Sei nicht traurig, kleine Jenny - Aenne Bodmann - E-Book

Sei nicht traurig, kleine Jenny E-Book

Aenne Bodmann

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Beschreibung

Die Familie ist ein Hort der Liebe, Geborgenheit und Zärtlichkeit. Wir alle sehnen uns nach diesem Flucht- und Orientierungspunkt, der unsere persönliche Welt zusammenhält und schön macht. Das wichtigste Bindeglied der Familie ist Mami. In diesen herzenswarmen Romanen wird davon mit meisterhafter Einfühlung erzählt. Die Romanreihe Mami setzt einen unerschütterlichen Wert der Liebe, begeistert die Menschen und lässt sie in unruhigen Zeiten Mut und Hoffnung schöpfen. Kinderglück und Elternfreuden sind durch nichts auf der Welt zu ersetzen. Genau davon kündet Mami. Constanze Hermann strich sich die blonden Locken aus der Stirn. Ihre Wangen waren vom schnellen Laufen gerötet. Vorsichtig schaute sie hinüber zu der großen Normaluhr, die im Vestibül des Hotels »Zum goldenen Anker« die Angestellten zur Pünktlichkeit mahnte. Zwei Minuten vor acht, sie hatte es wieder einmal geschafft. Aufatmend setzte sie sich an ihren Arbeitsplatz. Constanze war Empfangssekretärin in dem renommierten Hotel, obwohl sie gerade erst einundzwanzig Jahre alt war. Ihre guten Zeugnisse und Empfehlungen, die sie vorweisen konnte, hatten ihr diese begehrte Stellung verschafft. Vielleicht hatten auch ihre hübsche Erscheinung und ihr offenes, freundliches Wesen eine gewisse Rolle bei der Einstellung gespielt. Die Hotel­eigentümerin, Dorothea Klinger, war nämlich der Meinung, daß die Rezep­tion immer von einer hübschen und gescheiten Person besetzt sein sollte. Der erste Eindruck, den die Gäste beim Betreten der Hotelhalle hatten, war so wichtig für das Ansehen des ganzen Hauses. Eckehard Braun, Hotelkaufmann und rechte Hand der Direktorin, schlenderte mit spitzbübischem Gesicht vorbei. »Na, Conni, konntest du mal wieder nicht aus den Federn kommen?« neckte er das junge Mädchen. »Ich war ja pünktlich«, gab sie zurück. »Punkt acht saß ich an meinem Schreibtisch, wie mein gestrenger Boß wohl bemerkt haben dürfte. Und im übrigen..., mein Arbeitstag hat schon vor drei Stunden begonnen.« Nachdenklich und mit verhaltener Zärtlichkeit betrachtete Eckehard Braun ihr Gesicht, über das jetzt ein Schatten gefallen war.

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Mami – 2073 –

Sei nicht traurig, kleine Jenny

Unveröffentlichter Roman

Aenne Bodmann

Constanze Hermann strich sich die blonden Locken aus der Stirn. Ihre Wangen waren vom schnellen Laufen gerötet. Vorsichtig schaute sie hinüber zu der großen Normaluhr, die im Vestibül des Hotels »Zum goldenen Anker« die Angestellten zur Pünktlichkeit mahnte. Zwei Minuten vor acht, sie hatte es wieder einmal geschafft. Aufatmend setzte sie sich an ihren Arbeitsplatz.

Constanze war Empfangssekretärin in dem renommierten Hotel, obwohl sie gerade erst einundzwanzig Jahre alt war. Ihre guten Zeugnisse und Empfehlungen, die sie vorweisen konnte, hatten ihr diese begehrte Stellung verschafft. Vielleicht hatten auch ihre hübsche Erscheinung und ihr offenes, freundliches Wesen eine gewisse Rolle bei der Einstellung gespielt. Die Hotel­eigentümerin, Dorothea Klinger, war nämlich der Meinung, daß die Rezep­tion immer von einer hübschen und gescheiten Person besetzt sein sollte. Der erste Eindruck, den die Gäste beim Betreten der Hotelhalle hatten, war so wichtig für das Ansehen des ganzen Hauses.

Eckehard Braun, Hotelkaufmann und rechte Hand der Direktorin, schlenderte mit spitzbübischem Gesicht vorbei.

»Na, Conni, konntest du mal wieder nicht aus den Federn kommen?« neckte er das junge Mädchen.

»Ich war ja pünktlich«, gab sie zurück. »Punkt acht saß ich an meinem Schreibtisch, wie mein gestrenger Boß wohl bemerkt haben dürfte. Und im übrigen..., mein Arbeitstag hat schon vor drei Stunden begonnen.«

Nachdenklich und mit verhaltener Zärtlichkeit betrachtete Eckehard Braun ihr Gesicht, über das jetzt ein Schatten gefallen war.

»Die Tante?« fragte er. Er kannte Constanzes häusliche Situation und wußte, wie schwierig das Leben für Constanze manchmal war.

»Ja«, antwortete sie kurz. Eine steile Falte stand auf ihrer Stirn.

»Was gab es denn heute wieder?«

»Das übliche. Sie hält mich wohl für ihre Zofe, Hausdame, Gesellschafterin, Zugehfrau. Sie läßt mir Tag und Nacht keine Ruhe. Sobald ich das Haus betrete, hat sie irgendwelche Aufgaben für mich. Der Beruf ist die reinste Erholung für mich.«

»Du solltest ausziehen, Constanze. Du bist längst mündig. Finanziell

stehst du auf eigenen Füßen. Du wirst aufatmen, wenn du dich endlich von der Tante befreit hast.« Eckehard sprach nicht weiter, doch Constanze wußte, woran er dachte.

Die beiden jungen Leute waren befreundet, und beide wünschten sich, daß mehr aus dieser Freundschaft werden würde. Sie hatten sich vom ersten Tag an gemocht, seit Constanze ihre Arbeit im »Goldenen Anker« aufgenommen hatte. Im Laufe der Zeit war diese Beziehung immer enger und herzlicher geworden. Aber… sie trafen sich selten außerhalb der gemeinsamen Dienststunden, denn Connis Tante ließ der Nichte keine freie Zeit.

»Du hast ja recht, Eckehard«, sagte Constanze traurig. »Aber ich kann mich nicht bei ihr durchsetzen. Sobald ich nur ein Wort fallenlasse, daß ich mir eine Wohnung nehmen will, reagiert sie hysterisch. Sie bekommt Herzanfälle, wird rot vor Zorn und beschimpft mich. Ich sei undankbar, das ist noch das Mindeste, was sie mir an den Kopf wirft. Sicher muß ich ihr dankbar sein. Sie hat mich aufgenommen, als meine Eltern verunglückt waren. Nur…«

»Wenn du ihr je Dank geschuldet hast, dann hast du ihn längst abgetragen, Conni. Aber da kommt mir ein Gedanke.«

»Ja?« fragte Constanze. Ihre Stimme klang wenig begeistert. Sie kannte die Vorschläge des Freundes. Wie oft hatte er ihr schon vorgeschlagen, eine kleine Wohnung in der Nähe zu mieten. Er übersah dabei immer, daß jeder Umzug zugleich die Trennung von der Tante bedeuten wurde. Constanze fürchtete sich vor dem Kampf, den sie dann durchstehen mußte.

»Hier im Haus sind ein paar Zimmer unter dem Dach frei«, fuhr Eckehard unbeirrt fort, »sie sind spartanisch eingerichtet, denn sie stammen noch aus der Zeit, als die Mitarbeiter freies Logis im Hotel erwarteten. Heute wohnen fast alle außerhalb. Du kannst deiner Tante sagen, daß eine Kollegin erkrankt wäre und du daher Überstunden machen müßtest. Der Einfachheit halber würdest du für kurze Zeit ins Hotel übersiedeln. Der Absprung wäre geglückt, und hinterher kehrst du nicht zur Tante zurück. Na, wie findest du das?«

Constanze fand, daß dieser Vorschlag des Freundes besser war als alle früheren.

»Ich werde darüber nachdenken«, versprach sie. »Im Augenblick muß ich die Rechnungen schreiben. Mindestens zwanzig Gäste wollen spätestens um neun abreisen.«

Mit einem Lächeln verabschiedete sich Eckehard von der Freundin und suchte sein eigenes Büro auf.

Fast eine Stunde lang konzentrierte sich Constanze auf ihre Arbeit. Mit flinken Fingern tippte sie eine Rechnung nach der anderen. Es kam auch keine Störung, kein Telefonanruf, keine Unterbrechung durch Hotelgäste, die irgendeine Auskunft erbaten. Ein ruhiger Tag, dachte Constanze zufrieden. Die neuen Gäste wurden erst für den späten Nachmittag erwartet. Ein ruhiger Vormittag also?

Die Hotelsekretärin hatte es kaum gedacht, als ein Zimmermädchen in höchster Aufregung aus dem Lift stürzte.

»Fräulein Hermann!« stammelte es.

»Wo brennt es denn?« fragte Constanze, die ihre Hoffnung auf einen friedlichen, arbeitsamen Morgen da­hinschwinden sah. Sie seufzte ein wenig. Warum gab es so viele unerwartete Ereignisse in einem Hotel?

»Da ist ein Kind, ein weinendes Kind in Zimmer 216.«

Constanze blickte flüchtig in ihr Gästebuch. »Ja, die Mutter traf gestern abend hier ein und wollte mit der kleinen Tochter drei Tage bleiben.«

»Aber da ist keine Mutter. Ich habe überall gesucht. Nur das schreiende Kind sitzt auf dem Bett.«

»Ich komme gleich mit Ihnen. Die Sache wird sich aufklären. Vielleicht schlief das Kind fest, und die Mutter wollte es nicht wecken. Die Mutter könnte im Frühstücksraum sein. Haben Sie dort schon nachfragen lassen?«

»Ich weiß nicht, wo ich noch suchen könnte. Bitte, Fräulein Hermann, übernehmen Sie die Suche. Ich werde sonst mit meinen Zimmern nicht fertig.«

»Haben Sie das Kind einmal selbst gefragt?«

»Es versteht kein Deutsch.«

Auch das noch! Ein ausländisches weinendes Kind, das seine Mutter verloren hatte. Constanze wurde nun doch nervös. Sie fand, daß die Sache weit über ihre Kompetenzen hinausging und benachrichtigte Eckehard. Dieser war alles andere als entzückt. Er sah Komplikationen für das Hotel voraus.

»Geh nur schon voraus in Zimmer 216, Conni. Ich mobilisiere inzwischen ein paar Kolleginnen, die das Hotel systematisch absuchen sollen. Vielleicht finden sie die Mutter ja doch noch. Ich muß auch Frau Klinger informieren. Wir sehen uns gleich, ja?«

Das Gebrüll des Kindes war schon von weitem zu hören. Constanze beschleunigte ihren Schritt. Als sie das Zimmer betrat, bot sich ihr ein herzzerreißender Anblick. Ein kleines Mädchen hockte in einem rosa Nachthemd auf dem Bett. Es blickte Constanze aus rotgeweinten Augen furchtsam an. Dann schluchzte es auf und stieß einen schrillen Schrei aus. Es folgten ein paar verzweifelte Worte.

»Where is my Mummy?«

Obwohl diese Worte im Schluchzen kaum zu verstehen waren, Constanze hatte sie doch gehört. Ein englisch sprechendes kleines Mädchen also. Sie atmete auf. Sie hatte oft mit Gästen aus England oder Amerika zu tun und beherrschte ihre Sprache sehr gut. Sie nahm das zitternde Kind in die Arme und strich ihm beruhigend über die dunklen Locken. Sie redete ihm gut zu, und wirklich, die Kleine ließ sich trösten. Sie schmiegte sich an die Fremde, die es doch offenbar gut mit ihr meinte. Sie zeigte Vertrauen, weil sie freundliche Worte in der eigenen Sprache vernahm.

»Ich bleibe bei dir, bis deine Mami wiederkommt«, versprach Constanze. »Wie heißt du eigentlich?«

»Jenny. Jenny Burchardt.«

»Wo wohnt ihr denn? Ich meine, dein Daddy, deine Mummy und du?«

»Ich weiß nicht genau. In Amerika.«

In diesem Augenblick betraten die Hotelbesitzerin und ihr Assistent Eckehard Braun das Zimmer. Sofort brach Jenny wieder in Tränen aus. Sie klammerte sich hilfesuchend an Constanzes Arm.

»Sie sollen mich nicht holen. Ich will bei dir bleiben, bis meine Mami wiederkommt.«

»Niemand will dich holen, kleine Jenny«, tröstete Constanze das weinende Kind. »Sie alle wollen dir helfen, deine Mutter wiederzufinden.«

»Aber warum ist sie denn fortgegangen?«

»Das wissen wir nicht, Kleines. Danach fragst du sie selber, wenn sie erst wieder da ist.«

Mit wenigen Worten klärte Constanze die Hotelbesitzerin auf. Eckehard bestätigte, daß die Suche nach der Mutter im ganzen Haus vergeblich geblieben war.

»Die Suche muß so diskret wie möglich durchgeführt werden«, sagte Frau Klinger. »Man kann schließlich sogar ein Verbrechen nicht ausschließen. Die Folgen für unser Hotel wären nicht auszudenken.«

»Und was wird mit dem Kind?« fragte Constanze.

Als ahnte Jenny, daß von ihr die Rede war, fing sie in diesem Augenblick wieder laut zu brüllen an. Kopfschüttelnd ordnete Frau Klinger an, daß sich Constanze ausschließlich um das Kind kümmern solle.

»Und meine Arbeit?« fragte das junge Mädchen.

»Ich übernehme die Rezeption«, erklärte sich Eckehard bereit.

»Ich werde die Polizei informieren. Damit uns niemand ein Versäumnis vorwerfen kann«, meinte die Hotelbesitzerin.

Und so kam es, daß Constanze an diesem Vormittag eine ganz ungewohnte Tätigkeit ausübte. Sie spielte mit einem Kind, das sie niemals zuvor gesehen hatte, das ihr ganz fremd war.

*

Polizeibeamte erschienen im Hotel »Zum goldenen Anker«. Sie befragten das Personal. Einer von ihnen meinte schließlich achselzuckend: »Hier scheint eine Mutter ihr Kind ausgesetzt zu haben.«

»Unmöglich!« ereiferte sich Constanze. »Sehen Sie sich das Kind doch einmal an! Es ist ein gesundes, hübsches kleines Mädchen. Wie gut es angezogen ist! Glauben Sie, daß jemand ein solches Kind hat und es einem ungewissen Schicksal aussetzt?«

»Was ich glaube, spielt hier keine Rolle«, meinte der Beamte. »Wenn Sie solange meinen Dienst getan hätten wie ich, dann wüßten Sie, daß nichts unmöglich ist. Kennen Sie die Mutter? Wissen Sie, in welchen Lebensumständen sie sich befindet? Na also. Vielleicht hat sie ja auch in einem Anfall geistiger Verwirrung das Hotel verlassen und irrt in der Umgebung herum. Dann besteht gute Aussicht, daß wir sie finden.«

»Ich wüßte gern, was wir mit dem Kind machen sollen«, sagte Frau Klinger nachdenklich. »Wir sind ein Hotel und kein Kinderheim. Auf alleinreisende Kinder sind wir nicht eingestellt.«

»Wir müssen das Jugendamt benachrichtigen«, sagte ein Polizeibeamter.

»Wie denn? Heute ist Samstag, da ist das Jugendamt geschlossen. Erst am Montag kann man sie dem Jugendamt vorführen«, entgegnete der andere Beamte.

»Und was geschieht dann mit ihr?« fragte Constanze.

»Dort wird man schon ein Waisenhaus oder ein Kinderheim wissen.«

»Sie spricht kein Deutsch. Sie wird sich furchtbar einsam und unglücklich fühlen in einem Haus, wo niemand sie versteht und wo sie die anderen auch nicht verstehen kann.«

»Sicher haben Sie recht. Aber ein englisch sprechendes Internat für ein Findelkind? Nein, das können wir nicht bieten.«

»Das wird sich am Montag finden«, beendete Frau Klinger die Debatte. »Unsere Aufgabe bleibt es, das Kind bis dahin zu betreuen. Wie ich sehe, hat sich Jenny mit Ihnen angefreundet, Constanze. Können Sie die Kleine versorgen? Ich würde Sie von Ihren Aufgaben freistellen.«

Constanze betrachtete die kleine Jenny und wurde von tiefem Mitleid erfüllt. In Jennys großen dunklen Augen glänzten Tränen, um ihren zarten Mund zitterte es. Mit aller Kraft hielt sie sich an Constanzes Rock fest. Ohne Zögern nickte das junge Mädchen Zustimmung.

»Ich freue mich, daß Sie uns helfen wollen«, sagte Frau Klinger anerkennend. »Ich habe es nicht anders von Ihnen erwartet. Wie ist es Ihnen lieber, wollen Sie Jenny mit zu sich nach Hause nehmen, oder wollen Sie mit ihr im Hotel bleiben?«

Erst jetzt sah Constanze die neuen Schwierigkeiten, die Jennys unerwartetes Auftauchen ihr bereiten würden. Wie würde Tante Ursula reagieren, wenn sie ihr das fremde Kind ins Haus brachte? Auch wenn sie im Hotel blieb, riskierte sie einen Zornesausbruch ihrer Tante.

»Ich weiß es nicht«, stotterte Constanze. »Ich – ich werde Jenny mit nach Hause nehmen, aber ich weiß nicht, ob wir dort bleiben können.«

»Dann kommen Sie einfach ins Hotel zurück«, entschied Frau Klinger.

So kam es, daß Constanze Hermann heute einige Stunden früher als gewöhnlich heimging. An ihrer Hand hopste ein kleines Mädchen, etwa vier Jahre alt. Das Kind hatte mittlerweile alle Scheu vor der fremden jungen Frau verloren und plapperte eifrig

drauflos. Doch je mehr es plauderte, desto schweigsamer wurde Constanze. Sie kannte doch ihre Tante! Das kleine Mädchen, das durch die unbekannte Umgebung sowieso verängstigt war, würde von der strengen und unfreundlichen Art ihrer Tante Ursula total eingeschüchtert werden.

Der Empfang durch Ursula Graebner wurde noch schlimmer, als ihre Nichte es befürchtet hatte.

»Was ist das für ein Kind?« herrschte die Tante Constanze an. »Woher kommt es? Bring es sofort wieder dorthin, wo du es hergeholt hast! Ich will es hier nicht mehr sehen!«

»Aber, Tante Ursula!« entgegnete das junge Mädchen. »Sieh doch, was für ein süßes kleines Ding die Kleine ist. Sie hat ihre Mutter verloren, zumindest war sie heute früh im Hotel nicht zu finden. Bis zum Montag soll ich mich um die Kleine kümmern. Frau Klinger bat mich darum. Bis dahin hat sich entweder die Mutter wieder gemeldet, oder das Kind wird dem Jugendamt übergeben.«

»Tu mir das nicht an!« jammerte Ursula Graebner und brach plötzlich in Tränen aus. »Nicht dieses Kind! Jedes andere, aber nicht dieses! Sie sieht wie Sarah aus. Sag, Constanze, es ist doch nicht Sarah?«

Fassungslos sah Constanze auf die Tante, deren Worte ihr völlig unverständlich waren.

»Das Mädchen heißt Jenny«, antwortete Constanze so ruhig wie möglich und strich dem Kind über das Haar. Dieses hatte sich furchtsam an ihre Begleiterin geschmiegt, als suche sie Schutz vor dieser bösen alten Frau. Das Gesicht hatte sie in Constanzes Rockfalten versteckt.

»Genau wie Sarah«, stammelte die Tante. »Genauso hübsch, so lieb, so reizend. Und doch hat sie mein ganzes Leben zerstört. Jenny heißt sie, sagst du? Ja, natürlich, sie kann ja nicht Sarah sein. Sarah ist längst erwachsen. Aber für einen Augenblick glaubte ich Sarah zu sehen, so wie Georg sie mir ins Haus gebracht hat.«

»Willst du mir erklären, Tante Ursula, was das alles zu bedeuten hat? Georg war dein Mann, nicht wahr? Was für eine Sarah hat er dir ins Haus gebracht?«

Mit kreideweißem Gesicht und verkniffenen Lippen ließ sich Ursula Graeb­ner in einen Sessel fallen. Sie sah plötzlich müde und erschöpft aus. Für einen Augenblick empfand Constanze Mitleid mit der Älteren. Hatte sie sich damals Gedanken über Tante Ursulas Leben gemacht?

Was wußte sie eigentlich von ihr? Welche Erlebnisse hatten sie hart gemacht und verbittert?

»Du solltest es nicht wissen, Constanze. Niemand sollte jemals davon erfahren. Nach Georgs Tod, und nachdem die undankbare Sarah mich verlassen hat, habe ich meine Heimat verlassen und bin hierher nach Honnef gezogen. Hier kannte mich niemand, hier wußte niemand von Sarah…«

»War Sarah deine Tochter?«

Tante Ursula lachte höhnisch auf.

»Nein, ich hatte keine Kinder. Ich war nicht unglücklich deswegen, aber Georg hat sich immer Kinder gewünscht. Ein Kind hat in unserer Ehe gefehlt, ein eigenes natürlich. Eines Tages stand Georg in der Tür, so wie du eben. An seiner Hand hielt er ein kleines Mädchen. Er verlangte von mir, es wie eine Mutter zu lieben und zu versorgen.«

»Hat er es adoptiert?«

»Das hätte ich verstehen können. Nein, es war sein eigenes, nichteheliches Kind. Lange Jahre hatte er ein Verhältnis mit einer anderen Frau. Ich glaubte, eine glückliche Ehefrau zu sein und wurde von ihm getäuscht. Jahrelang hat er mit seiner Geliebten und mit Sarah ein Familienleben geführt, von dem ich nichts ahnte. Als Sarahs Mutter starb, brachte er mir das Kind.«

»Und du? Was sagtest du?«

»Was hätte ich tun sollen? Dies fremde Kind hat mein Leben zerstört. An was hätte ich noch glauben können? An die Liebe meines Mannes? In einem einzigen, bitteren Augenblick sah ich, daß mein Glück auf tönernen Füßen gestanden hatte.«

»Aber daran war das Kind doch schuldlos. Hat es dir nicht leidgetan?«

»Leidgetan? Ich sah nur, wie sehr Vater und Tochter aneinander hingen. Ich war ein Fremdkörper in dieser Gemeinschaft. Sarah liebte ihren Vater abgöttisch, und Georg sah nur noch seine Tochter. Was ich fühlte, dachte, litt..., das war ihm doch gleichgültig. Als Sarah zwölf Jahre alt war, geschah das Unglück. Georg wollte Sarah vor einem Auto retten und wurde selbst bei diesem Versuch tödlich verletzt. Sarah hat also auch noch Georgs Tod verschuldet.«

»Wie kannst du das sagen, Tante Ursula! Das war ein unglücklicher Zufall! Du sagst doch selbst, daß sie ihren Vater vergöttert hat.«

»Wir lebten danach noch einige Jahre zusammen. Meine Stieftochter war aufsässig und frech. Wenn wir nicht gerade miteinander Streit hatten, kapselte sie sich völlig ab, zog sich in ihre Zimmer zurück und war nicht für mich zu sprechen. Sie verließ mich, als sie gerade achtzehn Jahre alt geworden war. Georg hatte ihr Sparkassenbücher hinterlassen, die hat sie mitgenommen. Ich habe nie wieder von ihr gehört.«

»Eigentlich war es doch eine Erleichterung für dich, daß sie fortgegangen ist, nicht wahr?«

»Nachdem sie mein ganzes Leben zerstört hat. Es gab neugierige Nachbarn, Freunde und Verwandte! Ihr Gerede und Getuschel waren unerträglich für mich. Ich brach alle Beziehungen ab und zog hierher. Aber man entrinnt seiner Vergangenheit nicht. Man nimmt die Enttäuschungen mit…«

»Tante Ursula, es tut mir alles sehr leid für dich. Ich kann verstehen, daß dein Leben nicht leicht war. Doch jetzt müssen wir zu einem Entschluß kommen. Kann Jenny nicht bei uns bleiben? Nur zwei Tage?«

Ursula Graebner schüttelte ihren Kopf.

»Ich kann ihren Anblick nicht ertragen, Constanze. Schaff sie fort. Auf der Stelle.«

»Gut. Wir gehen also. Ich habe Frau Klinger versprochen, Jenny zu betreuen. Wenn ich die Kleine ins Hotel zurückbringen muß, dann bleibe ich auch dort.«

»Heißt das, daß ich das Wochenende ganz allein sein werde? Du weißt doch, daß ich deine Hilfe brauche! Es ist schon schlimm genug, daß ich tagsüber auf dich verzichte. Ist das die Dankbarkeit, die ich erwarten kann?«

»Da du Jenny nicht hierbehalten willst, muß ich wohl oder übel mit ihr zusammen ins Hotel zurückgehen. Mit Undankbarkeit hat das überhaupt nichts zu tun.«

Constanze atmete auf, als die Tür hinter ihr zufiel.