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Als wäre es nicht schon schlimm genug als Teenager in ein Ferienlagen mitten in der Pampa geschickt zu werden, jagt ein gigantisches Ungeheuer Ben über den Abgrund einer Klippe. Er müsste tot sein - ist es aber nicht. Stattdessen findet er sich in einer fremden Welt wieder, die kurz vor dem Untergang steht.
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Seitenzahl: 443
Veröffentlichungsjahr: 2021
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3. Auflage
Texte: © Copyright by Lisa GlögglerUmschlaggestaltung: © Copyright by Lisa Glöggler
MESSING Verlag GmbHElbchaussee 1622765 [email protected]
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Printed in Germany
Für einen einzigartigen Schatz in dieser Welt.
Für meine Schwester Lea.
1
Als Ben hinauf zum Nachthimmel starrte, traf ihn die Wahrheit wie eine Kugel direkt zwischen die Augen. Seine Knie gaben nach und er sank erschüttert zu Boden. Alles, was er geglaubt hatte zu wissen, war eine Lüge und die Geschichten seines Großvaters Magnus, die er für erfunden gehalten hatte, waren es nicht. Wütend ballte Ben seine Hände zu Fäusten, als er in die Dunkelheit schrie.
„Magnus! Wo bist du? Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?“
Alles fing damit an, dass Bens Mutter Anna ihn mal wieder in ein Ferienlager gesteckt hatte.
„Da verbringst du die Zeit mit sinnvollen Dingen“, hatte sie gesagt. „Und sitzt nicht immer nur zu Hause, um Videospiele zu spielen!“
Ben würde in weniger als einem Monat 15 Jahre alt werden, also quasi ein erwachsener Mann! Spurenlesen und Feuerstellen bauen war doch Kinderkram! Männer in seinem Alter erfüllten wichtige Missionen oder retteten die Welt an ihrer Playstation. Was sollte daran nicht sinnvoll sein?
Stattdessen musste er nun mit einem Haufen seltsamer Kinder wandern gehen. WANDERN!
Anna hatte sich dieses Jahr mit ihrer Auswahl wieder einmal selbst übertroffen.
„Es ist ein toootal süßes Camp in den Bergen. Dort wandert ihr dann und zeltet unter freiem Himmel! Das klingt doch echt lustig“, sagte sie selbstzufrieden, während sie ihr schwarzes Haar hinters Ohr strich.
„Wandern? Zelten? In den BERGEN? Auf gar keinen Fall!“ sagte Ben entsetzt.
„Es sind bestimmt auch ein paar Kinder aus der Stadt dort, außerdem ist Zeit in der Natur so wichtig. Ein bisschen Landleben ist gut für dich. Nicht immer nur diese elitären Leute mit ihren Chauffeuren und Haushälterinnen. Das ist doch total realitätsfern.“ Seelenruhig schlürfte sie ihren extrem gesunden Bio-Öko-Smoothie und lächelte dabei etwas teuflisch zu Ben herüber. Ben spürte, wie wütende Hitze in ihm aufstieg, bis sein Kopf fast denselben roten Farbton hatte wie der Nagellack seiner Mutter. Annas schwarze Augen funkelten belustigt über seinen Ärger und das machte Ben noch wütender.
„Ich fahr‘ da nicht hin! Zum einen haben auch wir eine Haushälterin, Mutter.“ Das Funkeln in Annas Augen erstarb, denn sie hasste es, wenn Ben Mutter und nicht Mama sagte. Es sei zu unpersönlich und steif, schimpfte sie immer.
„Du hast sie selbst eingestellt, oder hast du das vergessen? Ihr Name ist María. Mega klein, mit einem spanischen Akzent … erinnerst du dich? Und zum anderen sprichst du von Kindern. Ich bin fast 15 Jahre alt. Ich bin erwachsen“, zischte Ben zwischen seinen Zähnen hervor. Trotzig schob er sein ohnehin fades Müsli von sich und hielt dem unbewegten Blick seiner Mutter stand. Sie lächelte wieder, setzte langsam ihr echt eklig aussehendes Mixgetränk ab und sagte mit ruhiger, kaum hörbarer Stimme:
„Du wirst gehen, mein Kind. Keine Diskussion.“
„Du kannst mich nicht zwingen!“, presste Ben wütend zwischen seinen Zähnen hervor. Er wollte nicht gehen. Er würde nicht gehen!
„Wie gesagt, es wird nicht diskutiert. Außerdem ist es die Idee deines Großvaters.“
Damit hatte Ben nun wirklich nicht gerechnet. Sein Großvater wollte, dass er dort hingeht? Ben wusste, dass sein Opa andere Vorstellungen davon hatte, wie Ben sein Leben verbringen sollte. Aber sein Großvater Magnus fuhr Motorrad, hatte lange Haare und war nie länger als ein paar Tage an einem Ort. Ein Lebemann, wie er im Buche stand. Warum wollte Magnus nur, dass sein Enkel in ein Spießer-Camp geht?
Magnus war nicht oft zu Besuch. Kam er, war es meist mitten in der Nacht und unangemeldet. Bens Mutter begrüßte ihn aber immer mit einem herzlichen Lächeln und einer Umarmung. Als Ben noch ein Kind war, weckte Magnus ihn manchmal vor dem Morgengrauen, um ihm von unfassbaren Abenteuern zu erzählen. Dass sein Leben einmal von diesen Geschichten abhängen würde, hatte Ben damals natürlich nicht geahnt. Ben war total verwirrt. Die Wut verpuffte und stattdessen hatte er hunderte Fragen in seinem Kopf. Warum sollte er da hin? Warum wollte Magnus, dass er ausgerechnet dorthin fuhr? Warum zum Henker hatte ihn niemand gefragt, ob er überhaupt gehen wollte? Und warum trank seine Mutter eigentlich jeden Morgen dieses widerliche grüne Zeug? Es sah aus wie Erbrochenes. Es roch wie Erbrochenes. Es war, ganz klar, Erbrochenes.
Doch trotz all der Fragen brachte Ben nur ein „Was?“ hervor.
„Dein Großvater will dich wohl dort treffen, oder so. Einige Dinge klären. Ach, du kennst ihn doch. Viel mehr hatte er dazu nicht zu sagen.“
Anna zupfte ihre perlweiße Bluse zurecht und kontrollierte mit beiden Händen ihre goldenen Ohrringe, die sich strahlend von ihren rabenschwarzen Haaren abhoben.
„Und du hast einfach zugestimmt, ohne mich zu fragen?“, hakte Ben in vorwurfsvollem Ton nach.
Die dunklen Augen seiner Mutter weiteten sich, als sie die Zeigerstellung der Wanduhr erspähte. Hektisch sprang sie auf, schlüpfte in ihre unfassbar schmerzvoll aussehenden schwarzen Pumps und schnappte sich ihre Handtasche. Im Laufschritt und schon auf halbem Weg zur Haustür sagte sie noch über ihre Schulter: „Beeil dich mit dem Frühstück. Ah, und sag María bitte, dass ein Päckchen für sie gekommen ist. Hab' dich lieb. Dickes Küsschen!“ Sie schickte ihm einen Handkuss quer durchs Zimmer und die dicke Tür krachte laut ins Schloss, als sie das Haus verließ.
Das gemeinsame Frühstück war die einzige Zeit am Tag für ihre kleine Familie, die für wichtige Gespräche genutzt wurde. Stets endete dieses Frühstück in demselben Szenario. Anna sagte Ben etwas, das er nicht gut fand, und um seinen Argumenten zu entfliehen, musste seine Mutter immer gaaanz schnell zur Arbeit.
„Typisch“, murmelte Ben genervt vor sich hin.
Seine Mutter hatte ihm bis jetzt immer nachgegeben, wenn er etwas wollte, daher ergriff sie auch die Flucht, wenn sie sah, dass er nicht einlenken würde. Aber sein Großvater? Wenn sein Großvater derselben Meinung war, kam er nicht aus dieser Nummer heraus. Vor allem nicht nach dem, was bei ihrem letzten Treffen geschehen war. Seine Mutter hätte er mit ein wenig Aufwand umstimmen können. Ein oder zwei Tage trotziges Schweigen, gefolgt von einem traurigen „Bitte Mami, schick mich dort nicht hin. Ich will bei dir bleiben, Mamiii“ und er hätte entspannt den Sommer vor seiner Konsole kleben können. Doch nicht mit Magnus auf ihrer Seite. Da konnte er so viel diskutieren und betteln, wie er wollte. Noch nie hatte sein Opa nachgegeben oder gar trotziges Verhalten geduldet. Ben konnte schon fast spüren, wie sich Magnus‘ unnachgiebiger Blick in ihn bohrte.
Das Verhältnis zwischen Ben und Magnus war kein einfaches. Magnus‘ Sohn, also Bens Vater, verstarb, noch bevor Ben geboren wurde. Sein Großvater war also das einzige männliche Vorbild, das er hatte. Als Kind verbog und wand sich Ben, um Magnus ein lobendes Wort zu entlocken, doch sehr selten hatte er Erfolg dabei. Oft starrten ihn die Augen seines Großvaters gedankenversunken an und es schien, als schauten sie durch ihn hindurch. In dem Sommer, als Ben zwölf Jahre alt wurde, stand Magnus plötzlich vor der Tür. Seine Mutter bat ihn herein und verschwand in der Küche, um etwas zu trinken zu holen. Seit Monaten hatte Ben auf einen Besuch oder eine Nachricht seines Großvaters gehofft. Er war außer sich vor Freude, Magnus zu sehen. Ben legte stolz sein Zeugnis vor und erzählte hastig, was er die letzten Monate so erlebt hatte. Magnus sah das Zeugnis nicht an und sagte kein Wort. Nach einigen Minuten stand er abrupt auf und sah Ben mit einem unbeschreiblichen Blick an. „Du siehst deinem Vater jeden Tag ähnlicher“, hatte er nur gesagt, war dann mit großen wütenden Schritten zur Tür gelaufen und erneut für einige Monate verschwunden, ohne ein weiteres Wort. Ben konnte sich noch gut an das Gefühl erinnern, das er hatte, als die Tür hinter seinem Großvater zufiel. Da wurde ihm klar, dass, egal was er tat oder erreichte, er nie das von seinem Großvater bekommen würde, was er sich ersehnte. Als Ben an jenem Abend weinend im Bett lag, schwor er sich, nichts mehr von seinem Großvater zu erhoffen. Seither waren Magnus‘ Besuche eher emotional unterkühlte und wortkarge Termine. Ben nannte seinen Großvater nur noch beim Vornamen, um diesen zu provozieren. Mit guter Erfolgsquote. Magnus wiederum tat seinen Unmut mit vielsagenden Blicken kund. Seine Mutter versuchte händeringend, die Wogen zu glätten, aber Ben war zu verärgert und Magnus zu verkorkst, und so prallten ihre Worte ungehört an den beiden Männern ab. Bei ihrem letzten Aufeinandertreffen kam es zu einem heftigen Streit. Ben hatte sich geweigert, auch nur ein Wort mit seinem Großvater zu wechseln. Dieser war daraufhin explodiert und hatte Ben lauthals als dummes, verwöhntes Kind bezeichnet. Ben ließ das trotz der beschwichtigenden Worte seiner Mutter nicht auf sich sitzen und sagte: „Ich bin dir doch eh scheiß egal, also verzieh dich, Magnus!“ Ben hatte seine Worte bereut, noch während sie aus seiner Kehle dröhnten. Es klatschte überraschend laut, als die raue Hand seines Großvaters auf Bens Wange aufschlug. Das lag nun fünf Monate zurück und kein Wort war seither gewechselt worden.
Es war Ben zutiefst zuwider, doch egal, was er tat, er musste diesen Sommer in das Bauern-Camp mit den Wandersandalen-Fuzzis.
Wütend warf Ben sich aufs Sofa.
„Nicht zu fassen!“
Dass seine Mutter und Magnus gemeinsam darüber entschieden, wie er seine Zeit verbringen sollte, ärgerte ihn so sehr. Die Aussicht, drei Wochen auf engstem Raum mit mehreren Dutzend Fremden zu verbringen, war der blanke Horror. Smalltalk über Dinge, die ihn nicht interessierten, und zwischenmenschliche Oberflächlichkeiten. Es war immer das Gleiche und Ben hatte keinerlei Interesse daran. Vielleicht rührte das daher, dass er und seine Mutter so viel umgezogen waren. Es verging kaum ein Jahr, in dem sie nicht die Stadt, das Land oder sogar den Kontinent wechselten. Die einzigen konstanten Menschen in Bens Leben waren seine Mutter, Magnus und María, die Haushälterin, die sie bei jedem Umzug begleitet hatte. Ben war in der Schule immer der Neue gewesen. Mit der Zeit hatte er gelernt, sich schnell in eine fremde Gruppe einzufügen. Er sah sich an, was es für Leute waren, mit denen er es zu tun hatte, und sagte dann, was sie hören wollten, um schnell und unauffällig in der Masse unterzugehen. Nur nicht herausstechen. Das war seine Überlebensstrategie, seit er denken konnte. Denn als Kind anders zu sein als die anderen, ist nicht einfach. Das musste Ben früh erfahren. Individualität wurde mit Hänseleien und Prügel des Einheitsbreis bestraft.
Menschen sind meistens egozentrisch veranlagt. Gibt man ihnen das Gefühl, sie seien wichtiger und besser als ihr Gegenüber, stellt man keine Bedrohung für ihr Ego dar und sie betiteln dich als Freund. Den Wenigsten fiel überhaupt auf, dass sie nichts über Ben wussten. Von außen betrachtet war er eins mit der Gruppe, einer unter vielen. Aber egal in welcher Stadt sie waren, oder in welchem Land, Ben fühlte sich als Fremdkörper. Doch erst seit dem Sommer, in dem er zwölf wurde, verhielt er sich schließlich auch wie einer.
Der Zwischenfall mit seinem Großvater ließ ihn umdenken: Er hatte die Nase voll davon, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Sich zu verbiegen und in eine Form zu drücken, die ihn inzwischen ohnehin anwiderte. Er widersprach und rebellierte nun, wo und wann auch immer er konnte. Nicht nur Magnus, sondern auch Lehrern und all den anderen gegenüber, die etwas von ihm verlangten, was er nicht tun wollte. Dieses Camp war wohl die Antwort seiner Mutter und seines Großvaters auf sein Verhalten.
Ben saß noch keine zwei Minuten auf dem Sofa, als sich die Eingangstür schon wieder öffnete. María stolperte unbeholfen in die Küche. Aus ihrem Zopf hingen lange zerzauste Strähnen. Zumindest ging Ben davon aus, dass das, was auf ihrem Kopf war, zu einem früheren Zeitpunkt einen Zopf dargestellt hatte. Ben überragte die kleine Spanierin um mehrere Köpfe. María war seit jeher ihre Haushälterin. All die Umzüge und die exzentrische Art seiner Mutter hatten sie nicht davon abgehalten, an ihrer Seite zu bleiben. Ben hatte sie einmal gefragt warum.
„Wer würde denn sonst danach schauen, dass du ordentlich isst?“, hatte sie nur lachend geantwortet. Marías Blick schweifte nun über den großen Wohnraum, bis sie das erblickte, was sie suchte.
„Da bist du ja, mein Herzkäfer!“ Mit langen Schritten, oder zumindest lang für eine solch kleine Frau, durchquerte sie den Raum. Ben versuchte im letzten Moment, aufzuspringen und sie abzuwehren, doch er hatte zu spät reagiert und musste sich seinem Schicksal ergeben. Mit festem Griff packte sie Bens Kopf und drückte ihm einen stürmischen Kuss auf seine schwarzen Locken, dann wuschelte sie energisch, aber liebevoll durch seine Haare. Er mochte María wirklich gerne und er wusste, dass sie ihn auch sehr mochte. Nur deshalb duldete er, dass sie seine ohnehin kaum zu bändigenden Locken noch mehr zu Berge stehen ließ. Seit er sich erinnern konnte, machte María das jedes Mal, wenn sie ihn sah. Da er nun aber um einiges größer war als sie, fiel ihr das nicht mehr so leicht. Also nutzte María jede Gelegenheit, wenn er saß oder lag, um ihm seine Frisur zu zerstören und ihm einen Schmatzer auf den Scheitel zu drücken. Hinterher trug sie immer einen selbstzufriedenen Ausdruck im Gesicht.
„María!“, schimpfte Ben und versuchte verzweifelt seine Haare wieder zu ordnen. María war inzwischen zur Kücheninsel gehuscht und putzte mit einem Lächeln auf den Lippen blitzschnell die Überreste des Frühstücks beiseite. Sie sah ihn an und ihre braunen Augen funkelten dabei fröhlich. Sie hatte inzwischen kleine Fältchen vom Lachen um die Augen bekommen. Die Falten ließen ihr Gesicht noch einladender und freundlicher erscheinen. Ben konnte nicht anders, als auch zu lächeln, doch eigentlich war ihm gar nicht danach zumute.
„Was ist, mi corazón? Hat deine Mamá dir gesagt, wo du sein wirst diesen Sommer?“ María hatte den Kopf schräg gelegt und schaute Ben mitfühlend an.
„Du auch? Du wusstest auch davon?“ Ben verschränkte verärgert die Arme vor seiner Brust. „Unfassbar!“
„Ich werde dich vermissen, Herzkäfer.“ Ben schaute zu ihr auf, denn in ihrer Stimme war ein komischer Unterton. Tränen glitzerten in den Augenwinkeln der kleinen Frau und die Fröhlichkeit hatte ihren Blick verlassen. Als sie sah, dass Ben es bemerkt hatte, wischte sie sie schnell mit ihrem Handrücken weg.
„Es sind nur ein paar Wochen, María“, tröstete Ben jetzt sie. Nachdenklich hatte er seine Stirn in Falten gelegt und schaute sie durchdringend an. Was machte sie nur für ein Theater um die paar Tage? Er war schon öfter so lange weg gewesen und zuvor hatte sie deswegen noch nie geweint.
„Wenn hier jemand weinen müsste, dann ja wohl ich!“, sagte Ben, während er zu ihr in die Küche lief und ihr einen Arm um die schmalen Schultern legte. „Du kannst ja mitkommen“, sagte Ben schelmisch lächelnd. María war ein absoluter Stadtmensch und ekelte sich vor allem, was mehr als zwei Beine hatte. „Ein bisschen wandern. Im Wald abends den Fledermäusen lauschen …“, begann er.
„Ben“, sagte María warnend.
„… oder den Morgentau von einem frisch gesponnenen Spinnennetz tropfen sehen.“
„Ben, sprich nicht weiter“, zischte die kleine Spanierin, doch es war zu gut, um nun aufzuhören.
„Faszinierend, wie die langen haarigen Beinchen der Spinne bei jedem Zittern ihr Netz inspizieren und nur darauf lauern, den klebrigen gelben Saft aus ihrer Beute zu saugen.“
„Sei still!“, fauchte María und versuchte verzweifelt, ihre Hand auf Bens Mund zu drücken, aber er packte sie an ihren kleinen Handgelenken und sah ihr lachend ins Gesicht. „Oder wenn man im Gras liegt und ihre acht langen Beinchen sich in deinen Haaren verfangen, auf der Suche nach einem neuen Platz für ihr Nest.“
„Ah! Repulsivo!“, die kleinen Fäuste der Spanierin versuchten vergeblich, auf Bens Brust zu hauen, doch Ben war inzwischen zu groß und zu stark für sie. Ihre Traurigkeit war jäh verflogen.
„Wirst du mich immer noch vermissen, María?“, fragte Ben laut lachend und drückte sie fest an sich.
„Du bist ein verrücktes Kind“, kam es halblaut aus Bens Umarmung hervor. „Aber vermissen werde ich dich trotzdem.“ Dann schlang auch sie ihre Arme um Ben und drückte ihn liebevoll an sich. Jetzt war es Ben, der ihr einen Kuss auf den Scheitel gab.
„Es sind ja nur ein paar Wochen“, sagte Ben tröstend. María drückte ihn noch fester.
„Ja“, sagte María. „Nur ein paar Wochen“, wiederholte sie, doch Ben hatte ein komisches Gefühl bei ihren Worten.
2
Ben würde einfach alles machen, um nicht zu diesem Camp zu müssen. Gott! Er würde sogar freiwillig einen dieser schlimmen Jane Austen Filme mit seiner Mutter anschauen. So wie er es immer machen musste, wenn sie wieder einmal von einem schlechten Date nach Hause kam.
Seine Mutter Anna war eine schöne Frau. Mit schwarzem Haar, sportlicher Figur und intelligentem Blick. Doch seit Bens Vater während ihrer Schwangerschaft gestorben war, hatte sie sich nie mehr verliebt. María drängte sie dazu, auf Dates zu gehen und sich zu verabreden, aber immer, wenn Anna danach nach Hause kam, sagte sie, dass ihr Date wundervoll war, aber eben nicht Bens Vater. Nach all diesen Jahren liebte sie ihn immer noch wie am ersten Tag und trauerte wie an seinem letzten. Also lag sie deprimiert auf der Couch, aß Eiscreme und überredete Ben, diese qualvoll schnulzigen Filme mit ihr zu schauen. Nach jedem Date dieselben unausstehlichen Streifen. Aber danach ging es ihr besser, also stand Ben sie für seine Mutter durch. Inzwischen konnte er sie schon auswendig.
„Wenn Ihre Gefühle immer noch dieselben sind wie im vergangenen April, dann sagen Sie es. An meiner Zuneigung hat sich nichts geändert. Aber ein Wort von Ihnen genügt und ich werde für immer schweigen. Falls sich ihre Gefühle jedoch geändert haben sollten (dramatische Pause), so muss ich Ihnen sagen, dass Sie mich verzaubert haben. Voll und ganz und ich liebe, ich liebe, ich liebe Sie.“
Danach brach seine Mutter immer in Geschluchze aus und jammerte: „Ist das romantisch.“
So unfassbar langweilig diese Filme auch waren, mit ihrem Liebesgefasel und Geknutsche, so verlockend erschienen sie Ben, sobald er im Horror-Camp angekommen war. Das Zeltlager, wie sie es hier nannten, hatte schon am ersten Tag alle schrecklichen Erwartungen erfüllt und sogar übertroffen. Alle mussten ihre Handys abgeben, welche eh wenig nützlich gewesen wären, da man in diesem Urwald kein Netz hatte. Da das anscheinend noch nicht genug Folter war, ging es gleich am ersten Tag auf einen Ausflug. Ausflug, ein so harmloses Wort für die Grausamkeiten, die folgen sollten. Ein gefühlt endloser Fußmarsch durch Unterholz und Geröll! Steile Hänge, die mit riesigen Laubbäumen bewachsen waren, und weit und breit kein Ende in Sicht. Es war verdammt heiß und Ben sah keinen Sinn darin, Stunde um Stunde diesen Erdriesen zu erklimmen, nur um dort oben zu zelten.
„Allein der Aussicht wegen lohnt es sich“, hatte einer der Betreuer gesagt.
„Ihr könnt ja ein Foto für mich machen, wenn ihr dort seid“, antwortete Ben keck. Doch Georg der Betreuer hatte nur lachend abgewunken. Er dachte echt, dass Bens Kommentar ein Witz war. Georg! Wer zum Henker heißt schon Georg? Ein Typ mit Wandersandalen und einem Mädchenzopf. Jap. Genau das war Georg. Dafür, dass Geooorg sich bei der Kennenlernrunde selbst als Naturbursche beschrieb und nach eigenen Angaben ununterbrochen an der frischen Luft war, schien seine Haut so weiß wie unrecyceltes Toilettenpapier. Verdammt, er war so weiß! Wäre er vom Schicksal mit einem schöneren Gesicht beschenkt worden, hätte er eine Hauptrolle in Twilight ergattern können. Doch gutaussehend war Georg nicht. Er war circa dreißig Jahre alt und mit seinen langen rotblonden Haaren, die echt mal eine Kur vertragen konnten, hatte Gorgeous-Georg eher etwas von einem Heavy-Metal-Molch. Sein Haaransatz war mit der Zeit immer weiter Richtung Hinterkopf gewandert, aber das hielt die gutgelaunte Weißwurst nicht davon ab, die trockenen Überreste seiner Haarpracht in einem langen, dünnen Zopf über seinen schmalen Rücken baumeln zu lassen.
„Wer schleppt sich denn bitte freiwillig Kilometer um Kilometer einen steilen Berg hinauf, nur um dann von oben noch einmal seinen Leidensweg betrachten zu können? Hier sind doch alle verrückt!“, motzte Ben verärgert über die Situation, in der er steckte.
Seine Mutter hatte Ben am Tag zuvor zum Bahnhof gefahren. Er hatte sie die letzten Tage mit Schweigen gestraft, und auch während der Autofahrt hatte er sich demonstrativ seine Kopfhörer aufgesetzt und ihre Bemühungen, sich zu unterhalten, abgewehrt. Er konnte sie zwar trotz der Musik hören, doch er ignorierte sie. Was sie sagte, beunruhigte Ben. Immer wieder sagte sie, dass er zu mehr in der Lage sei, als er sich zutraute. Dass er ein toller Junge sei und sein Vater stolz auf ihn wäre, könnte er Ben nun sehen. Dann sagte sie, dass sie ihn liebte. Immer und immer wieder. Während dieser Autofahrt sagte sie es öfter als in Bens gesamten bisherigen Leben. Erst Marías emotionaler Ausbruch in der Küche und dann das. Ein ungutes Gefühl stieg in Ben auf. Am Bahnsteig drückte sie ihn so fest an sich, dass er fast in Atemnot geriet. Anna war sonst nicht so emotional und auch keine Frau vieler Worte. Ben hatte immer gewusst, wie wichtig er ihr war, doch dieses Verhalten war extrem sonderbar. Nur halbherzig erwiderte er die Umarmung, aber kaum verließ Bens Zug den Bahnstieg, bereute er es, ihre Worte nicht wenigstens einmal erwidert zu haben. Ben wusste, dass seine Mutter nur das Beste für ihn wollte und ihn wirklich liebte, doch er war inzwischen alt genug, um Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Wieso hatte sie ihn weggeschickt, wenn es ihr so schwerfiel, ihn gehen zu lassen?
Ben war genervt. Allein unter Idioten! Sein Großvater hatte sich noch nicht blicken lassen, und auf Bens Nachricht von vor einer Woche hatte er auch nicht reagiert. Während seine hochmotivierte Gruppe stramm durch den Wald marschierte und zu allem Überfluss in nervtötenden Gesang einstimmte, stapfte Ben in gesundem Abstand hinterher. Gesund für ihn und auch für die anderen.
„So eine blöde Scheiße!“, sagte Ben zu sich selbst, als er wieder einmal mit seinen Nike Turnschuhen auf dem schmalen Pfad ausrutschte. Er hatte sich geweigert, diese hässlichen Wanderschuhe zu tragen.
„Ich zieh die nicht an. Darin sieht man aus wie ein totales Opfer“, hatte Ben mit arroganter Miene zu Georg gesagt, als dieser ihn aufforderte, besser geeignete Schuhe zu tragen.
„Aber wir alle tragen doch solche Schuhe“, hatte Georg im tiefsten Dialekt ermutigend geantwortet.
„Ja, das sagte ich doch gerade“, antwortete Ben mit einer hochgezogenen Augenbraue. Er hatte die Hoffnung, als Strafe nicht mit auf diesen ach so wundervollen Ausflug zu müssen, aber Georg hatte ihn dann einfach ohne Wanderequipment mitgenommen. Ben hätte sich lieber beide Beine gebrochen, als in Wandersandalen in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Nun rutschte er also schlecht gelaunt und laut fluchend den Pfad entlang und hasste jeden Zentimeter des Weges.
„Das sind aber keine schönen Worte, Benno“, brummte eine tiefe Stimme hinter Ben.
Mit einem Satz drehte sich Ben um. Dabei rutschte er mal wieder aus, verlor das Gleichgewicht und landete schmerzhaft auf seinem Hintern.
„Hallo, Magnus“, sagte Ben, ohne seine miserable Laune zu verstecken.
“Na, Junge? Ist es nicht wundervoll hier?” Bens Großvater ließ den Blick über den dicht bewachsenen Wald unter ihnen schweifen, doch sein Ton war zynisch und er lächelte herausfordernd. Schwerfällig rappelte sich Ben samt riesigem Wanderrucksack, der ihm lästig an seinem nassgeschwitzten Rücken klebte, wieder auf.
„Ja, genial“, antwortete Ben ironisch. „Der Dreck und so … genau mein Ding. Könnte mir nichts Schöneres vorstellen.“ Dann legte Ben gespielt überlegend seine Stirn in Falten und tippte mit dem Zeigefinger auf sein Kinn. „Hm, obwohl. Ja, da fällt mir doch was ein. Ein Zahnarzttermin, die Bundesjugendspiele, Mathematikunterricht, oder ein Magen-Darm-Infekt. Einfach alles wäre besser, als hier zu sein!“ Dann sah er seinen Großvater trotzig ins Gesicht und wartete auf eine Erklärung.
„Als du klein warst, mochtest du doch immer die Geschichten von verwunschenen Wäldern und Abenteuern in der Wildnis“, sagte Magnus.
„Das waren Kindergeschichten und ich bin kein Kind mehr. Außerdem kamen, soweit ich mich erinnern kann, auch nie singende Naturfreaks in deinen Geschichten vor.“ Genervt deutete Ben mit einer abwertenden Handbewegung auf die sich entfernende Gruppe fröhlich trällernder Sandalenträger. Sie hatten gar nicht bemerkt, dass Ben zurückblieb, und marschierten zackig weiter den Pfad entlang.
Magnus lachte laut. Ein tiefes, angenehmes Geräusch. Dabei hätte er fast den Zigarrenstummel verloren, der in seinem Mundwinkel baumelte. Magnus nahm den Stummel in seine große, braungebrannte Hand und drehte ihn nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger.
„Du hast dir die Geschichten doch gut gemerkt, oder?“
Sein Opa sah ihn nun ernst an. Irgendetwas war in Magnus' Blick, dass Ben verunsicherte. Sein Großvater hatte dieselben Augen wie Ben. Tiefes, leuchtendes Grün mit einem schmalen schwarzen Ring, der die Iris umrandete. Diese grünen Augen sahen ihn nun mit einer Mischung aus Sorge und Erwartung an.
„Ähm, ja. Ich … ich denke schon, dass ich sie mir gemerkt hab' … könntest du mir jetzt mal bitte erklären, was ich hier soll, und …“ Doch sein Großvater schnitt ihm das Wort ab.
„Hast du sie dir genau gemerkt, Benno?“, fragte Magnus nun mit mehr Nachdruck. Ben war verwirrt. Der herrische Ton in der Stimme seines Opas nervte ihn, aber etwas hielt Ben davon ab zu streiten. Warum war sein Opa so ernst wegen ein paar Kindergeschichten?
Magnus beäugte seinen Enkel genau. Ben sah seinem Vater inzwischen zum Verwechseln ähnlich und es zerriss Magnus fast das Herz, Benno ins Gesicht zu schauen. Insgeheim mochte Magnus Bens sture Art und amüsierte sich an seinen zugegeben manchmal eigensinnigen Ausbrüchen. Er war noch nicht einmal ganz fünfzehn Jahre alt. In Magnus' Augen also noch ein Kind. Unschuldig, hitzköpfig und nicht bereit für das, was vor ihm lag, doch er hatte keine Wahl.
„Ja, Magnus. Ich habe mir alles gemerkt. Was ist das überhaupt für eine Frage? Wie bist du eigentlich hierhergekommen? Dein Motorrad kommt doch bestimmt nicht …“
„Das ist jetzt nicht wichtig“, unterbrach ihn sein Großvater erneut. „Benno, du bist mein einziger Enkel. Ich … ich habe nicht viel Zeit.“ Magnus legte nun seine große Hand auf Bens Schulter und sah ihm vielbedeutend in die Augen.
„Ich wünschte, es wäre anders, doch es muss so sein. Ich ...“ Magnus sah Ben eindringlich an. Er war offenbar sehr aufgewühlt und wusste nicht, was er sagen sollte.
„Was ist los? Was meinst du? Wie …“
„Es tut mir leid, Ben. Du bist ein guter Junge.“ Ben war ganz starr. Was hatte das alles zu bedeuten? Hatte sein Großvater sich etwa gerade bei ihm entschuldigt? Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht!
Ben öffnete seinen Mund. „Opa …“, doch jetzt fehlten ihm die Worte. Magnus drückte noch einmal Bens Schulter. Er zog einen Mundwinkel nach oben zu einem halbherzigen Lächeln. Es sollte wohl ermutigend wirken, war aber leider vergebens. Ben war so durcheinander und aufgewühlt. Magnus wendete sich nun von ihm ab und stand noch kurz zögernd da. Er war ein großer Mann. Seine Haare reichten bis zu seinen Schultern und waren von einem Lederband zusammengehalten. Früher waren es dieselben schwarzen Locken, die auch Ben so wild vom Kopf standen, doch mit den Jahren hatten sie sich in leuchtendes Silber verwandelt. Sie hoben sich weiß von der sonnengebräunten, ledrigen Haut ab.
Ben war wie angewurzelt. Er starrte auf den breiten Rücken seines Großvaters. Magnus trug ein abgenutztes weißes T-Shirt, das mit Löchern und Flecken übersäht war, seine schwarze Lederhose hatte auch die besten Jahre hinter sich und hing schlapp über die massiven Biker Stiefel. Wie hatte es Magnus eigentlich geschafft, mit diesen Schuhen hier hochzukommen, und warum war Ben total nassgeschwitzt, während sein alter Großvater nicht einen einzigen Tropfen Schweiß auf der Stirn zeigte?
„Bis dann, Benno“, sagte sein Großvater, ohne sich umzudrehen, und machte sich wieder auf den Weg in Richtung Tal.
„Magnus, du kannst doch nicht einfach … warte doch mal!“
Unbeholfen durch den schweren Rucksack auf seinem Rücken versuchte Ben seinem Großvater zu folgen, doch zu hektisch ging er auf dem schmalen Pfad bergab. Er verlor den Halt und rutschte ab. Mit den Armen rudernd, konnte er sich nur abfangen, indem er sich an einen der Bäume klammerte. Er konnte nicht weit gerutscht sein, höchstens ein paar wenige Meter.
„Magnus! Du kannst doch nicht so wirres Zeug reden und dann einfach gehen. Was ...“ Ben schaute zu der Stelle, an der sein Großvater inzwischen ungefähr sein sollte, aber dort war niemand. Er war verschwunden.
„MAGNUS?“, reif Ben. Wo war er hin? Ben lauschte, ob er die schweren Biker Boots durch das Gestrüpp hören konnte. Kein Laut. Er war nicht mehr zu hören. Nur das Rauschen des Windes durch das Blätterdach über ihm.
„Wie zum …?“ Magnus war einfach verschwunden. „Ah! Was für ein kompletter Scheißtag!“, dröhnte Ben. Was sollte das alles? Was sollte das alles bedeuten? Und warum musste Magnus für dieses Gespräch ausgerechnet hierherkommen?
„Jetzt muss ich auch noch diese Deo verweigernden Ökos suchen! So ein Dreck!“
Weiter fluchend und vor sich hin motzend rappelte Ben sich auf. Mit Mühe kletterte er bergauf, um zurück auf den Pfad zu kommen. Meter um Meter kämpfte und hangelte er sich an den Bäumen und Sträuchern entlang nach vorne, aber der Pfad war nicht wiederzufinden. Ben hielt inne und schaute sich um. Umgeben von Bäumen, weitab vom Weg und völlig allein konnte Ben nicht einmal den Gesang seiner Truppe in der Ferne hören. Er hatte sich verirrt.
Die heiße Sommersonne wanderte entschlossen zum Horizont und verlor langsam ihre Kraft. Die Dämmerung begann und es wurde allmählich dunkel. Ben begrüßte die aufkommende kühle Brise, die ihm über seine Haut strich. Die im Zwielicht schwarz erscheinenden Bäume schwankten im Wind, und über Bens Kopf rauschte es immer lauter im dichten Blätterdach. Durch das abnehmende Licht fiel es Ben immer schwerer, etwas zu sehen, und zu allem Übel zog nun auch noch Nebel auf. Langsam krochen die hellen Schwaden den Berg hinauf. Irgendetwas war seltsam. Schon als sein Großvater plötzlich aus dem Nichts erschienen war, hatte Ben dieses ungute, mulmige Gefühl bekommen, und es wollte ihn seither nicht mehr loslassen. Er hatte den Eindruck, beobachtet zu werden, und doch war er allein. Auch die abrupt einfallende Nacht und der nicht weniger unvermittelt aufkommende Sturm schienen seltsam. Ein plötzlicher Wetterwechsel war in diesen Lagen zwar nicht ungewöhnlich, aber irgendetwas stimmte nicht.
Plötzlich hörte Ben einige Meter unterhalb seiner Position ein Knacken. In der Vorahnung, nicht allein zu sein, drehte sich Ben blitzschnell um und krallte sich an einen Baum, um nicht erneut abzurutschen.
Zwei große Augen blitzten im Halbdunkel auf. Bens Herz raste wie verrückt. Unfähig, sich zu rühren, bohrte er seine Fingernägel in die Borke des Baumes und fixierte die knapp fünfzig Meter entfernte Stelle im Wald, an der die Augen so schnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Ben starrte noch eine Weile in die Schwärze des Waldes. Aufmerksam konzentrierte er sich auf jedes Geräusch. Er hörte den stärker werdenden Wind im Laubdach des Waldes und seinen eigenen, von der Anstrengung schwer gehenden Atem. Vereinzelt landeten dicke Regentropfen auf den Blättern der Kronen. Alles schien normal.
„Beruhige dich, Ben. Du bildest dir das nur ein“, sagte er zu sich selbst, allerdings konnte Ben seinen eigenen Worten nicht so recht glauben. Zaghaft zwang sich Ben, seinen Blick wieder abzuwenden, um weiterzuklettern. Es konnten nur noch wenige hundert Meter bis zur Spitze des Berges sein.
Zwischen den Bäumen, die vor ihm lagen, konnte Ben schon den Mond erahnen, dann vernahm er erneut ein Knacken und dieses Mal schien es näher als zuvor. Ein tiefes Grollen folgte darauf. Es war nicht etwa das Geräusch von aufkommendem Donner, sondern ein tiefes mächtiges Knurren.
Wieder wirbelte Ben herum. Der Hang war mittlerweile so steil, dass er auf seinem Rucksack liegen musste, um nicht abzurutschen. Bens Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Voller Entsetzen erspähte er erneut die katzenartig schimmernden Augen.
Sie leuchteten grünlich circa vier Meter über dem Waldboden und gehörten einer riesigen, schwarzen Gestalt, die Ben bewegungslos anstarrte. Ben stockte der Atem. Er konnte es nicht fassen! Was war das nur für ein Tier? Plötzlich ertönte ein unheimliches Zischen. Dichte Rauchschwaden entwichen den Nüstern des fremden Wesens und hoben sich hell von der schwarzen Haut des Tieres ab. Der Koloss rammte seinen riesigen Schädel urplötzlich gegen einen der Bäume neben ihm und entwurzelt diesen, als sei er aus Pappe!
Ben wollte rennen, Ben wollte schreien, doch er blieb wie angewurzelt an derselben Stelle. Seine Hände hatten sich vor Entsetzten tief ins Gestrüpp gebohrt. Er hatte Todesangst und trotzdem konnte er seinen Blick nicht abwenden.
Das gewaltige Tier knurrte erneut. Ein weiteres Zischen. Rauch. Leichter Nieselregen hatte eingesetzt und prasselte auf die Blätter über ihnen. Auf einmal brach lautes Gebrüll aus der Kehle des Tiers und es baute sich zu seiner vollen Größe auf. Es stellte sich auf seine Hinterläufe und wurde fast doppelt so groß. Mit einem lauten dumpfen Krachen ließ sich der Koloss wieder auf die Vorderläufe fallen. Der Boden bebte unter der Wucht des schweren Körpers. In fließenden Bewegungen kam er nun in Bens Richtung, immer und immer schneller. Ben schrie auf. Sein eigener Aufschrei riss ihn aus seiner Trance.
Hektisch schüttelte er den Rucksack ab und stürzte sich in Richtung Bergspitze. Es war steil und steinig, doch Ben rammte seine Finger in den Boden des Hanges und riss sich am Unterholz entlang. Dornen und Steine bohrten sich in seine Hände und zerrissen seine Kleidung sowie seine Haut. Ben wagte nur einen flüchtigen, panischen Blick über die Schulter. Das Tier war nur noch wenige Dutzend Meter entfernt.
Bens Herz schlug ihm bis zum Hals. Der Regen wurde stärker und seine Kleidung hing an seinem Körper. Seine Haare klebten ihm nass im Gesicht. Am Hang wurde es immer felsiger und karger. Immer weniger Unterholz, an dem er sich festklammern konnte. Der Mond blitzte weiß zwischen den wenigen Sträuchern hindurch und ließ hoffen, dass die Bergspitzte nicht mehr weit war. Vielleicht fand er dort Hilfe. Vielleicht waren dort die anderen seiner Truppe. Vielleicht war dort eine Hütte, in die er sich flüchten konnte. Vielleicht.
Bens Gedanken rasten, während er sich panisch an den dornigen Sträuchern bergauf zog. Nur knapp hinter ihm bahnte sich der Gigant in mächtigen, fließenden Bewegungen durch den Wald. Bäume, die ihm im Weg waren, wurden einfach zur Seite gedrückt und entwurzelt. Das Tier würde ihn gleich haben!
Zu panisch, um sich umzudrehen, hechtete Ben mit seinen verbleibenden Kräften nach vorne. Ganz plötzlich endete das Gestrüpp und er stürzte auf kargen, scharfkantigen Fels. Zu spät wurde Ben klar, dass er nicht auf eine Bergspitze gestiegen war, sondern auf eine Klippe.
So war er also blind durch die Dunkelheit an den Rand einer meterhohen Felswand geklettert. Und anstatt sich, wie er annahm, mit seiner letzten Kraft auf eine Lichtung an der Spitze des Berges zu retten, war Ben geradewegs auf die Schwelle einer Steilklippe gehechtet. Der dicht bewaldete Hang hinter ihm nahm an jener Stelle ein abruptes Ende. Eine Felswand aus hellem, zerfurchtem Kalkstein rauschte hier mehrere hundert Meter steil in die Tiefe. Ben lag bäuchlings auf einem kleinen Vorsprung. Brust und Schultern, sein Kopf und seine Arme schwebten gefährlich über der Klippe. Ben musste mit den Armen rudern, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Zwischen schaurigen Wolken schien der Mond schwach am schwarzen Himmel. Das Tal unter der Klippe war tief und lag, unberührt vom Mondschein, im Dunkeln. Es wirkte wie endloses schwarzes Wasser.
Ben hatte durch seinen Hechtsprung einige Steine gelockert, die lautlos in die Tiefe fielen, ohne hörbaren Aufprall. Nur vereinzelt schlugen sie gegen die steile Wand der Klippe, auf ihrem langen Weg ins Nichts.
Hinter Ben war erneut ein lautes Krachen und noch ein lauteres Brüllen zu hören. Panisch warf er sich auf den Rücken. Seine Ellenbogen waren nun genau auf der Kante des Kliffs. Der starke Regen klatschte ihm ins Gesicht und er musste angestrengt blinzeln, um etwas sehen zu können. Das Tier hatte ihn erreicht. Der riesige Körper überragte Ben um viele Meter und der Boden bebte, als die riesigen Pranken links und rechts neben ihm auf den kleinen Vorsprung krachten. An ihnen waren Klauen, so lang wie Bens Arme. Große, in der Nacht schwarz schimmernde Hornplatten zogen sich entlang der Vorderläufe über den gesamten Körper des Tieres. Die Augen funkelten bedrohlich im schwachen Mondlicht und aus den geweiteten Nüstern stieg Rauch auf. Unter Bens Ellenbogen lösten sich wieder einige Steine und fielen in die Tiefe. Ben grub seine Finger so tief in den Boden wie er nur konnte, um den Steinen nicht zu folgen. Ein gewaltiges Brüllen stieß aus dem Maul des Tieres. Ben spürte den warmen, rauchigen Atem auf seinem Gesicht. Die gigantischen kegelförmigen Zähne schimmerten hell in der Dunkelheit.
Bens Brustkorb hob und senkte sich schnell. Sein Herz schlug laut. Das Tier hob einen Vorderlauf. Dann, unter lautem Knirschen, bohrte es die riesigen Krallen in den massiven Felsboden direkt neben Bens Oberkörper. Ben spürte, wie der Grund, auf dem er kauerte, einige Zentimeter absank. Das Tier zog seine Krallen mit einem schabenden Geräusch aus dem Gestein. Zu Bens Entsetzten sank der Boden noch weiter ab. Er konnte hören, wie Teile des Felsens, auf dem er lag, in die Tiefe fielen und an der steilen Felswand zerbrachen. Es gab keinen Ausweg. Hinter Ben war der Abgrund und vor ihm das tödliche Tier. Laut brüllend baute sich der Koloss nun auf seinen Hinterläufen auf. Das Geräusch brach durch das stille Tal und schien von allen Seiten widerzuhallen. Abermals rammte es die gigantischen Läufe links und rechts vor sich in den Boden. Das war das Ende. Ben spürte, wie der Fels, auf dem er lag, sich endgültig von der Steilwand löste und in die Tiefe brach.
Als er in das dunkle Tal stürzte, sah er die schemenhaften Umrisse des Tieres auf ihn herunterstarren. Er war sich sicher, es würde das letzte sein, was er sah.
Dann war alles wie in Zeitlupe. Ben spürte die kühle Luft über seine Haut sausen. Regentropfen prasselten kalt auf ihn ein. Hilflos schloss Ben die Augen und wartete auf den Aufprall, der ihn töten würde.
3
Es war alles so friedlich. Sanft schien die morgendliche Sonne auf das ruhige Tal. Anmutig ragten ringsum zerfurchte Steinwände hoch in den Himmel. Zwischen ihnen lag ein breites, grünes Tal. Saftige Auen, durchzogen von einem sich fröhlich windenden Fluss. Fruchtbare Erde, überzogen von verschiedensten Gräsern und Blumen. Die Heimat und zugleich Nahrung für eine unendliche Vielzahl von fliegenden und kriechenden Insekten. Vereinzelt hatten sich Bäume entlang des Flusses tief in ihren ewigen Platz verwurzelt. Bunte Vögel flatterten vergnügt durch den blauen Himmel und ließen ihre lieblichen Töne durch das Tal klingen. Golden schimmerten die Härchen der Grasähren im Licht der Sonne und bewegten sich im Rhythmus des Windes. Inmitten dieser Idylle lag ein Junge. In knapp zwei Wochen würde er sein fünfzehntes Lebensjahr vollenden. Er hatte tiefschwarze Haare, die in dicken Locken sein Gesicht umrahmten. Seine langen, schlanken Arme und Beine waren weit von ihm gestreckt. Er trug eine Jeans, die an einigen Stellen zerfetzt von seinen Beinen hing. Auch sein einst weißes Oberteil hatte seine besten Zeiten hinter sich. Die noch nicht zerrissenen Stellen waren mit Schlamm oder sogar Blut befleckt. Seine Arme und seine Hände waren überzogen von Schürfwunden und Schnitten.
Völlig reglos lag er da. Eine kleine Hummel landete neugierig auf der Unterlippe des jungen Mannes. Sanft zitterten die Härchen des Insekts im Atemstrom, der aus seiner Nase auf die Hummel traf. Überrascht hob diese ab zu einem erneuten Flug.
Beim Start der kleinen haarigen Hummel kitzelten die winzigen Tarsen am Ende der Insektenbeinchen den Jungen. Nach wiederholtem zaghaften Blinzeln öffnete dieser endlich seine Lider. Die von dichten schwarzen Wimpern gesäumten Augen leuchteten grün aus seinem von der Sommersonne gebräunten Gesicht hervor. Der Junge hörte auf den Namen Ben. Ben war für Großes bestimmt, doch wusste er von alledem zu diesem Zeitpunkt noch nichts.
Nur zaghaft gewöhnten sich Bens Augen an den Anblick des strahlend blauen Himmels über ihm. Sachtes Brummen und Zirpen kam aus allen Richtungen und die Sonnenstrahlen trafen warm auf seine Haut. Der Untergrund, auf dem Ben lag, war weich und kühl. Was ihn umgab, fühlte sich so angenehm an, jedoch brummten nicht nur die Hummeln, sondern auch Bens Schädel. Alles tat ihm weh und sein Mund war so trocken, dass seine Zunge unangenehm am Gaumen klebte.
Zarte violette Blüten wilder Blumen baumelten über seinem Gesicht. In der Ferne sang ein Vogel sein Lied. Nur wenige Meter entfernt plätscherte sanft der kleine Fluss lustig durch das Tal. Alles schien so paradiesisch um ihn herum, aber sein Körper war zerschunden und schmerzte bei jeder Bewegung, bei jedem Atemzug. Jedoch schien er nicht schwer verwundet zu sein. Zwar tat alles weh, doch von keiner Stelle ging ein allzu stechender Schmerz aus. Also keine gebrochenen Knochen, soweit er das einschätzen konnte. Wie war das möglich? Erinnerungen an die Geschehnisse vom Vorabend kehrten allmählich zu ihm zurück, das Tier und seinen Sturz ins Bodenlose. Doch dann war da nur noch Schwärze. Die Klippen in der Ferne … Es mussten jene sein, von denen er in der vergangenen Nacht gestürzt war. Doch die steilen, hellen Wände waren hunderte Meter von ihm entfernt. Von hier unten betrachtet schienen sie noch imposanter. Still und stark ragten sie entlang des Tals empor. Ohne Sturm, Regen und Todesangst waren sie schön anzusehen.
Wie konnte er von dort oben heruntergestürzt sein und nun fast unverletzt inmitten der Schlucht erwachen? Hatte er wie durch ein Wunder diesen Sturz überlebt und war danach sogar noch so weit ins Tal gelaufen? Hatte er etwa einen Schock erlitten und die Momente nach dem Aufprall komplett aus seinem Gedächtnis gelöscht? Was hatte ihn da nur gejagt? Es rasten so viele Fragen durch sein Gehirn. Ben schloss erneut die Augen. Warm schien die Vormittagssonne auf sein Gesicht. Der Boden unter ihm war weich. Die ihn bettende wilde Wiese aus langen, saftig grünen Halmen und bunten Blumen war etwas mehr als kniehoch. Manche Gräser zierte am oberen Ende ein kleiner Kolben und andere trugen Rispen. Zarte Blümchen in Gelb-, Violett- und Rottönen waren in verschiedensten Formen und Größen in der Wiese zu finden.
Das leise Plätschern des Wassers erinnerte Ben daran, wie durstig er war. Mühevoll und noch ganz benommen drehte er sich auf den Bauch und rappelte sich dann auf Hände und Knie. Er bereute es sofort. Viele kleine und auch große Risse und Schnitte zogen sich über seine Hände und Arme. Zarter Schorf hatte sich über ihnen gebildet und die Blutungen gestoppt. Als er sich jedoch aufgestützt hatte, platzten einige von ihnen schmerzvoll wieder auf. Ein Schnitt an der rechten Hand zog sich mehrere Zentimeter über seinen Daumenballen hinweg zur Mitte seiner Handinnenfläche. Zwar nur wenige Millimeter tief, war der Schnitt trotzdem sehr schmerzhaft. Um seine Hände zu entlasten, hatte sich Ben schnell aufgerichtet. Kniend reichte ihm das Gras bis zum Bauchnabel und schwankte, wie Ben selbst, sachte hin und her. In Bens Kopf drehte sich alles und unter Stöhnen stand er langsam auf. Dieser heftige Durst! Ben brauchte Wasser. Humpelnd und mit kleinen Schritten bahnte er sich seinen Weg durch den Wiesenteppich. Mit gerunzelter Stirn sah er an sich hinab. Bens zerrissene Jeans hing ihm in Fetzen von seinem linken Bein. Das rechte Hosenbein war schwarz vom Schlamm, aber seine Sneakers sahen verhältnismäßig gut aus. Klar, sie waren voller Schlamm, aber ansonsten recht gut in Schuss. „Da soll noch einer sagen, das sei das falsche Schuhwerk für eine schöne Wanderung“, murmelte Ben mit kratziger Stimme. Kleine rote Blutstropfen perlten aus dem Schnitt an Bens Hand. Sie rollten langsam, aber zielstrebig an seinem kleinen Finger entlang in das grüne Gras.
Endlich am Wasser angelangt, verlor Ben keine weitere Sekunde. Er hatte Glück. Es war eine sehr flache Stelle des Flusses und das Ufer war seicht und leicht zugänglich. Mitsamt seinen Schuhen lief er in das kalte Wasser. Ben ging in die Hocke und schaufelte mit seiner unverletzten Hand gierig Wasser in seinen Mund. Es tat so gut. Er konnte spüren, wie das Wasser sich seinen Weg entlang seiner Speiseröhre in seinen Magen bahnte. Prompt ging es ihm um einiges besser. Es schien so, als würde das kristallklare Wasser auch seinen Verstand klarer machen. Erst jetzt nahm Ben seine Umgebung vollends wahr. In dem breiten, flachen Wasserlauf waren unzählige Steine in verschiedensten Größen und kleideten das Flussbett aus. An sich nicht ungewöhnlich, doch diese Farben! Zwischen normalen Steinen in verschiedenen Grautönen lagen Steine in den schönsten leuchtenden Farben. Kräftiges Grün, strahlendes Rot, Gelb, Violett! Es war wunderschön. Vereinzelt ragten größere Felsbrocken und Steine reglos aus dem Strom. Glattgespült von der sanften Stetigkeit des kalten Wassers, boten sie sich als Sitzgelegenheit an.
Ben ließ sich also breitbeinig auf einem der flacheren Steine nieder. Durch seine Knie hindurch beugte er sich erneut über das Wasser und trank gierig. Dabei fiel ihm erst auf, wie dreckig er war. Seine Hände waren schwarz vor Schlamm. Das helle Rot seiner Wunde hob sich fast leuchtend davon ab. Es würde wehtun. Es würde sehr, sehr wehtun. Seine Hand pulsierte heiß im Rhythmus seines Herzens, aber er musste die Wunde unbedingt reinigen! Mit seiner linken Hand umschloss er also nun das Handgelenk seiner Rechten. Nur zögerlich führte er mit seiner Linken die verletzte Hand unter Wasser.
Zischend zog er durch zusammengebissene Zähne Luft ein. Es brannte schrecklich, als das Wasser durch den Schnitt spülte. Sein ursprünglich weißes Langarm-Shirt war verdreckt und zerrissen. Der rechte Ärmel war nur noch durch vereinzelte Stiche an der Schulternaht mit dem Rest des Oberteils verbunden. Mit der linken Hand packte Ben den Ärmel und mit einem kräftigen Ruck riss er ihn vollends ab. Vorsichtig wickelte er den Stofffetzen als Verband um die Wunde.
Ben stützte sich mit den Ellenbogen auf seine Knie und schaute ins Wasser. Ein braungebranntes, schmutziges Gesicht starrte zurück. Wirre schwarze Locken zeigten in alle Himmelsrichtungen und so verwirrt wie seine Haare war auch sein Verstand. Er hatte so viele Fragen, jedoch war niemand hier, um sie zu beantworten. Ben runzelte die Stirn. Er stand auf und watete in großen Schritten durch das Wasser hin zu der Stelle, an der er aus der Wiese getreten war. Am Ende seines Trampelpfades lag ein knapp kniehoher Stein im Gras auf den er sich stellte. Fasziniert sah er den kleinen Pfad, den er bei seiner Suche nach Wasser hinterlassen hatte. Er führte mehr oder weniger geradewegs zu der Mulde aus flach gelegenen Pflänzchen, in der er aufgewacht war. Das Gras, die Wiese rundherum war unberührt. Kein einziger anderer Schritt war zu sehen. Wie hatte er dort landen können? Hunderte Meter von der nächsten Klippe entfernt. Weit und breit keine anderen Pfade, keine Spur eines Weges.
„Ich kann ja nicht vom Himmel gefallen sein!“ Oder konnte er? „Ach Schwachsinn!“ Ben war so durcheinander, und auch sauer. Er hatte das Gefühl, sich nicht einmal mehr auf seinen eigenen Verstand verlassen zu können. Wütend über sich selbst und seine Situation ging er trotzig zurück zum Wasser, um eine tiefere Stelle zu suchen.
Er zog den Rest seines Shirts über seinen Kopf. Wenn er aus dem Wasser kam, brauchte einen trockenen Verband für seine Hand.
Kalt schlang sich das Wasser um Bens Körper. Es war so klar, dass er auch in mannstiefem Wasser bis zum Grund sehen konnte. Kleine Fische glitzerten silbern und blau in der Sonne. Käfer und Libellen in den herrlichsten Farben surrten dicht über das Wasser hinweg. Wäre Ben nicht in so einer verflixten Situation, hätte er diesen Ort geliebt.
All der Dreck und das getrocknete Blut lösten sich nach und nach von Bens Haut und aus seinen Haaren. Es war wundervoll im Wasser. Zwar brachte es Ben keine Lösung seiner Probleme, oder auch nur eine einzige Antwort auf die vielen Fragen, aber nun hatte er neue Kraft, um sich dem zu stellen, was kommen sollte. Es lag ein langer Marsch vor ihm. Er musste Menschen finden. Er musste zu seinem Camp zurück. Er hatte Hunger und absolut keine Lust, heute Nacht unter freiem Himmel zu schlafen.
So lange Ben seinen Verband erneuerte, legte er seine restliche Kleidung aus, um sie in der Sonne zu trocknen. Seine nassen Schuhe, die er beim Trinken im Fluss getragen hatte, band er an den Senkeln zusammen und legte sie sich über die Schulter. Er schlüpfte in seine feuchte Jeans, die nur wenig besser aussah als vor der Wäsche. Sein zerrissenes Oberteil steckte er zum Teil in seine hintere Hosentasche. Lässig baumelte der Stoff hinter ihm her. Gerade als er sich auf den Weg machen wollte, bekam er wieder dieses Gefühl, das er auch am Vortag im Wald hatte, das Gefühl beobachtet zu werden.
Hastig drehte sich Ben in alle Richtungen, aber nichts war zu sehen. Sein Herz klopfte laut in seiner Brust. Tief saß die Angst, erneut dem unbekannten Tier gegenüberzustehen, doch hier war nur Gras. Vereinzelte Bäume. Das riesige Tier könnte sich in dieser Umgebung wohl kaum verstecken, und trotzdem war da dieses Gefühl.
Sicher, das Tal war malerisch und weitläufig. Es war ruhig. Ja, es war sogar sehr ruhig, ungewöhnlich ruhig! Es war zu ruhig! Die Berge waren zwar größtenteils unbewohnt, aber auch ein Touristengebiet. Beim Aufstieg am Vortag waren sie so vielen Wanderern begegnet. Hier war niemand. Keine einzige Seele. Kein Weg, kein Wegweiser, kein Schild, nichts. Es war doch sehr ungewöhnlich, sogar für ein so großes Gebiet. Nicht einmal ein Flugzeug war zu sehen.
Das Tal war von Kalkwänden gesäumt. Dieser Bergeinschnitt erstreckte sich als breiter Schlauch über Meilen hinweg. An manchen Stellen war der Abstand von den gegenüberliegenden Felsen einige Kilometer breit, an anderen pressten Felsnasen tiefer in die Senke hinein und verschmälerten so das Tal. Aber weder das eine noch das andere Ende des langen Talschlauchs konnte Ben mit seinen Augen ausmachen. Wie der kleine Fluss schlängelte sich auch das Tal durch die Felsenlandschaft und versperrte so vor Ben die Geheimnisse, die sich am jeweiligen Ende hinter den felsigen Kurven verbargen. Also musste Ben sich entscheiden. Wo könnte die nächste Ortschaft liegen? Er wollte auf jeden Fall den Wald vermeiden. Die Ereignisse der letzten Nacht saßen ihm noch tief in den Knochen. Er hatte wirklich keinerlei Bedürfnis in naher Zukunft einen Wald zu betreten. Am liebsten niemals wieder. Je länger Ben über das Tier nachdachte, desto surrealer kam es ihm vor. War das Tier echt gewesen? Es hatte sich echt angefühlt. Hatte er sich vielleicht alles nur eingebildet, oder hatte er einen Sonnenstich?
„Reiß dich mal zusammen, Ben! Jetzt nicht die Kontrolle verlieren. Mach deinen Kopf frei“, sagte er ermutigend zu sich selbst, doch seine Gedanken kreisten wieder. All diese Fragen. Er brauchte ein konkretes Ziel, auf das er sich fokussieren konnte. Ben schaffte es jedoch nicht so recht sich zu konzentrieren, anscheinend war auf sein logisch denkendes Gehirn kein Verlass. Daher streckte er die Arme weit von sich und drehte sich auf einer Stelle mit dem Gesicht zum Himmel so schnell er konnte. Stopp. In die Richtung, in die er sah, wollte er gehen. Er öffnete hoffnungsvoll die Augen. „Fels … super Plan, Benno“, sagte er ironisch zu sich selbst, also machte er einen anderen Versuch. Ben riss einen der Grashalme mit den kleinen Kolben am oberen Ende ab und hielt ihn in seiner Hand. Er streckte seinen Arm aus und öffnete seine Hand, um den Halm fallen zu lassen. Der Kolben zeigte nach links. „Links soll es also sein, weiser Grashalm.“ Ben nahm die Hände vor der Brust zusammen und verbeugte sich kurz, wie in einem alten japanischen Karate-Film. Er wandte sich nach links und lief los.
„Du musst die positive Seite sehen, Ben“, ermutigte er sich selbst. „Wenigstens singt niemand.“
4
Seit Stunden lief Ben nun schon flussaufwärts das Tal entlang. So wunderschön die Landschaft auch anzusehen war, wünschte er sich nichts mehr, als auf einen Wanderer oder ein Haus zu stoßen. Die zerklüfteten Felsen ragten immer noch zu beiden Seiten hoch in den Himmel. Dort, wo er aufgewacht war, schimmerten die felsigen Wände in hellem grau, doch mit jedem Kilometer, den er sich entgegengesetzt des Stroms bewegte, waren die Gesteinsschichten mehr und mehr von leuchtendem Gelb und Grün durchzogen. Wie bunter Marmor glitzerte das Gestein in der Nachmittagssonne. Um seinen Kopf vor den beißenden Strahlen zu schützen, hatte er sein Shirt zu einem kleinen Turban auf seinem Kopf drapiert. So würde er zwar Sonnenbrand auf seinem Oberkörper bekommen, aber sein Großvater hatte immer gesagt: „Ob vor Kälte oder Hitze, du musst immer deinen Kopf schützen. Er ist das wichtigste Werkzeug, das du hast. Wenn du nicht mehr klar denken kannst, hast du schon verloren.“ Einen Sonnenstich wollte Ben unbedingt vermeiden.
Stunde um Stunde schleppte er sich in der sengenden Hitze weiter voran. Die vereinzelten Bäume und Sträucher boten nur wenig Schatten und er ging immer in der Nähe des Flusses, um trinken zu können und sich kaltes Wasser ins Gesicht und in den Nacken zu spritzen.