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Try until you fail, cry until you laugh
Der 16-jährige Travis hat jede Menge Pläne für den Sommer: mit seinem besten Freund, Spitzname Creature, Basketball spielen; auf dem See herumpaddeln; nach dem hübschen neuen Mädchen in der Nachbarschaft Ausschau halten; nicht in Schwierigkeiten geraten; stattdessen nach seiner Mutter suchen, im Gepäck seine gesamten Ersparnisse, um ihr einen Neuanfang zu ermöglichen. Doch als Creature von einem Gangmitglied angegriffen wird, droht das beiden Jungs zum Verhängnis zu werden …
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Seitenzahl: 391
Veröffentlichungsjahr: 2020
Peter Brown Hoffmeister
Manchmal kann man nur noch lachen
Aus dem Amerikanischen von Bernadette Ott
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Erstmals als cbt Taschenbuch Juni 2020
© 2016 by Peter Brown Hoffmeister
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel
»This is the Part Where You Laugh«
bei Alfred A. Knopf, einem Imprint von Random House Children’s Books,
einer Sparte von Penguin Random House LLC, New York.
© 2020 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
This translation published by arrangement with Random House Children’s Books,
a division of Penguin Random House LLC, New York
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Aus dem Amerikanischen von Bernadette Ott
Umschlaggestaltung: Suse Kopp, Hamburg
Umschlagmotive © Stocksy/Micky Wiswedel
KH · Herstellung: AS
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-19659-2V001
www.cbj-verlag.de
Als dafür alles passt und es dunkel ist, zerre ich die beiden Sporttaschen zum Seeufer. Direkt vor mir schwimmen Schwarzbarsche im Wasser, und ich ärgere mich, dass ich meine Angelrute nicht dabeihabe. Ist aber besser so – bloß nicht auffallen.
Eine von den beiden Taschen zuckt.
Am Ostufer sind mehrere hölzerne Stege, alle gleich lang. Wie Klaviertasten ragen sie in den See hinein, nur dass sie grau sind. Auf keinem davon ist jemand. Das überprüfe ich zwei Mal. Bei dem, was ich jetzt gleich tun werde, kann ich keine Zeugen gebrauchen.
Ich schubse den ersten Kaiman aus seiner Tasche. Die dicken Gummis und das Klebeband sitzen immer noch fest. Der Kaiman verhält sich ruhig, deshalb fange ich an, das Klebeband überall abzuziehen. Als nur noch die dicken Gummibänder um die Kiefer übrig sind, presse ich mit aller Kraft meinen Unterarm auf die Schnauze des Kaimans, wie es mir der Mann, bei dem ich die Tiere gekauft habe, gezeigt hat. Dann ziehe ich die Gummis herunter und springe schnell weg.
Der Kaiman öffnet das Maul und zischt, aber er rührt sich nicht.
»Geh!«, brülle ich. »Ab ins Wasser.«
Er geht nirgendwohin.
»Ins Wasser«, brülle ich noch einmal.
Er bleibt, wo er ist, und zischt mich an.
Ich bewege mich ein paar Schritte rückwärts. Zerre die andere Tasche ein Stück das Ufer hoch, weit genug vom ersten Kaiman weg, aber immer noch nah genug, um ihn weiter im Auge zu behalten.
Als ich den Reißverschluss der zweiten Sporttasche aufziehe, stelle ich fest, dass der Kaiman sich selbst fast überall vom Klebeband und den Gummis befreit hat. Er lässt sein Maul auf- und zuschnappen und wirft sich in der Tasche hin und her, als wollte er eine Eskimorolle üben.
Der Kaiman schlägt mit dem Schwanz nach mir. »Hey!«, rufe ich und ziehe den Reißverschluss schnell wieder zu. Zum Glück hab ich nicht gleich mit der Hand reingegriffen. Ich gehe einen Schritt weg. Warte, dass der Kaiman sich beruhigt.
Nach einer Minute oder so rührt sich die Tasche nicht mehr. Ich mache einen Schritt, ziehe den Reißverschluss ganz auf und springe weg. Der Kaiman windet sich und kämpft und dreht sich mitsamt der Tasche. Dann schiebt er sich durch den offenen Schlitz raus und kommt auf mich zu. Ein letztes Stück Klebeband hängt noch an seinen Hinterbeinen, behindert ihn, lässt ihn schief humpeln, trotzdem – er kommt auf mich zu.
Ich renne davon, ducke mich unter einem Ast durch, stolpere über eine Wurzel und falle vornüber, mit dem Gesicht in den Dreck. Komme hastig wieder auf die Füße, greife nach einem Stock, fahre herum, um mich zu verteidigen. Kein Kaiman da. Jedenfalls kann ich nichts von ihm sehen.
Ich weiß nicht viel über Kaimane, nur was ich im Internet über sie recherchiert habe, nachdem ich den Aushang gesehen hatte. Aber ich weiß, dass sie gern jagen und eine Spitzengeschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern erreichen können. Das beunruhigt mich ein wenig. Und auch die kräftigen Kiefer und die spitzen Zähne.
Ich schleiche vorsichtig zum Wasser zurück und umklammere dabei meinen Stock. Wenn ich Glück habe, sehe ich die Kaimane, bevor sie mich sehen. Aber es ist jetzt richtig dunkel geworden, und ich tu mich schwer, einen Baumstumpf von einem Grasbüschel oder einem kleinen Krokodil zu unterscheiden. Trotzdem schleiche ich weiter. Ich bin jetzt ganz nah am Ufer. Keine Spur von einem Kaiman. Vom ersten nicht und vom zweiten schon gar nicht. Die beiden Sporttaschen liegen irgendwo auf der Erde und die beiden Kaimane müssen auch irgendwo im Dunkeln sein. Ich halte den Stock vor mich und drehe mich langsam, spähe in die Finsternis ringsum.
Ich hatte vor, keine Spuren zu hinterlassen. Es sollte keinen Hinweis darauf geben, dass ich jemals hier war. Aber ich hab auch keine Lust, von einem Kaiman angegriffen zu werden, und es ist jetzt ganz dunkel, und die beiden lauern bestimmt rechts und links von mir auf Beute.
Ich warte. Lausche. Kauere mich hin und spähe in alle Richtungen. Aber es ist zu finster.
Ich bewege mich vorsichtig rückwärts, passe auf, wohin ich meine Schritte setze, bewege mich weiter, spähe im Dunkeln nach verdächtigen Umrissen. An dem großen Baum drehe ich mich um. Nicht mehr weit bis zur Straße. Die Lampen sind angegangen, ihr gelber Schein reicht fast bis zu mir.
Bei meinem Fahrrad angekommen greife ich schnell nach dem Lenker und werfe einen letzten Blick auf den See.
Ich tu’s für dich, Grandma, denke ich, für deinen letzten Sommer, den du hier bei uns erlebst.
Wegen dem Scheißkrebs.
Wegen dem Scheißleben in einem Mobile Home in einem Trailerpark. Nachdem sie ihr ganzes Leben lang für zu wenig Geld hart gearbeitet hat. Als Lehrerin. Von ihren Schülerinnen und Schülern und ihren Schulleitern und der Schulverwaltung mit viel zu wenig Respekt behandelt. Scheißleben hier in diesem Trailerpark. Und nichts mehr tun können, als auf den Tod zu warten.
Wegen dem Scheißkrebs.
Weil ihr das hier mehr Unterhaltung bieten wird. Etwas Abwechslung, wenn sie schon nicht mehr aus dem Haus kommt. Das wird allen hier am See Unterhaltung und Abwechslung bieten. Etwas, worüber sie reden können. Das brauchen sie nämlich.
Ich radle den holprigen Weg bis zur beleuchteten Straße zurück. Der leere Anhänger rattert hinter mir her. Dabei denke ich daran, wie ich neben dem Eingang zur Toilette an der Chevron-Tankstelle den Zettel entdeckt habe. Er war mit Klebeband befestigt. Darauf stand:
EXOTISCHE SÜDAMERIKANISCHE KROKODILE
Super schnell wachsend. Jetzt eineinviertel Meter lang. Notverkauf. Billig.
Und als ich das las, fühlte es sich so an, wie wenn ich auf dem Fahrrad in einen anderen Gang wechsle – es knirscht dann für ungefähr eine Sekunde, als würde die Kette sich verhaken und gleich reißen, aber dann gleitet sie auf das richtige Zahnrad, und plötzlich bin ich im richtigen Gang, und alles läuft wie geschmiert, und ich schnurre die Straße entlang, als würde ich fliegen.
Ich radle bis zur Rückseite des Trailerparks, wo ich mich durch ein Loch in der Hecke zwänge. Bevor ich ganz nach Hause gehe, lege ich noch einen Zwischenstopp bei Mr Tyler ein. Mein Fahrrad mitsamt Anhänger verstecke ich vorher hinter zwei riesigen Rhododendronbüschen. Dann schleiche ich mich zum Eingang seines Wohnwagens, vor dem eine kleine Veranda ist.
Der Gestank ist abscheulich. Ich halte die Luft an und blicke mich nach allen Seiten um, ob irgendjemand in der Nähe ist. Spähe die Straße rauf und runter. Ducke mich auf die oberste Stufe. Warte und lausche. Der Kunstrasen auf der Veranda glänzt im Licht der Straßenbeleuchtung wie hellgrünes Wachs.
Seit Stunden hab ich nicht mehr gepinkelt, meine Blase ist voll. Ich pinkle erst aufs Geländer, mache dann einen Schritt und bespritze den Schaukelstuhl, und ganz zum Schluss dreh ich mich um und lass die letzten Tropfen auf die Treppenstufen tröpfeln.
Keiner sieht mich. Ich hüpfe von der Veranda runter und laufe zurück zu meinem Fahrrad.
Bevor ich in mein Zelt schlafen gehe, schau ich noch mal bei Grandma vorbei. Sie ist im Bett, guckt Jeopardy! und redet mit dem Fernseher. Ich setze mich zu ihr. »Was ist Heliozentrismus?«, sagt sie.
Der Studiogast sagt: »Was ist Heliozentrismus?«
Der Quizmaster antwortet: »Richtig.«
Ich sage: »Hi, Grandma, wie geht es dir?«
Meine Hand liegt auf der Bettdecke neben ihrer. Sie tätschelt meine Finger. »Mir geht es gut«, sagt sie.
»Wirklich?«
Sie lächelt mich an und drückt mir fest die Hand. »Doch. Ja. So gut, wie man es eben erwarten kann.«
Der Studiogast wählt ein anderes Feld und der Quizmaster liest die Antwort vor. Grandma sagt: »Wer ist Heinrich der Achte?«
Der Studiogast sagt: »Wer ist Heinrich der Achte?«
»Ist das eine Wiederholung«, frage ich, »oder weißt du wirklich immer alle Antworten?«
Grandma lächelt mich an. »Ich war sechsunddreißig Jahre lang Lehrerin an einer Highschool, mein Schatz.«
»Und da hast du das alles gelernt?«
»Meine erste Schule war sehr klein. Da musste ich fünf Fächer geben und habe ganz viel gemeinsam mit den Schülern gelernt.« Sie drückt wieder meine Hand.
»Hast du gern unterrichtet?«
»Ja«, sagt sie. »Sehr gern.«
»Erzähl mir eine Geschichte. Von dir als Lehrerin.« Die Geschichten meiner Grandma hab ich immer gern gehört, völlig egal, wovon sie handeln. Wenn Grandma und ich im Kanu zusammen auf den See rausgefahren sind, hat sie mir die ganze Zeit Geschichten erzählt.
»Hmm«, sagt sie. »Lass mich nachdenken …« Ihre Finger trommeln auf meinen Handrücken. Ich merke, dass sie wirklich nachdenkt, denn auf die nächste Jeopardy!-Antwort gibt sie keine Frage.
»Also«, sagt sie dann. »Ich erzähl dir jetzt was aus meinem letzten Schuljahr.« Sie stemmt sich in den Kissen etwas hoch. Lässt sich wieder zurücksinken. »Es war die Abschlussklasse. Fünfunddreißig Schüler. Amerikanische Literatur. Da gab es einen Jungen, der hat mich immer ein bisschen an dich erinnert. Dem Aussehen nach und auch, weil er immer so ernst dreingeblickt hat. Der ist im Unterricht immer eingeschlafen. Eigentlich ein hellwacher Junge, aber ich hab es einfach nicht geschafft, ihn wachzuhalten. Als er dann wieder mal eingeschlafen war, bin ich zu ihm hin, hab mich zu ihm runtergebeugt, ganz nah vor sein Gesicht, und hab ihm auf die Nase gepustet. Davon ist er natürlich aufgewacht, und da hab ich zu ihm gesagt: ›Beinahe hätte ich dir einen Kuss gegeben. Noch eine Sekunde länger und es wäre passiert.‹«
»Das hast zu ihm gesagt?«
»Ja. Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Ich war damals schon fast siebzig, verrunzelt und verhutzelt, und es riss ihn fast von seinem Stuhl, als er mein Gesicht so nahe vor sich sah. Ich habe ihm gesagt, dass ich es kaum erwarten könnte, ihm einen dicken, feuchten Schmatzer auf die Lippen zu drücken. Bei der nächsten Gelegenheit würde ich es tun.«
»Grandma.« Ich schüttle den Kopf. »Danach ist er nie wieder eingeschlafen, oder?«
»Nein«, sagt sie. »Er war ganz oft nahe dran, aber dann ist er jedes Mal wieder hochgefahren und hat sich umgeguckt, wo ich gerade war. Alle anderen in der Klasse haben das natürlich auch gemerkt. Sie haben ihn heimlich beobachtet, vor allem wenn er besonders müde war. Das wurde so etwas wie der Running Gag in der Klasse, es hat das Ganze etwas belebt.«
»Muss für ihn der Horror gewesen sein.«
»Er war ein wirklich netter Junge. Ich habe ihm nur etwas Beine machen wollen.« Grandma stemmt sich wieder ein Stückchen hoch und gibt dabei einen leisen Laut von sich, so als würde sie gerade etwas Spitzes verschlucken.
»Ist bei dir wirklich alles in Ordnung?«, frage ich. »Tut es sehr weh?«
»Ein bisschen. Aber es geht schon.« Sie schließt die Augen.
»Brauchst du was? Eine Tablette?«
»Nein«, sagt sie. »Ich mag keine Tabletten.«
»Ganz sicher? Vielleicht brauchst du ja doch eine.«
»Nein, nein. Danke. Nur ein bisschen Schlaf.«
Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn und stehe auf. »Dann lass ich dich mal allein.«
Ich geh zur Tür, und sie ruft mir noch nach: »Travis, du weißt, wie gern ich dich habe, das weißt du doch?«
Als ich mich umdrehe, hat sie die Augen bereits geschlossen. Ihr Kopf ist zur Seite gesunken.
Meine Augen brennen und ich mache den Mund auf. Aber ich weiß, dass ich nur ein Krächzen herausbekommen würde, deshalb sag ich nichts.
Irgendwie scheint Grandma zu spüren, dass ich immer noch da bin. »Schlaf gut«, sagt sie. »Schon die sechsunddreißigste Nacht, oder?«
»Ja. Gut mitgezählt.«
Sie lächelt, die Augen weiter geschlossen. »Gute Nacht, mein Schatz.«
»Gute Nacht, Grandma.«
Während ich die Tür hinter mir zuziehe, höre ich sie sagen: »Was ist Fotosynthese?« Und kurz darauf den Studiogast: »Was ist Fotosynthese?«
Als ich ins Wohnzimmer komme, ist draußen auf der hinteren Veranda ein Licht zu sehen, ein Funke. Ich bleibe stehen. Wieder ein Funke, dann eine Flamme über einer Pfeife. Ich erkenne das Gesicht meines Großvaters, schwach erleuchtet. Grandpa atmet tief ein, wartet eine Weile, atmet den Rauch dann aus. Er lehnt am Geländer. Blickt nicht ins Haus, sondern auf die Pfeife in seiner Hand. Entzündet noch einmal das Feuerzeug. Stößt Rauchwölkchen aus. Dreht sich um und schaut hinaus auf den See. Ich starre seinen dunklen Rücken an.
Auf dem Tisch im Wohnzimmer liegt ein Briefbeschwerer, glatt und rund und schwer. ZION NATIONAL PARK ist in ihn eingraviert. Einen Moment lang stelle ich mir vor, wie es wäre, das Ding durch die Fensterscheibe zu werfen, sehe die Glassplitter auf meinen Großvater herabregnen. Ich greife nach dem Briefbeschwerer, halte ihn in der Hand. Lege ihn wieder auf den Tisch. Drehe mich um. Gehe ins Bad und putze mir die Zähne, warte, lehne mich gegen die Wand, warte so lange, bis ich meinen Großvater ins Haus kommen und an mir vorbeigehen höre. Die Tür seines Schlafzimmers fällt zu.
Dann verlasse ich das Bad, gehe durchs Wohnzimmer und hinaus auf die Veranda, durchquere die dicken Marihuanarauchschwaden, die unter dem Vordach hängen.
Unten in meinem Zelt hat Creature mir ein weiteres vollgeschriebenes Blatt auf den Schlafsack gelegt.
Gebrauchsanweisung für russische Prinzessinnen
Prinzessin Nr. 3 (zweite Fassung)
Prinzessin Nina Georgijewna, dein Gesicht so lang, dass darauf ein Auto spazieren fahren kann, deine Erinnerungen an deinen Vater indigofarben wie der Anbruch der Mitternacht, er ein Romanow, 1919 hingerichtet.
Du befiehlst mir, vorzutreten. Schaust mich nicht an, während ich dich umrunde. Hältst einen Finger hoch, lässt ihn in der Luft kreisen, und ich umrunde dich weiter.
Königlich. Du streckst mir deine Hand entgegen und ich bleibe stehen.
Dies habe ich zu tun:
Mich vorbeugen. In deiner Handtasche steckt ein Fläschchen reiner mexikanischer Vanille, deren Duft ich hinter deinen Ohren erschnuppere.
Mich hinter dich stellen und dir das Kleid von den Schultern streifen. Mit dem Finger über die erhabene Linie deines Rückgrats streichen.
Meine Daumen dafür gebrauchen, die Knoten in deinen Trapezmuskeln zu bearbeiten.
Geschichten über deinen Vater erfinden, am Leben sei er und halte sich wohlbehalten in Nordeuropa versteckt, in Schweden, in einer Wohnung in Stockholm.
Deinen Kopf zurückneigen und sanft an deinem Hals saugen, bis du schwer atmest.
Dich nach meiner Hand greifen lassen, damit du mit ihr über dein Leibchen streichen kannst, unter dem sich nie ein Büstenhalter befindet.
Dich umdrehen. Vor dir auf die Knie fallen. Während du den Rock lüpfst und der Spitzensaum bis zu deinen Oberschenkeln hochrutscht.
Sonntagabend. Ich gehe am Seeufer entlang. Zu der Stelle, wo ich die Kaimane freigelassen habe. Langsam bahne ich mir zwischen den Brombeersträuchern meinen Weg, ducke mich unter Ranken hindurch und stapfe durch das hohe Gras, das den Trampelpfad überwuchert.
Dabei scheuche ich eine Bullennatter auf, eineinhalb Meter lang und frisch vollgefressen mit einer Ratte. Sie gleitet vor mir den schmalen Pfad entlang, die noch unverdaute Ratte in der Mitte ihres Körpers mitschleifend, und ich grinse und folge ihr, bis sie scharf nach links abbiegt, ins dichteste Brombeerdickicht hinein, und ich sie nicht mehr sehen kann.
In der kleinen Bucht, wo ich die Kaimane freigelassen habe, finde ich nur noch zwei Gummibänder und ein Stück Klebeband. Keine Sporttaschen mehr. Ich schaue mich suchend um, aber ich kann sie nirgendwo entdecken. Jemand muss sie mitgenommen haben. Ich hebe die Gummibänder und das Klebeband auf und stecke alles in die Hosentasche.
Am Ufer müssten jetzt eigentlich die Kadaver kleiner Tiere herumliegen, von spitzen Zähnen zerrissen. Hunderte Abdrücke von kleinen Krokodilsfüßen. Aber es sind keine Spuren und Hinweise zu finden. Ich kauere mich an der Stelle hin, wo der runde Fels sich dem Schlamm entgegenschiebt. Aber auch hier nichts. Ich spähe zu den Büschen, zum Schilfrohr am Ende der Bucht. Unter die herabhängenden Weidenzweige. Ich krieche ins Brombeerdickicht. Allmählich werde ich unruhig. Und wenn die Kaimane auf der Stelle gestorben sind? Wenn sie die erste Nacht nicht überlebt haben, weil es trotz Sommer zu kalt für sie war?
Ich schaue auf und sehe auf einem der Stege ein Mädchen. Ganz in der Nähe, nur ein paar Stege entfernt. Ich habe das Mädchen noch nie hier gesehen. Sie ist ungefähr so alt wie ich. Dünn. Groß. Wirkt sportlich. Glatte dunkle lange Haare. Ich beobachte, wie sie bis zum Ende des Stegs vorgeht, sich bückt, hinkniet und mit einer Hand ins Wasser greift.
Wo ich bin, unter den Brombeersträuchern, fällt in der Abenddämmerung kein Licht mehr hin. Trotzdem robbe ich noch etwas weiter zurück, tiefer in den Schatten hinein. Ich beobachte das Mädchen, warte darauf, was sie als Nächstes tut.
Ich hätte gerne, dass sie ihr T-Shirt auszieht, wie in einem Film nur noch im Bikini oder im BH oder so ähnlich dasteht. Aber das passiert nicht. Sie entdeckt etwas im Wasser und beugt sich vor. Zögert einen Moment. Hockt sich an der Kante des Stegs hin. Dann lässt sie sich ins Wasser fallen. Voll angezogen. Sie landet mit einem Platscher auf dem Gesicht, überhaupt nicht geschmeidig und elegant. Taucht sofort wieder auf, macht ein paar Züge in den See hinaus und schwimmt dort im Kreis herum.
Ich bewege mich etwas nach vorne und versuche zu erspähen, was sie da macht.
Sie schwimmt noch ein paarmal im Kreis, greift ins Wasser und kehrt um. Macht ein paar Schwimmzüge und greift noch mal ins Wasser. Ich kann nicht sehen, wonach sie greift. Ich richte mich auf, um mehr erkennen zu können. Eine Brombeerranke verfängt sich in meinen Haaren. Ich zerre sie weg und mache einen Schritt. Fast aus dem Schatten heraus.
Das Mädchen strampelt im Wasser auf der Stelle, hält ihre beiden Hände wie eine Schöpfkelle zusammen. Sie schwimmt zum Steg zurück, klammert sich mit einer Hand an der Kante fest und lässt aus der anderen etwas in eine Tüte gleiten. Dann zieht sie sich aus dem Wasser, die nasse Kleidung klebt ihr am Körper. Sie steht aufrecht da. Wenn es bloß noch etwas heller wäre, etwas früher am Abend. Dann könnte ich sie besser sehen.
Das Mädchen greift nach der Tasche, geht den Steg entlang zum Ufer zurück, läuft dort die Stufen den Hang hinauf und verschwindet im Garten des dazugehörigen Hauses.
Ich warte. Hoffe, dass sie zurückkommt. Aber das tut sie nicht. Ich beobachte weiter den leeren Steg. Es wird allmählich finster.
Ich gehe den Trampelpfad bis zum Ende des Brombeerdickichts zurück. Danach wird der Weg breiter. Am oberen Ende des Trailerparks kommen zuerst drei alte Wohnwagen, dann die neueren Mobile Homes, sechs hintereinander an der Westküste des Sees. Dann steht man vor dem meiner Großeltern.
Montagmorgen. Der Wecker an meiner Armbanduhr piept, und ich drücke auf den Knopf, um ihn abzustellen. 06:15 Uhr. Ich bin müde, aber ich stemme mich auf die Knie, ziehe den Reißverschluss des Zelteingangs auf und krieche nach draußen. Drehe mich noch mal um, greife nach meinen Socken und meinen Sneakers und ziehe sie an. Dann schnappe ich mir meinen Basketball und dribble zum Haus von Creature, setze mich bei ihm auf die Verandastufen und versuche, nicht daran zu denken, wie müde ich bin. Denke stattdessen an die Ziele, die ich mir für den Sommer gesetzt habe:
Eine Trefferquote von über 50 Prozent pro Spiel erreichenMit dem Ball sicherer werden, meine Dribbel-Skills verbessern, vor allem mit der linken HandKrafttraining machen, Muskeln aufbauen (Push-ups und Pull-ups)Ein paar Minuten später taucht Creature auf. Lässt den Riemen seiner Zeitungsausträgertasche von der Schulter gleiten. Setzt sie neben mir ab.
»Okay«, sage ich. »Dann lass uns mal.«
»Travis, Baby. Ich bin so was von müde.« Creature beugt sich vor und dehnt seine Oberschenkelmuskulatur. »Lass uns noch ein Nickerchen machen. Das Training läuft uns nicht davon.«
»Nein. Damian Lillard war im College jeden Tag der Erste, der in der Turnhalle aufgekreuzt ist. So müssen wir auch werden.«
Creature reibt sich die Augen. »Noch zwei Stunden schlafen und dann treffen wir uns um halb neun?«
Ich versuche, den Basketball mit nur einer Hand zu halten. Aber er rutscht mir davon. Ich versuche es erneut.
Creature sagt: »Oder wie wär’s mit heute Abend?«
»Creat«, sage ich, »du spielst diesen Sommer nicht mal mehr bei den Amateuren. Du musst disziplinierter sein.«
»Aber ich bin ein Dichter«, sagt er, »und poetische Two Guards können wahre Wunder bewirken.«
»Kann ich mich nicht dran erinnern. Was hat der Hallensprecher damals bei dem Turnier in Vegas gesagt?«
»Er hat mich den Cutthroat Creature auf dem Basketballfeld genannt.«
»Genau. Einen mörderisch guten Spieler. Einen, der über Leichen geht. Und mit dem Training im Sommer wetzt du das Messer, mit dem du den anderen Spielern später genüsslich die Kehle durchschneiden kannst.« Ich grinse Creature an. Bin zufrieden mit mir. Normalerweise gelingt es mir nicht, Dinge so poetisch auszudrücken.
»Wie du meinst«, sagt er.
Ich spreize meine Hand breiter über den Basketball. Schaffe es fast, ihn zu halten. Dann rutscht er mir wieder weg.
»So geht das«, sagt Creature und nimmt den Ball. »Du musst den Daumen da reingraben.« Er hält meinen Ball erst mit der rechten und dann mit der linken Hand. Gibt ihn mir zurück. »Hast du das Buch angefangen, das ich für dich dagelassen habe?«
»Das von dieser Schriftstellerin?«
»Ja. Die Kurzgeschichten.«
»Ich weiß nicht, ob ich –«
»Komm mir nicht so.« Er schnippt mit den Fingern und deutet auf mich. »Du willst, dass ich am frühen Morgen Muskeln aufbaue? Dann musst du umgekehrt auch was für deinen Grips tun. Wer will hier wem was beibringen, Baby?«
Ich schüttle den Kopf.
Er sagt: »Ein großer Point Guard ist ein guter Spieler und ein Denker. Ein literarisches Genie. Ein Method Man auf dem Spielfeld.«
Ich drehe den Ball zwischen den Händen. »Okay, du bist der Poet in unserer Mannschaft, dafür mach ich mir gern die Hände schmutzig. Schmeiß mich auf den Boden. Hol auch noch den letzten Ball. So ergänzen wir uns prächtig.«
»Nein«, sagt Creature. »Nein, nein, nein. Wir müssen beide Poeten sein. Wir brauchen eine starke Basis literarischer Gedanken, wenn wir das Pick-and-Roll gewinnen wollen. Kapierst du, was ich damit sagen will?«
»Du klingst wie meine Grandma.«
»Dann hat deine Grandma echt Ahnung. Sie liebt wirkliche Literatur. Und, ach ja, das Buch, das ich dir gegeben hab, ist von Junot Díaz. Der ist voll krass.« Creature streckt mir die Faust entgegen, damit ich dagegenschlage.
»Okay«, sage ich. »Ich werd es lesen. Aber dafür musst du jetzt mit mir trainieren.«
Creature geht ins Haus, kommt zurück und hat jetzt Shorts an, seinen Basketball untergeklemmt und zwei Rice Krispies in der Hand. Er reicht mir eines. »Frühstück für Sieger?«
Ich reiße die blaue Verpackung auf und esse, während wir mit unseren Bällen die Straße entlangdribbeln.
Ich sage: »Von jetzt an nur noch mit der linken Hand.«
Und Creature sagt: »Ich dribble sowieso schon mit links.«
Wir schlagen uns durch die Büsche, springen über die Mauer und überqueren die kleine Brücke, die zur Ayres Road führt. Als wir am Nordufer des Sees angekommen sind, fängt Creature wieder an zu dribbeln. Schaut hinaus aufs Wasser.
Ich fange auch wieder an zu dribbeln. Denke an die Kaimane. Frage mich, ob sie bereits Beute jagen. Frage mich, ob sie sich wohl ein Nest bauen oder sich irgendwo verstecken. Dann denke ich an das Mädchen, wie sie in ihren nassen Klamotten dagestanden hat, wie sportlich und durchtrainiert sie ausgesehen hat. Und ich wünsche mir wieder, sie hätte ihr T-Shirt ausgezogen und ich hätte etwas mehr von ihr gesehen. Oder dass ich näher dran gewesen wäre, näher an ihrem Steg.
Creature sagt: »Das werd ich nie kapieren.«
»Was?«, frage ich und denke immer noch an das Mädchen.
Er zeigt auf das Westufer des Sees, dann auf das Ostufer. »Wie kann die eine Hälfte des Sees für die reichen Leute sein und die andere für den Trailerpark-Trash?«
»Um genau zu sein«, sage ich, »handelt es sich hauptsächlich um angejahrten Trailerpark-Trash.«
»Richtig. Angejahrten Trailerpark-Trash. Aber egal. Jedenfalls ein halber See für die Reichen und ein halber See für Menschen in mehr oder weniger armseligen Wohnwagen und Mobile Homes.« Creature hat den Basketball auf der Hüfte abgelegt, lässt ihn nach vorne rollen und umfasst ihn mit einer Hand. Hält ihn vor sich hin. »In Amerika herrscht eine extreme Disparität von Reichtum und Macht, und was du hier vor Augen hast, ist ein Beispiel für die extreme Disparität der Lebenssituationen.«
»Wow.« Ich nicke anerkennend. »Sag mal, wie viele Punkte hast du eigentlich bei deiner Collegeeignungsprüfung gekriegt? In Englisch, meine ich? Für Ausdruck und Wortschatz?«
»Du meinst beim letzten Test? 790 Punkte, Baby. Weil ich zweimal danebengelegen habe – oder wie ich es zu sagen vorziehe: weil ich in zwei Fällen andere semantische Verknüpfungen hergestellt habe.«
Ich dribble zwischen meinen Beinen hindurch. »Und wie viele Punkte hattest du in Mathe?«
»Darüber lass uns lieber den Mantel des Schweigens breiten.« Creature räuspert sich und spuckt aus. »Mathe ist was für Brave und Folgsame, für die Masse, für Leute, die alles in richtig und falsch einteilen wollen, für die es nur Schwarz und Weiß gibt. Und weil ich gegen alle Arten von Rassismus bin, mag ich deshalb auch Mathe nicht.« Er grinst.
Ich kreise mit dem Basketball ein paarmal um meinen Körper. Lasse danach meinen Kopf kreisen. Sage: »Wie viel hast du in Mathe denn geschafft? 500?«
Creature lacht. »Weit entfernt davon. Zum Glück hab ich Mathe nicht gebraucht.«
Ich dribble tief, gehe in die Knie, um über mein Schienbein zu doppeldribbeln, im AND1-Style, und stauche mir dabei den Daumen. »Autsch.« Ich schüttle den Daumen aus. Biege meine Hand in alle Richtungen.
»Man erkennt einen Mann an seinen Händen.« Creature spreizt die Finger. Rings um die Knöchel ist die braune Haut von feinen hellen Narben durchzogen. »Siehst du die?«, fragt er. »Stolz, das ist es. Darum geht’s. Der richtige Stolz bei den Spielen. Der falsche Stolz auf Partys.«
Ich sage: »Ja, gibt echt viele Arschlöcher da draußen.«
»Kann sein. Aber vielleicht fighten wir ja auch zu viel. Vielleicht sind es viele von diesen Arschlöchern gar nicht wert.« Creature streckt den Ball hoch über den Kopf, hält ihn, als hätte er einen Rebound gefangen. »Ellenbogen immer schön nach außen. Spitz wie Glasscherben.« Er lässt den Ball fallen und beginnt wieder zu dribbeln.
Ich dribble mit ihm. »Gestern Nacht hab ich der Veranda von Mr Tyler wieder einen Besuch abgestattet.«
Creature lacht. »Glaubst du, er weiß, woher der üble Gestank kommt?«
»Keine Ahnung.«
»Lass uns das weitermachen«, sagt Creature. »Manchmal halt ich meine Pisse extra für ihn zurück. Damit er sie haben kann. Wie ein Geschenk, das ich ihm mache.«
»Ja, hat sich bei mir gestern so angefühlt, als würd ich einen ganzen Hektoliter pinkeln. Weil ich’s wie du so lang zurückgehalten habe. Ich hab sogar seinen Schaukelstuhl getroffen.«
»Echt nett«, sagt Creature. »Mr Tyler verdient ein Übermaß unserer Liebe.«
Wenn ich spiele, dann bin ich allein.
So war es auf dem Basketballplatz hinter dem Motel, in das wir gezogen sind, als ich acht war. Und so ist es auch jetzt. Ich bin allein. Auch bei Spielen ist es für mich so, als wäre außer mir niemand sonst auf dem Platz. Einmal bin ich in der sechsten Klasse in einen anderen Spieler voll reingerannt, ein offensives Foul, und ich war total überrascht, weil ich bis zu dem Moment geglaubt hab, ich würde ganz allein spielen. Nur für mich. Ich hab die anderen Spieler gar nicht wahrgenommen. Erst als ich mit einem zusammengekracht bin. Der Typ, den ich gedeckt habe, war für mich gar keine Person, er bestand nur aus Hüften und dem Ball, mehr hab ich von ihm nicht wahrgenommen. Bei einem Pass zwischen den beiden Guards bin ich dann in den anderen reingerauscht und auf einmal sind mir die Augen aufgegangen. Oder genauer, ich hab meine Augen blitzartig viel weiter aufgerissen als vorher. Überall waren da plötzlich Leute, aber nur eine Sekunde lang.
Als ich es beim nächsten Ballbesitz bis zur Freiwurflinie geschafft hatte, waren sie um mich herum sofort wieder verschwunden. Ich stellte mich in Position, dribbelte zweimal, drehte den Ball in der Hand, hob den Arm und atmete tief aus. So ist das für mich. Wenn ich den Ball in der Hand halte, gibt es nichts anderes mehr.
Meine Hände führen ihr eigenes Leben.
Ich muss nichts klauen.
Ich muss auf nichts einschlagen.
Nichts ist mehr wichtig. Außer ob ich das Spiel entscheiden kann oder nicht. Schaff ich es, die beiden Verteidiger auszutricksen? Krieg ich’s hin, beim Pick-and-Slip den Ball mit einem Bodenpass blind rüberzugeben?
Klar hab ich meine Mitspieler und ich bin ein echter Point Guard. Ich liebe es, den anderen die Pässe zuzuspielen. Deshalb können das viele vielleicht nicht verstehen. Wie ich das meine, wenn ich sage, ich fühl mich da ganz allein. Ist wahrscheinlich auch nicht zu verstehen. Andere Basketballspieler kennen das Gefühl wahrscheinlich nicht. Oder vielleicht doch, keine Ahnung. Ich hab jedenfalls noch nie jemanden über ein Spiel genauso wie mich reden hören. So, wie es sich für mich anfühlt. Aber wenn ich mein Spiel spiele, dann fühlt es sich so an. Wenn der Ball sich beim Wurf von meiner Hand löst, was da passiert, ist nicht mehr wirklich. Sobald der Ball weg ist, wenn ich mich in den offenen Raum werfe oder an der Weakside eine neue Verteidigung aufbaue, bewege ich mich wie durch ein Labyrinth.
Creature verlangsamt immer mal wieder seine Schritte, um hinter seinem Rücken zu dribbeln, immer mit links und gegen den Uhrzeigersinn, over the top, durch die Beine und mit einer Drehung wieder zurück zur linken Hand. Ich drehe mich nicht um die eigene Achse oder mach Crossovers oder irgendwelche anderen Freestyle-Sachen, ich bemühe mich nur, dass ich beim Dribbeln nicht aus dem Rhythmus komme und nicht den Ball verliere, und schau dabei immer geradeaus.
Creature sagt: »Du wirst in der Liga in diesem Winter der Top-Point-Guard sein.«
»Wenn sie mich wieder spielen lassen.«
»Da mach dir mal keine Sorgen. Sie werden dich spielen lassen. Unsere Mannschaft braucht dich als Spielmacher. Du bringst die Dynamik rein.«
»Ja, vielleicht.«
»Jetzt denk da nicht weiter drüber nach. Die werden diese kleine Sache schnell vergessen.«
»Diese kleine Sache?«
»Okay, diese große Sache«, sagt er. »Und vielleicht wird sie auch nicht so schnell vergessen sein. Aber sie werden drüber wegkommen. Ich red mal mit dem Trainer. Ich bin jetzt Senior Leader. Ich werd ihm noch mal klarmachen, dass du unser bester Nachwuchsspieler bist und überhaupt – das ist die Wahrheit – der zweitbeste Spieler in unserer Mannschaft.«
Wir joggen und dribbeln auf der Gilham bis zur Kreuzung am Skaterpark. Dort ist ein Basketballfeld, und wir üben, wie man sich aus einer Falle rausdribbelt, wie man beim Seitenwechsel hinter dem Rücken dribbelt, danach Korbleger, mit der rechten und der linken Hand. Wir wechseln uns dabei ab.
Als es Zeit für die Würfe ist, hören wir auf, miteinander zu reden. Das ist meine Regel. Ich sage: »Ein Werfer muss alles andere ausblenden. Kein Gelaber. Kein Gejammer. Keine Entschuldigungen. Kobe Bryant hat zweitausend Würfe pro Tag gemacht, als er seine Wurftechnik trainiert hat. Und damit meine ich, er hat zweitausend Würfe reingekriegt. Da sind die fünfhundert, mit denen wir’s versuchen, nichts dagegen.«
Creature mag die Es-wird-nicht-geredet-Regel nicht, aber er meint achselzuckend: »Okay, du bist der Point Guard.«
Wir teilen uns auf und jeder geht vor seinem Korb an die Arbeit.
Nach den Würfen treffen wir uns in der Mitte des Felds wieder, um unser Training mit Push-ups zu beenden. Für mich echt grausam. Creature schlägt mich bei jedem Set.
Bei der vierten Wiederholung kämpfe ich mit jedem einzelnen Mal. Meine Schultern fangen an zu zucken und meine Brust brennt.
Creature ist schon durch. Er sagt: »Du wirkst ein bisschen zittrig, Baby. Komm schon. Du schaffst es.«
Die letzten Liegestütze mache ich einzeln, einen nach dem anderen, und ruhe mich dazwischen auf den Knien aus. Als ich fertig bin, sind meine Schultermuskeln vorne total verkrampft.
Ich sage: »Fühlt sich so an, als hätte jemand Nägel reingeschlagen.« Ich schüttle meine Arme aus, während ich mich über den Wasserstrahl am Trinkbrunnen beuge.
Creature sagt: »Morgen sind Pull-ups dran, oder?«
Vor zehn Jahren ungefähr, da war ich vielleicht sechs oder auch noch jünger, hatte ich noch nicht diese Wut in mir. Ich war noch klein und hab dauernd die Spritzen geklaut, weil sie überall rumlagen. Ich hab sie dann unter der Matratze des Motelzimmers versteckt, in dem meine Mutter und ich gewohnt haben. Das war in der 7th Street in West Eugene.
Mom hat nach ihnen gesucht, und erfreut war sie nicht, weil sie jedes Mal geglaubt hat, sie hätte sie verloren. Dann hat sie alle unsere Sachen durchs Zimmer geschleudert, die große Tasche, den Rucksack mit meinen Spielsachen, die Handtücher. Hat die Kochplatte nach vorne gezogen, ihre Handtasche durchwühlt, hinter das große Bild gespäht, auf dem eine grüne Wiese zu sehen war, mit Bäumen am Rand, die weiße Stämme hatten. Hat die Nachttischlampe hochgehalten und unter ihr nachgeschaut, hat sie auf den Boden geschmissen. Die Glassplitter der Glühbirne lagen auf dem Boden herum. Sie hat gerufen: »Scheiße, wo sind die …« Dann hat sie mich bemerkt und gesagt: »Tut mir leid. Ich bin nur echt … tut mir leid.«
Ich hab ihr die Spritzen nicht gegeben. Nicht mal, wenn sie so verzweifelt und wütend war. Sie kam nicht drauf, dass ich sie vielleicht haben könnte. Und ich wollte auch nicht, dass sie draufkam. Ich war stolz auf die Spritzen in meinem Versteck. Ich wusste, sie waren ihr total wichtig. Noch bevor ich wusste, wozu sie da waren. Noch bevor ich gesehen habe, wie Mom sie benutzt hat. Ich wollte einfach etwas besitzen, das ihr so wichtig war.
Dann hab ich gesehen, was sie damit gemacht hat. Keine Ahnung, was ich eigentlich damals geglaubt habe, was sie damit macht. Sie dachte, ich würde schlafen, und hat sich auf den Boden gesetzt, den Rücken an die Wand gelehnt, und alles vor sich ausgebreitet, als wäre sie eine Ärztin in einer Fernsehserie. So als würde sie gleich eine Operation durchführen wollen. Ich lag im Bett und blinzelte, um alles beobachten zu können, was sie gemacht hat, jeden Schritt, den ganzen Ablauf – und danach wusste ich, wofür die Spritzen da waren, die ich unter der Matratze versteckt hatte. Na ja, nicht ganz.
Sie machte die Augen zu, während sie es tat, und ihr Mund klappte dabei auf, und sie atmete dabei immer laut und schwer. Warum das alles so war, wusste ich damals natürlich nicht.
Das mit dem lauten, schweren Atmen hörte dann jedes Mal wieder auf, aber ihr Mund blieb offen, und ihr Kopf schlenkerte hin und her. So als hätten sich die Drähte zwischen dem Kopf und dem Hals gelockert und er würde beim Aufstehen runterfallen.
Wenn sie dann so reglos dasaß, hab ich manchmal meine Spritzensammlung aus dem Versteck unter der Matratze hervorgeholt. Ich wusste ja, dass es jetzt eine ganze Weile so bleiben würde. Hab die Spritzen alle vor mich hingelegt, die Nadeln in eine Richtung, wie Kompassnadeln, die nach Norden zeigen. Oder ich hab daraus ein kleines Tipi gebaut, die Nadeln oben kreuz und quer durcheinandergesteckt. Und dann hab ich gespielt, es würde jemand in diesem Tipi wohnen.
Es war immer irgendwann in der Zukunft, wo die Menschen in Häusern ganz aus Plastik wohnten, und der Mann, der unter meinen Spritzen wohnte, war ein Mann, den ich wirklich kannte. Er hieß Zeus und lebte hinter dem Müllcontainer des Motels. Zeus hatte ein lilafarbenes Ballettröckchen an und bettelte immer um Geld. Aber wenn ihm jemand kleine Münzen gab, dann hat er sie ihm ins Gesicht geschmissen. Er hat nur große Münzen behalten. Ich hab ihm nie was gegeben. Manchmal hat er mich am Arm gepackt und festgehalten und sein Ballettröckchen hochgeklappt, und wenn Mom mich gebeten hat, den Müll rauszutragen, hab ich das gehasst, weil ich immer Angst hatte, dass Zeus mich wieder packen würde. Deshalb hab ich auch immer gespielt, dass mein Zelt aus Spritzen zusammenstürzt und Zeus unter sich begräbt. Manchmal hab ich Zeus dabei schreien und qualvoll sterben lassen. Manchmal ist er auch ohne einen einzigen Schrei gestorben, hat gekeucht und gekeucht, bis er endlich Ruhe gab. Mom hatte mir gezeigt, wie man die 911 anruft, aber ich hab die 911 nie angerufen, nicht in meiner Spielewelt und auch nicht in Wirklichkeit, nicht einmal wenn Zeus mein Handgelenk umklammerte, nicht einmal wenn Mom bewusstlos geworden war und ich Angst hatte, dass sie vielleicht nie mehr aufwachen würde.
Einmal ist Mom, sofort nachdem sie eine Spritze benutzt hatte, eingeschlafen. Ihr Kopf baumelte hin und her und sie lehnte wie ein Sack an der Wand. Ich bin aufgestanden und zu ihr hin. Das dicke Gummiband hatte sie immer noch um den Oberarm. Die Nadel der Spritze steckte im Unterarm. Da hab ich sie rausgezogen. Dann hab ich das Gummiband abgezogen und mich neben sie auf den Boden gesetzt. Ich hab die Spritze vor mich gelegt und das Gummiband um meinen linken Oberarm gewickelt, es festgezurrt und das Ende mit den Zähnen festgehalten, wie ich es bei Mom beobachtet hatte. Dann hab ich die Spritze genommen.
Ich hab die linke Hand zur Faust geballt und gewartet, bis in meinem Arm eine blaue Ader hervorgetreten ist. Habe mit der Nadel der Spritze dort hineingestochen. Aber die Nadel rutschte ab, weil ich zu zaghaft war und nicht fest genug zugestochen habe. Ich hatte echt Angst, dass die Nadel mir wehtun könnte. Aber dann hab ich fester zugestochen, und die Haut bildete einen kleinen Hügel, und da ist die Nadel dann hineingeglitten. Einen Moment hat es gepikt, und das war kein schönes Gefühl, aber ich hab einfach weitergemacht und die Nadel weiter reingeschoben.
Dann habe ich gewartet.
Es hat sich aber nichts geändert. Mit der Spritze im Arm war es genauso wie ohne die Spritze und ich hab auch nicht schwer geatmet. Mir war klar, dass ich bei dem Ablauf ein paar Dinge ausgelassen hatte. Aber es hat mir nichts ausgemacht. Ich war ganz froh, dass das mit der Nadel gar nicht so schlimm wehgetan hatte. Und so laut atmen wie Mom wollte ich eigentlich auch gar nicht. Das hat mir immer so ein komisches Gefühl gemacht, so als müsste ich gleich kotzen.
Ich hockte auf dem Boden neben Mom und das war schön. Mit der Spritze und dem Gummiband war ich jetzt wie sie. Ich lehnte mich gegen sie und spürte, wie sie atmete. Ein und aus. Ein und aus. Wieder und wieder. Mein Atem wurde zu ihrem Atem und dann bin ich eingeschlafen.
Ich wachte davon auf, dass sie mich schüttelte.
»Was hast du gemacht, verdammte Scheiße?«, brüllte sie. Dann ohrfeigte sie mich. Es war schlimmer, als wenn Zeus mich am Handgelenk packte. Schlimmer als das mit dem Ballettröckchen.
Mom zog mir hastig die Nadel aus dem Arm und schleuderte die Spritze gegen die Wand, und aus irgendeinem Grund hoffte ich, dass die Nadel dabei nicht kaputt ging. Sogar in dem Moment hab ich daran gedacht, dass ich sie ja später aufsammeln und zu den anderen legen könnte, wenn sie nicht kaputt war.
Mom bohrte mir ihre Fingernägel in die Schultern und schüttelte mich weiter, viermal, fünfmal, und sie schrie und heulte dabei, und ihr Mund war so verzerrt, als wäre sie eine Hexe aus einem Walt-Disney-Film, und ich starrte ihren aufgerissenen Mund an und die braungelben Linien um jeden Zahn. Ich hab versucht, von ihr wegzukommen, aber ihr Griff war zu fest. Sie brüllte: »Was geht in dir da drinnen vor, verdammt? Sag’s mir! Ich will es wissen! Spinnst du oder was?«
Ich sagte: »Ich … ich wollte nur …« Aber mehr hab ich nicht rausgebracht. Wenn ich bloß nicht eingeschlafen wäre, dachte ich. Und warum schrie sie mich denn so an? Es hatte mir nichts ausgemacht, dass die Nadel noch in meinem Arm steckte, es hatte auch nicht wirklich wehgetan. Und ich hatte schon so lang wissen wollen, wie es sich anfühlte. Aber ich ärgerte mich, dass sie mich dabei erwischt hatte.
Dann hörte Mom plötzlich auf, mich zu schütteln, und umarmte mich stattdessen. Sie fing an, sich mit mir hin- und herzuwiegen, und zog mich auf ihren Schoß und heulte dabei und drückte mich so fest, dass ich den Kopf zur Seite drehen musste, um noch Luft zu bekommen. Der Geruch von gebratenen Zwiebeln bei Taco Bell stieg mir in die Nase. Sie schluchzte, und ihre Stimme klang tränennass und wirr, als sie sagte: »Ich hör auf. Ja, das tu ich. Ich tu’s wirklich. Glaubst du mir das? Das musst du mir glauben.« Sie zitterte am ganzen Körper und schluchzte noch stärker. »Ich bin damit durch, verstehst du? Fertig. Fix und fertig damit. Durch, durch, durch.«
So hat sie das gesagt. Aber sie wurde immer fix und fertiger.
Mittag. Wir sind beim Haus meiner Großeltern. Creature sagt: »Ich hab eine neue Prinzessin aufgetrieben.«
»Was hast du?«
»Superscharf, Baby. Aus dem 14. Jahrhundert. Die heilige Anna von Kaschin.«
»Eine superscharfe Prinzessin aus dem 14. Jahrhundert?«
»Ein Prachtweib.« Creature zwinkert mir zu. »Jedenfalls sieht sie auf dem Gemälde so aus. Mit einem Heiligenschein um den Kopf. Hey, kannst du dir das vorstellen: mit jemandem rumzuknutschen, der einen goldenen Heiligenschein um den Kopf hat?«
Ich sage: »Kann aber schon sein, dass sie im wirklichen Leben diesen goldenen Heiligenschein gar nicht gehabt hat, das weißt du doch, oder?«
Creature lässt den Basketball auf seinem Zeigefinger drehen, tippt ihn mit der linken Hand an, sorgt dafür, dass er sich weiterdreht. »Ich glaube an Heiligenscheine. Du glaubst, woran du glauben willst, und ich glaube, woran ich glauben will, okay?«
Ich versuche, meinen Ball auf meinem Zeigefinger zu drehen, aber diesen Trick hab ich noch nicht drauf. Der Ball fällt mir immer wieder runter.
Creature sagt: »Und dieses Mädchen kommt in meinen Prinzessinnenführer. Ganz klar. Sie ist eine wichtige Ergänzung. Hast du gelesen, was ich dir hingelegt habe?«
»Ja.«
»Und – wie hast du’s gefunden?«
»Sehr, sehr merkwürdig, Alter.«
»Ach ja?«, sagt er.
»Genau wie das Buch. Und was du schreibst, hört sich komplett anders an als das, was du sonst so von dir gibst.«
»Ich weiß, Baby.« Creature zieht eine Augenbraue hoch. »Das ist ja auch der Zauber meiner Gebrauchsanweisung. Das bringt in mir so richtig den Dichter hervor. Den Pablo Neruda: Leib eines Weibes, weißblanke Hügel, blanke Schenkel, du gleichst der Welt, so weit, so willig, wie du dich hingibst.«
»Creat, ich glaub, in deinem Kopf geht krass was durcheinander.«
»Glaubst du?« Creature kreist um einen unsichtbaren Verteidiger, dribbelt danach zwischen seinen Beinen hindurch. »Ich weiß eben, was ich mag. Basketball und Bücher. Nichts sonst.« Er setzt zu einem Jump Shot an, wirft dann aber doch nicht. Er sagt: »Hey, willst du nachher mit uns unter der Brücke spielen?«
»Klar, wenn da ein Spiel läuft.«
»Müsste eins laufen«, sagt er. »Dann treffen wir uns dort?«
»Jep. Und viel Glück mit deinem russischen Heiligenschein-Mädchen.«
»Oh, da mach dir mal keine Sorgen. Sie ist schon mein.«
Fast nur kleine Dinge. Mehr nicht. Ohne zu wissen, warum eigentlich. Ich mag einfach das Gefühl. Den Moment, wenn ich das Ding in die Hand nehme und in die Hosentasche gleiten lasse. So als gäb’s da irgendwo in mir Gitarrensaiten und die tiefste würde anfangen zu vibrieren. Ein ganz dunkler Klang.
Spielt keine Rolle, was es ist, ein Schokoriegel, ein Schlüsselanhänger, Christbaumschmuck. Muss auch gar nicht viel wert sein. Das ist mir total egal. Wenn ich dann aus dem Laden rausgegangen bin und sie mich nicht erwischt haben, werfe ich es manchmal ins Gebüsch. Interessiert mich nicht weiter. Später fühle ich mich fast jedes Mal schlecht. Frage mich, was eigentlich mit mir nicht stimmt. Aber wenn ich dann das nächste Mal in einem Laden bin, spür ich den Drang wieder und fang an zu denken: Was, wenn ich einfach rausgehe? Was, wenn ich das einfach in die Tasche stecke? Oder noch besser, wenn ich es in der Hand behalte und so geschmeidig und langsam rausgehe, dass mich dabei niemand bemerkt?
Manchmal schließe ich die Augen und sehe deine Hände vor mir: geschwollen, von Wind und Wetter rau, rissig, rosa, wo der Schorf abgesprungen ist, an manchen Stellen nässende Wunden. Zu viel draußen sein, zu viel draußen kochen und essen, zu viel draußen schlafen, im Dreck und Müll der Stadt. Zu wenig Händewaschen.
Diese Hände hab ich schon immer gekannt. Kleine Hände, nadelzerstochen, zerkratzt, schwarze Trauerränder unter den Fingernägeln, unförmig lange Fingernägel, abgebrochene Fingernägel, eingerissene und gezackte Fingernägel, so als hätte irgendeiner im Vollsuff eine Hecke geschnitten.
Ich schaue auf meine eigenen Hände. Denke darüber nach, was gerecht und was ungerecht ist. Frage mich, ob ich die Hände, die ich habe, verdient habe: denen man ansieht, dass sie Wasser und Seife kennen, keine perfekten Hände, aber sauber. Ohne Entzündungen. Keine Schmerzen. Ich muss mir nichts dabei denken, wenn ich sie aus der Tasche ziehe, damit Essen koche, nach dem Basketball greife.
Ich überlege, ob unsere Hände uns schon immer gegeben sind. Ob die Hände, die wir später als Erwachsene haben, bereits von Geburt an da sind. Ob sie auf das Leben warten, das sie mit uns führen werden, auf unsere Zukunft. Oder haben wir uns unsere Hände gewählt? Sind sie das Ergebnis unseres Lebens? Unserer Entscheidungen? Wenn es so ist: Hast du dir dann deine Hände gewählt?
Das ist die große Frage, die mich umtreibt: Würde jemand solche Hände, wie du sie hast, wählen?
Mein Großvater sitzt im Arbeitszimmer und wühlt in einer Schublade herum. Ich kann nicht hören, ob Grandma auch schon wach ist.
Ich sage: »Hey.« Aber Grandpa hört mich nicht. Wahrscheinlich hat er seine Hörgeräte noch nicht eingesetzt. Ich gehe an ihm vorbei in die Küche.
Dort schlage ich am Tassenrand ein Ei auf, lasse es hineingleiten und schlucke es hinunter. Dann denke ich daran, wie viel Protein ich brauche, um zu wachsen und so groß und stark wie Creature zu werden, deshalb schlage ich noch ein Ei auf und schlucke es ebenfalls hinunter. Danach schütte ich eine Portion Crunchies in eine Schüssel, fülle sie mit Milch auf und hol mir einen Löffel.
Grandpa kommt herein und setzt sich mir gegenüber hin. Er befestigt am rechten Ohr sein Hörgerät. Sagt: »Wie viele Nächte hintereinander sind es jetzt?«
Ich schlucke meinen Löffel Crunchies hinunter. »Heute ist der 28. Juni. Also sind es bis jetzt achtunddreißig Nächte.«
Er nickt. »Und was ist dein Ziel?«