch nur ihr berufliches Outfit war. Sie wirkte reifer, selbstbewusster und auch distanzierter. Zwar hatte sie für die anderen Teammitglieder jederzeit ein offenes Lächeln, aber mir entging die Vorsicht in ihren Augen nicht. Als würde sie nicht mehr blind vertrauen können, und die Ahnung, dass ich dazu beigetragen hatte, nagte leise an mir.

»Das wär’s fürs Erste. In den nächsten Tagen widmen wir uns vor allem dem ersten Akt«, schloss Joanne das Meeting und stand auf. Shit. Ich hatte die Hälfte von dem, was gesagt worden war, verpasst.

Felicity stand ebenfalls auf und drehte sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir um. »Komm, wir sollen noch mal die erste Szene durchsprechen. Simon und Audrey wollten sich einen Eindruck verschaffen, wie wir auf der Bühne miteinander agieren.«

»Äh ja, klar«, sagte ich und folgte Felicity zur Bühne. Mein Blick zuckte zu Audrey, die jedoch demonstrativ in eine andere Richtung sah. Fantastisch. Wie sollte ich mich konzentrieren, wenn sie hier saß und mich ignorierte? Mich wieder an damals erinnerte und erneut die Frage aufwarf, was schiefgelaufen war?

Ich hatte zu fast niemandem aus unserer Schule noch Kontakt. Die Zeit in Oxford war ein Cut gewesen, den ich dringend gebraucht hatte. Für meine Mitschüler war ich immer nur der Typ mit den reichen Eltern und dem perfekten Leben gewesen, der eine Aussicht auf eine Schauspielkarriere hatte. Dass das vor allem eine Illusion war, hinter der sich Einsamkeit und Leere verbargen, hatte niemand gesehen. Daher war ich froh gewesen, das alles hinter mir lassen zu können. Das alles zu vergessen. Ich erinnerte mich nicht gern an die Jahre, in denen ich noch bei meinen Eltern gewohnt hatte. Doch Audreys Anwesenheit ließ das alles wieder hochkommen. Allem voran die Unsicherheit, die mich damals noch täglich begleitet hatte.

Shit. Ich musste mich zusammenreißen. Ich drückte meine Schultern durch und rief mir in Erinnerung, was ich in den letzten Jahren erreicht hatte. Wie sehr ich mich verändert hatte.

Mit entschlossenen Schritten betrat ich die Bühne. Den Blick auf das Textbuch gerichtet, blendete ich Simon, Audrey und Joanne aus, die in der ersten Reihe saßen und darauf warteten, dass Felicity und ich loslegten.

Ich räusperte mich und sprach die erste Zeile. Felicity stieg direkt mit ein, und wir ergänzten unsere Texte automatisch mit Gesten und untermalten die Emotionen mit der entsprechenden Mimik. Wie ich heute Morgen schon gemerkt hatte, stimmte die Chemie zwischen uns, und schon nach wenigen Sekunden vergaß ich unsere drei Zuschauer. Ich vergaß Audreys Wut auf mich, die nach all den Jahren noch immer in ihr zu brodeln schien, und tauchte tiefer in meine Rolle und ihr Schicksal ein, das nicht meins war.

Das Stück ähnelte in der Ausgangssituation einer modernen Version von Romeo und Julia, wobei Audrey gesellschaftskritische Aspekte mit eingestreut hatte. Im Verlauf der Handlung gab es eine unvorhergesehene Wendung, und wenn ich daran dachte, dass Audrey das Stück geschrieben hatte, spürte ich nichts als grenzenlose Bewunderung. Dass sie talentiert war, wunderte mich nicht, trotzdem imponierte es mir.

Nach ein paar Minuten unterbrach uns Joanne. »Das war sehr gut. Ich würde sagen, wir machen eine kurze Pause, in der ich mich mit Simon berate, und dann tragen wir zusammen, worauf ihr beim weiteren Zusammenspiel achten könnt.«

»Alles klar«, sagte Felicity und verließ die Bühne, wobei sie direkt auf Audrey zusteuerte. Joanne und Simon hatten sich ein paar Meter entfernt und über ihre Notizen gebeugt, und da ich nicht allein auf der Bühne bleiben wollte, stellte ich mich zu Audrey und Felicity.

»Und? Wie gefällt es dir bisher?«, wandte Felicity sich an Audrey, die sich ebenfalls Notizen gemacht hatte und diese wahrscheinlich erst später mit Joanne durchgehen würde. Zumindest hatte Joanne das vorhin so angekündigt. Während der ersten Tage sollte Audrey sich einen Eindruck verschaffen und abgleichen, ob unsere Darstellungen zu ihren Vorstellungen der Figuren passten.