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Ellen Berg

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Beschreibung

Wie steil ist das denn?

Vic liebt ihren Job bei einer Medical-Software-Firma, kennt Jahreszeiten aus der Wetter-App und Freundschaften nur auf Facebook. Dann soll sie für ein Teamtraining in die Berge geschickt werden – das pure Grauen für die digitale Großstadtpflanze. Da Vic jedoch fürchtet, ihr Konkurrent Konstantin könnte sie auf der Karriereleiter überholen, muss sie wohl oder übel den Gipfel erklimmen. Wenn nur nicht dieser unerträglich wetterfeste Bergführer Johannes wäre. Sofort fliegen die Fetzen. Bis Vic jenseits von WLAN und veganer Ernährung entdeckt, dass es sie doch gibt – die wahre Liebe im falschen Leben ...

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Über Ellen Berg

Ellen Berg, geboren 1969, studierte Germanistik und arbeitete als Reiseleiterin und in der Gastronomie. Heute schreibt und lebt sie mit ihrer Tochter auf einem kleinen Bauernhof im Allgäu.Ihre Romane »Du mich auch. (K)ein Rache Roman«, »Das bisschen Kuchen. (K)ein Diät-Roman«, »Den lass ich gleich an. (K)ein Single-Roman«, »Ich koch dich tot. (K)ein Liebes-Roman«, »Gib’s mir, Schatz! (K)ein Fessel-Roman«, »Zur Hölle mit Seniorentellern! (K)ein Rentner-Roman«, »Ich will es doch auch! (K)ein Beziehungs-Roman«, »Alles Tofu, oder was? (K)ein Koch-Roman« und »Blonder wird’s nicht (K)ein Friseur-Roman« liegen im Aufbau Taschenbuch vor und sind große Erfolge.

Informationen zum Buch

Wie steil ist das denn?

Vic liebt ihren Job bei einer Medical-Software-Firma, kennt Jahreszeiten aus der Wetter-App und Freundschaften nur auf Facebook. Dann soll sie für ein Teamtraining in die Berge geschickt werden – das pure Grauen für die digitale Großstadtpflanze. Da Vic jedoch fürchtet, ihr Konkurrent Konstantin könnte sie auf der Karriereleiter überholen, muss sie wohl oder übel den Gipfel erklimmen. Wenn nur nicht dieser unerträglich wetterfeste Bergführer Johannes wäre. Sofort fliegen die Fetzen. Bis Vic jenseits von WLAN und veganer Ernährung entdeckt, dass es sie doch gibt – die wahre Liebe im falschen Leben.

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Ellen Berg

Manche mögen’s steil

(K)ein Liebes Roman

Inhaltsübersicht

Über Ellen Berg

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Epilog

Impressum

Kapitel 1

Ein neues Katzenvideo? Himmel, wie süß ist das denn? Vicky warf einen raschen Blick auf ihre ausnahmslos männlichen Kollegen, mit denen sie das Büro teilte. Das coole Penthouse des IT-Unternehmens MediSolutions, genauer gesagt, bevölkert von smarten Hipstern in modischen, absurd engen Anzügen, die nahezu identische Vollbärte trugen. Alle starrten konzentriert auf ihre Monitore. Glücklicherweise.

Verstohlen tippte Vicky das Display ihres Smartphones an. Obwohl sie schon mindestens achthundertsiebenundneunzig Katzenvideos gesehen hatte, eines herziger als das andere, konnte sie einfach nicht genug davon bekommen. Ja, es war kindisch. Nein, es passte nicht zu der Frau, die man als toughe Teamleiterin kannte. MediSolutions war auf Software für Kliniken spezialisiert und warb mit dem Slogan Intelligente Lösungen für die Medizin von morgen. Knallharter Durchblick war gefragt, keine Sentimentalitäten. Deshalb musste Vicky auf der Hut sein. Einmal beim Anschauen niedlicher Videos erwischt, und schon konnte man sich auf wochenlanges Ablästern gefasst machen. Krass, die zieht sich so einen Kitsch rein? Nee jetzt, ernsthaft? Und dann noch während der Arbeitszeit? Sag mal, wie alt ist die? Dreizehn?

Aber bei Katzenvideos wurde Vicky nun mal schwach. Und dies war ein Babykatzenvideo!

Verzückt beobachtete sie die beiden winzigen Fellknäuel, ein schwarzes und ein weißes, die um einen rosa Gummiball balgten. Allerliebst. Nur zu gern hätte Vicky eine eigene Katze gehabt. Ein lebendiges Wesen, das sich freute, wenn sie abends in die leere Wohnung kam, das sich schnurrend an sie schmiegte und gekrault werden wollte. Ihr butterweiches Herz schmolz bei dem Gedanken, wie sehr sie ihr Kätzchen lieben würde. Sie hätte sogar schon einen Namen: Mimi. Leider wurde nichts daraus, wegen ihrer Katzenallergie, die mit Juckreiz und Atemnot daherkam. Nur dem digitalen Zeitalter sei Dank, durfte sie das Schauspiel possierlicher Katzenbalgereien aus nächster Nähe genießen.

Sie seufzte tief. Warum konnten nicht auch sämtliche zwischenmenschlichen Kontakte mit digitalem Sicherheitsabstand ablaufen? Schließlich reagierte Vicky auf etwa neunzig Prozent der Menschheit ebenfalls allergisch. Zwar nicht mit Juckreiz und Atemnot, aber mit einer sehr unangenehmen Mischung aus Schüchternheit und Spontanverspannung. Tja, es war nicht zu leugnen: Viktoria Elsässer, Single, Software-Entwicklerin und trotz ihrer gerade mal zweiunddreißig Jahre auf dem Sprung in die Chefetage ihrer Firma, hatte es nicht so mit Face-to-face-Kommunikation.

»Vic? Ist das nicht unfassbar süß? Hast du es schon gesehen?«, fragte eine vergnügte Frauenstimme.

Schnell klickte Vicky das Video weg.

»Oh, äh …«

Vor ihr stand Catherine, Cat genannt, die Assistentin des Personalchefs. Genau, Cat wie Katze, ein äußerst sinniger Name, denn sie war es, die Vicky regelmäßig neue Katzenvideos schickte – um etwas Wärme in die kalte Welt der Algorithmen zu bringen, wie sie beteuerte.

»So was könnte ich mir stundenlang anschauen«, schwärmte sie. »Weißt du, was ich neulich gelesen habe? Ein Hund mag wundervolle Prosa sein, aber Katzen sind pure Poesie.«

»Was du nicht sagst.« Herrje, wie peinlich. Vicky beschloss, so zu tun, als gehe es um etwas Berufliches. »Also ich finde das clever konzipiert, sehr professionell.«

Catherine blinzelte irritiert. Sie war so ziemlich der einzige Mensch, mit dem sich Vicky auch ohne digitalen Filter gern unterhielt. Über den Job, über Männer, über Katzen. Nur nicht jetzt, in Gegenwart neugieriger Kollegen, die alles gegen sie verwenden würden, was sie nebenbei aufschnappten.

»Ich wollte etwas für deine emotionale Balance tun«, erklärte Catherine. »Schließlich weiß ich doch, wie viel Stress du hast.«

»Genau, die neue Globalisierungsstrategie«, redete Vicky hektisch drauflos. »Veränderungsprozesse der strategischen Grundorientierung auf der Ebene der Gesamtunternehmung sind definitiv der Schritt in die richtige Richtung.«

»Strategische Grundorientierung.« Catherines Mundwinkel wechselten die Richtung und zeigten nun nach unten. »Komisch, bei dir geht’s mir immer wie mit diesen Software-Aktualisierungen, die von Zeit zu Zeit aufpoppen – ich verstehe kein Wort, aber vorsichtshalber stimme ich zu. Hm. Eigentlich sprach ich von einem Katzenvideo.«

Vicky bemühte sich um einen undurchdringlichen Gesichtsausdruck.

»Wie heißt es doch so schön? Ich bin nur verantwortlich für das, was ich sage, nicht für das, was du verstehst. Wie geht’s den Kindern?«

Los, Themenwechsel! Sonst werden die Kollegen hellhörig!

»Prächtig. Finn hält mich nachts allerdings ganz schön auf Trab, er bekommt Zähne. Glaub mir: Ein Baby ist das gewagteste Schlafentzugsexperiment, das jemals erfunden wurde.«

Themenwechsel gelungen. O Mann, das war knapp!

Erleichtert strich Vicky ihren schwarzen Anzug glatt, die passende Uniform, um in dieser Männerdomäne zu bestehen. Kein Schmuck, kein Make-up lenkte ab, ihren Nägeln gönnte sie lediglich eine dezente French Manicure. Auch die haselnussbraune Kurzhaarfrisur und eine große Nerdbrille mit schwarzem Gestell entsprachen diesem tiefstapelnden Look. Von weitem hätte man sie glatt für einen bemerkenswert gutaussehenden Mann halten können. Aber sie war nun einmal in einer Szene gestrandet, in der sie sowohl ihre Weiblichkeit als auch ihr weiches Herz verstecken musste, um ernst genommen zu werden. Das einzige Zugeständnis an ihre Geschlechtszugehörigkeit bestand in hochhackigen Pumps, aber auch nur, weil sie damit etwas größer erschien.

Catherine hatte es einfacher. Von einer Mitarbeiterin der Personalabteilung erwartete man geradezu Eigenschaften, die immer noch als typisch weiblich galten. Einfühlungsvermögen zum Beispiel, emotionale Intelligenz, sogar Gefühle. Da durfte man sich auch feminin anziehen. Heute trug sie ein knappes Kostüm, dessen Brombeerton perfekt mit ihrer bordeauxfarbenen Handtasche und den mahagoniroten Locken harmonierte. Sie schenkte Vicky ein zuckriges Lächeln, das zwei Grübchen rechts und links neben ihre üppigen Lippen malte.

»Sag mal, hast du Lust, mit mir mittagessen zu gehen? Ganz in der Nähe hat ein neues Lokal aufgemacht. Die Schnitzel sollen sensationell lecker sein und groß wie Frisbeescheiben.«

»Entschuldige«, winkte Vicky ab, »du vergisst anscheinend, dass ich nichts esse, was Augen hatte.«

Einer ihrer Kollegen, Kai Wanner, der schlaksige Blonde gegenüber, lachte hüstelnd.

»Einmal Vegetarierin, immer Vegetarierin. Wisst ihr, was Frau Elsässer mit einem Grillhähnchen anstellen würde? Zum Tierarzt gehen und fragen, ob noch was zu retten ist.«

Immer diese blöden Kommentare. Als Fleischverächterin machte sich Vicky in diesem Testosteron-Reservat natürlich so beliebt wie eine Motte im Kaschmirpullover. Erwartungsgemäß feuerten nun auch die anderen Kollegen aus der sicheren Deckung ihrer Monitore die üblichen Sprüche ab.

»Füllt eure Wasserpistolen mit Wurstwasser, wir jagen Veganer!«

»Ich kaufe Salat nur, um damit was Essbares anzulocken!«

»Preisfrage: Dürfen Vegetarier Fleischtomaten essen?«

Catherine kicherte, Vicky tat so, als habe sie nichts gehört. Als einzige Frau in dem sechsköpfigen Entwickler-Team musste sie ohnehin einiges einstecken. Wer hatte eigentlich behauptet, die Pubertät sei mit zwanzig abgeschlossen? Manchmal fühlte sie sich wie auf einem Schulhof, wo halbgare Jungs mit der Erkenntnis glänzten, dass Mädchen entweder scharfe Torten oder irgendwie doof seien. Sie gehörte hier eindeutig in die zweite Kategorie. Egal. Stirnrunzelnd zeigte sie auf ihre Herrenarmbanduhr.

»Tut mir wirklich leid, Cat, ich habe sowieso keine Zeit für eine Mittagspause. Ich muss meine Präsentation für die Chefs vorbereiten, das A-Projekt.«

»Wow. Du hast also den Mega-Auftrag ergattert«, stellte Catherine mit deutlich hörbarem Respekt in der Stimme fest.

»Ja, es geht um eine hocheffiziente Software, mit der Kliniken künftig die Behandlungserfolge von Patienten vergleichen können. Ich trage die Verantwortung für das gesamte Projekt und arbeitete im Moment quasi vierundzwanzig Stunden täglich daran.«

So leicht ließ sich Catherine allerdings nicht ins Bockshorn jagen. Unternehmungslustig schlenkerte sie mit ihrer Handtasche herum.

»Komm schon, wenn wir den Business Lunch bestellen, geht das ratzfatz.«

»Nee, nee, lass mal, ich …«

»Du gehst jetzt mit mir essen, Schatz«, wurde sie von Catherine resolut unterbrochen. »Wir müssen unbedingt reden.«

Prompt schossen die Köpfe der Kollegen hinter den Monitoren hervor. Eine vibrierende Stille senkte sich über den Raum, und einmal mehr empfand Vicky es als Zumutung, in einem Großraumbüro arbeiten zu müssen. Sicher, es war ein hyperstylishes Penthouse, das man jederzeit für ein Designmagazin hätte fotografieren können – kreidig gewischte hellgraue Wände, graugebeiztes Parkett, Schreibtische aus gebürstetem Stahl. Sogar eine Chill-out-Ecke mit niedrigen Couchen und einem Kicker gab es, für die kreativen Pausen zwischendurch. Aber Diskretion? Fehlanzeige.

»Reden«, wiederholte sie lahm.

»Ja, Buchstaben, Wörter, ganze Sätze«, bestätigte Catherine. »In echt, nicht als Textmessage, wohlgemerkt.«

»Also schön.« Vicky stand auf und dehnte ihre vom langen Sitzen steifen Glieder. »Wenn du darauf bestehst …«

Wissende Blicke flogen hin und her. Dass Vicky ausgerechnet mit der Assistentin des Personalchefs essen ging, würde schneller die Runde in der Firma machen als ein Magen-Darm-Virus in einem Kindergarten. Seit Wochen wurde hinter ihrem Rücken darüber diskutiert, ob sie tatsächlich für den Aufstieg in die Chefetage geeignet sei, das wusste sie. Neider gab es genug, einen Konkurrenten neuerdings auch. Man hatte ihn Vicky direkt vor die Nase gesetzt: Konstantin Lenzendorf, einen Harvard-Absolventen, dem der Ruf des Wo-ich-bin-ist-oben-Überfliegers vorauseilte. Er trug nur Maßanzüge und war auf einschüchternde Weise attraktiv – feingeschnittene Gesichtszüge, dunkles gegeltes Haar, perfekt gestutzter Bart, schmale, auffallend gepflegte Hände. Und intensivgrüne Augen wie die eines Panthers. Jetzt fixierte er Vicky aufmerksam, woraufhin sie bis unter die Haarwurzeln errötete.

»Gehen Sie ruhig schlemmen, Frau Teamleiterin, das Fußvolk arbeitet gern für Sie«, sagte er süffisant. »Möglicherweise bringen Sie uns einen Kaffee, pardon, einen veganen Soja Latte mit einem kleinen Quinoasalat mit?«

Kai Wanner, der neben ihm saß, klatschte ihn lachend ab.

»Durchsage an unsere vegetarische Allergikerin: Vorsicht! Konstantins Texte können Spuren von Ironie und Sarkasmus enthalten!«

Und hallo, da war sie wieder, die Schockstarre, die Vicky unweigerlich befiel, wenn man eine schlagfertige Antwort von ihr erwartete. Falls ihr überhaupt mal was Originelles einfiel, dann spätabends, wenn sie beim Auftragen ihrer Algengesichtsmaske Grimassen im Badezimmerspiegel schnitt.

»Ich glaube, Sie haben da was verwechselt«, flötete Catherine. »Es sind nämlich die Herren, die die Damen verwöhnen sollten. Nur mal als Tipp: Männer, die ihren Frauen den Kaffee ans Bett bringen, werden seltener anonym bestattet.«

Es dauerte eine Weile, bis alle den Witz verstanden hatten. Höfliches Gelächter sprang zögernd an wie ein stotternder Motor, während Vicky ihre Tasche nahm und Catherine auf den Flur folgte. Im Hinausgehen hörte sie noch, wie Kai Wanner tönte, echte Kerle brächten Frauen keinen Kaffee, sondern den Abwasch ans Bett.

Nicht. Witzig.

Kapitel 2

»Künstliche Intelligenz ist mir lieber als natürliche Dummheit«, schnaubte Vicky, als sie in den Aufzug traten. »Hast du gemerkt, wie sich der Lenzendorf aufspult? So ’n Zäpfchen!«

»Die Chefs sind ganz vernarrt in ihn und sämtliche weiblichen Mitarbeiter auch«, erwiderte Catherine schmunzelnd. »Was ist mit dir?«

Ertappt zuckte Vicky zusammen. Noch am Morgen war ihr durch den Kopf gegangen, dass Konstantin Lenzendorf und sie im Grunde ganz gut zueinander passen würden. Beide waren sie zielstrebig, arbeiteten äußerst strukturiert und galten als die Wunderkinder der Firma. Dummerweise waren sie Konkurrenten. Außerdem erschien Vicky der Gedanke einfach nur abwegig, ein derartiges Sahneschnittchen könnte sich für sie interessieren. Dafür fehlte es ihr an allem, worauf solche Supermänner standen: spritziger Humor, weibliche Formen, hammermäßige Erotik. Nichts von alldem hatte sie aufzuweisen. Nur ihren Verstand und einen Arbeitseifer, der an Selbstausbeutung grenzte.

»Lenzendorf? Finde ihn so lala«, winkte sie ab.

Der Aufzug hielt im Erdgeschoss. Catherine streifte Vicky mit einem amüsierten Seitenblick, der darauf schließen ließ, dass sie ihr kein Wort glaubte. Nacheinander durchquerten sie den Empfangsbereich, der ganz in hellgrünem Marmor gehalten war, und passierten eine gläserne Schwingtür, die ins Freie führte. Auf eine belebte Straße, wo nach Vickys Geschmack viel zu viele Menschen unterwegs waren. Catherine hakte sie unter, bevor sie den Bürgersteig entlangschlenderten.

»Und sonst so? Was macht dein Liebesleben?«

»Alles bestens«, versicherte Vicky. »Das mit Manuel ist jetzt was richtig Festes, aber Robin und Viktor sind auch noch am Start.«

Abrupt blieb Catherine stehen.

»Schatz, wir sind uns doch wohl darüber einig, dass du diese drei Herren noch nie in deinem Leben gesehen hast.«

»Wir tauschen uns auf Messenger aus.« Trotzig schob Vicky ihr Kinn vor. »Das ist letztlich viel intimer, als in einer überfüllten Bar rumzustehen und sich gegenseitig irgendeinen beschwipsten Unsinn in die Ohren zu brüllen.«

»Herrje, Vic …«

Jetzt bitte keinen Vortrag über das wahre Leben, dachte Vicky. Warum verstand Catherine nicht, dass manche Leute lieber elektronisch kommunizierten? Neben ihren drei Messenger-Beziehungen hatte Vicky über tausend Freunde auf Facebook, wurde rund um die Uhr mit lustigen Videos auf WhatsApp beglückt, pflegte berufliche Beziehungen auf LinkedIn und ließ die Welt anhand von Instagram-Fotos wissen, was für ein formidables Leben sie führte. Das sollte doch wohl reichen.

»War es das, worüber du mit mir reden wolltest?«, erkundigte sie sich vorsichtig. »Mein Liebesleben?«

»Das interessiert mich erst wieder, wenn du über Hautkontakt berichten kannst.« Catherine lachte. Ihr ganzer Körper bebte vor Erheiterung. »Aber Vorsicht. Wenn die Prinzessin zu lange auf der Erbse rumsitzt, wird sie mürbe und nimmt den erstbesten Frosch. Na ja. Pass wenigstens auf, dass er ein paar Kröten hat.« Ihr Lachen verebbte. »Es geht um die Incentive-Reise. Ich hoffe doch, du bist dabei? Warte, hier ist es.«

Sie zeigte auf ein winziges Lokal zwischen zwei seelenlosen Bürogebäuden. Eine blühende Oase in einer Steinwüste. An der verglasten Front hingen üppige Blumenampeln, davor standen drei Tischchen nebst Gartenstühlen auf dem Bürgersteig, von den vorbeihastenden Passanten durch Terrakottatöpfe mit pinkfarbenen Oleanderbüschen abgeschirmt.

»Entzückend, nicht wahr?«

»Ja – ganz hübsch«, erwiderte Vicky zerstreut.

Seit Catherine das Wort Incentive ausgesprochen hatte, war sie nicht mehr ganz bei der Sache. Normalerweise verstand man darunter Belohnungen wie Reisen, Dienstwagen oder bezahlte Fortbildungen für besonders verdiente Mitarbeiter. So weit die Definition. Doch was sich die Chefetage diesmal als Extra ausgedacht hatte, bedeutete das pure Grauen für Vicky: eine Klettertour in den Alpen.

»Draußen oder drinnen?«, fragte Catherine. Als Vicky nicht reagierte, weil sie auf ihrem Handy eine eingegangene Mail checkte, fügte sie hinzu: »Ach, ich vergaß – du musst ja erst auf deiner Wetter-App nachgucken, ob es warm oder kalt ist, bevor du Entscheidungen triffst. Okay. Lass uns reingehen. Dann können wir in Ruhe reden.«

Abwesend schaute Vicky vom Handy auf.

»Wie du meinst.«

Ein gefühlt schuhkartongroßer Raum empfing die beiden Frauen, mit pfirsichfarbenen Wänden, charmant verwitterten Möbeln im Vintagestil und antiken Milchkannen voller Wiesenblumen auf den Tischen. Stimmengewirr und Lachen erfüllte das Lokal, alle Tische bis auf einen waren besetzt. Vicky hatte sich kaum daran niedergelassen und ihr Handy neben sich gelegt, als sie zu niesen begann.

»Wohl bekomm’s«, wandte sich ein junger Kellner in Jeans und T-Shirt an sie. »Was zu trinken oder lieber ein Taschentuch?«

»Blütenstauballergie«, schniefte Vicky. »Könnten Sie so freundlich sein und das Grünzeug entfernen?«

Fast panisch suchte sie in ihrer Handtasche nach den Antihistamin-Tabletten, was ein bisschen dauerte, weil sie immer überdimensionale Lederbeutel mit sich herumschleppte. Darin befand sich alles, was man so brauchte, von Mineralwasser über Heftpflaster bis zum Pfefferspray. Vicky war nicht der Typ, der irgendetwas dem Zufall überließ. Be prepared lautete ihr Lebensmotto.

»Kann ich behilflich sein?«, grinste der Kellner, während er den Blumenstrauß vom Tisch nahm.

»Lassen Sie mal, meine Freundin hat noch nie etwas in ihrem Beutel gefunden.« Catherine reichte Vicky ein Papiertaschentuch. »Bringen Sie uns bitte ein stilles Wasser. Und die Karte.«

»Das Tagesgericht ist Wiener Schnitzel mit hausgemachten Süßkartoffelpommes«, erläuterte der Kellner, der Vickys Niesen nonchalant ignorierte. »Auch das Backhendl ist superlecker. Oder Sie nehmen die gebackenen Zucchini-Sticks mit Cranberry-Mango-Chutney.«

»Gibt’s hier auch irgendwas, was nicht frittiert ist?«, keuchte Vicky.

»Ja, die Servietten.« Der Kellner tauschte einen Blick mit Catherine. »Möchte Ihre Freundin vielleicht lieber einen Salat?«

»Erraten«, antwortete Cat mit dem Gesichtsausdruck einer Mutter, die ihr verhaltensauffälliges Kind über alles liebt, auch wenn es einige Anstrengung kostet.

»Dann hätten wir einen Wildkräutersalat mit Feigen, Nüssen, Honigtomaten und Minze. Dazu Balsamicodressing.«

»Geht in Ordnung«, meldete sich Vicky schniefend zu Wort. »Aber bitte keine Nüsse, keine Minze und kein Dressing, nur separat ein wenig Olivenöl, falls es kaltgepresst ist.«

»Sie können den Salat auch ohne Salat haben«, sagte der Kellner, ohne eine Miene zu verziehen.

»Passt schon. Für mich bitteschön das Schnitzel und die Süßkartoffelpommes«, ergänzte Catherine die Bestellung. Nachdem der Kellner verschwunden war, beugte sie sich über den Tisch. »Siehst du, war doch gar nicht so schwer.«

Von wegen. Vicky zog einen Flunsch. Derartige Ausflüge in die unberechenbare Realität waren ihr nun mal suspekt. Sie mochte es planbar, übersichtlich, berechenbar. Zu Hause in ihrer Küche hingen die Speisekarten von exakt fünf Lieferservices, die sich kulinarisch bewährt hatten und deren Angebot man bequem im Internet bestellen konnte. Wobei ihr einfiel, dass sie noch eine dringende Mail an den Seniorchef schreiben musste. Mit geisterhafter Geschwindigkeit flogen ihre Finger über das Handydisplay.

»Schatz?« Catherine legte den Kopf schräg. »Entspann dich bitte. Auch du brauchst Auszeiten. Und nicht vergessen: Essen hält Leib und Seele zusammen.«

»Hmja«, brummte Vicky, ohne vom Handy aufzusehen.

Ausgedehnte Mittagspausen waren in ihrem streng getakteten Arbeitstag nicht vorgesehen, so wenig wie das Wohlgefühl eines vollen Magens, das man am nächsten Tag mit Schuldgefühlen auf der Waage bezahlte. Normalerweise gab sie ihrem drahtigen Körper nur genau das zu essen, was er für den bewegungsarmen Schreibtischjob brauchte. Ihre Seele hatte sie irgendwo außer Sichtweite geparkt, da, wo sie nicht störte. Was konkret bedeutete, dass Power Smoothies, Müsliriegel und dann und wann ein Katzenvideo reichen mussten, um Leib und Seele bei Laune zu halten.

Catherine dagegen war das wandelnde Bekenntnis zur weiblichen Kurve. Mit drei Kindern, so bekannte sie, könne sie sich nicht mit Hüftfettproblemen herumschlagen, da gebe es andere Herausforderungen.

»Um auf die Incentive-Reise zurückzukommen«, setzte sie aufs Neue an, »die solltest du unbedingt mitmachen.«

Vicky beendete die Mail. Danach schnäuzte sie sich ausgiebig, setzte sich kerzengerade hin und legte die gefalteten Hände auf die Tischplatte. Wo anfangen? Wo aufhören? Es gab tausend Gründe, warum sie auf keinen Fall mit von der Partie sein wollte.

»Cat, du bist eine wundervolle Freundin und meinst es gut, das weiß ich. Aber ich und ein Betriebsausflug in die Berge? Mit Wanderschuhen und Gruppenbespaßung? Das ist doch wohl ein schlechter Witz.«

»Warte, bis du die Pointe erfährst.« Verschwörerisch senkte Catherine die Stimme. »Das ist keine Belohnungsreise, es ist ein Test.«

Verblüfft kniff Vicky die Augenbrauen zusammen.

»Ein Test? Wofür?«

»Wie dir bestens bekannt sein dürfte, bist du in der engeren Wahl für den Posten des Head of IT und Chief Information Officer. Jedoch nur in der engeren Wahl. Neben Konstantin Lenzendorf ist auch noch Kai Wanner im Rennen. Dreimal darfst du raten, warum: Die Chefs zweifeln an deiner sozialen Kompetenz.« Sie lächelte süßsäuerlich. »In der neuen Funktion würdest du ein achtzigköpfiges Team leiten, und zwar nicht nur fachlich, sondern auch disziplinarisch – dafür braucht man Führungsqualitäten. Du müsstest für deine Mitarbeiter eine motivierende Ansprechpartnerin sein, proaktiv die Herren von der Geschäftsführung beraten, eigenständig internationale Projekte anleiern.«

Vicky rieb ihre juckende Nase, die anschwoll, als sei sie in einen Ventilator geraten. Das Anforderungsprofil der Ausschreibung kannte sie in- und auswendig. Unauffällig linste sie zum Handydisplay, das drei frisch eingetroffene WhatsApp-Nachrichten anzeigte.

»Danke, Liebes, das weiß ich. Oder habe ich etwas übersehen?«

»Sehr gern erzähle ich dir mehr, sofern du mit mir in echt kommunizierst.« Catherine wartete, bis Vicky das Smartphone umgedreht hatte, so dass das Display zur Tischplatte zeigte. »Auf der Kletterreise soll sich erweisen, ob du genügend Teamgeist hast. Ob du transparente Kommunikation hinbekommst. Ob du delegieren kannst. Und nicht zuletzt, ob du unter Stressbedingungen konstruktiv und integrativ agierst.«

Mit offenem Mund saß Vicky da. O Gott. Ogottogottogott. Transparente Kommunikation? Integratives Handeln? Was war das für eine verrückte Welt? Mehr als einmal hatte man ihr bescheinigt, dass ihre Fähigkeiten fast an Genialität grenzten – was sie heillos übertrieben fand, auch wenn ihr kaum jemand das Wasser reichen konnte, sofern es um ungewöhnlich effiziente Software-Lösungen ging. Von ihrer extrem hohen Motivation ganz zu schweigen.

»Ich verstehe das nicht«, stöhnte sie. »Seit vier Jahren arbeite ich in der Firma, hab einen Auftrag nach dem anderen zum Erfolg geführt, so gut wie keinen Urlaub genommen, war nie krank. Ich habe ein Problem nach dem anderen gelöst, an dem sich andere die Zähne ausgebissen haben. Meist arbeite ich sogar am Wochenende, um alles zu schaffen. Und jetzt werden auf einmal meine Fähigkeiten in Zweifel gezogen?«

Sie hätte noch viel mehr anführen können, was für ihre Beförderung sprach, wenn nicht der Kellner mit der Mineralwasserflasche und zwei Gläsern gekommen wäre, woraufhin sie verstummte. Schweigend goss sie die Gläser voll und nahm eine Antihistamin-Tablette, die sie mit einem Schluck Wasser hinunterspülte. Auch Catherine schwieg. Erst als der Kellner außer Hörweite war, holte sie tief Luft.

»In deiner jetzigen Position bist du eine großartige One-Woman-Show, Vic. Doch für einen so hochrangigen leitenden Job ist Teamfähigkeit eine unverzichtbare Kernkompetenz. Wenn du Karriere machen willst, gehört mehr dazu als ein heller Kopf und Fleiß bis zum Umfallen. Man erwartet von dir, dass du Teambuilding beherrschst, die Kollegen einbeziehst, ein Wir-Gefühl erzeugen kannst.«

Vicky starrte in das wohlwollend lächelnde Gesicht ihrer Freundin, deren meerblaue Augen sie erwartungsvoll musterten. Natürlich hatte sie von alldem schon gehört, theoretisch zumindest, aber es war nun mal nicht ihr Ding. So wenig wie die Aussicht, ein ganzes Wochenende mit ihren Kollegen zu verbringen, noch dazu in freier Wildbahn. Sie war ein Stadtmensch, durch und durch, und zog klimatisierte Luft dem berühmten frischen Wind um die Nase vor. Am wohlsten fühlte sie sich in geschlossenen Räumen. Catherine schien ihre Gedanken zu lesen.

»Auch wenn du es grässlich findest, Schatz, es führt kein Weg an dieser Klettertour vorbei. Mein Chef Felix von Mahlzahn will sich persönlich davon überzeugen, dass du die Richtige bist.« Sie hielt inne. »Ob du die Richtige bist«, korrigierte sie sich. »Auch Lenzendorf und Wanner sind dabei, außerdem sechs Mitarbeiter, die von alldem nichts ahnen. Spring über deinen Schatten. Es sind doch nur drei Tage. Du gibst alles, kraxelst auf die Berge, delegierst, integrierst – und startest anschließend durch.«

Das klang plausibel. Und nach der schlimmsten Folter, die sich ein besonders perfider Sadist für Vicky hätte ausdenken können. Ihr wurde mulmig zumute, was sie mit einer Prise Humor zu überspielen versuchte.

»Ein weiser Mann hat mal gesagt: Wenn der Berg ruft, sollte man schnell weglaufen, sonst wird man vom Echo erschlagen. Was hat denn Klettern mit Software zu tun?«

»Es ist ein Manager-Training«, erwiderte Catherine. »Durch besondere Erlebniswelten und die Notwendigkeit von Live-Kommunikation entsteht ein spezieller Flow, in dem man seine strategischen und integrativen Kompetenzen beweisen muss.«

»Auf den Flow kann ich verzichten. Höchstens fliege ich auf die Nase, weil ich mich bei sportlichen Betätigungen offen gestanden ziemlich blöd anstelle.«

»Haha.« Mit dem Zeigefinger malte Catherine unsichtbare Kringel auf die hölzerne Tischplatte. »Wer weiß, vielleicht tut dir ein bisschen frische Luft sogar ganz gut. Seien wir ehrlich: Du arbeitest zu viel. Du hast kein Privatleben – und jetzt sag bitte nicht, dass ein Facebook-Account, jede Menge Follower auf Instagram und drei popelige Messenger-Heinis ein Privatleben sind. Ich mache mir Sorgen um dich. Am Ende schlitterst du in einen Burnout. Und dann?«

Vicky knabberte auf ihrer Unterlippe herum. So sprachen Leute, die noch nicht in der digitalen Welt angekommen waren. Leute wie Catherine, die einen Mann und drei Kinder hatte, was ihre Social-Media-Aktivitäten auf ein Minimum reduzierte.

»Danke, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du um mich besorgt bist. Doch ich kann dich beruhigen: Für einen Burn-out habe ich absolut keine Zeit.«

Kapitel 3

Vicky wäre nicht Vicky gewesen, wenn das Gespräch mit Catherine nicht heftig an ihr genagt hätte. Auch noch am Samstag darauf, als sie mit ihrem treuesten Begleiter, dem Smartphone, daheim in der Küche saß. Seit Jahren arbeitete sie wie besessen auf den großen Karriereschritt hin, und sie hatte keineswegs vor, so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Dafür hatte sie zu viel geopfert. Allein die Bilanz ihrer Partnersuche konnte man nur niederschmetternd nennen.

Nachdenklich versenkte sie einen Teebeutel – Sencha grün, nicht aromatisiert – in einer Tasse mit heißem Wasser. Zwei Fast-Beziehungen waren an ihrem immensen Arbeitspensum gescheitert, an die ebenso spärlichen wie desaströsen Dates aus dem Internet wollte sie lieber erst gar nicht denken. Auf den Partnerportalen wurde geflunkert, dass die Server glühten. Vermeintliche Temperamentsbolzen, die sich als humorvoll und gesellig anpriesen, entpuppten sich als wortkarge Spaßbremsen. Wer wiederum behauptete, er könne gut zuhören, erwies sich garantiert als nervtötender Alleinunterhalter. Kein Problem, solange man die Kerle nicht leibhaftig kennenlernen und bei der Gelegenheit feststellen musste, dass sie auch gleich am ersten Abend schwuppdiwupp in die Kiste wollten. Aber Männerkontakte in echt?

Vicky schüttelte sich unwillkürlich. Sie wollte nicht mehr benutzt werden. Nach einem katastrophalen One-Night-Stand ein Jahr zuvor lag das Thema Männer vorerst auf Eis. So wie das Thema Familie. Das einzige Blind Date, bei dem du die Liebe deines Lebens triffst, ist die Geburt deines Kindes, sagte Catherine immer. Irgendwann würde Vicky das Thema Kinder angehen, ganz bestimmt, aber zunächst wollte sie etwas erreichen. Eins nach dem anderen.

»Familie«, murmelte sie vor sich hin, ein Wort, das rücksichtsloserweise eine unbestimmte Sehnsucht in ihr weckte.

Sie sah aus dem Fenster. Es war ein trüber, nieseliger Morgen, das ideale Wetter, um daheim weiter am A-Projekt zu arbeiten. Hatte ja auch in aller Frühe auf ihrem Facebook-Account gestanden: Guten Morgen, Viktoria, heute bleibst du besser zu Hause, es wird den ganzen Tag regnen. Danach war sie über eine Stunde lang damit beschäftigt gewesen, die Posts ihrer Facebook-Freunde zu sichten, ein paar Likes zu verteilen und ihren drei Messenger-Beziehungen einen schönen Tag zu wünschen. Nun stand die neue Software auf der Agenda, mit der sie den Chefs beweisen würde, was sie draufhatte. Das A-Projekt würde ihr persönlicher Triumph werden, basierend auf der Erfahrung jahrelanger, geradezu manischer Tüftelei am Computer.

Ein feines Pling riss sie aus ihren Überlegungen. Eine WhatsApp-Nachricht war eingegangen, von – sie schaute zweimal hin – Konstantin Lenzendorf! Elektrisiert starrte sie auf die Buchstaben, die seinen Namen formten. In ihrem Magen kribbelte es, als sie die Nachricht öffnete.

Wenn ein Vegetarier eine Hochspannungsleitung anfasst, durch die Ökostrom fließt, stirbt er dann eines natürlichen Todes?

So was Dämliches. Einen winzigen Augenblick lang hatte Vicky für möglich gehalten, dass – ja, was eigentlich? Dass er ihr etwas Nettes schrieb? Oder sogar eine Einladung in ein Restaurant aussprach?

Gehirn an Vicky: Geht’s noch? Vergiss diesen Lenzendorf, und zwar schnell!

Sie atmete schwer. Kaum zu glauben, wie lange es her war, dass sie mit einem Mann zum Abendessen ausgegangen war. Dunkel erinnerte sie sich an ein veganes Restaurant, wo der Chai Latte in ausgehöhlten Avocadohälften serviert wurde, an einen Möhrensalat mit Granatapfelkernen und das enttäuschte Gesicht eines Kandidaten, der vergeblich die Steaks auf der Karte gesucht hatte. Zu einem zweiten Date war es nie gekommen.

Pling.

Ich wünsche dir ein tolles Wochenende, meine Traumfrau. xxx, Manu

Ein Lächeln stahl sich in ihre Züge. Der Süße. Sie mochte Manuel schon allein dafür, dass er sie mit abgeschmackten Sprüchen verschonte, einfach nur an sie dachte, was Liebes schrieb, für sie da war. Ganz im Gegensatz zu diesem Lenzendorf, der nichts Besseres zu tun hatte, als ihr auch noch am Samstag irgendeinen gequirlten Quark zu servieren. Und das Beste war: Manuel drängte keineswegs auf ein Date, sondern schien genauso wenig wie sie scharf darauf zu sein, gute Gefühle durch ein missglücktes Treffen aufs Spiel zu setzen.

Danke, Manu, wie lieb von dir, schrieb sie zurück, du bist mein Traummann und mein Lichtblick!

Sie beendete die Message mit drei X. Ja, so zärtlich gingen sie inzwischen miteinander um: drei Küsschen! Da sollte noch mal einer von seelenloser Technik reden.

Ihr Blick schweifte durch die kleine Küche, über die schneeweißen Fronten, den schwarz-weiß gekachelten Boden. Alles war blitzsauber. Seit Menschengedenken hatte sie hier nichts zubereitet, nur Fertiggerichte aufgewärmt oder die Alufolie von geliefertem Essen aufgerissen.

Beim Gedanken daran, wie wunderbar ihre Mutter einst kochen konnte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Eleonore Elsässer war für ihre Königsberger Klopse berühmt gewesen, für sahniges Paprikagulasch und Schmorbraten mit traumhaften Rotweinsaucen.

Vorbei. Vicky befand sich mittlerweile an einer ethisch korrekten Position der Nahrungskette, ihre Mutter dämmerte in einem Altenheim vor sich hin. Seit sie schwere Rheumamedikamente nehmen musste, verwirrte sich ihr Geist immer mehr, ein Drama auf leisen Sohlen. Vicky rief sie täglich an und besuchte sie jeden Sonntag, manchmal auch unter der Woche. Dennoch, das Verhältnis war eher kühl. Kein Wunder. Als alleinerziehende Mutter hatte es Eleonore Elsässer für richtig gehalten, ihre Tochter früh in ein Internat zu geben – mit dem Resultat, dass Vicky eine Einserschülerin, danach eine Musterstudentin und schließlich eine topqualifizierte Softwarespezialistin geworden war, jedoch kaum eine emotionale Bindung zu ihrer Mutter verspürte.

Sie hat mich immer Vicky genannt. Bin ich je von ihr geliebt worden? Mit Haut und Haar? Schwer zu sagen. Jedenfalls habe ich schon lange kein Zuhause mehr, dachte sie in einer Aufwallung von Trauer, nur eine Wohnung. Das ist nicht dasselbe.

Pling.

Hallo, Schnecke, nicht zu viel arbeiten, ja? YOLO. Big hug, V

So war Viktor, immer aufmerksam, immer fürsorglich. Das Profilbild zeigte einen schmächtigen jungen Mann mit seinem kleinen Sohn auf dem Arm. Das hatte Vicky sofort für ihn eingenommen. Manchmal berichtete Viktor, der von der Kindsmutter getrennt lebte, über die neuesten Kapriolen des kleinen Jungen. Dann fühlte sich Vicky wie eine Tante. Auch Catherines Kinder nannten sie Tante. In gewissem Sinn hatte sie also durchaus eine Familie.

Grüß den Kleinen von mir, antwortete sie, leider habe ich ein wichtiges Projekt, an dem ich feilen muss, aber das wird schon. X, Vic

Es folgte der tägliche Anruf bei ihrer Mutter, die jedoch Schwierigkeiten hatte, die Stimme ihrer Tochter zu erkennen. Ein Stich ins Herz. Vicky kündigte an, am Sonntagabend vorbeizukommen, was Eleonore Elsässer mit dem typischen Gleichmut hinnahm. Dennoch versuchte Vicky, fröhlich und zuversichtlich zu klingen. Sie wollte wenigstens eine gute Tochter sein, wenn ihre Mutter schon nicht die alles verstehende, alles verzeihende, vorbehaltlos liebende Mama war.

Mit dem Smartphone in der Hand wechselte sie ins Wohnzimmer und fläzte sich auf die Couch. Selbst sie musste zugeben, dass ihr winziges Appartement in etwa so persönlich wie die Lobby eines Mittelklassekettenhotels wirkte. Sämtliche Möbel hatte sie nach streng rationalen Erwägungen im Internet bestellt, und das Ergebnis sprach für sich: Wohnen ohne größeren Gemütlichkeitsfaktor, dafür mit praktischem Mehrwert. Die beigefarbene Ledercouch war abwischbar, der buntgemusterte Teppich verzieh Tee- und Rotweinattacken. An den Wänden hingen gerahmte Fotos idyllischer Landschaften, weil Vicky gelesen hatte, der Anblick von Natur wirke sich harmonisierend auf die Stimmung aus.

Pling. Catherine. Zusammen mit dem obligatorischen Katzenvideo schickte sie eine Nachricht:

Hi, Vic, falls du wider Erwarten in der realen Welt unterwegs warst, mit dem falschen Kater aufgewacht bist und ihn ASAP, also schnellstens, aus der Wohnung vertreiben willst, habe ich einen Supertipp für dich: Sei einfach du selbst. LOL. War nur Spaß. Arbeite nicht zu viel, ja? Kiss, Cat

Verrücktes Huhn. Aber Vicky wurde das Gefühl nicht los, dass sich Catherine ernsthafte Sorgen um sie machte. Deshalb bemühte sie sich bei ihrer Antwort um einen lockeren Ton.

Ich wache nur mit einem Kater auf, wenn ich mit dir ausgehe und du mir mal wieder ein Glas Wein zu viel reinschraubst. LOL. Genieße dein Wochenende! Love, Vic

Wie machte es Catherine nur, einen Mann und drei Kinder mit ihrem Job zu vereinbaren? Und dabei stets fröhlich und gelassen zu bleiben?

Hey, Vic, aufwachen, du darfst keine Zeit vertrödeln, flüsterte ihre innere Stimme. Der Weg zur Karriere führt durchs Gebirge. Falls du also wirklich in einer Woche auf diese blöde Klettertour gehst, gibt’s nur eins: Be prepared!

Sie gab sich einen Ruck und huschte durch den Wohnbereich zum Schlafzimmer. Im dem weißgetünchten Raum hatte sie auf jede Deko verzichtet. Das Bett war dreifach verstellbar, damit sie nachts bequem lesen konnte, der verspiegelte Kleiderschrank diente zugleich der Überprüfung ihrer Outfits. Von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne – Vicky war nie dazu gekommen, eine Lampe fürs Schlafzimmer auszusuchen.

Eine Weile stand sie vor dem geöffneten Kleiderschrank. Elegante dunkle Hosenanzüge und weiße Hemdblusen hingen ordentlich gebügelt nebeneinander. Im oberen Fach lagen Jeans, Pullover und T-Shirts, allesamt in Schwarz, Weiß oder gedecktem Grau, ganz unten standen fünf Paar schwarze hochhackige Pumps. Na super. Falls – vor ihrem inneren Auge baute sich das Wort mittlerweile in Großbuchstaben auf –, FALLS sie tatsächlich diese Klettertour mitmachte, waren hochhackige Schuhe so hilfreich wie Essstäbchen beim Verzehr einer Kürbiscremesuppe.

Missmutig schloss sie den Schrank.

Der sensationelle Konstantin Lenzendorf trumpfte bestimmt mit der oberperfekten Ausrüstung auf, Kai Wanner ebenfalls – und sie?

Zurück in der Küche, setzte sie sich an den Tisch und aktivierte ihr Tablet. Als Erstes appellierte sie an die Schwarmintelligenz, indem sie auf Facebook die Frage postete: Hi, Leute, was braucht man fürs Wandern und Klettern? Nach einem Schluck Tee googelte sie zusätzlich alles, was sie zu dieser Frage finden konnte.

Zwei Stunden später hatte sie eine erschreckend lange Liste beisammen, abgesehen davon, dass sie kein Wort von dem irrwitzigen Fachchinesisch verstand. Was, bitte schön, sollte denn eine Loopingleiter sein? Eine Cliphilfe? Ein Zlagboard? Ganz eindeutig bestand akuter Beratungsbedarf, doch die einschlägigen Websites verwirrten sie nur noch mehr. Schöne Bescherung. Sie kam wohl nicht drum herum, ihre Wohnung zu verlassen und sich in den Einkaufstrubel eines feuchtkalten Samstags zu stürzen.

Pling.

Hi, Vic, was geht? Alles okay? Denk an dich, Rob

Der gute alte Rob. Schön, dass es dich gibt,miss U, antwortete sie ungewöhnlich gefühlvoll. Eine gefahrlose Sache, denn kurz nachdem sie Robin auf Facebook kennengelernt hatte, war er für seine Firma nach Hongkong gegangen. Doppelter Sicherheitsabstand also.

Weiter im Projekt Klettertour, ermahnte sie sich. Ihre Recherchen ergaben, dass Outdoor for fun als bestsortierter Laden der Stadt galt. Jedenfalls für arme Irre, die freiwillig den lieben langen Tag durch die Gegend stapften. Vicky verstand es einfach nicht. Schon Spazierengehen hielt sie für Zeitverschwendung, und die Vorstellung, demnächst an einer Felswand zu hängen, unter den hämischen Blicken ihrer Konkurrenten, skeptisch beäugt vom Personalchef, trieb ihr den Angstschweiß auf die Stirn. Zwar verbrachte sie eine Stunde täglich auf ihrem Hometrainer, dehnte sich mit Power Yoga und stählte ihre Arme mit Eisenhanteln, trotzdem traf auf sie wohl immer noch das fiese Etikett zu, das man ihr als Kind verpasst hatte: Bewegungskasper.

Seit sie denken konnte, war sie absurd ungeschickt und tapsig gewesen – vermutlich deshalb, weil ihre überbehütende Mutter sie als Kleinkind immer ausgebremst hatte, wenn sie rennen, klettern oder herumspringen wollte. Einen Stubenhocker hatte Eleonore Elsässer aus ihrer Tochter gemacht, mit besten Absichten und beklagenswerten Folgen. Es fehlte ganz einfach an der geschmeidigen Koordination.

Unliebsame Erinnerungen an den Schulsport stiegen in Vicky hoch, eine schier endlose Abfolge von Qualen. Am meisten hatte sie sich vor dem Schwebebalken gefürchtet. Balancieren, das Gleichgewicht halten, graziös die Arme bewegen? Vicky hatte sich damals so viele blaue Flecken geholt, dass sie mit dem herzerwärmenden Spottnamen Schlumpfine bedacht worden war. Und wenn Mannschaften für Handball oder Basketball gewählt wurden, hatte sie immer bis zuletzt auf der Bank gehockt. Vic, die Niete mit den zwei linken Händen, die über ihre eigenen Füße stolperte.

So was war diesem Lenzendorf bestimmt nie passiert. Der hatte hundertpro alle Beliebtheitsrekorde gebrochen, weil er in jedweder sportlichen Disziplin mit Höchstleistungen glänzte. Das spürte man sofort. Man konnte es förmlich riechen, obwohl er sicherlich nie schwitzte. Als ahnte er, dass sie an ihn dachte, ging eine weitere Message von ihm ein.

Keine Antwort? Dabei meinte ich, einen gewissen Sinn für Humor bei Ihnen ausgemacht zu haben.

Verärgert löschte Vicky die Nachricht. Es gehörte zu den Gepflogenheiten von MediSolutions, unter den Kollegen die Handynummern auszutauschen, damit in dringenden Fällen jeder für jeden erreichbar sein konnte. Dies war jedoch alles andere als dringend. Was bildete sich der Typ eigentlich ein? Dass sie seinen hirnlosen Schwachsinn für die adäquate Freizeitgestaltung hielt?

Es erschien verlockend, mit einer geharnischten Antwort zu kontern, doch Vicky zog es vor, sich in Schweigen zu hüllen. Sollte der doch schreiben, bis er schwarz wurde. Sie würde sich nicht provozieren lassen. Nur ein bisschen öfter von Manuel erzählen und diese Beziehung mit ein paar erfundenen Details ausschmücken. Nimm das, Konstantin Lenzendorf: Ich hab einen festen Freund, und er ist phantastisch!

Sie hatte bereits ihren grauen Regenmantel angezogen, war in ein Paar zierliche schwarze Pumps geschlüpft und öffnete gerade die Haustür, als das nächste Pling ertönte.

Frauen Komplimente zu machen ist wie Topfschlagen im Minenfeld: Zwischen tot und lebendig liegen nur Millimeter. Na ja, das Leben ist kein Ponyschlecken. Freu mich sehr auf Montag, habe soeben das Go bekommen, mit Ihnen am A-Projekt zu arbeiten. LG KL

Wie dreist war das denn? Vicky bebte vor Wut. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie hasste es, wenn jemand auf den fahrenden Zug sprang. Völlig außer sich las sie die Nachricht ein zweites Mal. Tatsächlich. Man zwang sie, gemeinsam mit Lenzendorf das A-Projekt weiterzuentwickeln. Das Programm, dessen Konzeption ganz allein ihr Werk war. Ihr Baby!

In höchster Erregung umklammerte sie das Handy. Sah diesem Lackaffen ähnlich, dass er den Ruhm absahnen wollte, der ihr zustand. Die Masche kannte sie nämlich schon: Es wäre nicht das erste Mal, dass sich ein Quereinsteiger in eines ihrer Projekte einklinkte und hinterher die unverdienten Lorbeeren einheimste, während man ihr nachträglich die Rolle einer zufällig anwesenden Hilfskraft unterstellte – weil sie eine Frau war und Frauen immer noch gern als der dienende Part betrachtet wurden. Selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert.

Sie haben wohl beim Studium ein bisschen zu lang aus dem Fenster geträumt, tippte sie. Die Zusammenarbeit können Sie sich gepflegt von der Backe putzen. VE

Bevor Vicky die Nachricht abschickte, hielt sie kurz inne. Lenzendorf abzublocken war ihr ein innerer Vorbeimarsch, doch taktisch äußerst unklug. Ein gefundenes Fressen für all die Meckerer, die ihr mangelnden Teamgeist attestierten. Zähneknirschend löschte sie Buchstabe für Buchstabe. Danach schlug sie die Haustür so heftig von außen zu, dass das aufgeklebte Namensschild herunterfiel und auf der Fußmatte landete. So, jetzt hatte sie es amtlich: Viktoria Elsässer war soeben auf die Matte gegangen.

Kapitel 4

Angeblich gab es Frauen, die Shopping auf Krankenschein für eine vernünftige Idee hielten, als stimmungsaufhellende Maßnahme gegen seelische Verschattungen sozusagen. Vicky gehörte nachweislich nicht zu diesen Frauen. Sie kaufte das meiste online und ohne größere emotionale Turbulenzen, denn nur ungern vergeudete sie ihre freie Zeit mit dem Besuch analoger Läden. Als sie nach einer geschlagenen halben Stunde Fahrt in einem überfüllten Bus die Welt von Outdoor for fun betrat, wurde ihr schockhaft bewusst, dass sie obendrein in einer Hölle des schlechten Geschmacks gelandet war.

Uff. Gleich am Eingang, auf einem Ständer mit Regenjacken, überfielen sie Farbtöne, die definitiv nicht fürs menschliche Auge geeignet waren. Magenta. Giftgrün. Neongelb. Schreipink. Oder dienten solche Signalfarben dem Zweck, dass Rettungshubschrauber verunglückte Kletterer schneller fanden? Ratternd sprang ihr Kopfkino an und führte ihr den Katastrophenfilm ihres Absturzes vor – von Schürfwunden bis zu Knochenbrüchen war alles dabei. Schock. Das Spektakulärste, was sie in den letzten zehn Jahren erlebt hatte, war Nasenbluten gewesen. Sie fühlte sich außerstande, mehr zu ertragen.

Vicky schluckte. Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Ich will hier weg.

Schwer atmend versuchte sie, den inneren Film zu löschen. Zusätzlich musste sie allerdings den textilen Wahnsinn verkraften, der einem hier zugemutet wurde. Es waren ja nicht nur die Farben. Die Verkaufsflächen quollen über von allen erdenklichen Modesünden. Grellbunte Fleeceshirts wetteiferten mit geblümten Bermudashorts um den ersten Preis imaginärer Bad-Taste-Partys, gruselige Safarihütchen und mehrfarbig bedruckte Basecaps verhießen lachhafte Entstellungen.

Halloween war nichts dagegen. Wer machte bloß so einen Unsinn mit? Eine Frage, die sich auf der Stelle beantwortete, als Vicky sich umsah: Zwischen den Regalen drängten sich lauter kräftig gebaute und offenbar chronisch gutgelaunte Menschen, die alle so aussahen, als würden sie schon vor dem Frühstück einen Halbmarathon laufen.

»Willkommen bei Outdoor for fun«, begrüßte sie ein junger Verkäufer, dessen Oberkörpermuskulatur sein knappes weißes T-Shirt nahezu sprengte. »Kann ich helfen?«

Der Reflex, schleunigst zu flüchten, wurde fast übermächtig. Nein, nein, nicht schlappmachen, korrigierte sie sich. Wer wollte noch mal Head of IT und Chief Information Officer werden? Du stehst das jetzt gefälligst durch, also beiß die Zähne zusammen. Umständlich kramte sie ihr Tablet aus dem Lederbeutel und rief die Liste auf.

»Ich hätte gern eine Funktionsjacke, scheuerarme Unterwäsche, Bergstiefel, Fußpuder gegen Blasen, Travellunches in Plastiktütchen und einen Teleskopwanderstock. Außerdem eine Cliphilfe, ein Zlagboard …«

»Wow. Zwei Monate Trekking im Himalaja?«, fragte der Verkäufer anerkennend.

»Ein Wochenende Klettern in den Alpen.« Vicky hielt ihm das Tablet hin. »Das ist meine Liste.«

»Hm.« Während er die Aufstellung überflog, meinte sie, die Andeutung eines amüsierten Lächelns in seinen Mundwinkeln zu entdecken. »Da fehlt dann aber so einiges. Expeditionsrucksack, Gürteltasche, Seile, Seilsack, Expresssets, Karabiner, Klettergurt, Trittschlingen, Hartschalenhelm, Protektoren für Knie und Schienbeine, atmungsaktive Softshell-Halbfinger-Handschuhe, ergonomische Socken, Schrittzähler, Herzfrequenzmonitor-Gurt, ultraleichte Notfalldecke, Chalkbag mit Erste-Hilfe-Set.«

Vicky war sprachlos. Wollte der Typ sie verladen? Oder bekam er Prozente, wenn er ihr lauter überflüssiges Zeug andrehte? Ungehalten blitzte sie ihn an.

»Ich glaube kaum, dass ich das alles brauche.«

»Und ich glaube, dass Sie sich sehnlichst wünschen werden, all das dabeizuhaben, wenn Sie das erste Mal in einer Felsspalte festsitzen«, konterte er vollkommen ruhig.

In einer Felsspalte … Grundgütiger! Vicky war starr vor Schreck. Klar, dieser geschäftstüchtige junge Mann wollte ihr Angst einjagen. Andererseits wusste niemand besser als Vicky, dass sie gewisse motorische Defizite hatte. Insofern tendierte die Wahrscheinlichkeit, dass sie stolperte, stürzte oder am Ende tatsächlich in einer Felsspalte festklemmte, gegen neunzig Prozent. Vorsichtig geschätzt.

»Kommen Sie, wir fangen bei der Bekleidung an«, schlug der Verkäufer vor, als Vicky keine sichtbare Reaktion zeigte.

Stoisch folgte sie ihm in den hinteren Bereich des Ladens, wo er auf einen Stapel scheußlicher grasgrüner Langarmshirts zeigte, eine Beleidigung selbst für Menschen mit zweifelhaftem Geschmack.

»Wir haben hier sehr schöne atmungsaktive Merino-Unterwäsche«, spulte er seinen Text herunter. »Sie können diese Qualität auch als praktischen Einteiler haben, natürlich power dry und mit Reißverschluss bis zum, äh …«, unversehens geriet er ins Stocken, »… äh, bis … na ja, falls Sie mal, Sie wissen schon.«

Im selben Moment ging Vicky auf, dass es in der alpinen Pampa keine Toiletten gab. Also erledigte man das hinter einem Baum? Einem Gebüsch? Und die Kollegen sahen zu? Konstantin Lenzendorf sah zu? Herr im Himmel!

»Ich, ich – hab’s nicht so mit, ähem, quietschbunt«, stotterte sie. »Gibt’s das auch in Schwarz?«

»Nein. Gemeinhin werden fröhliche Farben bevorzugt, was wir in unserem Sortiment berücksichtigen.«

Fröhlich. Der reine Hohn. Unsicher strich sie mit den Fingerspitzen über den Einteiler, den der Verkäufer ihr hinhielt. Fühlte sich wenigstens flauschig an. Und der hellblau abgesetzte Reißverschluss reichte tatsächlich bis – o mein Gott, es würde ein Abgrund der Peinlichkeit werden!

Der Verkäufer wippte ungeduldig mit dem Fuß. Langsam schien er zu begreifen, dass er eine schwierige Kundin vor sich hatte.

»Gebongt?«

»Größe sechsunddreißig, bitte«, hauchte sie.

Als Nächstes bekam Vicky ergonomische, insektenabweisende Socken, gut belüftet und in der furchtbaren Farbkombination Grün-Blau-Ocker. Protest zwecklos, das seien die besten, insistierte der junge Mann. Dass der ultimative Expeditionsrucksack einen schauderhaften Lilaton hatte, war fast schon zu erwarten. Und die mit Abstand empfehlenswerteste, weil wasser- und kälteabweisende Hybrid-Kapuzenjacke mit Dauneneinlage wartete mit einem Orange auf, das jedem Müllmann zur Ehre gereicht hätte. Nur bei der Hose streikte Vicky. Schwarz. Nichts anderes! Dennoch: Als sie am Ende alles anzog, um das Outfit am Körper auszuprobieren, sah sie aus wie ein farbenblinder Clown.

»Zünftig«, sagte der Verkäufer.

Vicky verkniff sich die Bemerkung, dass sie schon jetzt jedes einzelne Stück hasste. Mit ihrem Ärger fand sie auch ihre Sprache wieder.

»Soeben habe ich mir in den sogenannten Softshell-Handschuhen einen Fingernagel abgebrochen, und ich nehme nicht an, dass Outdoor for fun meine Maniküre zahlt«, brummelte sie. »Außerdem – türkisfarbene Handschuhe zu oranger Jacke und lila Rucksack? Geht gar nicht.«

»Die Sachen sind high-end«, beteuerte der Verkäufer.

Männer hatten einfach keinen Sinn für Farben. Vicky hingegen wurde regelrecht übel von den Klamotten.

»Ja, die Sachen sind einmalig. Sogar mein Essen kommt extra hoch, um sie zu sehen.«

Der junge Mann verdrehte die Augen zur Decke.

»Das sind funktionale Kleidungsstücke, kein Boutiquen-Schnickschnack. Am besten erläutere ich Ihnen jetzt erst mal, wie Sie damit umgehen und welche Ausrüstungsgegenstände Sie dazu kombinieren sollten.«

»Besten Dank, ich denke, die Teile sind selbsterklärend«, entgegnete sie schnippisch. »Den Rest meiner Liste arbeite ich allein ab.«

Für einen Moment sah ihr Gegenüber aus, als gerate seine professionelle Contenance ins Wanken. Er presste die Zähne so fest aufeinander, dass seine Kiefermuskeln hervortraten. Doch dann entspannten sich seine Gesichtszüge, und er grinste belustigt.

»Sie gehören zu diesen neunmalklugen, obertoughen Frauen, die immer denken, sie checken alles auf Anhieb, stimmt’s?«

Vicky fiel die Kinnlade runter.

»Wie bitte?«

Sein Grinsen wurde breiter.

»Kenn ich. Eine wie Sie schmeißt Gebrauchsanweisungen sofort weg und rast dann fünfmal zum Mülleimer, um vorsichtshalber noch mal nachzugucken.«

Einige Sekunden lang schnappte Vicky nach Luft.

»Jetzt werden Sie auch noch unverschämt?«

»Nee, nee, wenn ich unverschämt werde, hört sich das ganz anders an.« Unvermittelt brach er in jungenhaftes Gelächter aus. »Nichts für ungut. Mache ich nämlich genauso, bei Tiefkühlgerichten. Schmeiße die Verpackung in den Müll und hole sie mindestens dreimal wieder raus, weil ich dauernd vergesse, wie lange das Essen in die Mikrowelle muss.«

Nervös ruckelte Vicky an ihrer schwarzen Brille herum. Das nannte man im wahren Leben wohl einen Scherz. Zu dumm aber auch, dass sie völlig aus der Übung war, was ungeplante Begegnungen mit dem anderen Geschlecht betraf. Aus der Übung? Nun ja, im Grunde hatte sie noch nie begriffen, wie so was ablief. Daran hatte auch der dreiwöchige Online-Flirtkurs nichts geändert. Mit Mühe und Not bekam sie ein schiefes Lächeln hin.