Mamsi und ich - C. Bernd Sucher - E-Book

Mamsi und ich E-Book

C. Bernd Sucher

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Beschreibung

Vom Leben mit einer übermächtigen MutterWie wurde die Nachkriegsgeneration durch die Erfahrungen ihrer Eltern geprägt? Diese Frage stellt sich C. Bernd Sucher in seinem neuen, sehr persönlichen Buch und erzählt von seiner Mutter, einer stolzen und starken Frau, die als Jüdin im Dritten Reich verfolgt wurde, das KZ überlebte und nach dem Krieg einen Protestanten aus konservativem Elternhaus heiratete. Sie hatte eingewilligt, den Sohn christlich zu erziehen, was sie ein Leben lang quälte, seinen jüdischen Glauben sah sie dennoch kritisch und trieb ihn unerbittlich an, im Leben das zu erreichen, was ihr durch die NS-Verfolgung verwehrt blieb. Suchers Spurensuche zeichnet die schwierige, prägende Beziehung von Mutter und Sohn nach, sehr offen, reflektiert und wunderbar erzählt.

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deMeiner Mutter© Piper Verlag GmbH, München 2019Litho: Lorenz & Zeller, Inning am AmmerseeCovergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic® (Hintergrund); Fotos privatSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalt

Cover & Impressum

Motto

Sie hat mich belogen …

Nachbemerkung

Dank

Motto

 

 

A Yiddishe Mame,

Es gibt nisht besser oif der velt

A Yiddish Mame,Oy vey vi bitter ven zi felt

Vi shayn in likhtig iz in hoiz ven di  mame iz do

Vi troyerig finster vert ven Got nemt ir oif Olam Haboh

 

In vasser in fayer volt zi gelofn far ihr kind

nisht halten ihr tayer, dos iz gevis di gresten zind

Oy, vi gliklekh un raykh iz der mentsh vos hot

Aza shayne matuneh geshenkt foon G-t,

Nor ayn altichke Yiddishe Mame,

Oy, Mame Mayn!

Jack Yellen (1892 – 1991)

Sie hat mich belogen …

 

 

Sie hat mich belogen. Oft habe ich sie gefragt, wie das damals war, als sie Paps heiratete, und immer antwortete sie ähnlich. Als ich ein wenig älter und noch neugieriger wurde, erklärte sie mir, dass eine kirchliche Hochzeit unmöglich gewesen sei.

Als ich sechs war, sagte sie: »Ganz schlicht, mein Kleiner. Erst waren wir im Standesamt, das war eigentlich das Rathaus. Dort haben Paps und ich uns das Jawort gegeben; danach gab es eine kleine Feier. Nichts Großes. Der Krieg war ja erst ein Jahr vorbei.«

»Du weißt doch Paps war Protestant, Großvater Oswald war Kirchenrat – und ich bin Jüdin. Wir konnten nicht in der Kirche heiraten.«

Ich halte ein Fotoalbum in der Hand, hocke auf einem alten Koffer im Keller unseres Hauses, und sehe meine Mutter. Sie trägt ein weißes langes Hochzeitskleid, über ihre langen, ein wenig krausen schwarzen Haare fällt ein Schleier bis auf die Schultern, gehalten von einem Myrtenkranz. Mit dem linken Arm hat sie sich bei meinem Vater eingehakt, in der rechten Hand hält sie einen kleinen Brautstrauß. Sie schaut ernst, aber nicht unfroh. Mein Vater lächelt. Ein zweireihiger dunkler Anzug, weißes Hemd, eine weiße Nelke im Revers und die Haare streng mit Pomade nach hinten gekämmt. Ein Paar. 1946, 8. Juni, ein Samstag. Ich möchte weiterblättern, doch ich kann nicht. Ich weine.

Hamburg, Montag, 13. Oktober 2005

Sonnenschein. Habe in einem braunen Lederkoffer voller Stockflecken Fotos entdeckt. Unsere Eltern haben sie ein Leben lang versteckt. Haben sie sie je angesehen? Heimlich? Im Keller? Sie haben in einer Kirche geheiratet! Protestantischer Pfarrer vor der Kirchentür, neogotisch. Mamsi ist eine Lügnerin gewesen. Aus Scham? Warum hat Paps die Lügen gedeckt? Minka hilft mir, die Wohnung auszuräumen. Sie ist patent, hat bereits einen Entrümpelungsdienst bestellt. Voreilig. Sie will nichts haben. Nicht einmal ein Foto. Seltsam! Razzien im Westjordanland.

 

Vor zehn Tagen ist meine Mutter gestorben, die seit dem Tod meines Vaters das Bett nicht mehr verlassen und seit mehr als vierzehn Monaten kaum noch gesprochen hatte, außer um mit leerem Blick immer nur eine einzige Frage zu stellen: »Und jetzt?«

Ich starre auf die Frau in weißem Tüll. Sie sitzt neben meinem Vater bei Tisch, links von ihnen mein Großvater, schon damals mit einem glatt rasierten Schädel, und rechts meine sehr schmächtige Großmutter. Bilder der Tischgesellschaft. Der Pfarrer, immer noch mit weißem Beffchen unter dem Anzug, der Bürgermeister mit einer lächerlichen Amtskette. Von wegen kleine Familienfeier. Eine große Hochzeit war das. Oswald Sucher, mein Großvater, und seine Frau Hulda Milda, in Bitterfeld sehr angesehene und durchaus wohlhabende Geschäftsleute, hatten nach der kirchlichen Trauung in der Stadtkirche ins Hotel Döring geladen – das Brautpaar steht unter dem Eingangsschild. Trauzeugen waren der Bruder meines Vaters, Helmut, und dessen Freundin. Ich entdecke auf keiner der Aufnahmen junge Frauen. Offensichtlich waren die wenigen Freundinnen, die meine Mutter nach ihrer Wiederkehr vielleicht gefunden hatte, nicht eingeladen. Wird sie in der Kirche das »Ja« sehr laut gesagt haben? Schwieg sie beim Glaubensbekenntnis?

Ich finde einen vergilbten Zettel in einem hübschen Intarsienholzkästchen. Auf dem Briefkopf: Pfarrei Stadtkirche Bitterfeld. Der Pfarrer Christian Lorch bestätigt, dass sich Margot Sucher, geborene Artmann, bereit erklärt, die Kinder, die das Paar, so Gott will, zeugen wird, im protestantischen Glauben zu erziehen.

Ich sehe ein Foto, auf dem Oswald Sucher steht. Er hat sich erhoben, schaut auf seinen Sohn und hält einen Zettel in der Hand: Er spricht. Auch diesen Zettel haben meine Eltern aufbewahrt. Großvater hatte eine sehr klare Handschrift: Sütterlin.

Zwischen der Hühnersuppe, die sich meine Mutter, da bin ich sicher, gewünscht hatte – »jüdisches Penicillin« mochte sie zeitlebens –, und dem Schweinebraten mit Kartoffelknödel – Großvaters Lieblingsspeise –, freute sich ihr Schwiegervater öffentlich, dass sein Sohn eine Leipzigerin zur Frau gewählt hat, noch dazu eine, die über die Geschäfte ihrer Eltern mit der Stadt Bitterfeld verbunden ist.

»Besonders schön ist, dass du, Margot, nach anfänglichem Zögern dieser kirchlichen Heirat zugestimmt hast. Und noch schöner, dass die gesunden Kinder, die du Heinz hoffentlich gebären wirst, im protestantischen Glauben erzogen werden.«

Vor dem Essen wurde gewiss gebetet, wie stets, wenn mein Großvater mit am Tisch saß: »Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!« Oswald Sucher schmetterte die Verse, immer. Was tat meine Mutter? Stimmte sie ein, hat sie mitgebetet? Hat sie die Hände gefaltet, was Juden nie tun? Wird sie sich zum »Amen« dazugesellt haben? Womöglich mit einem gedehnten »e«, wie es Juden gern machen?

Die Hochzeitstorte, auch sie wurde fotografiert, war ein riesiger Baumkuchen, den mein Vater, der zuvor eine Konditorlehre absolvierte, selbst gebacken hatte. Oft erzählte er von seinen misslungenen Versuchen, solche hohen Ungetüme aufzubauen, Schicht um Schicht. Für jeden missglückten Versuch musste sein Vater zahlen – und er wurde bestraft, mit Ohrfeigen. Als Kind besaß ich sein Buch der Konditoreikunst – ich nannte es das »Ditor«-Buch, Großmutter hatte es Anfang der Fünfzigerjahre nach Hamburg geschickt. Ich blätterte gern darin. Manchmal erfüllte mir mein Vater auch einen Kuchenwunsch. Ich mochte sie, die dicken, fetten Torten mit ihren vielen Cremeschichten – aus einem Spritzbeutel. Auf einem der Fotos: Margot Artmann beim Anschneiden.

 

Das erste Buch, das ich, im Alter von zwei Jahren, durchblätterte und dessen bunte Illustrationen mich faszinierten und aus dem mir Gretti, meine Amme und Kinderfrau, vorgelesen hatte, hieß Bernd allein auf der Welt. Glaubte ich bis 2015. In diesem Jahr machte ich mich auf die Suche nach dieser Bilderbuch-Erzählung. Nicht zuletzt, weil keiner meiner Freunde mir glauben mochte, dass sie existierte. Ich hatte mich um Kopf und Kragen geredet. Denn dieses Buch – so meine feste Überzeugung – hatte mich geprägt. Der fiktive Bernd sehnte sich nach Menschen – wie ich. Ein Junge, der alles kann – nur nicht allein sein!

Im Zentralen Verzeichnis Antiquarischer Bücher fand ich eines Tages ein Exemplar von Paul allein auf der Welt, erschienen in meinem Geburtsjahr, geschrieben von Jens Sigsgaard, illustriert von Arne Ungermann. Dieser Paul wacht eines Morgens auf und merkt, dass seine Eltern nicht zu Hause sind. Auch auf der Straße ist kein Mensch. In der Straßenbahn gibt es weder einen Schaffner noch einen Fahrer. Niemand ist im Milchladen, niemand im Schokoladen- und Obstgeschäft. In der Bank holt er sich einen Beutel voller Geld, aber er kann sich dafür nichts kaufen, weil es keine Verkäufer gibt. Er läuft über einen Rasen – das Schild »Bitte nicht betreten!« schert ihn nicht.

Paul genießt seine Freiheit, aber auf dem Spielplatz fehlen ihm Käthi und Peter – er kann nicht wippen … Endlich wacht er auf und schreit. Die Mutter kommt an sein Bett und will wissen, warum er so heftig weint. Paul sagt, er habe geträumt, allein auf der Welt gewesen zu sein. Er habe alles tun können, was er wollte – »aber es war schrecklich langweilig so allein!«.

Le Grand Hotel, Paris, Mittwoch, 7. 12. 2005

Von Sonntag bis Dienstagmorgen Hamburg. Erst »Leidenschaften«: Schiller mit Siemen Rühaak im St. Pauli Theater. Am nächsten Tag mit Minka, Nico, Wolfgang die Weihnachtsessentradition wieder aufgenommen. Erst Champagner in der Wohnhalle, dann Essen im Doc Cheng. Minka erzählt zum ersten Mal, dass Mamsi sich immer die Schabbes-G’ttesdienste im NDR anhörte. Abschied vom Elternhaus. Mit Wolfgang nach Paris geflogen. Nikolausessen im Vaudeville. Heute Einkauf dieses ledernen Tagebuchs, Hemd und Krawatte + Pochette, kriegt Wolfgang zu Weihnachten.

 

Minka und ich trafen den Hausverwalter, einen Herrn Hagemann, zur Übergabe der Wohnung. Das letzte Mal im Uckermarkweg 10 e. In meinem Zimmer, in dem der Daumen hochgebunden worden war, damit ich ihn nicht lutschte; in dem ich geschlagen wurde; in dem ich betete, nicht schwul zu sein; in dem ich meiner Mutter alles gestand – und verraten wurde; in dem ich masturbierte. Einmal überraschte mich dabei Minka. Sie kam ins Zimmer, ohne anzuklopfen. Ich wurde schamrot. Wir haben nie darüber geredet. Neben meinem Bett stand ein kleines Radio, das ich – für Pop auf NDR – gleich nach der zweiten Weckung andrehte.

Bevor Minka kam, lief ich nochmals um den Block der Reihenhäuser – beäugt von neugierigen Nachbarn. Nur in unserem Garten gibt es hochgewachsene Bäume, eine Tanne, einen Pflaumen- und einen Apfelbaum. Und eine Schaukel, sie stand noch da. Ich setzte mich drauf und erinnerte mich an meinen Vater! Hier war es gewesen! Was für eine Nacht!

Schon drei Wochen nach dem Tod von Mamsi wurde innen aus dem Haus alles rausgerissen, Rohbau. Im Wintergarten habe ich mich kurz auf den Holzboden gesetzt und daran gedacht, wie gern ich dort schlief, vor allem bei Regen. Wie Mamsi zu Schulzeiten hier die erste und die zweite »Weckung« machte, mit einer Schlaffrist dazwischen von fünf Minuten. Nie waren es sechs. Und wenn ich nicht sofort aufstand, schimpfte sie sehr. Immer wieder der Spruch: »Du stiehlst dem lieben G’tt den Tag!«

Ich bin wehmütig, aber nicht wirklich traurig. Im Keller entdecke ich noch meinen Schlitten. Ich erinnere mich, dass Paps ihn mit einem Tau hinten an der Stoßstange an seinem Opel Kapitän befestigte und Minka und mich auf einer schneebedeckten Waldstraße nördlich von Bad Segeberg mit zwanzig Stundenkilometern durch den Schnee schleppte. Mamsi schaute aus dem Rückfenster, sie fürchtete wohl, dass uns etwas passieren könnte. An die Abgase dachte damals niemand.

Warum hat meine Mutter geschwiegen, schlimmer noch: mich belogen? Warum hat sie mir nur selten etwas anvertraut? Warum hat sie nie über die Frau, die polnische Bäuerin, gesprochen? Oft sagte sie, dass eine Frau sehr gut zu ihr gewesen sei, ihr verdanke sie ihr Leben.

»Aber, glaub mir, auch diese Zeit war furchtbar. Anders furchtbar.«

»Wieso?«

Meine Mutter schwieg.

Warum hat sie meinen Vorschlag abgelehnt, sie möge ihre Lebensgeschichte aufschreiben oder auf ein Tonband sprechen? Warum wollte sie so viel für sich behalten? Warum gab es im Alter für sie nur eine Frage: Und jetzt? Warum vertraute sie sich niemandem an – nicht meinem Vater, der es sehr früh aufgab, sie zu befragen? Auch er erzählte mir nicht viel vom Krieg und seinen Jahren in Frankreich. Er brüstete sich nur damit, eine sehr schöne französische Freundin gehabt zu haben. Natürlich verletzte dieses Bekenntnis meine Mutter. Sie fand auch seine anderen Prahlereien weit weniger amüsant als er: die Plünderung von Weinkellern französischer Juden; die Verfolgung von Deserteuren.

Ein verschwiegenes Paar. Ein ungleiches Paar. Ein nur sehr selten glückliches Paar.

 

Meine Mutter wurde am 9. Januar 1925 in Leipzig geboren. Sie war die Tochter von Kurt Artmann und seiner Frau Elise, geborene Jacoby. Mein Großvater war Protestant, meine Großmutter Jüdin. Sie wuchs in einem wohlhabenden Haushalt auf. Ihr Vater, Clemens Jacoby, hatte es als Rechtsanwalt in Leipzig früh schon zu Wohlstand gebracht; ihre Mutter Ruth kam aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie liebte, so erzählte meine Mutter, die Musik, war aber geizig. Je älter sie wurde, desto schlimmer sparte sie, gab alle Geselligkeiten auf, weil sie es nicht einsah, andere »durchzufüttern«.

Die Eltern meines Großvaters Kurt, Michael und Elisabeth Artmann, waren Lebensmittelhändler in Bitterfeld. Dieser Urgroßvater muss ein exzessiver Trinker gewesen sein, im Rausch gewalttätig zu seinen beiden Kindern, was dazu führte, dass Kurt Artmann lebenslang keinen Alkohol anrührte. Er arbeitete nach der Mittleren Reife und einer Kaufmannslehre ehrgeizig an seiner Karriere und besaß, als meine Mutter geboren wurde, ein großes Möbelgeschäft in Leipzig, in der Menckestraße 26, mit einer Filiale in Bitterfeld. Großvater Kurt war ein Snob. Er ließ sich, so erklärte meine Mutter stolz – und zugleich ein wenig enttäuscht, dass ihr Vater doch ein kleiner Angeber war –, in seinem schwarzen Horch 830 BL Convertible nach Budapest fahren, um sich Schuhe anfertigen zu lassen. Diese Geschichte bekam ich immer wieder und immer dann zu hören, wenn ich neue Schuhe haben wollte. Mutter meinte, ich hätte diesen »Schuhfimmel«, so nannte sie diese ihr seltsam erscheinende Lust, von »Opa Artmann« geerbt.

Hamburg, Hotel Vier Jahreszeiten, 24. Oktober 2005

Es ist ein Montag. Noch mal für zwei Tage in der Wohnung der Eltern. Minka hatte angeboten, dass ich bei ihr übernachten könnte. Habe abgelehnt. Wir räumen das Schlaf- und das Wohnzimmer aus. Es tut weh, Dinge wegzuwerfen, die mir einmal wertvoll schienen. Ganz schlimm: die Geschenke, die ich Mamsi und Paps gemacht habe. Ich mag sie nicht zu mir nehmen. Im weißen Schlafzimmerschrank finden wir im obersten Fach, versteckt hinter Tischdecken, sechs Krokodilledertaschen in verschiedenen Größen. In einer entdecke ich den Brief. Alle komplett ausgestattet, mit Kamm im Krokoetui, Puderdöschen und Spiegel. Mamsi regte sich über meinen Schuhfimmel auf – sie hatte einen Taschenfimmel. Aber heimlich! Wie albern ist das denn? Ging sie mit ihnen schlafen?

 

Meine Großmutter Elise kam am 5. Juni 1894 in Nienburg an der Saale zur Welt. Meine Mutter nannte sie nur »meine Mutter«, während sie von ihrem Vater immer als »Opa Artmann« sprach. Sie muss sowohl geschäftstüchtig als auch gebildet gewesen sein. Sie stammte aus einer erfolgreichen jüdischen Anwaltsfamilie, die wie die meisten Leipziger Juden assimiliert war, weshalb für ihre Familie die Heirat mit einem Nichtjuden, einem Goj, unproblematisch war. Ein Problem stellte eher Kurt Artmanns soziale Herkunft dar. Doch da Elise Jacoby, die Deutsch und Französisch studierte, als sie Kurt Artmann kennenlernte, sich nicht von ihrem Wunsch abbringen ließ, diesen gut aussehenden, erfolgreichen Aufsteiger zu heiraten, willigten die Eltern letztlich ein. Nicht zuletzt, weil Clemens Jacoby die Strebsamkeit seines zukünftigen Schwiegersohnes imponierte. Geheiratet wurde nur standesamtlich, weder in der Kirche noch in der Synagoge.

Elise Artmann gab wegen der Heirat das Studium auf. Sie erwies sich bald schon als die Stärkere in dieser Ehe. Sie war es, die sich um die Angestellten im Geschäft kümmerte, um den Haushalt und, nach zweijähriger Ehe, um das einzige Kind, die Tochter Margot. Opa Artmann hingegen gefiel sich als Charmeur und hatte, so meine Mutter, ganz gewiss andere Frauen neben der eigenen. Seltsam, nie sprach sie über diesen Vater-Hallodri unziemlich, nie kritisierte sie sein Verhalten. Im Gegenteil: Es schien, als sei sie stolz gewesen auf diesen Herzensbrecher.

Ich blättere in dem Fotoalbum und finde mein Großelternpaar Artmann. Sie stattlich, aber nicht sehr groß gewachsen, er schlank und sie ein wenig überragend. Sie stehen vor einem großen Hotel in Marienbad. Überaus korrekt gekleidet. Sie haben sich hergerichtet – nicht für das Foto, sondern für den Ort. Sie haben sich nicht vor der Kulisse drapiert, eher möchten sie erscheinen, als seien sie von dem Fotografen entdeckt worden – als Vorzeigebesucher dieses Nobelortes. Das Geschäftsehepaar aus Leipzig demonstriert Wohlstand und möchte gesehen werden. Selbstbewusst schauen sie in die Kamera. Schaut meine Großmutter jüdisch aus? Meine Mutter? Kann man in mir einen Juden erkennen?

München, Montag, 7. November 2005

Ich muss mir unbedingt Alain Resnais’ Film L’année dernière à Marienbad aus der HFF-Mediathek ausleihen.

Fotos von meinen jüdischen Großeltern in einer Pappschachtel gefunden, die in einem sehr großen Karton lagen neben vielen Diakisten aus den Sechzigerjahren. Ich und Minka auf dem Schlitten, fotografiert aus dem Autoheckfenster, Minka und ich an der Ostsee, wir bereiten in einem Eimer einen Salat aus weißen Quallen. Habe alle Fotos und Dias mitgenommen. Ich war wirklich ein dicker Junge. Nie kam mir der Gedanke, dass ich eine jüdische Physiognomie habe. Ich sehe doch nicht aus wie die Juden, die Philipp Rupprecht unter dem Pseudonym Fips für den Stürmer zeichnete. Erinnerte mich an meine ersten Besuche in der Hamburger jüdischen Gemeinde. Nur zweimal in meinem Leben wurde mir bewusst, dass ich aussah wie andere Juden. Also doch womöglich jüdische Züge tragen könnte. Was mich verunsicherte und zugleich meinen Wunsch stärkte, der jüdischen Gemeinde offiziell anzugehören.

 

Herbst 1964.

Ich besuchte ein Klavierkonzert im Gemeindesaal der Hamburger Israelitischen Kultusgemeinde. Es waren viele junge Menschen im Saal, einige mit ihren Müttern. Ich glaubte, besonders viele Frauen mit so großen Ohren, wie meine Mutter sie hatte, zu sehen. Ich verglich sie mit den Cocker-Hängern. Und Jungen, die mir ähnelten: schwarze Haare, Brille, ein wenig dicklich – und im Gespräch neunmalklug.

 

Herbst 2016

Seit ich Mitglied der liberalen Gemeinde in München bin, die den Namen »Beth Schalom« trägt, Haus des Friedens, versuche ich an Rosh Hashana, dem Neujahrsabend, und an Jom Kippur in der Synagoge zu sein. Der Versöhnungstag ist mir der wichtigste Termin im jüdischen Jahr. Ich faste, ich kleide mich in Weiß, trage weder Schmuck noch Lederschuhe, verzichte also auf jeden Luxus – es ist so, als probiere man in einem Totenhemd den Tod, hoffend, dass nach diesem »Tag der Bedeckung«, wie die wörtliche Übersetzung heißt, nach diesem Tag, an dem man seine Sünden bekennt – G’tt den Gläubigen ins Buch des Lebens eintragen möge. Bin ich in München, dann bitte ich den Rabbiner darum, möglichst viele Texte vor der Gemeinde vortragen zu dürfen. Auch Kafka-Texte!

Ausgerechnet an Jom Kippur laufe ich mit meinem Mann und unserer japanischen Fremdenführerin Ayaka Mitsuda durch Kyoto. Ich hatte beiden erklärt, dass ich das 24-stündige Fasten einhalten wolle, also auch nichts trinken würde, trotz der sechsundzwanzig Grad im Schatten. Auf dem sogenannten Philosophenweg, von einem buddhistischen Tempel zu einem anderen, sprechen mich zwei junge Männer an: »You’re looking very jewish!« – »Yes I’m a German jew, a liberal one.« Sie erklären, dass ihnen noch ein Mann fehle. Der zehnte, um einen G’ttesdienst abhalten zu können. »You know: the minjan!« – »Yes, but I don’t speak Hebrew!«

Kyoto, 12. Oktober 2016, Jom Kippur, 23.12 Uhr

Ich muss Hebräisch lernen!

 

Seit der Pubertät las ich bevorzugt jüdische Autoren, und, das gehörte für mich zusammen, ich suchte nach den Antisemiten unter den Intellektuellen. Was mich trieb, war Neugier zum einen. Zum anderen wollte ich wissen, welche Intellektuellen und Künstler offen judenfeindlich waren, um mich mit meinem Urteil zu positionieren. Gab es Antisemiten, die sich öffentlich anders äußerten als in ihren Briefen und Tagebüchern? Ich wollte mir meine selbst gestellte Frage beantworten, ob ich ein Werk schätzen konnte und zugleich den Autor oder Komponisten verachten. Ich wurde zum Erstaunen meiner Freunde und später meiner Zuhörer und Leser sehr oft fündig – es gab sie, die bekennenden und die verstohlenen, aus Rücksicht auf ihre Karriere verschwiegenen Judenverächter, die allein in privaten Mitteilungen ihrem Hass freien Lauf ließen. Nur eines gelang mir nicht: eine eindeutige Antwort. Vergibt man dem Genie Antijudaismus und im 20. Jahrhundert Antizionismus?

 

Zu den schlimmsten Judenhassern zählte ich Martin Luther, Richard Wagner und Theodor Fontane, der sich sehr ausführlich mit den Juden und ihrem Aussehen beschäftigt – das interessierte die anderen beiden Antisemiten eher nicht.

Während seiner Ferien auf Norderney schreibt Fontane seiner Frau Emilie. Es ist übrigens ein Brief, der in der ersten Ausgabe seiner Korrespondenzen von der Familie nicht in die Sammlung aufgenommen wurde, Familienzensur: »Fatal waren die Juden; ihre frechen, unschönen Gaunergesichter (denn in Gaunerei liegt ihre ganze Größe) drängen sich einem überall auf. Wer in Rawicz oder Meseritz ein Jahr lang Menschen betrogen oder, wenn nicht betrogen, eklige Geschäfte besorgt hat, hat keinen Anspruch darauf, sich in Norderney unter Prinzessinnen und Comtessen mit herumzuzieren. Wer zur guten Gesellschaft gehört, Jude oder Christ, darf sich auch in der guten Gesellschaft bewegen, wer aber elf Monate lang Katun abmisst oder Kampfer in alte Pelze packt, hat kein Recht, im zwölften Monat sich an einen Grafentisch zu setzen.«

 

Im Jahr 1880 beschwört er, dass den Juden eine Lektion erteilt werden würde, weil sie eine Strafe verdienten: »Nichts von den großen Dingen, nicht einmal von der ›Judenfrage‹, sosehr mich diese bewegt und geradezu aufregt. Nur so viel: Ich bin von Kindesbeinen an ein Judenfreund gewesen und habe persönlich nur Gutes von den Juden erfahren, dennoch hab ich so sehr das Gefühl ihrer Schuld, ihres grenzenlosen Übermuts, dass ich ihnen eine ernste Niederlage nicht bloß gönne, sondern wünsche. Und das steht mir fest, wenn sie sie jetzt nicht erleiden und sich auch nicht ändern, so bricht in Zeiten, die wir beide freilich nicht mehr erleben werden, eine schwere Heimsuchung über sie herein.«

Fontane war ernsthaft davon überzeugt, dass die Juden »ein schreckliches Volk« seien: »Ein Volk, dem vom Uranfang an etwas dünkelhaft Niedriges anhaftet, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann. Welch Unterschied zwischen der christlichen und der jüdischen Verbrecherwelt! Und das alles unausrottbar.« Schließlich, Lessings Nathan bedenkend, verabschiedete sich Fontane auch von den Idealen der Aufklärung. Zu den Herrlichkeiten, die er während seines Lebens erfahren habe, schreibt er 1880, »gehört auch der immer mehr zutage tretende Bankrutt der Afterweisheit des vorigen Jahrhunderts. Das Unheil, das Lessing mit seiner Geschichte von den drei Ringen angerichtet hat, ist kolossal. Das ›seid umschlungen Millionen‹ ist ein Unsinn.«

Meine Großmutter gehörte zur Leipziger Gesellschaft – doch meine Mutter wurde bereits als Mädchen durch die Gesetzgebung 1938 ausgeschlossen; Lessings Nathan verschwand von den Bühnen, und der Stürmer präsentierte zum Vergnügen seiner Leser die »Gaunergesichter«, von denen Fontane geschrieben hatte. Und die Deutschen nahmen des Dichters Rat an, die Juden auszurotten.

 

Margot Artmann, das Mädchen mit den großen Ohren und den schwarzen Locken – meine Mutter –, besuchte erst eine normale städtische Volksschule. Der Chauffeur fuhr sie hin und brachte sie ins Haus zurück, manchmal lud sie ihre Freundinnen noch ein, zum Mittagessen mitzukommen. Sie war ein verwöhntes Einzelkind und schlug auch gern einmal über die Stränge. An einem Donnerstagnachmittag im März 1933 ließ sie sich zu Hause vorfahren, Herr Egon musste ihr die Wagentür öffnen, und dann gab sie ihm, weil sie ihrer Freundin Agnes imponieren wollte, ihren Schulranzen. Ihre Mutter sah diese Szene vom Haus aus, eilte vor die Tür und ohrfeigte die Tochter vor ihrer Freundin und dem Angestellten.

»Wie führst du dich auf! Schäm dich! Pass auf! Du wirst auch noch mal vierter Klasse reisen.«

Agnes schlich nach Hause, meine Mutter ging in ihr Zimmer, das Mittagessen fiel aus. Elise Artmann ahnte vielleicht, wovon sie sprach. Am 30. Januar dieses Jahres war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden; es begann die Vertreibung der Juden aus dem öffentlichen Dienst. Meine Großmutter hatte in der Neuen Leipziger Zeitung gelesen, dass schon am 7. April im Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums eine Bestimmung zur Ausschaltung von »Nichtariern« aufgenommen worden war, in der explizit gefordert wurde, Beamte »nichtarischer Abstammung« in den sofortigen Ruhestand zu versetzen. Als »nichtarisch« galt, auch das stand am 13. April in der Zeitung, wer einen Eltern- oder Großelternteil hatte, der der jüdischen Religion angehörte. Neun Tage später schon wurde »die Tätigkeit von Kassenärzten nichtarischer Herkunft« unterbunden. Es dauerte keine drei Monate, bis der Arierparagraf auch für den Apotheker-, den Schriftstellerverband und für alle Sport- und Turnvereinigungen galt. Ende Oktober 1933 verlor ein Freund meiner Großmutter, Hermann Kohn, seine Stellung bei der Neuen Leipziger Zeitung; der Klavierlehrer meiner Mutter bekam Auftrittsverbot. Klar, dass das Mädchen die Veränderungen mitbekam. Aber sie fragte nicht, und sie erzählte ihren Eltern auch nicht, dass in der Schule einige Klassenkameraden sie hänselten.

»Ich wollte sie nicht beunruhigen«, sagte mir meine Mutter an einem Nachmittag, als sie wider Erwarten einmal auf meine Fragen antwortete. Wie es ihr ergangen war, wollte ich wissen, damals in der Schule.

»Eigentlich wurde ich von den meisten geachtet. Nur ein Junge war schon sehr früh aggressiv mir gegenüber. Sein Vater gehörte zu den ersten Leipzigern, die in die NSDAP eingetreten waren. Er arbeitete als Straßenbahnfahrer. Sein Sohn war ein großer, hagerer Junge, nicht sehr intelligent, aber ein toller Fußballspieler und blond. Er hat mich zunächst nur auf dem Schulhof beschimpft. Aber einmal auch im Unterricht. Ich erinnere mich genau. Es war während der Mathematikstunde. ›Du mit deiner Judenfratze solltest nicht immer das Maul aufreißen, bevor du gefragt wirst‹, brüllte dieser Stefan Grothe, als ich wieder einmal als Erste eine Antwort auf die Frage des Lehrers wusste. ›Wir Deutschen haben Vortritt, merk dir das, die Juden haben überhaupt kein Recht, sich vorzudrängeln.‹« Dann fügte sie hinzu: »Und ich war mindestens so ehrgeizig, wie du es jetzt bist.«

Montag, 14. Januar 1963

Mamsi hat über ihre Schulzeit geredet und über die Nazis in der Klasse. Es wäre so gut, wenn sie mir mehr erzählte. Gut für sie – und gut für mich. Aber sie tut’s nur sehr selten. Eine Eins in Mathe. Turnunterricht geschwänzt. Mondscheinsonate geübt. Alles andere als perfekt. Leider.

 

Der Lehrer lobte meine Mutter nicht für die richtige Lösung der Mathematikaufgabe, er tadelte Stefan nicht für sein Geblöke. Warum Margot schwieg? Sie wollte ihren Eltern nicht noch mehr Sorgen bereiten, denn sie hatte gehört, dass Großvater Clemens keine Arier mehr vertreten durfte, also von nun an allein von jüdischen Mandanten abhängig war. Die Familie hatte plötzlich weniger Geld zur Verfügung und musste sich einschränken, trotz der Ersparnisse. Schon am 28. März 1933 hatte die Parteileitung der NSDAP zum Boykott jüdischer Geschäfte, Ärzte und Anwälte aufgerufen. Auch vor den Möbelhäusern von Kurt Artmann postierten sich am 1. April SA-Männer und die Hitlerjugend. Sie hinderten die Kunden am Betreten des Geschäfts, pöbelten, dass Deutsche ihr Geld nicht bei Juden lassen sollten. Die meisten, die vorhatten, sich beraten zu lassen oder etwas zu kaufen, waren eingeschüchtert – und traten nicht ein.

»Du musst eine Anzeige aufgeben, dass du Arier bist, dass es keinen Grund gibt, deine Geschäfte zu boykottieren«, schlug meine Großmutter vor.

»Das wird nichts nützen, weil Artmann nun mal ein sehr jüdischer Name ist, schließlich wissen alle, dass du Jüdin bist. Und außerdem wird dieser kleinbürgerliche Spuk bald vorbei sein.«

Auch mein Großvater schloss die Augen vor der Realität.

»Das glaube ich nicht, Kurt. Denk an den Reichstagsbrand. Denk an die Rede von Hitler im Reichstag und wie er umjubelt wurde. Die meisten finden gut, was er vorhat. Sie glauben daran, dass er sie vom Marxismus befreit und auch von uns, den Juden. Von mir. Du bist ja kein Jude.«

Sie konnten nicht weiterreden. Margot kam früher als sonst, sie war nach Hause geschickt worden. Heute, habe der Direktor gesagt, sollten die Deutschen mal unter sich bleiben.

Die Rede, von der meine Großmutter sprach, hatte ihr Mann sich nicht angehört. Ihn ödete Politik an und dieser Hitler ganz besonders. Doch Hitlers Rede im Sportpalast am 10. Februar 1933 ließ keine Zweifel: »Niemals, niemals werde ich mich von der Aufgabe entfernen, den Marxismus und seine Begleiterscheinungen aus Deutschland auszurotten, und niemals werde ich zu Kompromissen bereit sein. Ich will ein Programm der Wiedererhebung auf allen Gebieten des Lebens, unduldsam gegen jeden, der sich gegen die Nation versündigt. Denn ich kann mich nicht lösen von dem Glauben an mein Volk, kann mich nicht lossagen von der Überzeugung, dass diese Nation einst wieder auferstehen wird, kann mich nicht entfernen von der Liebe zu diesem meinem Volk.«

Als Margot im September 1934 mit Wunden am Kopf und am Oberkörper nach Hause kam und erzählte, dass Stefan und einige andere Jungs aus der Hitlerjugend sie verprügelt hätten, ihr »die Judenfresse« polieren wollten, und dass keine Freundin ihr beigestanden hätte, ließ sich Elise Artmann einen Termin beim Schuldirektor Doktor Leonhardt geben. Der hörte sich an, was sie vorzutragen hatte, bedauerte den Vorfall, fügte aber an, dass er schwer etwas dagegen machen könne. Die Zeiten seien eben nicht gut für Juden.

»Im Übrigen, verehrte Frau Artmann, Sie haben doch sicher gelesen, dass der Führer im August eine Amnestie für übereifrige Nazis erlassen hat und dass es schon seit Juli ein Staatsnotwehrgesetz gibt. Ich denke, wir sollten auch bei Stefan Gnade vor Recht ergehen lassen.« Doktor Leonhardt stand auf. »In diesem Sinne wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag. Heil Hitler!«

Die Schikanen wurden häufiger und heftiger. Wenngleich Elise Artmann keineswegs als bekennende Jüdin lebte – je schlimmer die Diskriminierungen wurden, desto bewusster verfolgte sie, wie die jüdischen Gemeinden auf das immer aggressivere Vorgehen der Nationalsozialisten reagierten. Sie engagierte sich sogar finanziell beim Kulturbund Deutscher Juden, der sich von 1935 an »Reichsverband jüdischer Kulturbünde« nennen musste. Er wurde ein Sammelbecken für alle aus den verschiedenen Reichskulturkammern ausgeschlossenen jüdischen Künstler. Elise Artmann freute sich, dass jüdische Schauspieler Lessings Nathan und Dramen von Goethe und Schiller aufführten. Doch Hans Hinkel, der Reichskulturverwalter, forcierte schon bald die Entjudaisierung der Spielpläne; den Juden wurde verboten, Werke von Schiller, Goethe und Beethoven aufzuführen. Auch das stand in der Neuen Leipziger Zeitung, versehen mit einem Kommentar, dass es höchste Zeit würde, Artfremden, also Nichtariern, zu verbieten, die deutsche Kultur zu misshandeln.

»Jetzt nehmen sie uns auch noch unsere Kultur«, klagte Elise Artmann ihrer Tochter, »aber sie unterschätzen uns: Wir können lesen, und wir können musizieren! Wir werden es ihnen zeigen.«

Bis zum 17. März 1934 – an diesem Tag starb Kurt Artmann im Alter von 46 Jahren an einem Herzinfarkt – gab es im Elternhaus meiner Mutter Lesungen von jüdischen Schauspielern und Hauskonzerte. Auf den Programmen – jeweils am Freitagabend, dem Vorabend des Sabbat – standen Gedichte von Goethe und Schiller; man las Lessings Emilia Galotti, man spielte auf dem Flügel Sonaten von Haydn, Mozart, Beethoven. 1936, nach dem frühen Tod meines Großvaters, wurde meine Mutter auf ein jüdisches Lyzeum geschickt.

 

Musste ich deshalb, frage ich mich heute, schon als Vierjähriger das Blockflötespielen erlernen, Sopran-, Alt-, Tenor- und später, als die Hände größer waren, auch noch die Bassblockflöte? Als ich fünf war, bekam ich dann – und zwar dreizehn Jahre lang – Klavier- und Cellounterricht. Damit nicht genug: Meine Mutter brachte mich auch zum Aufnahmevorsingen beim Knabenchor des NDR. Ich bestand und sang dort bis zum Stimmbruch – und danach wieder als Tenor. Hier lernte ich die Bach-Kantaten kennen. Wir sangen sie nicht allein für den Sender, sondern auch sonntags während der Gottesdienste in der Kirche Sankt Nicolai am Klosterstern. Die Kantate für den 14. Sonntag nach Trinitatis, Bach-Werke-Verzeichnis Nummer 25, war die erste, die ich singen durfte. Der Titel amüsierte uns Knaben sehr, wir machten uns über ihn sogar lustig, zitierten ihn bei Erkältungen, Magenschmerzen und Beinbrüchen: »Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe vor deinem Dräuen und ist kein Friede in meinen Gebeinen vor meiner Sünde.«

Ich war fleißig und glücklich zugleich. Denn meine Mutter war mächtig stolz, wenn ich den Freunden der Familie vorspielte und vorsang oder öffentlich auftrat. Sogar in der Hamburgischen Staatsoper brachte sie mich unter, in La Bohème. Ich war einer der Knaben, die im zweiten Bild während des Weihnachtstrubels im Quartier Latin trällerten: »Ecco Parpignol, Parpignol! Col carretto tutto a fior! Ecco Parpignol! Voglio la tromba, il cavallin, il tambur, tamburel. Voglio il cannon, voglio il frustin, dei soldati il drappel!« Beiläufig erwähnte meine Mutter während dieser Zeit gern, dass ich mit Ingeborg Hallstein, der Musetta, auf der Bühne stand.

Weil mein Volksschullehrer, er hieß Andreas Ohlsen, diese musische Begabung schätzte und besonders förderte, empfahl er meiner Mutter, mich nicht schon nach der vierten Klasse ins Gymnasium zu schicken, sondern erst nach der sechsten. So könne ich weiter musizieren und hätte erst einmal keine langen U-Bahn-Fahrten und damit Zeit für die Musik. Dieses Schulmodell war ein Hamburger Versuch, der sich nicht etablieren konnte, weil die meisten Schüler im gemeinsamen Unterricht in der siebten Klasse am Gymnasium scheiterten. Aber Scheitern war bei meiner Mutter nicht vorgesehen. Sie wollte einen Primus, die jiddische Mamme, die ihr Abitur nicht hatte machen dürfen.

 

Ich stöbere weiter im Keller meines Elternhauses und finde die Geburtsurkunden meiner Eltern. Und in einer Mappe einige Bescheide der Wiedergutmachungsbehörde. Ich entdecke eidesstattliche Erklärungen; unter anderem lese ich die Begründung für die Enteignung der Witwe Elise Artmann, geborene Jacoby, im Januar 1939. Schadensursache? – »NS-Verfolgungsmaßnahmen«.

Lochenhäusl, 12. Dezember 2005

Minka hat mir die restlichen Akten geschickt, die wir im November im Haus gefunden hatten. Ich denke, ich werde rauskriegen, was Mamsi verschweigen wollte. Aber werde ich auch etwas erfahren über den Sucher – über den bigotten Großvater und seine stille, kleine, schmächtige Frau? Warum suche ich? Weil ich mir sicher bin, dass mein Großvater Oswald Juden verachtete! Dass er während der Naziherrschaft das System akzeptierte. War er Parteimitglied? Und Mamsi schwieg gewiss, weil sie diese Demütigung nicht auch noch offenbaren wollte. Erst verfolgt, dann verabscheut. Sie wird gewusst haben, dass die Familie ihres Mannes die Wahl von Heinz als Verrat an ihrem protestantischen Glauben ansah – und an ihrem eher kleinbürgerlichen Lebensstil. Deshalb die unselige Taufverabredung.

 

Ich mochte meine Großmutter, Hulda Milda. Es war verrückt, wie sie mich verwöhnte, mit Geschenken anreiste und nichts, aber auch gar nichts für Minka dabeihatte. Wollte ich ihr etwas abgeben, verbat sie das. Paps kaufte seiner Tochter zum Trost dann ein Spielzeug. Einmal schoss er auf dem Dom so gut, dass Minka einen riesigen Teddybären bekam. Auch davon haben wir ein Foto gefunden. Eines aus der Bild-Zeitung. Minka sitzt auf den Schultern von Paps, den Bären in der Hand und freut sich. Bildunterschrift: Glück gehabt!

Glück gehabt? Nicht Elise Artmann. Das Haus war nicht mehr das ihre, und auch die Möbelgeschäfte in Leipzig und Bitterfeld gehörten ihr nicht länger. Elise und ihre Tochter mussten umziehen, sie wohnten fortan zur Miete im sogenannten »Judenhaus«, Berliner Straße 123. Aber sie waren nicht plötzlich verarmt. Elise Artmann hatte den größten Teil des ihr verbliebenen Vermögens zu Hause aufbewahrt – allmählich, also eher unauffällig, hatte sie von 1938 an ihre Konten aufgelöst. Was meiner Großmutter an Silber, Porzellan, Schmuck, Gemälden und wertvollen Möbeln geblieben war, wurde drei Jahre später, im Sommer 1941, nach Amerika verschifft, an die Adresse ihrer schon fünf Jahre zuvor ausgewanderten Schwester Hedwig Jacoby: Long Island. Und meine Großmutter wollte mit ihrer Tochter am 19. September 1941 von Hamburg aus nach Amerika aufbrechen.

 

Ich finde eine eidesstattliche Erklärung von einem Karl Schmidt aus dem Jahr 1967, abgegeben in Leipzig:

»Mir ist bekannt, dass Frau Elise Artmann, geborene Jacoby, bis zum Jahre 1938 Alleininhaberin eines Möbeleinzelhandelsgeschäftes in Bitterfeld war. Der Umsatz bis zur ›Arisierung‹ des Betriebes betrug jährlich RM 150 000 bis 200 000. Der Wert des Grundstücks betrug ca. 50 000 RM. Mir ist bekannt, dass die Judenabgabe prozentual zum Vermögen restlos gezahlt worden ist. Mir ist auch bekannt, dass die Reichsfluchtsteuer restlos abgeführt worden ist. Des Weiteren bestätige ich wahrheitsgemäß, dass Frau Artmann ihren gesamten Hausrat mit Lifts nach USA verschiffen ließ. Die Genehmigung der Devisenstelle Leipzig, die das gesamte Vermögen der Frau Artmann beschlagnahmte, wurde ja erst erteilt, wenn Judenabgabe und Reichsfluchtsteuer restlos gezahlt waren.«

 

Vor der geplanten Reise in die USA machten sich Mutter und Tochter am 6. September 1941 auf nach Venedig, weil meine Mutter diese Stadt besonders mochte und noch einmal auf dem Lido spazieren gehen wollte. Sie stiegen im Bauer Grünwald ab, mit Blick auf den Canal Grande – und blieben vier Tage lang. Doch statt direkt nach Berlin zur amerikanischen Botschaft zu fahren, wo sie bereits einen Termin für die letzten Formalitäten ausgemacht hatten, blieben sie länger in Italien und kehrten noch einmal nach Leipzig zurück.

Ich schaue die Fotos an, die in ein anderes Album geklebt wurden. Meine Mutter auf dem Markusplatz, in einem hellen, knöchellangen Kleid, eine Taube sitzt auf ihrer rechten Hand. Großmutter steht daneben, mit einem dunklen, sehr großen Hut. Zufrieden, so als sei sie sich sicher, einen besonders gelungenen Menschen geboren zu haben, schaut sie auf ihr Kind, das in die Kamera blickt.

Auf dem Weg ins Hotel, in der Salizada San Moisè, begann Margot zu quengeln. Sie war, das bekannte sie immer wieder, kein unkompliziertes Kind:

»Mami, das kannst du mir nicht abschlagen. Noch ein paar Tage Venedig und, bitte, noch etwas Zeit in Leipzig. Vielleicht kommen wir nie wieder zurück. Ich kann nicht einfach so fort. Uns wird nichts passieren. Was kann uns denn schon in ein paar Tagen zustoßen?!«

»Du bist naiv, Margot. Oder du stellst dich naiv. Wir können nicht noch mal zurück, wir müssen so schnell wie möglich nach Hamburg.«

Margot versuchte es erneut.

»Du warst es doch, die bei Papas Tod erklärte, dass alle Vorsicht nichts nützt, wenn G’tt es anders beschlossen hat. Wenn er will, dass wir sterben, sterben wir jetzt sowieso – in Leipzig, irgendwo anders oder auf dem Schiff. So G’tt will, geschieht uns nichts Böses!«

Doch meine Großmutter fürchtete, dass genau dieses Böse ihnen bevorstand. Trotzdem ließ sie sich erweichen.

»Wir bleiben, wenn wir im Hotel nicht umziehen müssen. Einverstanden?«

Margot nickte. Großmutter wollte G’tt nochmals prüfen. Das Hotel war halb leer. Trotzdem sagte der Mann am Empfang, dass genau dieses Zimmer schon wieder vergeben sei.

»Zum Canal habe ich keines mehr.«

Das war die Entscheidung.

Am Montag, dem 8. September, überlegte Elise Artmann, ob sie mit ihrer Tochter, die beide die Leipziger Synagoge nur an den hohen Feiertagen aufsuchten – an Jom Kippur, dem Versöhnungsfest, an Pessach und Chanukka –, das Bethaus in Venedig besuchen sollten. Meine Großmutter fragte beim Concierge nach, ob es in der Scuola Grande Tedesca vielleicht einen G’ttesdienst geben würde. Sie wusste, dass die Frage eine Provokation war, denn auch in Italien war der Antisemitismus inzwischen weit verbreitet, nicht etwa auf deutschen Druck hin, sondern weil die italienischen Faschisten die nämlichen Ziele verfolgten. Signore Carlo, ein gepflegter, grauhaariger Herr Mitte vierzig, erwiderte kühl, dass die Synagogen geschlossen seien. Die beiden deutschen Frauen entschieden, dennoch am frühen Abend ins Getto zu gehen. Seit der Reichspogromnacht versteckte das junge Mädchen den goldenen Judenstern, den sie um den Hals trug, das fiel ihr nicht leicht, wie sie mir später erzählte, denn sie war – obwohl nicht sonderlich religiös – auf seltsam unbedachte Art stolz darauf, eine Jüdin zu sein. Sie gingen über die Rialtobrücke, überquerten den Campo San Polo, tranken auf dem Campo dei Frari ein Wasser, und Margot musste unbedingt dazu noch eine heiße Schokolade haben – die mochte sie vor allem anderen; eine Leidenschaft, die ich geerbt habe.