Mama, ich höre dich - Alwin Meyer - E-Book

Mama, ich höre dich E-Book

Alwin Meyer

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Beschreibung

Nur 60 in Auschwitz geborene Kinder konnten 1945 befreit werden. Doch Überleben hieß noch nicht Leben, es war ein Zwischenzustand, bedeutete Leben lernen. Sie mussten lernen, wieder jung zu werden, um wie andere Menschen altern zu können. Denn vor allem die Kleinen kannten die Vorstufen des Todes oft besser als das Leben. Narben blieben in den Seelen dieser Kinder, so wie die Häftlingsnummer, die am linken Unterarm, am Oberschenkel oder Po eintätowiert ist. Unruhig und verzweifelt sind manche bis heute, weil sie nicht wirklich wissen: Wer bin ich? Lebt meine Familie noch? Wo ist meine Schwester? Wurde mein Vater tatsächlich getötet? Manche wussten nichts über ihre Herkunft. Fast alle waren Waisen. Über die deutschen Verbrechen im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz ist vieles geschrieben worden. Nahezu unbekannt blieb für viele Jahrzehnte die Geschichte der Kinder. In diesem Buch wird sie erzählt. Alwin Meyer hat mit großer Akribie, Mitgefühl und Geduld die Geschichten der Kinder von Auschwitz recherchiert, erfragt und aufgeschrieben. Viele erzählten ihm erstmals vom Leben im Lager und danach. Meyer liefert nicht allein erschreckende Zahlen und Fakten, sondern gibt den am Leben Gebliebenen Namen, Gesichter und lässt sie ausführlich zu Wort kommen.

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Alwin Meyer

Mama, ich höre dich

Mütter, Kinder und Geburten in Auschwitz

Steidl

Inhalt

Cover

Titel

Einleitung

»Uns war sehr bange«

»Der oberste Zweck war Vernichtung«

Kinder aus vielen Ländern

Mütter mit kleinen Kindern

Schwangere Frauen und Geburten in Auschwitz

Geboren in Auschwitz und in Nováky

»Ein [SS-]Hund schleppte mein Kind auf den Platz«Die Geschichte von Joseph Fefferling und seiner Mutter Anna

»Als ich in Auschwitz geboren wurde, konnte ich nicht einmal schreien«Die Geschichte von Angela Orosz-Richt und ihrer Mutter Vera

»Ich habe sieben Babys in Auschwitz gestillt«Die Geschichte von Viktor Polschtschikow und seiner Mutter Anna

»Meine Mutter hatte große Angst um mein Leben«Die Geschichte von Władysław Osik und seiner Mutter Katarzyna

»So habe ich eine Familie und einen Namen bekommen«Die Geschichte von Barbara Wesołowska, ihrer mutmaßlichen Mutter Katja Kulik und ihrer Adoptivmutter Władysława Wesołowska

»Mehrere Mütter haben mich abwechselnd gestillt«Die Geschichte von Bogdan Chrześciański und seiner Mutter Henryka

»Ja, wir haben dich adoptiert«Die Geschichte von Jadwiga Teresa Wakulska, ihrer Mutter Karolina Pająk und ihrer Adoptivmutter Leokadia Worobiej

»Zeichen des Lebens in einer Zeit des Todes«Die Geschichte der Schwestern Eva Umlauf und Nora Sbornik sowie ihrer Mutter Agi Hecht

»Drei Jahre kämpften meine Eltern um mein Leben«Die Geschichte von Maciej Niewiadomski und seiner Mutter Leokadia Niewiadomska

»Ich sah wie ein bald an Hunger sterbendes Baby aus«Die Geschichte von Zofia Wareluk und ihrer Mutter Jadwiga Chyłkiewicz

»Zu meiner Milchschwester Angela habe ich bis heute Kontakt«Die Geschichte von György Faludi und seiner Mutter Erzsébet

»Zwillinge raus!«

Todesmärsche und andere Lager

Vom Leben danach

Anmerkungen

Abbildungsverzeichnis

Danksagung

Impressum

Angela Orosz-Richt (geborene Bein) wurde um den 21. Dezember 1944 in Auschwitz-Birkenau geboren.

Die in Auschwitz befreiten Babys und kleinen Kinder kannten die Vorstufen des Todes oft besser als das Leben. Unruhig und verzweifelt sind manche bis heute, weil sie nicht wirklich wissen und sich ständig fragen: »Wer bin ich?«, »Lebt meine Mutter noch?«, »Wo ist meine Schwester?«, »Wurde mein Vater tatsächlich vergast?«

Die Häftlingsnummer, am linken Unterarm, Oberschenkel oder Po eintätowiert, ist oft genug das Einzige, was Auskunft gibt: Auschwitz.

Die befreiten Mädchen und Jungen waren nur noch Haut und Knochen. Manche wussten nichts über ihre Herkunft. Fast alle waren Waisen. Sie trauten oft keinem Menschen mehr. Erwachsene waren für sie wie Kinder ohne jede Lebenserfahrung.

Überleben ist noch nicht leben, ist Zwischenzustand, bedeutete Leben lernen. Die befreiten Kinder mussten lernen, wieder jung zu werden, um wie die anderen Menschen altern zu können.

Bogdan Chrześciański im Alter von drei Jahren in Warschau. »Am 7. Januar 1945 kam ich in Auschwitz-Birkenau auf die Welt.«

Einleitung

Über die grausamen Verbrechen in Auschwitz ist vieles berichtet worden. Wenig bekannt ist die Geschichte der Kinder, vor allem die der Babys geblieben, die unter unvorstellbaren Bedingungen im größten Vernichtungslager Nazi-Deutschlands geboren wurden. Schwangere Frauen wurden in der Regel nicht in das Lager eingeliefert, sondern sofort getötet. Neugeborene und ihre Mütter, die am Leben blieben, waren große Ausnahmen. Überlebenschancen hatten insbesondere die Babys, die in den letzten Wochen, vor allem in den letzten Tagen vor der Befreiung, in Auschwitz auf die Welt kamen.1

Besonders die kleinen Kinder hatten nach ihrer Befreiung keinerlei Verhältnis zu den Dingen des täglichen Lebens. Sie kannten sie nicht. Tische dienten ihnen als Sitzgelegenheiten, Stühle als Wurfgeschosse, Essbestecke als Musikinstrumente. Sie wussten nicht, wie sie sich waschen sollten. Spiele waren ihnen fremd. Einige konnten gar nicht richtig gehen, bewegten sich nur im Gleichschritt fort, so wie sie es von den Lagerappellen gewohnt waren. Manche konnten sich nicht einmal an Mutter und Vater erinnern. Die Kinder waren auffallend reizbar. Ihre Stimmungen schwankten stark. Gegenüber ihrer neuen Umgebung verhielten sie sich lange misstrauisch. Wenn sie jemand verließ, setzten einige jüngere Kinder das mit dem Tod gleich – eine Erfahrung, die sie im Lager täglich hatten machen müssen.

Die Lebensfreude und Lebenslust neu oder wieder zu gewinnen, schien schwierig bis unmöglich. Alles konnte ständig ans Lager erinnern: Beim Ausziehen wurde automatisch die Kleidung nach Läusen abgesucht. Der Anblick von Uniformen löste Angst aus. Wer nicht genau hinsah oder wem es unmöglich war, in Richtung eines Uniformierten zu schauen, meinte immer, einen SS-Mann vor sich zu haben. Ein Gang durch ein Metalltor, das an die Tore der einzelnen Lagerabschnitte in Auschwitz-Birkenau erinnerte, ließ Panik entstehen. Der Klang einer unbekannten Sprache erinnerte an das Lager: Vielleicht kann ich den Befehl nicht verstehen und deshalb nicht ausführen, was den Tod bedeutet. Beim Haareschneiden kamen die Erinnerungen an die kahlgeschorenen Köpfe im Lager zurück. Metallgeschirr zu benutzen war unmöglich geworden – ebenso wie in langen Schlangen zu stehen. Zum Arzt gehen zu müssen löste Panikreaktionen bei den Kindern und Jugendlichen aus, die selber für medizinische Experimente im Lager missbraucht worden waren. Beim Reisen mit der Eisenbahn hatte man sofort die Deportationszüge vor sich.

Die Mädchen und Jungen lebten längere Zeit in Furcht, dass ihnen etwas entrissen wird: vor allem Essen und Kleidungsstücke. Essen zu verstecken gehörte zu ihrer Überlebensstrategie. Sie verteidigten es, als ginge es um ihr Leben. Denn im Lager hatte jeder noch so kleine Besitz einen unmessbaren Wert gehabt. Jeder kleine Kanten Brot hatte für ein, zwei oder mehr Tage das Weiterleben ermöglicht. Auch verdorbenes Essen durfte nicht weggeworfen werden. Entsprechende Forderungen von Erwachsenen, die nicht im Lager gewesen waren, wurden mit ungläubigen Blicken und entsprechenden Gedanken quittiert: »Ihr habt keine Ahnung vom wirklichen Leben!« Manche Kinder und auch Jugendliche vermieden zunächst jede Arbeit. Sie mussten mit ihren Kräften haushalten. Im Lager hatten sie gelernt: »Nur bei guter Gesundheit kann ich überleben.« Außerdem sagten sie sich: »Wir haben schon genug für die Deutschen gearbeitet.« Sich an die Regeln dieser Welt zu gewöhnen fiel schwer. Im Lager hatten sich alle geduzt. In der Freiheit war das anders. Offenbar waren äußere Höflichkeitsformen manches Mal wichtiger als wirkliche Anteilnahme und Herzlichkeit. Dabei genügte es doch, Essen und ein Dach über dem Kopf zu haben und zur Schule gehen zu können.

Viele Kinder hatten das Vertrauen in und zu den Menschen verloren. Und da war die Scham, von den schlimmen Erlebnissen mitunter nicht wirklich erzählen zu können. Andere, die keine Lagererfahrung hatten, hielten sie sowieso schon für »merkwürdig« und würden sie für noch »komischer« halten, wenn sie darüber berichteten. Wirklich verstanden fühlten sich die Kinder insbesondere von Menschen, die auch in Auschwitz oder anderen Lagern gewesen waren. Deshalb knüpften sie vor allem untereinander Kontakte. Ohne viele Worte verstanden sie sich oft sofort. Vor allem in den Nächten wurde Auschwitz wieder zur Realität: sich erinnern müssen, wie der Hunger den Magen umdreht. Sich erinnern müssen an die Kälte, die das Knochenmark durchdringt. Sich erinnern müssen an den Gestank von verbranntem Fleisch. Sich erinnern müssen an die Selektionen durch die SS, die einem Mutter und Vater, Schwester und Bruder, Großmutter und Großvater, Tanten und Onkel, Freundin und Freund nehmen. Angst davor haben, dass die eigene Nummer aufgerufen wird. In solchen Augenblicken spüren sie erneut den in Auschwitz allgegenwärtigen, jeden Augenblick drohenden Tod.

Diese Kinder wurden am 27. Januar 1945 in Auschwitz-Birkenau befreit.

Gedenksteine im ehemaligen Lager.

Als die Verfolgungen der in diesem Buch zu uns sprechenden Kinder von Auschwitz begannen, waren sie Säuglinge beziehungsweise Kinder im Alter von ein bis 13 Jahren. Als sie Sklavenarbeit leisten mussten oder zum ersten Mal in ein Zwangs-Ghetto beziehungsweise Lager eingesperrt wurden, waren sie alle im Kindesalter. Als sie in das Vernichtungslager Auschwitz oder in eines der Außenlager transportiert wurden, waren drei im Jugendalter, alle anderen 15 Jahre und jünger. Neun dieser Kinder wurden 1943, 1944 und 1945 in Auschwitz-Birkenau geboren.

Mehr als 1,3 Millionen Menschen wurden zwischen 1940 und 1945 nach Auschwitz deportiert. Darunter waren mindestens 1,1 Millionen Juden. Sie kamen unter anderem aus Ungarn, Polen, Frankreich, aus den Niederlanden, aus Griechenland, aus der Tschechoslowakei, aus Belgien, Deutschland, Österreich, Jugoslawien, Rumänien, Belarus, der Ukraine, Russland, Litauen, Lettland, Italien, Norwegen und Luxemburg.2

Das Lager Auschwitz bestand vor allem aus drei Hauptteilen: Auschwitz I, auch »Stammlager« genannt, Auschwitz-Birkenau, zweiter und größter Teil, und aus Auschwitz III (Monowitz), wo die IG Farbenindustrie AG (Hauptsitz Frankfurt am Main) unter anderem durch als Sklavenarbeiter eingesetzte Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz ein Werk zur Herstellung von synthetischem Gummi (»Buna«) und Treibstoffen errichtete. Hinzu kamen mehr als vierzig Außenlager unterschiedlicher Größe wie Blechhammer, Kattowitz oder Rajsko.

Auschwitz-Birkenau war maßgeblich der zentrale Ort, an dem die Vernichtung der europäischen Juden stattfand. Mindestens eine Million jüdische Babys, Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer ließen Deutsche verhungern, wurden von ihnen mit Giftspritzen direkt ins Herz getötet, durch pseudomedizinische Verbrechen ermordet, wurden erschossen, totgeschlagen oder vergast.3

Zwischen 70.000 bis 75.000 Polen, 21.000 Sinti und Roma, 14.000 sowjetische Kriegsgefangene und 10.000 bis 15.000 Entrechtete vieler Sprachen wurden in Auschwitz ermordet.4

Mindestens 232.000 Säuglinge sowie Kinder und Jugendliche im Alter bis einschließlich 17 Jahren wurden nach Auschwitz verschleppt. Allein 216.000 waren Juden, 11.000 Sinti und Roma, mindestens 3.000 waren Polen, mehr als 1.000 Belarussen, Russen, Ukrainer sowie Kinder und Jugendliche anderer Nationen.5

Am 27. Januar 1945 konnten in Auschwitz lediglich 750 Kinder und Jugendliche im Alter von unter 18 Jahren befreit werden. 521 waren 14 Jahre und jünger,6 darunter ungefähr sechzig Neugeborene, von denen mehrere kurze Zeit später an den Folgen von Auschwitz starben.7

Jürgen Rolf Loewenstein am Tag seiner Einschulung in den 1930er Jahren. »Ich war ein echter Berliner Junge.«

»Uns war sehr bange«

ROBERT JOSCHUA BÜCHLER kam am 1. Januar 1929 im westslowakischen Topol’čany zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt hatten in der 110 Kilometer von Bratislava entfernten Stadt etwa 12.000 Menschen ihr Zuhause. Ungefähr jeder fünfte Einwohner war Jude. »Die Vorfahren meines Vaters lebten seit ungefähr 200 Jahren in der Stadt. Meine Mutter kam aus dem dreißig Kilometer entfernten kleinen Dorf Oslany. Die Großmutter hatte Verkaufsstände auf dem Marktplatz in Topol’čany und auf den Plätzen der umliegenden Ortschaften. Das war ein richtiger Familienbetrieb. Von den dreizehn Kindern meiner Großeltern waren fünf Schneider so wie mein Großvater. Alles was verkauft wurde, stellten sie selber her. Als ich schon etwas älter war, half ich beim Verkauf. Das mochte ich sehr, das war eine große Attraktion für mich.«

JÜRGEN LOEWENSTEIN war ein echter Berliner Junge, der bei seinen Großeltern Berthold und Agathe Sochaczewer wohnte. Als die Nazis sie der Wohnung »verwiesen«, zogen sie ins Scheunenviertel im Zentrum Berlins, und zwar in die Grenadierstraße 4a (heute Almstadtstraße 49). »In der Grenadierstraße wohnten vor allem Juden, die aus Polen gekommen waren. Die meisten waren kleine Händler, Schneider oder Schuster. Überall gab es kleine Stuben, die als Synagogen dienten. Umgangssprache war Jiddisch.«

Für den Jungen änderte sich alles radikal Mitte der 1930er Jahre. Er sah zum ersten Mal einen Aufmarsch der »braunen Kolonnen«. Mit Fackeln, grölend und singend, marschierten sie durch seine Straße. Er öffnete das Fenster und konnte deutlich hören, was gesungen wurde: »Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, geht’s noch mal so gut.« Diese Zeilen sind ihm nie mehr aus dem Kopf gegangen. Seine Großmutter hatte sie mit angehört. Als das Nazilied noch nicht ganz verklungen war, riss sie ihn weg, schloss schnell das Fenster und sagte: »Jürgen, sieh dir diese Menschen genau an: Das sind deine Feinde. Vergiss das niemals.« – »Damals hörte meine Kindheit auf. Ich war noch keine acht Jahre.«

LYDIA HOLZNEROVÁ begegnete 1937 im tschechischen Sudetengebiet, das im Herbst 1938 von deutschen Truppen besetzt werden würde, erstmals einem Nazi. Ihre Familie befand sich zur Erholung in einem Kurort, durch den eines Tages junge NSDAP-Anhänger mit Trommeln und Pfeifen marschierten. »Also, das nicht! Wir fahren nach Hause«, war der Kommentar ihres Vaters. »Warum denn?«, fragte die Siebenjährige. »Und damals haben mir die Eltern erklärt, dass sich wahrscheinlich etwas in unserem Leben ändern wird.« Immer häufiger diskutierten Emil und Růžena Holzner, ob sie emigrieren sollten. »Ich blieb immer von solchen Gesprächen verschont. Ich wurde immer hinausgeschickt.« Lydia erinnerte sich daran, dass ihre Eltern ihre sieben Jahre ältere Schwester Věra in Sicherheit bringen wollten. Doch ihre Schwester wollte sich nicht wegschicken lassen. Sie sagte: »Ich bin hier zu Hause. Das ist meine Heimat, und hier bleibe ich.«

YEHUDA BACON war zehn Jahre alt, als deutsche Truppen seine tschechische Heimatstadt Ostrava im März 1939 besetzten. Wie wenig der Junge und andere Kinder kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges auf das vorbereitet waren, was auf sie und ihre Familien zukommen sollte, bezeugt ihr Verhalten beim Einmarsch der deutschen Truppen: »Bei der Einfahrt der Panzer standen wir Kinder am Straßenrand und haben bei jeder Gelegenheit die Panzer angefasst, denn wir hatten zu Hause gehört, dass es Kartonpanzer waren. Außerdem machte die feierliche Stimmung – wie es uns schien – und das Meer der Hakenkreuzfahnen auf uns einen tiefen Eindruck.« Nicht einmal im Traum hätte Yehuda vermutet, welche schreckliche Realität schon bald den Alltag nicht nur seiner Familie bestimmen sollte.

Damals marschierten deutsche Truppen auch im tschechischen Kutná Hora ein: Frühmorgens wurde die zehnjährige DAGMAR FANTLOVÁ von ihrem Vater Julius geweckt, und er sagte zu ihr: »›Wir haben die Republik verloren.‹ Dabei weinte er. Das war für mich etwas ganz Außerordentliches. Denn ich hatte meinen Vater noch nie weinen gesehen.« Dagmar stand auf und ging zur Schule. Dort war es wie immer. »Nur schlechtes Wetter hatten wir.« Als sie mittags nach Hause kam, erzählte ihr Vater von der Fahrt zu einem Patienten. Er fuhr mit seinem Auto auf der linken Seite. »So ist man damals noch bei uns gefahren.« Eine deutsche Kolonne kam ihm entgegen. Die fuhr rechts. Sie hielten ihn an und sagten ihm, dass er auf der rechten Straßenseite fahren müsse. Dagmars Vater kam »tief erschrocken« nach Hause.

JIŔÍ STEINER erinnerte sich zeit seines Lebens mit Schrecken an den Einmarsch der deutschen Soldaten (am 15. März 1939) in seine Heimatstadt Prag. Er und sein Zwillingsbruder Zdeněk waren zehn Jahre alt. Mit ihrer Mutter Jana waren sie allein zu Hause. Sie schauten auf die Straße, versteckten sich hinter den Gardinen, »damit man uns nicht sehen konnte«. »Mama begann zu weinen, und uns war sehr bange.«

Ende 1941 oder Anfang 1942 wurden die Juden im polnischen Sławków in einem Ghetto konzentriert. Von 18 Uhr bis sechs Uhr früh herrschte strikte Ausgangssperre. Der 14-jährige JANEK MANELA MANDELBAUM war in tiefer Sorge um seine Mutter. Sie versuchte, stark zu sein, sich um seinen Bruder und ihn zu kümmern: »Aber sie war aufs Äußerste beunruhigt – vor allem wegen meines Vaters und meiner Schwester«, die bei Verwandten wohnte. Auf ihren Vater hatte die Familie seit Sommer 1939 vergeblich gewartet. Er war bei ihrer Abreise in den Süden Polens in der Hafenmetropole Gdynia bei Gdańsk zurückgeblieben, hatte jedoch bald nachkommen wollen. – Eines Tages in der zweiten Juniwoche 1942 in Sławków, fünf Uhr früh: Es hämmerte an ihre und die Türen der anderen Juden: »Juden raus! Ihr habt fünf Minuten!« Schließlich wurde Janek von seiner Mutter und seinem Bruder getrennt. »Das war der schlimmste Moment in meinem Leben.«

ROBERT JOSCHUA BÜCHLER, der die jüdische Volksschule im slowakischen Topol’čany besuchte, durfte im September 1940 nicht mehr auf das örtliche Gymnasium gehen. Mit Beschluss vom 13. Juni 1939 hatte die slowakische Regierung jüdischen Schülern den Besuch von öffentlichen Schulen verboten.1 Die jüdischen Kinder durften nur noch jüdische Volksschulen oder Klassen besuchen. Die Jüdische Gemeinde in Topol’čany beschloss, die eigene Volksschule auf acht Klassen aufzustocken. Doch 1942 wurde das Schulgebäude beschlagnahmt. Der Unterricht hörte zunächst auf, wurde später jedoch – »für die von den Nazi-Aktionen verschont gebliebenen wenigen jüdischen Kinder« – im jüdischen Altersheim wieder aufgenommen. 1944 kam dann das endgültige Aus.2

Thessaloniki (Griechenland), 12. März 1943, es war ungefähr elf Uhr: Deutsche Militärpolizei forderte zahlreiche Juden der Stadt auf, ihre Sachen zu packen. HEINZ SALVATOR KOUNIO war 15 Jahre alt. Die Soldaten brachten ihn, seine ein Jahr ältere Schwester Erika sowie seine Eltern Helena und Salvator zunächst in den Stadtteil Baron Hirsch, in dem bereits viele Juden lebten, und der sich in der Nähe des Bahnhofs befand. Sonntag, 15. März: Um zwei Uhr nachts mussten sie sich auf deutschen Befehl hin auf dem zentralen Platz im Ghetto einfinden. Insgesamt waren sie ungefähr 2.800 Menschen:3 Babys, Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer. Zwei Stunden lang geschah nichts, Anspannung und Unruhe wuchsen mit jeder Minute. »Die Mütter versuchten, ihre weinenden Kinder zu beruhigen. Die Männer starrten nervös in die Dunkelheit.« Dann »hörten wir die Befehle bezüglich unserer Deportation«. In Fünferreihen mussten alle zum Bahnhof marschieren. »Da standen diese geschlossenen Viehwaggons.« Sie mussten mit ihrem spärlichen Gepäck, mehr war ihnen zur Mitnahme nicht erlaubt worden, in den Waggon klettern. »Es wurde enger und enger. Es waren so viele Menschen, dass wir uns nicht hinsetzen oder hinlegen konnten. Nicht einmal für fünf Minuten.«

Als kleiner Junge hörte GÉZA SCHEIN die Erwachsenen vom Krieg reden. Die Scheins lebten auf der ungarischen Donau-Insel Csepel. Um die Jahreswende 1943/44 verbreitete sich in der Familie die Nachricht, dass Deutsche Juden aus anderen Ländern Europas in Konzentrationslager abtransportierten. Diskussionen begannen. Sollte die Familie so wie andere auch in die USA oder nach Südamerika auswandern? Doch sie fühlte sich nicht unmittelbar bedroht. Bis zum 19. März 1944, als deutsche Truppen das Land okkupierten. Im Mai kamen »ungarische Gendarmen« und forderten die Familie auf, die Sachen zu packen und mitzukommen. Der elfjährige Géza wurde im Juli mit seinen Eltern und Großeltern mütterlicherseits in einen Viehwaggon gepfercht.

Für Familie Bacon aus dem tschechischen Ostrava setzte sich der Zug – wie für viele andere jüdische Familien – im September 1942 in Bewegung. Sie wurden zunächst im Lagerghetto Theresienstadt eingesperrt. In dem Transport befanden sich der 13-jährige YEHUDA BACON, sein Vater Isidor, seine Mutter Ethel und seine 19-jährige Schwester Hanne. Rella, Yehudas zweite Schwester, war 1939 nach Palästina ausgewandert. Vor dem Abtransport herrschte bei ihnen, wahrscheinlich in allen Familien, die verschleppt werden sollten, Chaos. Da sie nicht mehr als fünfzig Kilogramm Gepäck nach Theresienstadt mitnehmen durften, fragte sich die Familie zum Beispiel: Was sollen wir mitnehmen? Wo sollen wir unser Eigentum verstecken? Wird diese oder jene Frau uns später die Sachen wieder zurückgeben? Sie badeten zum letzten Mal in ihrer Wohnung, legten sich in ihre Betten und fragten sich: Wo und worauf werden wir morgen schlafen? Am nächsten Morgen zog Yehuda alle seine neuen Sachen an, und das doppelt und dreifach. Drei Paar Strümpfe, zwei Hemden, Sweater, Wintermantel. Und überall hatte der Junge besondere Taschen, in denen er alles Mögliche verwahrte.

Wenn im Zug einer der deutschen Wachsoldaten vorbeikam, mussten alle aufstehen und die Kopfbedeckung abnehmen. 1947 protokollierte Yehuda Bacon in seinen Notizen die Szene so: »Was ist hier los? Wie heißt du? Joachim Krummholz. Batz, batz. Wie? Joachim Israel Krummholz. Wie? Du weißt es nicht? Bumm. Stinkjude Israel Krummholz, verstanden?! Jawohl, ich heiße Stinkjude Israel Krummholz. Hier können wir ersticken, geh die Fenster aufmachen! Wehe, wenn jemand die Fenster aufmacht, verstanden?! Hast du Wasser? Ich halt das schon nicht mehr aus.«

ELSE SCHMIDT4 kam vor ihrem ersten Geburtstag in die Hamburger Pflegefamilie von Auguste und Emil Matulat. Ihre leibliche Mutter ist Sintizza, wie das Mädchen Jahre später erfahren sollte. Als Else sieben Jahre alt war, wurde sie gegen vier Uhr morgens von ihrer Pflegemutter geweckt. »In unserem Haus sah ich zwei mir unbekannte Männer in langen Ledermänteln stehen. Sie verlangten, ich solle mit ihnen kommen. Mein Pflegevater war nicht zu Hause. Er war Hafenarbeiter und hatte Nachtschicht. Das war im Frühjahr 1943.« Die Männer stiegen mit Else in die Straßenbahn und brachten sie zu einer großen Halle, die sich im Hafen befand. »Dort waren schon viele Sinti und Roma.« Alle sollten nach Auschwitz-Birkenau deportiert werden. Eine der leiblichen Töchter von Auguste und Emil Matulat fuhr so schnell sie konnte zum Hafen, um ihren Vater zu Hilfe zu holen. »Mein Pflegevater ist sofort zu dieser Halle gegangen. Es gelang ihm irgendwie, mich freizubekommen«, was eine sehr, sehr große Ausnahme war. Auf dem Rückweg sagte Emil Matulat zu Else: »Vergiss das Ganze schnell wieder.«

HEINZ SALVATOR KOUNIO befand sich im März 1943 mit seiner Schwester Erika und seinen Eltern Helene und Salvator Kounio in einem Viehwaggon-Zug, der erstmals, nachdem sie in Thessaloniki abgefahren waren, nicht weit von der Grenze zwischen Griechenland und Serbien stoppte. Stunden um Stunden mussten sie warten. Die ganze Nacht und noch den folgenden Tag. Bis zur Dämmerung. Obwohl vor allem die kleinen Kinder ständig »nach Wasser, Wasser schrien«, wurden die Waggontüren nicht geöffnet. Auch die viel zu kleinen Eimer, in denen sie ihre Notdurft verrichten sollten und »die viele aufgrund der Enge gar nicht erreichen konnten«, wurden nicht geleert. »Es war schrecklich. Die vielen Fragen, die einem durch den Kopf sausten und unbeantwortet blieben. Die Alpträume in der Nacht. Die unaufhörlichen und alles durchdringenden Schreie der jüngeren Kinder.«

Am 5. September 1943 wurde die aus Prag stammende Familie Steiner in Viehwaggons verladen. »Immer sechzig bis siebzig Personen samt Gepäck in einem Waggon.« Nach drei Tagen kamen sie in Auschwitz an: Die Zwillingsbrüder JIŔÍ und ZDENĚK STEINER, gemeinsam mit ihren Eltern Jana und Pavel. Als sie auf dem Bahnhof standen, ohne dass die Türen geöffnet wurden, flog plötzlich ein kleines Päckchen durch die Luke. Sie waren erschrocken. Als sie es auspackten, befand sich darin ein Stück Salami. »Es war von einem deutschen Soldaten, der den Transport begleitet hatte.« Dann holte sie die SS brutal aus den Waggons. Sie wurden in zwei Gruppen geteilt: Frauen, Mädchen und kleine Kinder auf eine Seite, Männer und größere Jungen auf die andere Seite. In Fünferreihen mussten sie in einer langen Kolonne antreten. Angetrieben durch Stockschläge der SS mussten die jüdischen Kinder, Frauen und Männer gut drei Kilometer marschieren. Dann sahen sie hinter Stacheldrahtzäunen Menschen in gestreiften Anzügen, ohne Haare. Zuvor hatte es geheißen, sie müssten irgendwo im eigenen Land »irgendeine Arbeit verrichten«. Nun befanden sie sich in Auschwitz-Birkenau.

Dagmar und ihre drei Jahre jüngere Schwester Rita. Zusammen mit Mutter Irena und Vater Julius Fantl wurden sie 1943 nach Auschwitz deportiert. Nur Dagmar überlebte.

Mitte Dezember 1943: Die Familie Fantl zog, so wie andere jüdische Familien, viele Kleidungsstücke doppelt an. Als Gepäck durften sie jeweils zwanzig Kilogramm mitnehmen. In der Ecke des Viehwaggons stand ein Eimer, in den sie ihre Notdurft verrichten mussten. DAGMAR FANTLOVÁ war inzwischen 14, ihre Schwester Rita elf Jahre alt. Als der Transport in Auschwitz eintraf, schaute jemand hinaus und sagte: »Wir sind in Auschwitz.« Diesen Namen hatte Dagmar schon einmal irgendwo gehört, wusste aber nicht, was sich dahinter verbarg. »Ein schreckliches Gefühl« kroch in dem Mädchen hoch. Auch YEHUDA BACON und seine Familie kamen erneut in Viehwaggons, die versiegelt wurden: »Wie die Versiegelung eines Lebendigen in einem Sarg«. Sie wurden wie »Vieh« behandelt, »das zum Schlachten gebracht wurde«.

Eines Tages im April des Jahres 1944 hieß es im slowakischen Vel’ký Meder: »Alle Juden müssen sich melden, alle werden weggeschickt.« Zu Fuß mussten die Juden von Vel’ký Meder zum Bahnhof marschieren, der am Rand der Stadt lag. Unter ihnen befand sich der 15-jährige EDUARD KORNFELD. Etwas abseits vom Eingangsgebäude wartete ein extra bereitgestellter Zug auf sie. »Nur wenig haben wir mitnehmen dürfen, etwas Kleidung und Lebensmittel.« Alles andere hatten sie zurücklassen müssen: Geschäfte, Höfe, Häuser, Möbel, Kühe, Hühner, Ziegen. Der Zug brachte sie in das rund dreißig Kilometer entfernte Komárno. Die Juden wurden mit der jüdischen Bevölkerung der Umgebung sowie den übriggebliebenen Juden von Komárno in die Festung der Stadt aus dem 16. Jahrhundert eingesperrt. »Insgesamt müssen das um die 4.000 Menschen gewesen sein. Dort gab es kein Entkommen mehr. Es gab nichts zum Essen, keine Betten, nichts. Wir mussten auf dem nackten Boden schlafen.« Nur einmal am Tag kam ein Feuerwehrauto, und sie durften sich Wasser holen.

Ab Mitte Juni 1944 wurden die von und nach Komárno gebrachten Juden in zwei Transporten verschleppt. Darunter befanden sich auch zwei Onkel Eduards mit ihren Familien. »Der eine hatte sechs Kinder, der andere acht.« Nur eines der Kinder sollte am Leben bleiben. Stehend fuhren sie in dem »völlig überfüllten Viehwaggon«. Im rund 350 Kilometer entfernten Košice machte der Zug einen Halt auf dem Bahnhof der Stadt. Unter Bewachung durften sie austreten. Eduard sah eine Chance zu fliehen, wollte sich schnell unter die Menschen dort mischen. Noch einmal, zuvor hatte er bereits einen Versuch in Vel’ký Meder unternommen, forderte er das zwei Jahre jüngere jüdische Mädchen, in das er sich so sehr verliebt hatte, auf: »Komm, lass uns irgendwie untertauchen.« Aber sie wollte noch immer nicht. Also blieb Eduard bei ihr.

26. Juni 1944: Die noch nicht deportierten jüdischen Kinder, Frauen und Männer im ungarischen Békéscsaba wurden »einwaggoniert«. »Zuvor waren die meisten schon mit unbekanntem Ziel abtransportiert worden.« 85 bis 95 Menschen kamen in einen Viehwaggon. »Mit einem Eimer Trinkwasser und einem Eimer für die Notdurft.« In dem Transport befanden sich neben dem 14-jährigen GÁBOR HIRSCH sieben nahe Verwandte: seine Mutter Ella (48 Jahre), seine Großmutter Gizella (81), seine Tante Malvin (40) mit ihrem Sohn Tibor (15), seine andere Tante Rozsi (33) mit ihren Söhnen Jószef (sieben) und dem erst drei Monate alten Baby Péter. »In unserem Waggon sind während der Fahrt Menschen gestorben. Wie viele? Ich weiß es nicht.«

Seinen und den zwölften Geburtstag seines Zwillingsbruders FERENC konnte OTTO KLEIN nie vergessen. Sie hatten herausgefunden, dass im Haus eines christlichen Nachbarn im ostungarischen Hajdúböszörmény der Radiosender BBC gehört wurde. Der englische Hörfunksender strahlte mehrmals täglich Nachrichten aus. Eines der Fenster des Hauses grenzte an das Ghetto und war außen mit Brettern vernagelt worden. Doch wenn die Nachbarn »absichtlich, wie ich annehme«, das Fenster nach innen offen ließen, drangen Geräusche und Stimmen durch die Bretter nach draußen. Es war der 7. Juni 1944, als Otto und Ferenc ihre Ohren an die vernagelten Fenster pressten. Sie hörten die Nachricht von der tags zuvor angelaufenen erfolgreichen Invasion der Alliierten in der Normandie. Sie machten sich große Hoffnungen: »Würde der Krieg bald beendet sein?«

Mitte September 1944 im slowakischen Topoľčany: ROBERT JOSCHUA BÜCHLER war 15, seine Schwester Ruth elf Jahre. »Wir wussten, dass auch wir früher oder später an die Reihe kommen.« Der Junge hatte schon oft gesehen, dass Verwandte und Schulfreunde verschwanden. »Was mich störte war: ›Warum müssen wir die Letzten sein?‹ Es wurde gesagt, ›die Juden würden in Arbeitslager kommen‹.« Robert stellte sich das Lager so vor, wie er es über die Lager der Goldsucher in Alaska gelesen hatte. Er machte sich keine besonderen Sorgen. So fanden Robert, seine Schwester Ruth und andere Kinder die »Reise« anfangs »noch amüsant«. »Wir lagen auf dem Stroh, das auf dem Boden verstreut war.«

Nachdem der Zug ungefähr 24 Stunden unterwegs war, fanden die Jungen das alles nicht mehr so komisch. Es regnete aufs Dach. Alle waren müde. Es war eng im Waggon. Und immer, wenn der Zug anhielt, sprangen alle auf und drängten sich zu der kleinen mit Stacheldraht verschlossenen Öffnung, die sich nahe des Waggondaches befand. Irgendjemand stieg auf einen Koffer, blickte hinaus und berichtete, was zu sehen war. Und jeder fragte sich: »Sind wir da?« Die Tür wurde aufgerissen. Robert spürte »frische feuchte Luft«. Ein SS-Mann mit einem Totenkopf auf dem Helm »bellte uns an«: »Alles aussteigen! Das Gepäck bleibt im Wagen!« Sie befanden sich »mitten in der Hölle« von Auschwitz-Birkenau: Robert und sein Vater Josef Büchler kamen in eine der Holzbaracken des ehemaligen »Zigeuner-Familienlagers«. Eineinhalb Monate zuvor waren die dort zu diesem Zeitpunkt noch befindlichen letzten 4.200 bis 4.300 Sinti und Roma vergast worden.5

Eva Umlauf (geborene Hecht) wurde am 19. Dezember 1942 im Lager Nováky geboren.

Agi und Imro Hecht waren am 15. Juli 1942 aus dem slowakischen Trenčín, ihrem Wohnort, zunächst in das Lager Žilina und von dort am 17. Oktober ins Lager Nováky deportiert worden. Es war eine der Zwischenstationen für slowakische jüdische Kinder, Frauen und Männer in die Vernichtungslager – unter anderem nach Auschwitz-Birkenau. Agi Hecht war schwanger. An einem bitterkalten Tag, am 19. Dezember 1942, kam ihre Tochter Eva Hecht auf die Welt. Das fast zweijährige Mädchen und ihre Eltern wurden aus dem Lager Sereď, in das sie in der Zwischenzeit »verlegt« worden waren, am 2. November 1944 nach Auschwitz-Birkenau transportiert. Ohne Selektion, die Vergasungen hatte die SS wahrscheinlich gerade eingestellt, wurden sie in das Lager eingewiesen. Eva sah ihren Vater zum letzten Mal. Es folgte die äußerst schmerzhafte Aufnahmeprozedur mit Tätowierung. »Ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder regelmäßig atmete und die normale Gesichtsfarbe zurückgekehrt war, brannte auf meinem Arm die Nummer A-26959.«6

»Der oberste Zweck war Vernichtung«

Im Oktober 1939 wurde die von Nazi-Deutschland okkupierte polnische Stadt Oświęcim unter dem deutschen Namen Auschwitz in das Deutsche Reich »eingegliedert«. Zwischen 19 Uhr abends und sechs Uhr morgens durfte sich niemand mehr draußen aufhalten. Bei Zuwiderhandlung drohte Erschießung. Alle Juden, die älter als zehn Jahre alt waren, mussten am linken Arm eine weiße Binde mit dem Davidstern tragen. Die jüdischen Geschäfte und Fabriken wurden gesperrt, von deutschen Truppen völlig ausgeplündert und kurze Zeit später den jüdischen Besitzern weggenommen. Auch alle Wertgegenstände aus Synagogen und jüdischen Haushalten wurden beschlagnahmt. Juden durften ihre Berufe nicht mehr ausüben. Stattdessen mussten sie Zwangsarbeit leisten. Eine der Folgen war die völlige Verarmung der jüdischen Bevölkerung von Oświęcim innerhalb kurzer Zeit.1

Schon lange bildeten Juden die Mehrheit der Bevölkerung von Oświęcim. 1939 lebten zwischen 7.000 und 8.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer in der Stadt, was einem Bevölkerungsanteil von gut 58 beziehungsweise 66 Prozent entsprach.2 – Juden waren seit fast 500 Jahren in Oshpitzin ansässig, wie Oświeçim auf Jiddisch heißt. Zahlreiche Synagogen und Gebetshäuser waren in dieser Zeit entstanden. Die Große Synagoge wurde bereits Ende des 16. Jahrhunderts gebaut. Infolge eines großen Stadtbrandes wurde sie 1863 zerstört, jedoch schon bald noch prächtiger wieder aufgebaut. Mindestens 1.000 Gläubige fanden darin Platz.3 – Deutsche Besatzer brannten die Große Synagoge in der Nacht vom 29. auf den 30. November 1939 nieder. Die den jüdischen Friedhof umgebende Mauer ließen sie abtragen und bauten auf dem Friedhof einen Bunker und einen Luftschutzraum. Einen Teil der Grabsteine schafften die Nazis zum Fluss Soła, damit sie mit ihren Pferden zum Tränken einfacher zum Wasser gelangen konnten. Andere Grabsteine wurden für den Straßenbau verwendet.4

Im April 1940 fiel die Entscheidung der NS-Behörden, am Rande der Stadt, rund zwei Kilometer von der Altstadt entfernt, ein Konzentrationslager für zunächst 10.000 Häftlinge zu installieren. Von Auschwitz aus sollten die dorthin verschleppten Polen auf die bereits bestehenden Konzentrationslager im »Reichsinneren« verteilt werden.5 Auf dem Gelände des zukünftigen Lagers standen bereits sowohl gemauerte Gebäude als auch Holzbaracken, die zuvor unter anderem von der polnischen Armee genutzt worden waren.6

Für die Säuberung des Areals und erste Reparaturen setzten die deutschen Besatzer zunächst rund zwanzig in der Nähe wohnende polnische Arbeiter, insbesondere aber 300 Juden aus der Stadt ein. In der zweiten Maihälfte des Jahres 1940 wurden dreißig als kriminell kategorisierte Häftlinge aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen nach Auschwitz gebracht. Sie erhielten die Nummern 1 bis 30 und sollten in den Arbeitskommandos der Häftlinge als verlängerter Arm der SS fungieren. Einige Tage später trafen weitere 39 von einem deutschen Kapo geführte polnische Entrechtete aus dem Konzentrationslager Dachau in Auschwitz ein. Es handelte sich zumeist um junge Männer, Gymnasiasten, die ursprünglich aus Łódź stammten. Zur Einzäunung des Lagers hatte das »Kommando« einen Waggon Stacheldraht mitgebracht. Auschwitz I, das »Stammlager«, entstand.7

Am 14. Juni 1940 traf der erste große Transport in Auschwitz ein. 728 Polen, politische Häftlinge aus dem Gefängnis in Tarnów, wurden eingeliefert, darunter viele junge Männer.8 Einer von ihnen war KAZIMIERZ ALBIN, Gymnasiast aus Krakau, 17 Jahre. Er wurde Häftling Nummer 118. Bei dem Versuch, über die Grenze in die Slowakei zu kommen, um sich in Ungarn beziehungsweise in Frankreich der sich neu formierenden polnischen Armee anzuschließen, war er von der SS festgenommen worden. Es folgten Verhöre, Schläge und blutige Folter. Viele der Häftlinge waren Studenten und Oberschüler. Sie hatten sich wie Kazimierz Albin dem polnischen Widerstand gegen die deutschen Okkupanten angeschlossen.9

Mit unheimlichem Gebrüll und Schlägen wurden sie in Auschwitz »empfangen«. Zum Beispiel SS-»Hauptsturmführer« Fritsch ließ keinen Zweifel daran, was der eigentliche Zweck des Konzentrationslagers Auschwitz war: »Junge und Gesunde haben hier nicht länger als drei Monate zu leben, Priester einen Monat, Juden zwei Wochen. Der Weg aus dem Lager führt nur über den Schornstein des Krematoriums.«10 – Nach dem Transport von Mitte Juni 1940, in dem sich Kazimierz Albin befand, folgten in den nächsten Wochen weitere Verschleppungsaktionen aus den südlichen Gebieten Polens nach Auschwitz. Weitere große Transporte mit 1.666 beziehungsweise 1.705 Entrechteten trafen am 15. August und 22. September aus Warschau in Auschwitz ein.11

Jerzy Adam Brandhuber: »Eine Schüssel Suppe.« In Auschwitz »wusste man am Morgen nicht, ob man am Abend noch leben, und abends wusste man nicht, ob man noch den nächsten Morgen erleben würde.«

Bevor Auschwitz zu der Mordstätte der europäischen Juden durch Deutsche wurde, war es ein Konzentrationslager vor allem für Polen.12 Bei den zunächst hier festgesetzten Menschen handelte es sich oft um Angehörige der Eliten der polnischen Gesellschaft: um Anwälte, Ärzte, Künstler wie Bronisław Czech, Xawery Dunikowski oder Mieczysław Kościelniak, Lehrer, Offiziere, Pfadfinder, Politiker, Wissenschaftler …13 – Menschen also, die in der Lage waren, Widerstand gegen die deutschen Okkupanten zu organisieren.

Die Lebensbedingungen für die Häftlinge waren bereits in der Frühphase des Lagers so angelegt, dass keiner der Verschleppten Auschwitz lebend wieder verlassen konnte. Der polnische Historiker und langjährige Mitarbeiter der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, Franciszek Piper, fasst seine jahrzehntelangen Forschungsergebnisse mit den Worten zusammen: »Der oberste Zweck und das primäre Ziel des Konzentrationslagers Auschwitz von seiner Errichtung im Frühjahr 1940 bis zum letzten Tag seines Bestehens im Januar 1945 war Vernichtung. Alle anderen Aufgaben und Ziele, wie etwa die Ausbeutung der Arbeitskraft der Häftlinge, der Raub der Habe der Opfer, die Nutzung der Leichen oder die Durchführung von medizinischen Experimenten, waren demgegenüber von sekundärer Bedeutung.«14

Im Verlauf des Jahres 1941 beschlossen die Nazis, Auschwitz I für 30.000 Menschen zu erweitern. Außerdem sollte rund drei Kilometer vom »Stammlager« entfernt auf dem Gebiet des Dorfes Brzezinka, jetzt Birkenau genannt, Auschwitz II, ein Lager für 100.000 Menschen entstehen. Spätere Planungen sahen für Auschwitz-Birkenau einen Ausbau für 200.000 Menschen vor.15 Die Errichtung von Auschwitz I hatte zur Folge, dass die in der Umgebung lebende polnische Bevölkerung, darunter viele Juden, »ausgesiedelt« wurde. Dieser Prozess fand mit der Errichtung von Auschwitz-Birkenau seine gewaltsame Fortsetzung: Mehrere Dörfer wurden komplett entvölkert.16

JOSEF JAKUBOWICZ, 13-jähriger Spross einer ortsansässigen jüdischen Familie, wurde zwangsverpflichtet. Er musste beim Abriss des eigenen Dorfes helfen, in dem seine Familie ein Haus besaß. In Brzezinka hatten zuvor rund 1.500 Einwohner gelebt. Der Ort bestand aus Bauernhöfen und der Schule. Vor der Aussiedlung war es »üblich, dass die jüdischen Kinder neben der regulären Schule auch noch die jüdische Schule besuchten. Vormittags hatten wir normalen Unterricht und nachmittags von drei bis sieben Uhr hebräische Schule, also Religion und hebräische Sprache. […] In Auschwitz gab es auch ein jüdisches Gymnasium, eine Privatschule. Sie umfasste vier Klassen, man konnte sie bis zum Lyzeum besuchen. Die Oberstufe musste man dann in Kattowitz oder Krakau ablegen, wo man das Abitur machen konnte.«17

Holzbaracke vom Typ »Pferdestall« in Auschwitz-Birkenau. Diese war ursprünglich für 52 Pferde konzipiert worden. Bis zu 1.000 Kinder, Frauen und Männer, manchmal auch mehr, mussten darin hausen.

Anfang April 1941 wurden über 5.000 Juden von Oświęcim zwangsweise in Transporte gesteckt, die sie nach Sosnowiec, Będzin und Chrzanów brachten. Hier mussten sie in Ghettos hausen. Von dort wurden im Verlaufe vor allem der Jahre 1943 und 1944 die bis dahin noch am Leben gebliebenen Juden unter anderem in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Sehr wenige der ehemaligen jüdischen Einwohner der Stadt sollten die Shoah überleben. Die Eltern von Josef Jakubowicz, ein Großvater, seine drei Schwestern – zwei von ihnen verheiratet –, deren Männer und Kinder wurden alle ermordet. Nur Josef Jakubowicz wurde im April 1945 aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit.18

Auch waren katholische Polen von der Deportation bedroht. Die Einwohnerzahl der Stadt halbierte sich infolge der Verschleppungen im Frühjahr 1941 auf ungefähr 7.600 Einwohner. Davon waren etwa neunzig Prozent Polen sowie zehn Prozent Deutsche und »Deutschstämmige«. Bis Oktober 1943 sollten mehr als 6.000 »Reichsdeutsche« ihren Wohnsitz nach Auschwitz verlegen. Durch Industrialisierung einhergehend mit »Germanisierung« sollte die Bevölkerung im »Idealplan« vom Januar 1943 gar auf 70.000 bis 80.000 Menschen anwachsen. Das entvölkerte und beschlagnahmte Gebiet umfasste eine Fläche von vierzig Quadratkilometern. Das »Interessengebiet« wurde zum »Sperrgebiet« erklärt.19

Ungefähr 10.000 sowjetische, als »Kriegsgefangene« deklarierte Jugendliche und Männer sollten das Lager Birkenau bauen. Ab Juli 1941 wurden sie nach Auschwitz deportiert und im »Stammlager« ab Oktober in einem abgetrennten Areal untergebracht. Unter diesen Gefangenen befanden sich 18 Jugendliche im Alter von 16, 17 und 18 Jahren sowie ein 15-jähriger Junge und zwei im Alter von elf Jahren. Die sowjetischen »Kriegsgefangenen« wurden fast alle ermordet. Am 1. März 1942 waren nur noch 945 von ihnen am Leben. Insgesamt kamen bis Ende Januar 1942 infolge von Erschießungen, Hunger, Erhängen, unmenschlich schwerer Arbeit, Krankheiten, Prügel, Erfrierungen und »Probevergasungen« mit dem Giftgas Zyklon B in Block 11 (zu diesem Zeitpunkt Block 13) und im Krematorium I des »Stammlagers« insgesamt 20.500 im Konzentrationslager Auschwitz registrierte Menschen ums Leben.20

Auschwitz-Birkenau wurde zu dem Ort der zentralen Vernichtung der europäischen Juden durch Deutsche. Jüdische Kinder und ihre Familien wurden hierher seit den ersten Monaten des Jahres 1942 aus einem einzigen Grund verschleppt: Sie waren Juden. Schon in den ersten Transporten nach Auschwitz befanden sich Kinder, vor allem in den Transporten aus der Slowakei. 656 jüdische Jugendliche und Kinder wurden allein im Zeitraum vom 17. April bis 17. Juli 1942 nach Auschwitz-Birkenau verschleppt. Und in den weiteren Transporten aus der Slowakei waren viele Mädchen und junge Frauen. So trafen am 25. März 999 Jüdinnen aus Poprad im Lager ein: 116 im Alter von 16 und 17 und ein Mädchen im Alter von 14 Jahren.21

Die Massenvergasungen mit Giftgas begannen im Frühjahr 1942 – in Auschwitz-Birkenau zunächst in zwei umgebauten Bauernhäusern mit Gaskammern: Bunker 1 (wegen der Ziegelsteinwände von den Entrechteten das »Rote Häuschen« genannt) und Bunker 2 (der wegen der verputzten Außenwände das »Weiße Häuschen« hieß). – Jüdische Häftlinge, das »Sonderkommando«, mussten zunächst die Leichen in Massengräbern verscharren, später diese wieder ausgraben und sie auf Holzstößen beziehungsweise in dafür ausgehobenen Gruben verbrennen. Dabei wurde das Leichenfett aufgefangen und zur Entfachung des Feuers verwendet. Mehr als 100.000 Leichen wurden von September bis Ende November 1942 ausgegraben. Die Asche der verbrannten Menschen wurde abgefahren und in die Weichsel und Soła gekippt. Die Spuren der Massenvernichtung sollten verwischt werden.22

Yehuda Bacon: »Muselmann«. So wurden die halb verhungerten Menschen im Lager genannt. Sie waren dem Tod näher als dem Leben.

Schließlich nahmen zwischen März und Juni 1943 vier weitere für den Massenmord errichtete Krematorien mit den darin befindlichen Gaskammern den »Betrieb« auf. Die Öfen hatte die Firma Topf und Söhne aus Erfurt eingebaut. In den insgesamt fünf Krematorien konnten jetzt innerhalb von 24 Stunden 4.756 Leichen verbrannt werden. Aussagen von Häftlingen des »Sonderkommandos« zufolge konnte die »Verbrennungsleistung« der Krematorien jedoch auf etwa 8.000 Leichen pro Tag »gesteigert« werden.23

Ab 1942 endeten die Transporte der zur Massentötung vorgesehenen Menschen auf einem Gleis beim Güterbahnhof, etwa zwei Kilometer von Auschwitz-Birkenau entfernt. Ab Mai 1944 führte ein Gleis direkt in das Lager und brachte die verschleppten Menschen bis in die Nähe der Krematorien II und III.24 Hier nahmen vor allem SS-Ärzte die Selektionen vor. Sie alle dienten »nahezu ausschließlich der Ausrottung der Häftlinge«. Aber auch Apotheker, Sanitäter und Zahnärzte nahmen Selektionen vor.25 Die nach ihrer Meinung zur »Arbeit Tauglichen« und deshalb vorläufig am Leben gelassenen wurden von den Alten und Invaliden, von Schwangeren und Kindern getrennt. Nach willkürlichem Ermessen stufte man etwa achtzig Prozent der Menschen, aber auch nach wie vor ganze Transporte als »arbeitsunfähig« ein. Unter Bewachung wurden die Menschen zu Fuß oder auf Lastwagen von der SS zu einem der Krematorien gebracht, wo sie sich ausziehen mussten. Unter dem Vorwand, geduscht zu werden, brachte man sie in als Duschräume getarnte Gaskammern, wo die Eingeschlossenen durch das eingeworfene Giftgas Zyklon B einen ungefähr zehn bis zwanzig Minuten dauernden qualvollen Erstickungstod erleiden mussten. Ihre Leichen mussten vom »Sonderkommando« in den Krematorien und in ausgehobenen Erdgruben verbrannt werden.26

Das Furchtbarste vom Furchtbaren, die Arbeit in den Krematorien mit den Vergasungsanlagen sowie an den Scheiterhaufen und Verbrennungsgruben, mussten die Männer des »Sonderkommandos« unter Zwang der SS »ausführen«. Dabei handelte es sich um Juden, die von den anderen Häftlingen in Auschwitz-Birkenau streng isoliert untergebracht waren. Die SS zwang die Männer des »Sonderkommandos« unter Todesandrohung, den toten Frauen die Haare abzuschneiden, den Vergasten die Goldzähne herausbrechen und die Leichen nach möglicherweise versteckten Wertsachen zu durchsuchen. Danach mussten sie die Ermordeten zu den Verbrennungsöfen schleppen und in die Öfen schieben und schließlich, immer den eigenen Tod vor Augen, die nicht vollständig verbrannten Knochen zertrümmern, die Asche abfahren und in die Flüsse Soła und Weichsel kippen – immer unter von der SS ausgeübter psychischer und körperlicher Gewalt.27

See in Auschwitz-Birkenau, vollgeschüttet mit der Asche von unzähligen getöteten Neugeborenen, Kindern, Frauen und Männern.

»Wir [vom Sonderkommando] waren die einzigen«, so JAACOV GABAI (Häftlingsnummer 182569), »die die Tragödie der Juden mit eigenen Augen sahen.«28