Mallows oder Katzengrütze - Sonja Ruf - E-Book

Mallows oder Katzengrütze E-Book

Sonja Ruf

0,0

Beschreibung

""Ihr werdet den Fernseher nicht vermissen, meine Knöpfchen, und wisst ihr auch warum? Weil sowieso der Strom abgestellt wird." Anstatt zu verreisen, müssen die Zwillinge Chelsea und Jordan in Gotha bleiben. Ihre seit langem arbeitslose Mutter ist fort; angeblich kann sie auf die Schnelle in der Südsee Geld verdienen. Allein, ohne Strom für Licht und Herd, mit Haferflocken und 15,87 Euro sollen die Zehnjährigen eine Woche überstehen. Sie grillen Marshmallows über Kerzen, gruseln sich im Dunkeln und meistern ihre Nöte. Ein Klingelton, der sich anhört wie vom Handy der Mutter, lockt sie in die Kellergewölbe von Schloss Friedenstein. Dort müssen sie sich bewähren. "Mallows oder Katzengrütze", Sonja Rufs zwölftes Buch, ist ihr erster Roman für Kinder. Kritiker rühmen die Leichtigkeit und Treffsicherheit ihres Erzählens. Das Sachbuch "Kein Herbst ohne Blätter", das sie gemeinsam mit Tilmann Stottele herausbrachte, kam auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis."

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 181

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


© 2019 Fabulus Verlag, Fellbach

www.fabulus-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Lektorat: Fabulus Verlag

Umschlaggestaltung: Fabulus Verlag in Zusammenarbeit mit r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg

Bild: unter Verwendung eines Motivs von Arak Rattanawijittakorn, Archiv Shutterstock

Satz und Herstellung: r2 | röger & röttenbacher, büro für gestaltung, Leonberg

Druck und Bindearbeiten: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN Print: 978-3-944788-70-8

ISBN E-Book: 978-3-944788-71-5

Inhaltsverzeichnis
15 Euro und 87 Cent
Mallows oder Katzengrütze?
Forkel
Kühlkette unterbrochen
Ketchup zum Frühstück
Die Sache mit der Tür
Der Blick vom Turm
Ziegen aus der Südsee
Ein Rucksack für alle Fälle
Heilige Barbara, hilf uns in unserer Not
Die Nacht in den Kasematten
Sprüche an der Wand
Die Ekel-Schokolade
Der Schatz des Hänsel Tausendschön
Noch immer aus dem Pampenpott
Wie lahme schmutzige Vögel
Armes Flundria
Chelsea fühlt sich gekränkt
Das Barockfest
Eine Königin ist nicht amüsiert
Pressekonferenz
Die Geburt der Goldenen Wabe
Ende
Dank
Über die Autorin

15 Euro und 87 Cent

Die Sommerferien fingen damit an, dass die Ferien gestrichen wurden.

Als die Zwillinge am letzten Schultag nach Hause kamen, war ihre Mutter nicht da. Stattdessen fanden sie auf dem Küchentisch einen Brief.

Darin stand:

»Liebe Chelsea, lieber Jordan,

wir fliegen nicht zur Oma. Ich hab die Tickets zurückgegeben. Ich mach dir keinen Vorwurf, Jordan, passiert ist passiert. Das war die schlechte Nachricht. Es gibt auch eine gute Nachricht und die könnte euch umhauen: Ich hab wieder Arbeit! In der Südsee! Ihr müsst eine Woche ohne mich zurechtkommen, aber dafür bring ich mächtig Geld mit. Benehmt euch also und streitet nicht so viel. Ich mach dir keinen Vorwurf, Jordan, bloß gibt der BM Jotum nicht das Fitzelchen einer Zündschnur nach. Von wegen, der Bertram wär dein Freund! Ihr werdet den Fernseher nicht vermissen, meine Knöpfchen, und wisst ihr auch warum? Weil sowieso der Strom abgestellt wird. Kerzen findet ihr in der untersten Schublade im Bad. Wenn ihr nachts die Kerzen brennen lasst, kriegt ihr Ärger. Ich küss euch.

Mami.«

Chelsea, die den Brief rascher gelesen hatte als ihr Bruder, richtete sich auf und schaute Jordan böse an. Chelsea sah oft beleidigt oder wütend aus, sie lächelte selten und es gab auch nur wenige Menschen, denen sie traute. Jetzt sah sie ihren Zwillingsbruder an wie den ärgsten Feind. Sie äffte die dröhnende Stimme ihrer Mutter nach: »Ich mach dir keinen Vorwurf, Jordan!«, ging in ihr Zimmer und knallte die Tür.

Jordan blieb zurück.

Klar war er an allem schuld! Dabei hatte Bertram mindestens genauso viel Schuld, dass er diese blöde Tür zertreten hatte. Es war eine Tür aus Spezialglas, die so teuer war, dass sie deswegen die Stromrechnung nicht bezahlen konnten.

Dass die Reise gestrichen war, machte Jordan nichts aus. Er hatte seine Sachen noch nicht gepackt und blieb auch lieber in Gotha. In Banjul bei der Oma war es heiß und langweilig.

Hier konnte er immer noch zu den anderen Großeltern, konnte im verbotenen See am Friedhof schwimmen, auf dem Seeberg in den alten Bunkern rumklettern und eine Menge Sachen machen, die mehr Spaß brachten, als in Gambia rohe Kartoffeln und Zwiebeln in einem Mörser zu zerstampfen oder wegen der Haie das Schwimmen verboten zu kriegen.

Da fiel ihm auf, dass seine Mami unten auf dem Brief einen kleinen Pfeil gemalt hatte. Das bedeutete: »Dreh mich um!«

Jordan drehte das Blatt um und las:

»P.S. Ruft mich nicht an. Das wird zu teuer. Wenn was ist, geht zu Wolli. Aber nutzt sie nicht aus, da ist sie empfindlich wie eine Lichterkette mit Wackelkontakt. Und noch was ganz Wichtiges: Fahrt nicht nach Sundhausen! Die Omi und der Opi dürfen nicht wissen, dass ich euch allein lasse, sonst hocken sie gleich wieder beim Jugendamt. Es muss aber sein. Ich muss euch allein lassen, es geht nicht anders. Nehmt das Haushaltsgeld vom Bord. Es reicht für die Woche. Keinen Verschleiß und keinen Bruch produzieren, ist das klar? Ihr seid große Kinder, ach was Kinder, ihr seid doch meine zwei Großen.«

Und darunter hatte die Mami unzählige bunte Smileys, Herzchen und grinsende Bomben mit geringelter Zündschnur gemalt.

Aus Chelseas Zimmer drang laute Musik.

»Jetzt heult sie«, dachte Jordan und überlegte, ob er zu Chelsea reingehen sollte oder nicht.

Und dann ging er halt rein.

Chelsea weinte aber gar nicht. Sie hatte bloß ihren Rollkoffer umgekippt und ausgeleert. Nun saß sie auf dem Boden vor ihrem Bett in dem ganzen Zeug, das sie nach Banjul hatte mitnehmen wollen, und flocht ein Freundschaftsband im Rautenmuster für Lenja. Sie saß im Schneidersitz und hatte die Fäden mit Hilfe einer Sicherheitsnadel an ihrer Hose befestigt.

Als Jordan reinkam, stellte sie sich gerade vor, wie ihre Mutter mit viel Geld zurückkam und lächelte, den Kopf voller frisch gedrehter Löckchen, und die ganzen Löckchen voller Muscheln und Perlen und anderem Südseezeugs. Und dann wäre der Moment günstig, ihr so nebenher das Zeugnis zu zeigen, aber nur, wenn sie überhaupt danach fragte. Möglich, dass die Mami sich dann überhaupt nicht mehr für Zeugnisse interessierte. Chelsea hatte ein ziemlich schlechtes ungerechtes Zeugnis bekommen, weil ihre Lehrerinnen sie nicht leiden konnten. Um ein Haar hätte sie die vierte Klasse sogar wiederholen müssen. Dann hätte sie ihre beste und einzige Freundin verloren: Lenja. Niemand wusste davon, dass über Chelsea dieses Schwert geschwebt hatte, auch Jordan nicht.

»Kommst du mit?«, fragte Jordan, »ich hol uns was zu essen.«

»Hast du Geld?«

»Wir nehmen das Essensgeld.«

»Das darfst du nicht!«, protestierte Chelsea.

»Da steht es!«, sagte Jordan und zeigte ihr die Rückseite des Briefes.

Chelsea las und lächelte, löste die Sicherheitsnadel, steckte das Freundschaftsband in die Hosentasche und folgte Jordan in die Küche.

Im bunten Obstkistenregal standen drei leere Gurkengläser. Auf die Etiketten »Spreewälder Gurken« hatte ihre Mami mit einem Kuli gekritzelt: »Sonstiges«, »Strom« und »Essensgeld«. Am Anfang des Monats verteilte sie das Geld auf die drei Gläser. Gegen Ende des Monats wanderte meist das Geld aus den Gläsern für Strom und Sonstiges in das Glas für Essen. Und dann waren alle Gläser leer und es gab ein paar Tage lang Haferflocken und Tee. Wenn dann das frische Geld da war, lud die Mami sie in »Wolli’s Gockelgrill« zu Pommes und sich selbst zu einem halben Hähnchen ein. Chelsea und Jordan waren Vegetarier. Sie aßen keine Tiere außer in Form von Fischstäbchen.

Die Gurkengläser mit dem Geld waren tabu. Jordan und Chelsea rührten sie nie an. Es war schon etwas ganz Besonderes, das jetzt erlaubt zu bekommen. Schriftlich! Sogar mit Smileys, Herzchen und Bömbchen mit Ringelzündschnur.

Die Gläser für »Sonstiges« und »Strom« waren leer.

Nun holte Jordan das Glas mit dem Etikett »Essensgeld« zum Tisch, schraubte es auf und nahm das Geld heraus. Chelsea schob es auf der Tischplatte hin und her, strich die Fünfer-Scheine glatt, machte Türmchen aus den Münzen und zählte mehrere Male. Es waren 15 Euro und 87 Cent, die leicht nach Gurkenwasser rochen. Chelsea ging oft mit zum Einkaufen. Obwohl sie schlechte Noten im Rechnen bekam, hatte sie ein ziemlich gutes Gedächtnis für Preise und Mengen und konnte rasch im Kopf überschlagen, was sie für wieviel kaufen konnten und wann es sich lohnte, eine Großpackung auf Vorrat zu kaufen. Mit den Haferflocken, die noch im Schrank waren, würde das Geld für mehr als eine Woche reichen.

»Jeder nimmt die Hälfte«, bestimmte Chelsea und teilte das Geld. Jeder bekam 7,50 Euro und 43 Cent. Den einen übrigen Cent warf Chelsea wieder in das Glas, wo er klingelnd auftraf. Jordan schraubte das Glas zu, ließ den Cent klappern und stellte das Gurkenglas zurück in das Obstkistenregal.

»Gehen wir!«, sagte Chelsea und zog zwei Plastiktüten zum Mitnehmen aus der Schublade.

Schwester und Bruder hatten je einen eigenen Schlüssel an einer langen Paketschnur, die durch eine Gürtelschlaufe gezogen war und in der Hosentasche versackte. Jeden Morgen, wenn ihre Mami aus dem Schlafzimmer heraus hörte, dass sie die Haustür öffneten, um zur Schule zu gehen, rief sie mit ihrer dröhnenden Stimme: »Schlüssel an der Frau?«, und Chelsea rief: »Ja!«

»Schlüssel am Mann?«

Jordan antwortete: »Ja!«

»Glück auf, Kinder!«, und ihre Mutter drehte sich im Bett um, und dann war wieder »Schicht im Schacht«, wie sie sagte. Sie schlief ein.

Mallows oder Katzengrütze?

Chelsea und Jordan gingen los. Sie gingen die Straße runter, am Elektroladen, am Schuhladen und am Schwimmbad vorbei, dann über den riesigen Parkplatz zum dreimal so riesigen »Kaufland«.

Sie stritten eine Weile, wessen Euro sie in den Einkaufswagen schieben sollten und machten »Schnick-Schnack-Schnuck«.

Jordan verlor und schob den Wagen mit seinem Euro.

Die Tür zum Einkaufszentrum öffnete sich wie von Geisterhand bewegt. Drinnen gab es eine Apotheke, einen Blumenladen, einen Metzger und einen Bäcker. In diesen kleineren Läden hatten sie noch nie eingekauft, weil es der Mami peinlich war, nein zu sagen, wenn die Verkäuferinnen süß lächelten: »Darf’s ein bisschen mehr sein?«, oder: »Wir hätten da ein Angebot, darf ich das Ihnen mal zeigen?«

Es gab einen Zeitschriftenladen, in dem ihre Mutter manchmal ein Los freirubbelte, aber immer ohne Glück im Spiel, also dann vielleicht mal wieder in der Liebe. Dann waren da noch die Toiletten für umsonst, in denen sie manchmal, aber sehr selten, Klopapier klauten, und dann eben dieses riesige Kaufland mit Lebensmitteln, Spielzeug und Haushaltswaren auf zwei Etagen. Einmal hatten die Zwillinge einen alten Mann an der Rolltreppe stehen sehen, der schluchzte: »Ich finde gar nichts!« und ihm geholfen, seinen Bautzener Senf, die Filinchen und das Erbspürree zu finden.

Die Sundhäuser Omi sagte: »Ohne Wanderkarte geh ich da nicht rein.«

Jordan und Chelsea hatten keine Schwierigkeiten mit dem Kaufland. Sie fanden sofort, was sie brauchten.

»Mallows«, rief Jordan und nahm eine Tüte, fast gleich am Eingang.

»Oder Katzengrütze?«, überlegte Chelsea. Mit Katzengrütze meinte sie Erdnussbutter. Doch dann nahm sie auch lieber Mallows. Nun glitten sie das Rollband nach oben, denn der ganze Rest unten war nicht interessant. Sowieso gingen sie immer zielstrebig zu den zwei, drei Regalen, wo sie was holten. Über den ganzen Rest sagte ihre Mami: »Das ist wie mit den Grubenspinnen. Links und rechts an der Wand hocken lassen. Oder wie mit den Fledermäusen. Sogar wenn sie sich dir auf den Helm setzen. Einfach nicht beachten.«

Chelseas und Jordans Mami war Bergbauingenieurin mit Sprengberechtigung. Sie sprengte Löcher in Berge, um Diamanten, Silber, Gold oder Kohle zu finden. Sie hatte schon auf allen Kontinenten gesprengt, sogar in Österreich. Da sprengte sie für die Eisenbahn einen Tunnel durch einen Berg. Aber das letzte Mal, dass sie gute Arbeit gehabt hatte, war vor Jordans und Chelseas Geburt gewesen. Mit gleich zwei Babys konnte sie nicht mehr reisen. Also zog sie zurück nach Gotha in die Nähe ihrer Eltern. Dort gab es leider keine Arbeit für eine Bergbauingenieurin mit Sprengberechtigung. Seither war ihre Mami arbeitslos.

Oben im Einkaufszentrum gingen Chelsea und Jordan gleich zu den Tiefkühltruhen und überlegten: Pizza, Pommes, Eis oder Torte?

Ihre Mami hätte auf jeden Fall Haferflocken, Brot und Butter gekauft. Und Milch.

Das brauchten sie alles nicht. Sie durften ihr Geld ausgeben, wie sie wollten, und das machte sie glücklich. Sie standen also über der Tiefkühltruhe und dachten nach. Pizza ging nicht, weil sie keinen Backofen hatten. Tiefkühltorte für heute ging. Und den Rest der Woche gab es dann Pommes. Na also. Sie rechneten ein paar Mal und kamen auf drei Tüten tiefgefrorene Pommes, wenn sie die billigsten nahmen. Die gingen sicher auch mal ohne Kühlschrank, die schmolzen ja nicht wie Eis. Plus Tiefkühltorte plus zwei Eis auf die Hand.

Sie waren schon ungefähr drei Kilometer Richtung Kassen gewandert, als Jordan plötzlich zwischen den Regalen Bertram entdeckte. Bertram ging in dieselbe Grundschulklasse und würde auch nach den Ferien in dieselbe Gesamtschule kommen wie Lenja, Chelsea und Jordan. Manchmal war er ihr Freund, manchmal Feind. Und an der Sache mit der Tür hatte er mindestens so viel Schuld wie Jordan. Bertram stand zwischen den Regalen mit den Spielsachen und schaute sich einen ferngesteuerten Hubschrauber genauer an. Er hatte die Zwillinge noch nicht entdeckt – und er trug einen Kapuzenpullover. Jordan flüsterte: »Den kann ich pimmeln.«

»Pimmeln« bedeutete in ihrer Klasse, die Kapuze, die in den Nacken hing, umzustülpen, ohne dass der Kapuzenträger das bemerkte.

Chelsea zog sich mit dem Wagen leise zwischen zwei Regale zurück. Jordan schlich sich an. Er setzte im Fuchsgang lautlos einen Fuß vor den anderen. Jordan und Chelsea hatten den Fuchsgang so lange geübt, bis sie sich überall und an jeden lautlos anschleichen konnten. Und so schlich sich Jordan jetzt an Bertram heran, baute sich hinter ihm auf, ohne dass er es merkte – und stülpte rasch die Kapuze um.

»Gepimmelt!«, rief Jordan triumphierend.

Bertram drehte sich um, wurde rot, aber tat so, als würde er Jordan den Spaß gönnen.

»Ich hab dich längst gehört«, log Bertram.

»Jaja, hast du!«, lachte Jordan und ließ Bertram stehen, weil Chelsea rief: »Jordan, komm, wir haben das Wichtigste vergessen, wir brauchen Ketchup!«

»Stimmt«, Jordan griff sich an die Stirn. Pommes ohne Ketchup, das ging einfach nicht.

Sie ließen den Wagen stehen und rannten zurück bis zu dem Regalkilometer Ketchup und Mayo. Zum Glück wussten sie, dass die billigsten Produkte immer ganz unten standen. Sie suchten nicht lange rum, griffen eine Ketchupflasche und eilten zurück.

Plötzlich stoppte Chelsea.

»Wart mal!«, rief sie, »das reicht nicht.«

»Ein Ketchup reicht doch«, sagte Jordan.

»Ich red vom Geld!«

»Oh.«

Sie blieben, wo sie standen und rechneten und rechneten.

Sie mussten etwas zurücklegen. Aber was? Die Torte, das Eis? Die Mallows auf keinen Fall. Pommes und Ketchup brauchten sie auch.

»Das Eis«, entschieden sie.

Und dann war der Einkaufswagen weg!

Jemand hatte ihre Sachen rausgeräumt. Sie fanden die Pommes, die Torte, die Mallows, das Eis auf dem Boden liegen, genau an der Stelle, wo eben noch der Wagen gestanden hatte. Ein Stückchen weiter stand Bertram vor der Wursttheke und versenkte gerade einen Ring Fleischwurst für seinen Vater in einem Einkaufswagen. Vorhin hatte er aber keinen Wagen dabei gehabt.

»Du hast ihn«, rief Jordan und packte den Wagen.

»Heh, junger Mann«, mischte sich die Verkäuferin hinter der Wursttheke ein. Sie hatte eine ganz weißblaue Haut. Im Licht, das sie von der Theke aus von unten anstrahlte, sah sie aus wie ein Zombie. Trotzdem sahen Jordan und Chelsea sie tapfer an. Jordan sagte: »Das ist mein Wagen!«, und Chelsea: »Ja. Der Wagen gehört uns!«

Da widersprach die Zombie-Wurstwarenverkäuferin: »Der Wagen gehört dem Kaufland. Steht auf dem Griff.«

»Genau!«, rief Bertram, »was heißt: mein Wagen? Die sind alle gleich.«

»Gib her«, sagte Jordan und zerrte an dem Wagen. Chelsea half, sie wackelten und rüttelten. Bertram hielt den Wagen fest, aber weil Jordan und Chelsea stärker waren als er allein, setzte sich der Wagen langsam in Bewegung und Bertram rutschte auf seinen Schuhen mit.

»Da drin ist mein Euro«, rief Jordan, »ich will meinen Euro wiederhaben!«

Und sie begannen zu schimpfen, während sie Bertram langsam von der Wursttheke wegzogen. Bertram brauchte seine ganze Luft, um sich so schwer wie möglich zu machen und erwiderte nichts.

Chelsea rief: »Lass los, du Sack! Du fetter Zwerg.«

Jordan: »Missgeburt.«

Chelsea: »Fettschwan.«

Jordan: »Du Opfer!«

Chelsea: »Hier ist mein Finger.«

Jordan: »Du dumme Karotte!«

Inzwischen blieben ein paar Kunden stehen und schauten zu. Auch der Ladendetektiv näherte sich ihnen, ohne dass sie auf ihn achteten.

Die Zombie-Verkäuferin kam hinter der Theke vor und hielt zu Bertram. Sie zog an seiner Seite am Wagen und sagte: »Wegen einem Euro braucht ihr hier wirklich nicht so viel Ärger machen.«

Bertram ätzte: »Ein Euro gibt nen Baby-Fußball. Mit Einhorn. Für Mädchen.«

Chelsea rief: »Bloß, weil mein Bruder dich gepimmelt hat!«

»Was sagst du da?«, empörte sich die Verkäuferin, »was seid ihr für schreckliche Kinder! Ihr lasst diesen Wagen jetzt sofort los oder –«

Jordan und Chelsea sahen sich kurz an und ließen zugleich so plötzlich los, dass der Wagen Bertram gegen die Brust und der Verkäuferin voll in den Bauch knallte. Bertram wurde rot und die Luft blieb ihm weg.

Jordan und Chelsea wandten sich ab. Sie wussten, wann sie verloren hatten.

Chelsea war schrecklich wütend wegen dem gestohlenen Euro und Jordan dachte darüber nach, warum Erwachsene wie diese Verkäuferin eigentlich nie Spaß verstanden.

Die beiden gingen zurück zu der Stelle, wo ihre Pommes lagen, packten die Sachen in die mitgebrachten Einkaufstüten und machten sich erneut auf den Weg zu den Kassen. Das Eis warfen sie unterwegs in die Ekeltruhe mit den toten ganzen glotzenden Fischen. Es war sowieso schon fast geschmolzen.

Warum musste ausgerechnet Bertram heute hier einkaufen?

Forkel

Die Zwillinge waren so aufgewühlt, dass sie nicht bemerkten, dass sie verfolgt wurden. Der Ladendetektiv, der sie an der Wursttheke schon beobachtet hatte, kam schweren Schrittes hinter ihnen her. Er hieß Carl Forkel und trug eine Uniform. So erkannte ihn jeder auf den ersten Blick als Detektiv. Das wollten die Chefs vom Kaufland so. Es war ihnen recht, dass die Diebe der Mut zum Stehlen verließ, sobald sie Forkel bloß sahen. Für Forkel war es aber manchmal langweilig, nie einen Dieb auf frischer Tat erwischen zu können.

Jordan und Chelsea wollten nicht stehlen, deshalb drehten sie sich nicht nach Forkel um.

Sie hatten die Kassen fast erreicht, als sie beide auf der Schulter eine schwere Hand fühlten.

»Ihr kommt mit!«, hörten sie Forkel.

»Was wollen Sie?«, fragte Chelsea.

»Dass ihr jetzt mitkommt!«, drängte Forkel.

Er schob und schubste Chelsea und Jordan von den Kassen weg und vor sich her. Sie wussten, dass es keinen Sinn hatte, wegzurennen, weil überall Kameras waren. Jordan lächelte der Verkäuferin von Kasse 32 sein hilflosestes Lächeln zu und die rief ihnen auch nach: »Was wird das, Herr Forkel?«

Forkel drehte sich zu ihr um und brummte: »Sachverhalt klären. Anfangsverdacht bestätigen.«

Da nickte die Verkäuferin, blickte wieder vor sich auf das Band und schob gleichmütig Waren über den Scanner.

Die Kunden drehten sich zu Jordan und Chelsea um und dachten sicher alle gleich: »Jetzt hat der unbestechliche Herr Forkel mal wieder jemanden erwischt!«

Chelsea hasste ihn.

»Weiter jetzt!«, befahl Forkel.

So wanderten sie vor Forkel durch den Laden, fühlten die Blicke der Kunden und wie die kalten Tüten gegen ihre Beine schlugen.

Auch Bertram starrte sie an, als er Jordans Einkaufswagen an ihnen vorüber schob.

Es war ein ganz leerer Wagen, in dem nur dieser eine Ring Fleischwurst lag, den der BM Jotum heute Abend zusammen mit ein paar Fettbemmen essen würde. Und der ferngesteuerte Hubschrauber.

Chelsea ging langsam an Bertram vorüber. Sie sah ihn so böse an wie möglich und murmelte Verwünschungen, von denen sie hoffte, er würde sie für echten gambianischen Schadenszauber halten. Das klang ungefähr so: »Du wirst … dir werden … Kopf bis Füße … Zehen und Zähne … verglühen … verfaulen … abfallen« und so weiter.

Das machte Bertram schon einen gewissen Eindruck. Er grinste weiter, aber er wurde blass.

Jordan flüsterte im Vorübergehen Bertram zu: »Nu mach was!«

Aber Bertram machte nichts, jedoch nicht aus Bosheit, wie Chelsea glaubte, sondern aus Furcht.

Denn obwohl Bertram der Sohn vom Bürgermeister Jotum war, hatte auch er Respekt vor Forkel. Wenn er ihn bloß sah, glaubte er schon, etwas falsch gemacht zu haben, sogar, wenn er gar nichts falsch gemacht hatte. Und heute hatte er etwas falsch gemacht!

Wenn Forkel gesagt hätte: »Den Wagen her!«, hätte Bertram sofort und ohne zu protestieren den Einkaufswagen zurückgegeben. Jeder hätte sowieso alles gemacht, was Forkel verlangte. Forkel hatte eine Glatze, war groß und kräftig und ging auf eine krumme, merkwürdig finstere, schiefe Weise. Beim Gehen hielt er den rechten Arm eng am Körper, oft umfasste er mit der linken Hand den rechten Ellbogen. Dadurch hing die rechte Schulter schief, so als ob er immer einen schweren Sack schleppte. Bei jedem Schritt schabte der rechte Fuß eng am linken vorbei. Weil Forkel Schuhe mit Eisennägeln, Stahlkappen und seitlichen Stahlbeschlägen trug, ächzte, klirrte und quietschte jeder Schritt. Forkel ging so: links vor, rechts schab, links vor, rechts schab, links vor, rechts schab, quietsch-schab-ächz-klirr. Und dazu das völlig unbewegte, finstere Gesicht. Die Zwillinge wussten, warum Forkel so finster war. Bertram hatte es erzählt.

Forkel stammte aus jener Zeit, in der Bertrams Vater noch nicht Bürgermeister von Gotha gewesen war. Niemand hatte damals etwas für den Hochadel übrig und im Schloss Friedenstein gab es noch keine geblümten Tapeten. Undenkbar, dass damals eine flundrische Königin nach Gotha zu Besuch gekommen wäre, wie es in ein paar Tagen der Fall sein würde. Nämlich als Gast des Bürgermeisters, der jahrelang um diesen Besuch gerungen hatte. In jener glanzlosen alten Zeit, wusste Bertram, hatte Forkel im Gefängnis gesessen. Viele, viele Jahre lang. Und da war an seinem rechten Fuß eine elektronische Fußfessel mit einer Eisenkette und einer Kanonenkugel an deren Ende befestigt gewesen, damit er nicht aus dem Gefängnis ausbrach. In Gotha schmachteten die Gefangenen in den unterirdischen Wehrgängen unter dem Schloss Friedenstein bei Wasser und Brot. Auch Forkel. Bei jedem unvorsichtigen Schritt zur Seite bekam er einen Stromschlag in das Fußgelenk. Deshalb ging er so komisch und deshalb war Forkel finster und böse geworden. Das konnten sie sogar verstehen. Aber weil er so war, wie er war, fürchteten sie ihn alle, auch Bertram.

Trotzdem hätte Bertram ihnen jetzt helfen müssen. Wenn Jordan an Bertrams Stelle gewesen wäre, hätte er sich Forkel in den Weg gestellt und gerufen: »Lassen Sie meine Freunde in Ruhe, sonst sage ich es meinem Vater, dem Bürgermeister Jotum!«

Bertram aber tat so, als würde er sie nicht kennen. Er legte seine blöde Fleischwurst auf das Kassenband und freute sich über den geklauten Euro, während sie schab, ächz, klirr, schab von Forkel abgeführt wurden.