MANIAC - Benjamín Labatut - E-Book

MANIAC E-Book

Benjamín Labatut

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Beschreibung

MANIAC erzählt von den Träumen und Albträumen des vergangenen Jahrhunderts. Von seinen kühnsten Denkern und ihren abgründigsten Hinterlassenschaften. Es beginnt mit John von Neumann - einer der Väter der Atombombe, Erfinder der Spieltheorie und Pionier der künstlichen Intelligenz. Und endet mit einer der großen Fragen unserer Gegenwart: Können wir Menschen unser Verschwinden doch noch verhindern?

Er ist ein so bewundertes wie gefürchtetes Ausnahmetalent. Der Pionier der Künstlichen Intelligenz, der Vordenker des Personal Computers, der Erfinder der Spieltheorie und Geburtshelfer der Atombombe beim Manhattan-Projekt: John von Neumann. Sein Wirken umfasst das 20. Jahrhundert, seine Geschichte handelt von einem exzentrischen Geist, der alle Grenzen des Denkbaren sprengt und die Welt aus den Fugen hebt.

Auf meisterhafte Art verknüpft MANIAC John von Neumanns Schicksal mit dem des gepeinigten Physikers Paul Ehrenfest, der im Deutschland der 1930er Jahre zunehmend panisch den Einzug des tyrannischen Irrationalen vorhersieht, und endet mit einem Zweikampf zwischen Mensch und Maschine: dem weltbesten koreanischen Go-Spieler Lee Sedol und der Künstlichen Intelligenz AlphaGo. In ihr kulminiert die Vision von Neumanns: eine autonome Maschine, eine Intelligenz, die sich gänzlich der menschlichen Kontrolle entzieht …

Lieblingsbuch von Barack Obama 2023

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Seitenzahl: 411

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Cover

Titel

Benjamín Labatut

Maniac

Roman

Aus dem Englischen von Thomas Brovot

Suhrkamp Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The MANIAC bei Penguin Press.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der deutschen Erstausgabe, 2023.

Deutsche Erstausgabe© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023 © 2023 by Benjamín LabatutHadewijch«, adaptiert von Eliot Weinberger in Angels & Saints, ©2020 Eliot Weinberger. Abdruck mit Genehmigung von New Directions Publishing Corp.Fotografie von Lee Sedol © 2016 Geordie Wood

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke, Naumann, Thoben, Köln

Umschlagabbildung: modifizierte Version eines Bildes, das von © Bennett Miller mit dem KI-Programm DALL.E2 erstellt wurde.

eISBN 978-3-518-77733-6

www.suhrkamp.de

Widmung

Für Juana, Julieta, Kali und Pina

Motto

Ich sah eine Königin in einem goldenen Kleid, und ihr Kleid war voller Augen, und alle Augen waren transparent, wie feurige Flammen und doch wie Kristall. Die Krone, die sie auf ihrem Kopf trug, hatte, eine über der anderen, ebenso viele Kronen, wie Augen waren auf ihrem Kleid. Sie stob auf mich zu, setzte mir ihren Fuß an die Kehle und rief mit schrecklicher Stimme: »Weißt du, wer ich bin?« Und ich sagte: »Ja! Lang hast du mir Weh und Leid gebracht. Du bist meiner Seele Vernunft.«

Hadewijch von Brabant, Dichterin und Mystikerin aus dem 13. Jahrhundert

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

PAUL.

oder

Die Entdeckung des Irrationalen

JOHN.

oder

Die Wahnträume der Vernunft

I Die Grenzen der Logik

Eugene Wigner.

Nur er war ganz und gar wach

Margit Kann von Neumann.

Verwöhnt, wild

Nicholas Augustus von Neumann.

An der Spitze seiner Horde

Mariette Kövesi.

Der Teufel an deiner Tür

George Pólya.

Was für ein Junge ist das?

Theodore von Kármán.

Manche verloren ihren Verstand

Gábor Szeg

ő

.

Ein gottförmiges Loch

Eugene Wigner.

Der Albtraum eines Mathematikers

II Das prekäre Gleichgewicht des Schreckens

Richard Feynman.

Ich sah nichts als Licht

Klára Dan.

Eine mathematische Waffe

Oskar Morgenstern.

Ein seltsamer Engel

Eugene Wigner.

Die ungarischen Reiter der Apokalypse

Julian Bigelow.

Versengte Schnurrhaare und verbranntes Fell

Richard Feynman.

Und die Welt steht in Flammen

III Gespenster in der Maschine

Julian Bigelow.

Ein echt verrückter Wissenschaftler

Sydney Brenner.

Ein wahrer Prophet

Nils Aall Barricelli.

Höhlenmenschen haben die Götter erschaffen

Klára Dan.

Ein Wetterkrieg

Eugene Wigner.

Ein biologisches Bedürfnis

Marina von Neumann.

Was ist eins plus eins?

Vincent Ford.

Wir hörten die Maschinen zum Leben erwachen

Eugene Wigner.

Gegen den Fortschritt ist kein Kraut gewachsen

LEE.

oder

Die Wahngespinste der künstlichen Intelligenz

Prolog

Der Starke Stein

Geisteskind

AlphaGo

Eine urplötzliche, gewagte Invasion

Eine unglaubliche Schönheit, nicht von dieser Welt

Eines der zehntausend Dinge

Göttliche Berührung

Game over

Berechne, vergiss den Instinkt

Epilog. Der Gott des Go

Informationen zum Buch

Maniac

PAUL

oder Die Entdeckung des Irrationalen

Am Morgen des 25. September 1933 betrat der österreichische Physiker Paul Ehrenfest in Amsterdam die Einrichtung für behinderte Kinder des Pädagogen Professor Jan Waterink, schoss seinem fünfzehnjährigen Sohn Wassily in den Kopf und richtete anschließend die Waffe gegen sich selbst.

Paul war auf der Stelle tot, während Wassily, geboren mit dem Down-Syndrom, noch stundenlang litt, ehe die Ärzte, ebenjene, die den Jungen seit seiner Ankunft im Januar desselben Jahres betreuten, auch ihn für tot erklärten. Nach Amsterdam war er gekommen, weil sein Vater beschlossen hatte, dass das Heim in Jena, in dem der Junge fast ein Jahrzehnt verbracht hatte, nicht mehr sicher für ihn war, seit in Deutschland die Nazis die Macht übernommen hatten. Wassily – oder Wassik, wie ihn fast alle nannten – hatte in seinem kurzen Leben mit schweren geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen zu kämpfen; für Albert Einstein, der den Vater des Jungen in sein Herz geschlossen hatte wie einen Bruder und die Ehrenfests in ihrem Haus in Leiden oft besuchte, war Wassik der »kleine, geduldige Krabbelmeier«, weil er so große Mühe hatte, sich fortzubewegen, manchmal auch so starke Schmerzen in den Knien, dass er nicht stehen konnte. Doch selbst in solchen Momenten verlor das Kind nicht seine schier grenzenlose Begeisterung und schleppte sich, die nutzlosen Beine hinter sich herziehend, über den Teppich, um seinen liebsten »Onkel« an der Tür zu begrüßen. Wassik verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in einer Anstalt, und dennoch war er ein fröhliches Kind, oft schickte er seinen Eltern Postkarten mit idyllischen deutschen Landschaften nach Holland oder Briefe, in denen er seinen Alltag schilderte, geschrieben mit unsicherer Hand, und darin erzählte er ihnen, was er Neues gelernt habe, wie sein bester Freund krank geworden sei, wie sehr er alles dafür tue, ein guter Junge zu sein, genau so, wie sie es ihm beigebracht hätten, und wie verliebt er sei, nicht nur in ein Mädchen aus seiner Klasse, sondern in zwei und dazu auch in seine Lehrerin Frau Gottlieb, die warmherzigste und wunderbarste Person, der er je begegnet sei, was seinem Vater die Tränen in die Augen trieb, denn Paul Ehrenfest war zuerst und vor allem Lehrer.

Paul hatte sein Leben lang unter Schwermut und Anfällen von lähmender Depression gelitten. Wie sein Sohn war auch er ein schwächlicher Junge gewesen, häufig krank. Wenn er nicht Nasenbluten hatte, aufgrund seines Asthmas hustete oder, schwindelig und keuchend, um Luft rang, nachdem er den unvermeidlichen Rabauken entkommen war, die ihn auf dem Schulhof hänselten und verspotteten – Schweineohr und Eselsohr weist ein Jud am liebsten vor! –, simulierte er ein anderes Leiden, Fieber etwa, eine Erkältung oder fürchterliches Bauchweh, dann konnte er zu Hause bleiben, geschützt vor der Außenwelt und gekuschelt in die Arme seiner Mutter, als hätte der kleine Paul, der jüngste von fünf Brüdern, tief in seinem Inneren schon vorausgesehen, dass sie sterben würde, wenn er zehn wäre, und dass all seine Qualen dann nichts anderes gewesen wären als eine Vorahnung, eine Vorwegnahme des Verlusts, über den er aber nicht zu sprechen wagte, weder vor sich noch vor anderen, aus Angst, ihr Tod könnte ihm, sollte er den Mut finden, es in Worte zu fassen, auf die ein oder andere Weise entgegeneilen; also schwieg er, ängstlich, traurig, und schulterte eine Last, die kein Kind tragen sollte, ein dunkles Vorauswissen, das ihn auch nach ihrem Tod und nach dem Tod seines Vaters sechs Jahre später noch verfolgte, eine Gewissheit, die ihm im Nacken hing wie das Läuten einer Glocke, bis zu dem Tag, an dem er, mit dreiundfünfzig Jahren, seinem Leben von eigener Hand ein Ende setzte.

Sosehr er mit sich und der Welt haderte, war Paul doch der Begabteste in seiner Familie und der beste Schüler in allen Klassen, in denen er jemals saß. Er hatte Freunde, war beliebt, die Klassenkameraden blickten zu ihm auf, und auch die Lehrer schätzten ihn, aber nichts vermochte ihn in seinem Selbstwert zu bestärken. Dennoch war er keineswegs introvertiert, im Gegenteil; was immer er aufnahm, sprudelte nur so aus ihm heraus, seine Umgebung entzückte er mit einem Feuerwerk an Wissen und einer schon unheimlichen Fähigkeit, die kompliziertesten Ideen in Bilder und Metaphern zu übersetzen, sodass alle sie verstehen konnten, dabei verknüpfte er Konzepte aus den verschiedensten Bereichen, Vorstellungen, die er aus einer stetig anwachsenden Zahl von Büchern bezog und mit seiner schwammartigen Intelligenz gierig aufsog. Paul war in der Lage, unterschiedslos alles um sich herum zu absorbieren. Sein Verstand war ganz und gar durchlässig, vielleicht fehlte ihm eine entscheidende Membran, und so war es weniger ein Interesse an der Welt als vielmehr die Welt, die ihn mit ihren vielen Formen bestürmte. Derart ungeschützt, fühlte er sich nackt, hilflos den Informationen ausgesetzt, die seine Blut-Hirn-Schranke immerfort in beide Richtungen passierten. Selbst als er promovierte und sich später als Professor einen Namen machte, nachdem er die Nachfolge des großen Hendrik Lorentz angetreten hatte und den Lehrstuhl für theoretische Physik an der Universität Leiden übernahm, war das Einzige, was Paul wirklich Freude bereitete, die Hingabe an andere, was einen seiner vielen geliebten Studenten zu der Bemerkung veranlasste, dass »Ehrenfest alles, was in ihm lebendig war und wirkte, weitergab«. Manchmal habe es ausgesehen, »als würde er alles Gefundene oder Beobachtete verschenken, ohne etwas in Reserve zu halten und ohne inneres Refugium«.

Als Physiker machte er zwar keine weltbewegenden Entdeckungen, genoss aber die Hochachtung solch herausragender Persönlichkeiten wie Niels Bohr, Paul Dirac und Wolfgang Pauli. Albert Einstein schrieb, bei seiner ersten Begegnung mit Ehrenfest sei ihm innerhalb weniger Stunden gewesen, »als ob unsere Träume und unsere Bestrebungen füreinander gedacht wären«. Alle diese Freunde bewunderten nicht nur Pauls Intellekt und sein kritisches Denken, sondern noch etwas anderes, eine Tugend, die manche Geistesgrößen vermissen lassen: Ethos, Charakter, dazu ein tiefes, manche würden sagen unwiderstehliches Verlangen, die Dinge zu verstehen und das Wesentliche zu erfassen. Ehrenfest suchte unermüdlich nach dem, was er den »springenden Punkt« nannte, den Kern der Sache, ihm reichte es nicht, ein Ergebnis rein logisch herzuleiten: »Das ist wie Tanzen auf einem Bein«, sagte er, »dabei kommt es darauf an, Zusammenhänge zu erkennen, Bedeutungen, Assoziationen, und das in alle Richtungen.« Wahres Verständnis war für Ehrenfest eine Erfahrung des ganzen Körpers und bezog das gesamte Dasein mit ein, nicht nur den Kopf oder den Verstand. Er war Atheist, ein Zweifler und Skeptiker, mit einem so rigiden Wahrheitsanspruch, dass er unter seinesgleichen zuweilen zur Witzfigur wurde: 1932, als sich am Niels-Bohr-Institut in Kopenhagen drei Dutzend europäische Granden der Physik zu einer Konferenz trafen, wurde am Ende, zur Feier des hundertsten Todestages von Goethe, eine Faust-Parodie aufgeführt, und Paul bekam die Rolle des großen Gelehrten Heinrich Faust, der nicht bereit ist, sich von Mephistopheles, dargestellt von Wolfgang Pauli, von der Existenz des Neutrinos überzeugen zu lassen, dieses neu postulierten Teilchens. Man nannte ihn das Gewissen der Physik, und auch wenn die Bezeichnung mit einem kleinen Stachel daherkam, da Ehrenfest sich unbeirrt dem Weg widersetzte, den nicht nur die Physik, sondern die gesamte exakte Wissenschaft in den ersten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts einzuschlagen schien, besuchten ihn viele seiner Kollegen regelmäßig in seinem Haus in Leiden, von der Universität getrennt nur durch eine Gracht, um ihm ihre Ideen probehalber vorzutragen, ebenso seiner Frau, denn Tatjana Alexejewna Afanassjewa war eine versierte Mathematikerin, auf deren Urteil sie vertrauten. Einige der bedeutendsten wissenschaftlichen Arbeiten Ehrenfests verfasste sie gemeinsam mit ihm, darunter ebenjene, die ihn bekannt machte (ihre eigene Karriere dagegen kaum beförderte) und die schließlich zu seiner Berufung als Nachfolger des hochverehrten Lorentz führte: ein enzyklopädischer Artikel über statistische Mechanik, Lieblingsthema seines Mentors, des unglückseligen Ludwig Boltzmann. Boltzmann war einer der energischsten Verfechter der Atomhypothese, ein echter Wegbereiter, der als Erster entdeckte, welche Rolle die Wahrscheinlichkeit für die Eigenschaften und das Verhalten von Atomen spielt. Wie Ehrenfest hatte auch Boltzmann in seinem ruhelosen Leben schwer zu leiden, geplagt von manischen Anfällen, gegen die er nichts auszurichten vermochte, und abgrundtiefer Depression, in ihren Auswirkungen noch verstärkt durch die giftige Feindseligkeit, die seine revolutionären Ideen unter den Kollegen heraufbeschworen. Ernst Mach, ein überzeugter Positivist, der behauptete, die Physik dürfe von Atomen einzig und allein als von theoretischen Konstrukten sprechen – einen direkten Beweis für ihre Existenz gab es damals nicht –, trieb Boltzmann vor sich her und verspottete ihn unentwegt, eine seiner Vorlesungen über Atome unterbrach er mit der kleinlichen Frage: »Haben Sie jemals eins gesehen?« Den Stier, wie Freunde Boltzmann wegen seiner Korpulenz und sturen Hartnäckigkeit nannten, stieß der verbissene Grimm seiner Kritiker nur weiter in die Verzweiflung, und auch wenn er eine der grundlegenden Gleichungen der modernen Physik aufgestellt hatte, die statistische Interpretation des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, konnte er in seinem persönlichen Leben der langsam, aber unaufhaltsam fortschreitenden psychischen Erkrankung nicht entgehen, sie schien, wie die Entropie des Universums, die er in seiner Gleichung so wunderbar erfasst hatte, immerfort und unumkehrbar zuzunehmen und ins Unabsehbare zu führen, in den Untergang. Vor den Kollegen machte er keinen Hehl aus seiner ewigen Angst, er könnte in einer Vorlesung plötzlich den Verstand verlieren. Gegen Ende seines Lebens bekam er aufgrund des Asthmas, das ihn plagte, kaum noch Luft, die Sehkraft ließ so sehr nach, dass er nicht mehr lesen konnte, und seine Kopfschmerzen und Migräneanfälle wurden so unerträglich, dass sein Arzt ihm verordnete, von jeder wissenschaftlichen Tätigkeit Abstand zu nehmen. Im September 1906 erhängte sich Boltzmann, der den Sommerurlaub in Duino bei Triest verbrachte, in einem Zimmer des Hotels Ples mit einem kurzen Strick am Fensterkreuz, während seine Frau und seine jüngste Tochter im ruhigen, türkisfarbenen Wasser der Adria badeten.

Bring vor, was wahr ist; schreib so, dass es klar ist. Und verficht’s, bis es mit dir gar ist, war Boltzmanns Motto, und Paul, sein Schüler, nahm es sich zu Herzen. Der große Respekt, den Ehrenfest bei so vielen herausragenden Physikern genoss, verdankte sich seiner Fähigkeit, die Ideen anderer in den Fokus zu nehmen und ihre Essenz zu erfassen, und dieses Wissen vermittelte er mit einer solchen Leidenschaft und einem solchen Schwung, dass wer immer ihm zuhörte, hineingezogen wurde in sein Denken wie unter einem Zauber. »Er trägt meisterhaft vor. Ich habe noch kaum einen Menschen so fesselnd und glänzend reden hören. Prägnante Wortbildungen, witzige Pointen, Dialektik steht ihm in ungewöhnlicher Weise zur Verfügung. Er versteht es, die schwierigsten Sachen anschaulich und konkret zu machen. Die mathematischen Überlegungen übersetzt er in fassliche Bilder«, schrieb der theoretische Physiker Arnold Sommerfeld, der Ehrenfests Ruf als Großinquisitor der Physik so schätzte wie fürchtete. Paul scheute sich nicht, auf die Fehler in den Argumenten anderer hinzuweisen und sie ebenso unbarmherzig zu kritisieren, wie er auch sich selbst getadelt hätte; eine besondere Bedeutung erlangte diese Rolle auf der folgenreichen Solvay-Konferenz 1927, als die klassische Physik und die Quantenmechanik gegeneinander antraten und die Grundlagen dieses Zweigs der Wissenschaft für immer veränderten. Ehrenfest vermittelte zwischen den beiden Hauptakteuren: Einstein, dem die Bedeutung, die man der Ungewissheit, der Unbestimmtheit, der Wahrscheinlichkeit und dem Zufall in der neuen Quantenwissenschaft beimaß, ein Graus war, und Bohr, der eine grundlegend andere Physik für die subatomare Welt auf den Thron heben wollte. Schließlich trat Ehrenfest vor, inmitten einer Schar von fast dreißig Persönlichkeiten, von denen die meisten mit dem Nobelpreis ausgezeichnet waren oder ihn einmal erhalten sollten und die sich auf Französisch, Englisch, Deutsch, Niederländisch und Dänisch überschrien, und kritzelte einen Spruch aus der Bibel an die Tafel: Denn dort verwirrte der Herr die Sprache der ganzen Erde. Alles lachte, doch noch tagelang tobte der Streit, und am Ende siegte die Quantenmechanik über die Vorstellung von der klassischen Physik, obwohl oder vielleicht gerade weil sie dem gesunden Menschenverstand so zuwiderlief. Ehrenfest war zwar entschieden auf der Seite des Neuen und, anders als sein Freund Einstein, sehr wohl aufgeschlossen gegenüber den revolutionären Prinzipien von Bohr, Heisenberg, Born und Dirac, doch wurde er das Gefühl nicht los, dass man eine Linie überschritten hatte, dass ein Dämon in der Seele der Physik herangewachsen war, ein Geist, den weder seine noch irgendeine nachfolgende Generation wieder zurück in die Flasche bekäme. Wollte man den neuen Regeln, die das innere Reich des Atoms regierten, Glauben schenken, zeigte sich mit einem Mal die ganze Welt nicht länger so fest und real, wie sie einmal war. »Es gibt eine spezielle Abteilung im Fegefeuer für Professoren der Quantentheorie!«, schrieb Paul in einer Notiz an Einstein, bevor er von Solvay nach Leiden zurückkehrte, doch all seine Versuche, es auf die humorvolle Art zu nehmen, konnten nicht verhindern, dass er in einer immer schnelleren Abwärtsspirale in einem dunklen Schacht versank, nicht zuletzt weil seine altehrwürdige Disziplin diese seltsame Richtung einschlug, nunmehr voller logischer Widersprüche, Ungewissheiten und Unbestimmtheiten, die er seinen geliebten Studenten nicht mehr erklären konnte, schließlich sah er selbst keine Möglichkeit, sie zu verstehen. Im Mai 1931 gestand er in einem Brief an Niels Bohr seine Ängste: »Ich habe endgültig den Kontakt zur theoretischen Physik verloren. Ich kann nichts mehr lesen und fühle mich unfähig, auch nur das Geringste zu begreifen von dem, was in der Flut der Aufsätze und Bücher einen Sinn ergibt. Vielleicht ist mir gar nicht mehr zu helfen. Jede neue Ausgabe der Zeitschrift für Physik oder der Physical Review versetzt mich in blinde Panik. Ich weiß absolut nichts!« Bohr schrieb zurück, um seinen Freund zu trösten, und wies darauf hin, dass nicht nur er, Ehrenfest, sondern die gesamte Physikgemeinde Probleme habe, mit den neuesten Entdeckungen umzugehen, worauf er einen noch längeren Brief zurückbekam, in dem Paul beklagte, dass er sich wie ein Hund fühle, der mit hängender Zunge einer Tram hinterherlaufe, darin sein Herrchen in die Ferne entschwinde. Sahen die einen in der Quantenrevolution ein proteisches Feuer, aus dem in unerbittlichem Tempo neue Ergebnisse hervorschossen, sah Ehrenfest vor allem Stillstand, wenn nicht Entartung: »Diese schrecklichen Abstraktionen! Diese unablässige Fokussierung auf Tricks und Techniken! Eine mathematische Pest, die alle Vorstellungskraft auslöscht!«, rief er verbittert vor seinen Studenten in Leiden. Die Richtung, die die theoretische Physik genommen hatte, ging ihm inzwischen gänzlich gegen den Strich: Echte physikalische Intuition wurde ersetzt durch schwere mathematische Artillerie, und Formeln rückten an die Stelle von Materie, Atomen und Energie. Paul verabscheute Leute wie John von Neumann, dieses ungarische Wunderkind mit seiner »furchtbaren mathematischen Kanone« und seinem »unlesbar komplizierten Formelapparat«, ebenso wie die Verdauungsstörung, die ihm der »unendliche Heisenberg-Born-Dirac-Schrödinger-Wurstmaschine-Physik-Betrieb« bereite. Er beklagte die Haltung seiner jüngeren Studenten, denn sie »merken gar nicht mehr, dass ihre Köpfe Telefonzentralen für Durchgabe und Neuverteilung sensationeller Physikberichte geworden sind«, ohne zu erkennen, dass die Mathematik, wie fast alle modernen Entwicklungen, dem Leben feindlich gegenüberstehe: »Sie ist unmenschlich wie jede wirklich teuflische Maschine und sie tötet alle Menschen, die nicht rückenmarkmäßiger zur Bewegung ihrer Räder passen.« Seine ohnehin schon quälende Selbstkritik und sein Minderwertigkeitskomplex wurden für ihn umso unerträglicher, als ihm die Mathematik zwar vertraut war, aber keineswegs leichtfiel. Er war kein Computer. Rechnen war seine Sache nicht, und sein Unvermögen, mit der Zeit Schritt zu halten, beförderte etwas Selbstzerstörerisches, es war ein ständiger Begleiter und Peiniger, eine innere Stimme, die auf ihn einflüsterte und ihn ein ums andere Mal betrog. Ab etwa 1930 war in den Briefen an seine Freunde kaum noch von anderem die Rede als von Tod und Verzweiflung: »Ich fühle deutlich, dass ich einfach mein Leben zerstöre, wenn es mir nicht gelingt mich aufzuraffen. So oft ich Anlass bekomme, meine Angelegenheiten zu revidieren, sehe ich eine Art Chaos vor mir – ein Spieler und Trinker muss in Nüchternheits-Momenten ähnliche Bilder vor sich sehen.« Der Sturm in seinem Kopf spiegelte die wirtschaftlichen und politischen Turbulenzen wider, die Europa schon auseinanderzureißen drohten. Offiziell war Paul konfessionslos; in Österreich-Ungarn durften Juden keine Christen heiraten, und sowohl er als auch Tatjana hatten, bevor sie 1904 die Ehe schlossen, ihre jeweilige Religion aufgegeben. Doch angesichts des allseits anschwellenden Antisemitismus kippten seine Gedanken zunehmend ins Krankhafte: 1933 schlug er seinem Freund Samuel Goudsmit einen makabren Plan vor, um die deutsche Gesellschaft wachzurütteln aus ihrer Trance, in die die Nationalsozialisten sie versetzten: »Wie wäre es, wenn eine Gruppe bedeutender älterer jüdischer Wissenschaftler und Künstler kollektiv Selbstmord beginge, ohne jede Zurschaustellung von Hass oder Forderungen, auf dass sich das deutsche Gewissen rühre?« Goudsmit schrieb wütend zurück, genervt von der Selbstmordbesessenheit seines Freundes und angewidert von dergleichen Absurdität: »Eine Gruppe toter Juden wird nichts ausrichten können, ihr Tod würde nur das teutonische Volk erfreuen.« Drei Tage bevor Ehrenfest den Brief schrieb, hatte Hitlers Regime, kaum zwei Monate an der Macht, das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums erlassen, womit alle im öffentlichen Dienst tätigen Juden gefährdet waren, eine Maßnahme, die Ehrenfest davon überzeugte, dass »die bemerkenswert unverhohlene und akribisch geplante Ausrottung der jüdischen ›Pest‹ aus Kunst, Wissenschaft, Jurisprudenz und Medizin in Deutschland rasch zu 90 Prozent wirksam wäre«. In seinem letzten Lebensjahr nutzte er seine Kontakte und seinen Einfluss, um jüdischen Wissenschaftlern bei der Suche nach einer Arbeit außerhalb von Deutschland zu helfen, auch wenn er für sich selbst den Glauben an eine Zukunft längst verloren hatte. Seine Gedanken wirbelten wild im Kreis, Geldsorgen nagten an ihm, sein Haus in Leiden war mit Hypotheken mehrfach belastet. Er sehnte sich danach, seinen Qualen ein Ende zu setzen, ertrug aber die Vorstellung nicht, dass seine Frau sich dann allein um den armen Wassik würde kümmern müssen – nach dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution hatte sie alles verloren, was sie in russische Aktien investiert hatte –, und auch seinen beiden Töchtern Tatjana und Galinka, den Ältesten, oder Paul junior, dem älteren der beiden Söhne, wollte er eine solche lebenslange Last nicht aufbürden. Seine Selbstmordfantasien, die sich bisher ausschließlich auf den eigenen Tod gerichtet hatten, schlossen nun auch den Jüngsten mit ein: »Sicher verstehst du meinen Wunsch, dass Galinka und Tanitschka sich künftig nicht abrackern müssen, nur um ihren geisteskranken Bruder am Leben zu erhalten«, schrieb er an Nelly Posthumus Meyjes, eine Kunsthistorikerin, mit der er eine heftige Liebesbeziehung unterhielt, welche ihm zwar ein wenig Freude und Glück schenkte, aber auch den Zunder legte an sein ohnehin gestörtes Gemüt.

Die Affäre begann mit dem stillschweigenden Einverständnis seiner Frau, Tatjana ließ Nelly zu Beginn der Beziehung sogar grüßen. Wie allen anderen bereitete Pauls seelischer Zusammenbruch ihr große Sorge, und sie dachte, ein außereheliches Abenteuer, so riskant es auch sein mochte, würde seinen Geist vielleicht beruhigen, würde ihn seinen Schachfimmel und die ungezählten Hobbys vergessen lassen – das Modellflugzeug, an dem er baute, der schon vor sich hin gammelnde Kräutergarten, die aufgegebene Briefmarkensammlung, das selbstgebastelte Teleskop –, Dinge, mit denen er die Zeit vertändelte, um seine physikalischen Forschungsarbeiten und die längst überfälligen Aufsätze nicht zu Ende bringen zu müssen, allein bei dem Gedanken, sich an die Arbeit zu setzen, versank er in einem Strudel der Panik. Bis dahin war Tatjana all das gewesen, was er sich immer gewünscht hatte, und auch wenn sie öfter für längere Zeit nach Russland zu ihrer Familie fuhr, war ihre Ehe stets eine glückliche gewesen, gründend auf einem tiefen gegenseitigen Verständnis und gemeinsamen geistigen Interessen. Tatjana bestach durch ihren scharfen Verstand, Pauls Kollegen respektierten und bewunderten sie ausnahmslos. Seine Geliebte Nelly dagegen war nicht nur klug, sie hatte auch eine dunkle Seite, die es mit Ehrenfests Todessehnsucht aufnehmen konnte, nur schien sie die unter Kontrolle zu haben. Zum ersten Mal begegnet war er ihr im Teylers Museum in Haarlem, als sie einen ihrer Vorträge hielt: Paul war hingerissen von ihrer Intelligenz und äußeren Erscheinung, aber auch von dem Thema, über das sie sprach, einem alten pythagoreischen Mythos, worin von Verwirrung und Unordnung in der Welt die Rede war und von der Entdeckung des Irrationalen, von dem also, was in seinem letzten Lebensjahr für ihn zu einer Obsession wurde, es war der perfekte Kontrapunkt zu seiner zunehmenden Besorgnis über den Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland.

In der Natur, sagte Nelly, gibt es Dinge, die alle Proportionen sprengen und mit nichts zu vergleichen sind. Sie halten sich an kein Maß und verweigern sich einer Kategorisierung, denn sie existieren außerhalb jener Ordnung, die alle Phänomene umfasst. Diese Ausreißer, Singularitäten, Monstrositäten können durch eine Zahl nicht bestimmt oder verglichen werden, da sie dem zugrunde liegen, was in der Welt unharmonisch ist, chaotisch, nicht zu bändigen. Für die alten Griechen, erklärte sie, war die Entdeckung des Irrationalen ein abscheuliches Verbrechen, ein unverzeihlicher Akt des Frevels, und die Weitergabe dieses Wissens eine Tat, auf die der Tod stand. Nelly sprach von zwei Überlieferungen zu jenem pythagoreischen Weisen, der sich über dieses fundamentale Gebot hinwegsetzte: In der einen Version wurde der Mann, der das Irrationale entdeckte, aus seiner Gemeinschaft verstoßen, und seine Freunde errichteten ihm ein Grabmal, als wäre er bereits tot; in der anderen wurde er von Mitgliedern seiner eigenen Familie im Meer ertränkt, vielleicht auch von den Göttern selbst, verkleidet als seine Frau und seine beiden Kinder. Hatte man in der Natur eine Disharmonie entdeckt, betonte Nelly, ein die natürliche Ordnung gänzlich Negierendes, sollte man auf keinen Fall darüber sprechen, nicht einmal zu sich selbst, vielmehr nach Kräften alles daransetzen, es aus den eigenen Gedanken zu verbannen, man sollte das Gedächtnis löschen, auf die Sprache achten und sich gar vor den eigenen Träumen hüten, um nicht den Zorn der Götter auf sich zu ziehen. Mehr als alles galt es, die Harmonie der Natur zu bewahren, denn sie war älter als die Titanen, weiser als das Orakel, heiliger als der Olymp und so unantastbar wie der Lebenssaft in den Adern dieser und aller anderen Welten. Auch nur die Möglichkeit des Irrationalen anzuerkennen und Disharmonie einzugestehen würde das Gewebe der Existenz aufs Spiel setzen, denn nicht nur unsere Wirklichkeit, sondern jeder einzelne Aspekt des Universums – ob körperlich, geistig oder ätherisch – hing an den unsichtbaren Fäden, die alle Dinge miteinander verbanden. Dieses Tabu, so Nelly, habe nicht nur die Menschen der Antike umgetrieben, es sei vielmehr der Kern der westlichen Philosophie und Wissenschaft: Nach Kant verlange die Wissenschaft von uns, die Natur als ein Ganzes zu betrachten. Und so beginne man, die einfachsten Aspekte der Welt zu klassifizieren – die schimmernden Ranken einer Weinrebe, den buntschillernden Körper eines Käfers –, worauf man diese Phänomene einteile in Arten, dann Gattung, dann Familie, Ordnung, Klasse, Stamm und Reich, und das jeweils unter der Prämisse, dass alles nur Erdenkliche, ob es ströme oder sich ringele, ob Flügel, Feder, Wurzel oder Fortsatz, sich irgendwo dort einfüge und seinen rechtmäßigen Platz einnehme in jenem System, das das gesamte Universum umspanne, Frucht einer so tiefen Weisheit, dass sie den manifesten wie den unmanifestierten Formen der Existenz zugrunde liege und sie stütze. Aber vielleicht war das ja gar nicht so, bedeutete Nelly ihrem Publikum mit erhobenem Finger: Es bestehe durchaus die Möglichkeit, dass die Natur ein einziges Chaos sei, ohne ein Gesetz, das der offensichtlichen Heterogenität Herr werde, ohne ein Konzept, das in der Lage sei, ihre stetig anwachsende Komplexität zu reduzieren. Was, wenn die Natur sich nicht als ein Ganzes begreifen lasse? Unsere Zivilisation müsse sich erst noch abfinden mit dieser erschreckenden Möglichkeit, und sie, Nelly, bezweifle sehr, dass es jemals dazu komme, es wäre der Todesstoß für die Wissenschaft, für die Philosophie und jede Rationalität. Die Kunst dagegen habe sich den Gedanken längst zu eigen gemacht: Die Wiederentdeckung des Irrationalen sei die treibende Kraft hinter allen avantgardistischen Bewegungen, Avantgarden, die selbst für nicht eingeweihte Außenstehende erfüllt seien von einer unbändigen, faustischen Energie, einer Überstürzung, einem tragischen Scheitern, bei dem alles erlaubt sei. Denn die moderne Kunst lasse keine Gesetze gelten, keine Methode, keine Wahrheit, nur ein blindes, unaufhaltsames Branden, eine Woge des Wahnsinns, die vor nichts und niemandem haltmache und uns vorantreibe, und sei es bis ans Ende der Welt.

Paul war wie betört. Er ging zu Nelly und bombardierte sie mit Fragen, ließ ihr nicht einmal Zeit, ihre Unterlagen einzusammeln, und dann unterhielten sie sich den ganzen Tag, beide zunehmend fasziniert von der Intelligenz ihres Gegenübers. Die Nacht verbrachten sie zusammen in einem nahegelegenen Hotel. Vielleicht waren es, einhergehend mit den zuweilen desaströsen Auswirkungen auf das Gehirn, die seltsamen chemischen Reaktionen der Verliebtheit, wenn nicht die Folgen seiner lebenslangen Depression, die Paul in der Überzeugung bestärkten, es gebe eine Verbindung zwischen ihm und diesem pythagoreischen Weisen aus der griechischen Sage, von der Nelly gesprochen hatte, denn überall sah er nur noch Disharmonie und Wirrnis. Er konnte nirgends mehr eine vernünftige Ordnung erkennen, keine Naturgesetze, keine sich wiederholenden Muster, nur eine gewaltige, wuchernde Welt ohne Maß, untergehend im Chaos, befallen von Absurditäten und losgelöst von jeder bedeutsamen Intelligenz; er nahm das Anschwellen des Irrationalen in den stupiden Gesängen der Hitlerjugend wahr, die mit den Radiowellen herüberschwappten, in den Tiraden säbelrasselnder Politiker und in den Äußerungen verblendeter Befürworter eines grenzenlosen Fortschritts, aber genauso erkannte er es immer deutlicher in den Beiträgen und Vorlesungen seiner Kollegen, ein Hochkochen vermeintlich revolutionärer Ideen, die für ihn nichts anderes waren als eine Industrialisierung der Physik. In einem Brief an Einstein – dessen jüngster Sohn Eduard an Schizophrenie erkrankt war und mehrmals in eine Klinik eingewiesen wurde, sodass Paul das Gefühl hatte, ein Teil seiner Bürde laste nun auch auf seinem Freund – brachte er seine Bestürzung zum Ausdruck und beklagte, was er als dunkle, unbewusste Kraft sah, die sich langsam in das wissenschaftliche Weltbild einschleiche, ein Weltbild, in dem man Rationalität schon verwechsle mit ihrem genauen Gegenteil: »Die Vernunft ist vom Strick gelassen, entbunden von allen tieferen und grundlegenderen Aspekten unserer Psyche, und ich fürchte, sie wird uns am Zaum führen wie ein betrunkenes Muli. Ich weiß, Du siehst es genauso wie ich, aber die meiste Zeit fühle ich mich doch allein, als wäre ich der einzige Mensch, der bezeugen kann, wie weit wir hinabgesunken sind. Wir liegen auf den Knien und beten zum falschen Gott, zu einem kindischen Gott, versteckt im Zentrum einer verdorbenen Welt, die er weder beherrschen noch begreifen kann. Oder haben wir ihn selbst erschaffen, nach unserem eigenen stinkenden Bilde, und es dann vergessen, so wie kleine Buben die Monster und Dämonen hervorbringen, die sie in ihren Träumen verfolgen, ohne sich je bewusst zu sein, dass sie niemandem die Schuld geben können außer sich selbst?« Was Nelly nun in ihm sah, ängstigte sie, und sie ermunterte Paul, alle Erinnerungen an seine Kindheit aufzuschreiben, eine Übung, um herauszufinden, was seine Depression nährte, aber es gelang ihm nicht, er fühlte sich immer abgekoppelter, von anderen genauso wie von sich selbst. Seine Erinnerungen, seine Vergangenheit, seine Familie und seine Freunde, alle Bindungen und lang gehegten Träumereien gehörten jetzt zu einer anderen Person, einem Menschen, von dem er manchmal im Spiegel ein flüchtiges Bild erhaschte – kleingewachsen, bebrillt und untersetzt, mit kurzem stachligem Haar und dichtem Schnurrbart über Hasenzähnen, die aussahen, als würden sie voreinander zurückschrecken –, nein, darin erkannte er sich nicht wieder. Er war hin- und hergerissen zwischen der aufrichtigen Zuneigung, die er für seine Frau empfand, und der schmerzlichen Euphorie, die Nelly in ihm entfachte, doch keine der beiden Frauen vermochte ihn von dem Weg abzubringen, den eine unbekannte Macht für ihn vorgezeichnet zu haben schien und an dessen Ende eine Kugel auf ihn wartete. »Warum sind Menschen wie ich zum Weiterleben verdammt?«, schrieb er in seinem letzten Sommer an die Geliebte. »Würden Du oder Tatjana mich fragen, ob ich Euch liebe, gäbe es nur eine Antwort, und Tatjana weiß sie schon: In tiefster Hilflosigkeit sehne ich mich nach Eurer Nähe, und schenkt mir dieses Verlangen keine Kraft und keine Wärme, überkommt mich die Verzweiflung. Liebe ist ein mit Macht entzweiendes Element. All das Leid, das sie mit sich bringt! Bevor sie ihre fürchterliche Zerstörung ins Werk setzt, ist es gewiss eines jeden Pflicht, seinem Leben so schnell wie möglich ein Ende zu bereiten.« Als Tatjana sah, dass Paul gegen seine Dämonen nicht ankam, beantragte sie die Scheidung. Paul flehte sie an, ihn wieder aufzunehmen, und schließlich willigte sie ein, den Antrag, als das Verfahren bereits im Gange war, zurückzuziehen unter der Bedingung, dass er Nelly verließ. Paul stimmte zu, schaffte es aber nicht, seine Geliebte nicht länger zu sehen, und auch die Beziehung zu seiner Frau konnte er nicht wieder beleben. Was sie über drei Jahrzehnte standhaft zusammengehalten hatte, war innerhalb weniger Monate zerronnen. Schließlich gab Paul auf und reichte selbst die Scheidung ein, dabei hatte er, ohne es Tatjana zu gestehen, seinen Abschiedsbrief längst geschrieben – wenn auch noch nicht abgeschickt –, einen Brief, den seine engsten Freunde einige Tage nach der schrecklichen Tragödie im Waterink Instituut erhalten sollten: »Meine lieben Freunde: Bohr, Einstein, Franck, Herglotz, Joffé, Kohnstamm und Tolman! Ich weiß absolut nicht mehr, wie ich auch nur die nächsten Monate die unerträgliche Last meines Lebens weiterschleppen soll. Ich halte es nicht länger aus, wie mein Lehrstuhl vor die Hunde geht. Ich habe mich entschlossen, meinen Leidener Platz frei zu machen. Vielleicht kann ich den Rest meiner Kräfte in Russland aufbrauchen … Wenn sich aber nicht bald herausstellt, dass mir dies möglich sein wird, werde ich mich so gut wie sicher umbringen. Und sollte es irgendwann geschehen, möchte ich wissen, dass ich Euch, ruhig und ohne Eile, geschrieben habe, Euch, deren Freundschaft in meinem Leben eine so große Rolle gespielt hat … Mein Interesse für das Begreifen der fortschreitenden physikalischen Erkenntnisse und die große Freude, es an andere weiterzugeben, war … das eigentliche Rückgrat meines Lebens. Ich habe es schließlich nach immer nervöseren, zerfetzter werdenden Versuchen verzweifelt aufgegeben. Dies machte mich völlig lebensmüde … Ich fühlte mich verurteilt, weiter zu leben, vor allem um der finanziellen Sorge für die Kinder willen. Ich habe anderes versucht, aber es half nur kurz. Deshalb konzentrierte ich mich mehr und mehr auf immer präzisere Details der Selbsttötung. Mir bleibt keine andere praktische Möglichkeit als Selbstmord, und das, nachdem ich Wassik getötet habe. Vergebt mir … Möge es Euch und Euren Lieben gutgehen.«

Im Mai 1933 nahm er einen Zug von Leiden nach Berlin. Dort sah er, wie Braunhemden Gewerkschaftsbüros, Arbeiterbanken und Genossenschaften stürmten. In der Zeitung las er Berichte über die Plünderung des Instituts für Sexualwissenschaft durch einen Mob moralisch empörter Studenten, und er ging durch die Asche auf dem Opernplatz, wo Tausende von Büchern in Flammen aufgegangen waren, die Gesichter ausgelassener Jungen und Mädchen im hellen Schein, Mitglieder der Deutschen Studentenschaft, die die Bibliotheken ihrer Universitäten nach Büchern, Zeitungen und Zeitschriften durchforstet hatten, welche als »undeutsch« galten und mit denen sie sodann singend, skandierend, Parolen schmetternd ein riesiges Feuer schürten, während ausgewählte Studenten, ehe Goebbels als Hauptredner vor der vieltausendköpfigen Menge erschien, Feuersprüche ausriefen: Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Auf den Straßen sah Paul Soldaten zu den Klängen der Marschmusik vorüberziehen, die allenthalben aus den Radioapparaten plärrte, unterbrochen von der schnarrenden Stimme des jüngst zum Reichskanzler ernannten Adolf Hitler, der Roosevelts Vorschlag zur weltweiten Abrüstung beipflichtete und eine sofortige Revision des Versailler Vertrags forderte. Bereits Ende Mai brachte Deutschland die Sterilisation aus eugenischen Gründen auf den Weg, und als keine zwei Monate später das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses verabschiedet wurde, worin es hieß, Wer erbkrank ist, kann durch chirurgischen Eingriff unfruchtbar gemacht (sterilisiert) werden, wenn nach den Erfahrungen der ärztlichen Wissenschaft mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden, ein Diktum, das nicht nur Menschen mit, so der weitere Wortlaut, angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein, erblicher Fallsucht, erblichem Veitstanz, erblicher Blindheit, erblicher Taubheit oder anderer schwerer erblicher körperlicher Missbildung einschloss, sondern selbst solche, die an schwerem Alkoholismus litten, da fuhr Paul nach Jena zum Jugendsanatorium von Johannes Trüper und nahm den jungen Wassik mit nach Amsterdam, wo man ihn von nun an im Waterink Instituut betreute. Im ersten Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes wurden mehr als vierundsechzigtausend Menschen zwangssterilisiert, da ein Erbgesundheitsgericht, bestehend aus einem Amtsrichter, einem beamteten und einem weiteren approbierten Arzt, sie für minderwertig befunden hatte.

Im Juli, als die Sonne über seinem Haus in Leiden hell am Himmel stand, hob sich auch Pauls düstere Stimmung so weit, dass er zusammen mit Hendrik Casimir ein neues Forschungsvorhaben zu einem der großen ungelösten Rätsel der klassischen Physik zu skizzieren begann: die Turbulenz, dieses plötzliche Phänomen, bei dem jede ruhig dahinfließende Flüssigkeit sich in ein wildes Chaos stürzt und verwirbelt, Wirbel in Wirbeln in Wirbeln, die in so viele Richtungen gleichzeitig rasen, dass ihre Bewegung von keinem bekannten Modell zuverlässig vorausgesagt werden kann. Turbulenzen sind in der Natur allgegenwärtig und tatsächlich so normal, dass selbst kleine Kinder, die im schäumenden Wasser eines Baches spielen, unbewusst ein paar Grundkenntnisse von ihren Mechanismen besitzen, nicht ahnend, dass es sie auch in dem strömenden Blut gibt, das ihnen ihre Hündchenherzen durch die Adern jagen. Zu sehen sind sie in den gewöhnlichsten Substanzen, hervorgerufen durch einen Tropfen Milch in einer Tasse Kaffee oder durch ein Rauchwölkchen, und doch sind sie mathematisch so verwirrend wie unergründlich. Einige der brillantesten Köpfe haben sie zu zähmen versucht, aber sie alle sind gescheitert, daher wunderte sich Paul nicht wenig, als er feststellte, dass sein eigener Verstand, so überreizt und zerrissen er auch war, plötzlich ein erstaunliches Interesse an Gleichungen für Fluide entwickelte, und er fühlte sich mit einer solchen Macht zu dem Thema hingezogen, dass es ihn nicht nur von früh bis spät in Anspruch nahm, sondern auch in seine Träume sickerte. Nachts sah er sich umgeben von dunklem Wasser, sein nackter Körper attackiert von brutalen Strömungen, hineingezogen von einem kolossalen Mahlstrom, der um eine unauslotbare Leere wirbelte. Wann immer diese Albträume ihn heimsuchten, wachte er auf, seltsam erstarrt, nicht wegen dieser Bilder ozeanischen Grauens, sondern weil er ein wundersames Gefühl erleuchteter Ruhe verspürte, eine ergreifende Gewissheit, dass es, tief dort unten und aus Gründen, die sich seinem Verständnis entzogen, seiner Frau und seiner Geliebten, seinen Söhnen und Töchtern, seinen Freunden, Kollegen und Studenten, selbst seinem Heimatland gutgehen würde, denn so hoffnungslos seine eigene Situation auch sein mochte, alles war geschützt, wohlbehalten und sicher, ein jedes an seinem Platz, beschirmt von einer Kraft, die den Schmerz mit der Freude vermählte, die Dunkelheit mit dem Licht und die Ordnung mit dem Chaos, Leben und Tod umschlungen in derselben schwindelerregenden Spirale, alles auf so vielfältige Weise verbunden, dass es nicht auseinanderzuhalten war. Kaum aufgewacht, sprang er aus dem Bett, schweißgebadet, als wäre er der einzige Überlebende eines Schiffbruchs, und arbeitete fieberhaft in seinem Arbeitszimmer. Er schickte Casimir eine solche Flut an Briefen, dass der Kollege, das war ihm bewusst, unmöglich seinen Gedankengängen würde folgen können, denn dem Inhalt des einen Schreibens wurde gleich im nächsten widersprochen, worauf dieses ersetzt wurde durch ein weiteres, darin sein Argument gedreht hatte und sich selbst in den Schwanz biss. Er versuchte sich zu beruhigen und seine Ideen gelassen weiterzuentwickeln, aber seine Begeisterung, dazu die Freude, wieder arbeiten zu können, frei von dem dichten Nebel der Schwermut, war so groß, dass er nicht dagegen ankam. Mit dieser Arbeit, und nur mit dieser, würde sein Name in die Geschichte eingehen: eine Lösung für das unregelmäßige und unberechenbare Verhalten von Turbulenzen, ein Gesetz hinter ihrer irreduziblen Zufälligkeit. An der Schwelle zu dem Einen, das ihm in seinem Berufsleben verwehrt geblieben war, konnte er an nichts anderes mehr denken, und er gab sich ihm vollkommen hin. Doch selbst in seinem Rausch trieben die Sorgen ihn weiter um. Warum war ihm diese seltsame Gabe mit einem Mal zuteilgeworden? Warum ihm, wieso jetzt? Er hatte es sich durch nichts verdient. Die letzten Jahre waren pure Verschwendung gewesen, und seit der Begegnung mit Nelly hatten all die banalen Kümmernisse einer romantischen Liebe seinen Rest an Verstand aufgezehrt. Vielleicht war das ja der Schlüssel: Besessenheit, etwas plötzlich von außen Eindringendes, eine Arbeit, die nicht auf Gedanken oder dem Willen beruhte, sondern, wie die alten Griechen so gut wussten, auf Verzückung, Ekstase. Er musste den Weg frei machen, die Dinge durch sich hindurchlassen, ein anderer werden. Er wischte sich die Tränen aus den Augen, während sein Füller über das Blatt Papier sauste, jeder Term in seinen Gleichungen ging sanft in den nächsten über, die Ideen nicht reflektiert, sondern inspiriert von dieser Kraft, die ihn erfasst hatte und die alles ihm Bekannte überstieg, ihn aber ebenso abrupt, wie sie gekommen war, wieder verließ. Als sein Fieber verraucht war, ordnete er den Wust von Blättern, die in seinem Arbeitszimmer verstreut lagen, und traute sich tagelang nicht, einen Blick darauf zu werfen. Dass seine Epiphanie keine gewesen war, war so schrecklich offenkundig, dass er sich nicht erst an den Schreibtisch setzen musste, er wusste auch so, dass seine Fehler ohne Zahl waren, seine Ambitionen zu groß, um sie in der Wirklichkeit zu verankern, und seine Gleichungen so mangelhaft und unvollständig, dass kein Experiment sie jemals retten konnte.

Im August verbrachte er einige Tage auf Schiermonnikoog und wanderte allein über die Insel, und Anfang September reiste er nach Kopenhagen und nahm an einer von Niels Bohr organisierten Konferenz teil, wo er zwischen den Positionen vermittelte und am Schluss seine Depressionen und Selbstmordgedanken jemandem offenbarte, auf den man wohl zuletzt gekommen wäre, Paul Dirac, diesem entrückten, so verschrobenen wie genialen englischen Physiker, den einer seiner Kollegen einmal als den »seltsamsten Menschen der Welt« bezeichnete und der gewiss nicht das Zeug besaß, die vielschichtigen Widersprüche in seinem Charakter zu verstehen. Doch Ehrenfest öffnete sich ihm gegenüber und sprach von seinen Ängsten um das Schicksal seiner Familie, zumal das des jungen Wassik, da der Einfluss des Nationalsozialismus mit seiner Judenhetze, seiner pseudowissenschaftlichen Rassenhygiene und dem mörderischen Hass auf alles, was »anders« sei, bald überschießen und sich von Deutschland in alle Nachbarländer ausbreiten werde, angetrieben zweifellos von einem dunklen, unbewussten Impuls, und der katapultiere die menschliche Spezies in eine Zukunft, in der für sie kein Platz mehr sei, sie werde eher früher als später ersetzt durch etwas unfassbar Monströses. Es gebe kein Entrinnen, sagte Paul, keinen Ort, wo man sich verstecken könne, denn auch wenn er seinen Jungen gerettet habe aus den Klauen seiner lauernden Mörder, die schon ihre Äxte schärften, um zu stutzen und zu beschneiden, was sie für die kranken Äste an Deutschlands stolzer Eiche hielten, fühle er sich nicht imstande, ihn vor seinem eigenen Todestrieb zu schützen, dem rücksichtslosen Drang zur Selbstzerstörung, auch sehe er keine Möglichkeit, ihn vor der seltsamen, sich ringsum herausbildenden neuen Rationalität zu bewahren, einer zutiefst unmenschlichen Form von Intelligenz, der die tiefsten Bedürfnisse der Menschheit gleichgültig seien; vor dieser gestörten Vernunft, die als Gespenst in der Seele der Wissenschaft spuke und die er in ihrer unkörperlichen Erscheinung fast vor sich sehe, wie einen unheiligen Geist, der auf Versammlungen und Konferenzen über den Köpfen seiner Kollegen schwebe, ihnen über die Schulter schaue oder gegen die Ellenbogen stupse, wenn sie ihre Gleichungen niederschrieben, eine wahrlich bösartige Wirkkraft, so logisch gesteuert wie irrational, und obwohl das alles noch schlummere, sich kaum rege, sammle es untrüglich Energie, wolle verzweifelt hinaus in die Welt, schicke sich an, durch Technologie in unser Leben vorzustoßen, indem es mit geraunten Versprechungen von übermenschlicher Macht und gottgleicher Gewalt die klügsten Männer und Frauen betöre. Er spüre seinen aufkeimenden Einfluss, höre das leise Sichrühren seiner Ranken, während es langsam herbeikrieche, und doch könne er es weder benennen noch einordnen, und er wage kaum, laut davon zu sprechen, denn woher solle er wissen, ob diese makabre Vorstellung, dieser unerklärliche Fluch, dem Einhalt zu gebieten er sich verpflichtet fühle, auf echten Weitblick deute oder nur auf eine weitere bösartige Wucherung des Wahns, der schon auf seinen Verstand übergreife? Ein verwirrter Dirac hörte sich Ehrenfests Worte an und wusste nicht, was er sagen sollte, schließlich kamen ihm ein paar belanglose Ermutigungen über die Lippen, und er lobte Pauls unschätzbare Rolle als Vermittler in der Physik, ein moderner Sokrates, ohne dessen Hinterfragungen sicherlich etwas Grundlegendes verloren ginge. Dirac wollte ihm, so gut es ging, eine Stütze sein, und zugleich entwand er sich sachte dem österreichischen Physiker, der ihn am Arm gepackt hatte und unter Tränen sagte, er, Dirac, könne sich nicht vorstellen, was ein solches Lob für jemanden bedeute, der jeden Lebenswillen verloren habe.

Am 25. September 1933 schlug Paul beim ersten Morgenlicht die Augen auf, machte sich ein karges Frühstück, zog Hut und Mantel an und ging von seinem Haus zum Leidener Bahnhof, in der Tasche einen Revolver. Er löste eine Fahrkarte nach Amsterdam, aber der Zug fuhr erst um halb zehn, er musste noch eine Stunde herumbringen, und so schaute er bei Arend Rutgers vorbei, einem seiner ehemaligen Doktoranden, der unweit wohnte. Sie tranken Wasser (Paul verabscheute nicht nur Alkohol, er trank auch weder Kaffee noch Tee) und unterhielten sich über Physik und Religion, und Paul bekannte, dass er, obwohl ihm der Glaube schon in jungen Jahren abhandengekommen sei, fromme Menschen wie Rutgers immer geschätzt habe, ohne den Umgang mit aktiv religiösen Menschen hätte er nicht überleben können, denn in ihrem Glauben an eine heilige Ordnung, die die Welt aufrechterhalte, so naiv und unangebracht dieser Glaube auch sein möge, finde er ein kleines Maß an Hoffnung. Ehrenfest lag nicht nur ihre Nähe am Herzen, für ihn bildeten alle Wahrheitssuchenden eine Gemeinschaft der verlorenen Seelen, einen Zufluchtsort gewissermaßen, sie seien, sagte er, die Feuerstelle in dem Zuhause, das wir verloren hätten durch den zerstörerischen Einfluss der Vernunft, die habe uns unserer Lebensfähigkeit beraubt. Paul, der sein ganzes Vertrauen in die Physik gesetzt hatte, fühlte sich im Stich gelassen, vertrieben aus einem Paradies, das durch den zunehmenden Einfluss der Quantenmechanik und die unaufhaltsame Ausbreitung der mathematischen Pest einer Finsternis wich, die tiefer war als der Abgrund in den Atomen. Rutgers tat sein Bestes, um ihn zu trösten, wollte er nicht vielleicht zum Mittagessen bleiben? Aber Ehrenfest antwortete, das sei für ihn zu spät, und hastig rannte er zur Tür, verließ das Haus, vergaß seinen Hut.

In Wahrheit hatte er noch Zeit, zu viel Zeit, und als er zum Bahnhof kam und auf einer Wartebank Platz nahm, drängte es ihn zur Umkehr, zurück zu seinem Freund oder nach Hause, zur Flucht in einen Moment, der nicht die Gegenwart wäre. Als er auf das Zifferblatt der Uhr jenseits der Gleise schaute, schienen die Zeiger anzuhalten und stehen zu bleiben. Paul schloss die Augen, er konnte das erstarrte Räderwerk im Inneren des Mechanismus fast sehen – wann immer er als kleiner Bub seine Großmutter besuchte, diese alte Frau, die ihm die Liebe und die Aufmerksamkeit schenkte, die sein Vater ihm verwehrte, gab sie ihm eine Kiste mit kaputten Uhren, ausrangiert von einem Uhrmacher, der sein Geschäft aufgegeben hatte, und Paul, dieser dünne, nervöse, höfliche und wissbegierige Junge, spielte den ganzen Nachmittag mit Zahnrädern, Zug- und Spiralfedern und versuchte, sie wieder zusammenzusetzen, ein Spiel, das ihm unendliche Freude bereitete, auch wenn es ihm nie gelang, auch nur eine einzige Uhr zu reparieren. Diese wenigen glücklichen Tage stachen unter seinen Erinnerungen hervor, juckten ihn wie das Flohgetier auf einem Hund, ein jeder ein Beispiel für einen unumkehrbaren Prozess, kleine Fenster, durch die er sein früheres Ich sehen konnte, wie er den Grundriss der Familienwohnung skizzierte, nachdem Arthur, sein ältester Bruder, der alles über die Welt zu wissen schien, es ihm gezeigt hatte, im Winter 1896, als er so alt war wie Wassily jetzt, der arme kleine Wassik, der arme kleine Krabbelmeier, in einem Alter, als Paul seinen »Kalenderfimmel« hatte und alle Almanache sammelte, die er in die Finger bekam, alle Jahrbücher und Kalender, wenn er sie nicht gleich selbst zeichnete, auf Schmier- oder Einschlagpapier, und dann ordnete er die Tage säuberlich in Reihen, blätterte die Seiten an den Ecken mit dem Daumen ab, und die Monate und die Jahre vergingen in Sekundenschnelle, die Zeit floss dahin, weiter und weiter, in einer nicht endenden Abfolge, die ihn an das Chad gadja erinnerte, das Pessach-Lied, das ihm in der Schule die Rabbiner beigebracht hatten und das er sich in den vielen Nächten, in denen der Schlaf sich anfühlte wie etwas, was nur andere genießen konnten, selbst vorsang, ein Kinderlied, das die Geschichte eines Vaters erzählt, der für zwei Groschen ein Zicklein kaufte, aber da kam die Katze und fraß das Zicklein – von dem die Gelehrten sagten, es stehe für Israel im Zustand der Reinheit und Unschuld –, dann kam der Hund und biss die Katze, dann schlug der Stock den Hund, dann verbrannte das Feuer den Stock, das Wasser löschte das Feuer, der Ochse trank das Wasser, ein Mann schlachtete den Ochsen, eine einzige Kette von Ursache und Wirkung, Sünde und Buße, Verbrechen und Strafe bis hinauf in den Himmel, wo der Allmächtige, der Heilige, gelobt sei er, den Todesengel erschlug und das Reich Gottes errichtete, ein Lied, dessen wahre Bedeutung Paul nie hatte verstehen können, erst jetzt, als die Zeiger der Uhr sich wieder in Bewegung setzten und er spürte, wie etwas ihn schüttelte, ein seltsamer Schauer, während er in seine Tasche griff, um sicherzugehen, dass sie noch da war, aus Angst, vielleicht auch in der Hoffnung, die Fahrkarte könnte irgendwo auf dem Weg verloren gegangen sein; aber sie war noch da, alles an seinem Platz, alles genau dort, wo es sein sollte, darauf wartend, dass der Zug einfuhr, jetzt, jetzt, jetzt, im nächsten Moment, und auch wenn er ihn nicht hörte, das leise Rumpeln in der Ferne nicht spürte, wusste er doch, dass er kommen würde, unmöglich, ihn noch aufzuhalten, und tatsächlich war der Zug gerade eingefahren, er sah, wie er langsam an den Bahnsteig rollte, mit einem schrillen Pfeifsignal hüllte er ihn in seine Rauchschwaden, aber selbst jetzt blieb ihm noch Zeit zur Umkehr, der Hund, der Stock, Zeit, aufzustehen, fest auszuschreiten, die Katze, der Todesengel, und fortzugehen, noch blieb ihm Zeit, und dennoch machte er, als er schließlich aufstand, einer Maschine gleich, angetrieben von einer Kraft, die er weder kannte noch verstand, fünf Schritte, die Beine steif wie ein Automat, hin zu dem Waggon, um einzusteigen und unter den anderen Passagieren seinen Platz einzunehmen.

Um zehn Uhr würde er dort sein.

JOHN

oder Die Wahnträume der Vernunft

Als George Boole in den 1840