Mann darf sich doch mal irren! - Dieter Bednarz - E-Book

Mann darf sich doch mal irren! E-Book

Dieter Bednarz

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Beschreibung

Er hat ein neues Leben begonnen. In Bella Italia. Freiwillig? In seinem ersten Leben war Dieter Lindemann Journalist und mit Esther der glücklichste Mann der Welt. Als sie endlich Eltern von Zwillingen werden, nimmt der späte Vater ein Jahr Auszeit vom Job. Doch beruflich beginnt der Sinkflug: Dieters Selbstbewusstsein wird von Windeln verweht. Esther hingegen hat tolle Perspektiven. Als Dieter sein Ego durch eine Affäre aufpoliert, zieht sie ihre Konsequenzen. Schließlich ist Esther Expertin für Scheidungsrecht … Gibt es eine zweite Chance auf ein Happy End?

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Seitenzahl: 430

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© für die Originalausgabe und das eBook:

2013 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel unter Verwendung einer Illustration von Dirk Schmidt, München

Satz und eBook-Produktion:

Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

www.Buch-Werkstatt.de

ISBN 978-3-7844-8171-5

»Werther musste sterben, damit Goethe leben konnte.«

Dieter Lindemann

Rom, im Frühjahr

Haben wir nicht alle einen Ort, nach dem wir uns sehnen, wenn uns die Welt grau und widrig erscheint, wenn Kälte und Tristesse von unserer Seele Besitz ergreifen? Hat nicht ein jeder diesen verheißungsvollen Platz, an den er sich in seiner Fantasie zurückzieht wie die Katze an den warmen Ofen, weil er genug hat von der Last und Mühsal des Alltags? Sind wir nicht selig wie ein Kind, das wir in unseren Armen wiegen, wenn das Imaginäre auf wundersame Weise Wirklichkeit wird?

Ich empfinde dieses Glück – endlich. Ich bin angekommen an meinem magischen Ort, an den ich geflohen bin in traurigen und harten Zeiten, an Tagen, die mir durch so viele Ängste schwer erschienen. Ich bin eins mit mir und meinen Wünschen – auch wenn dieses Gefühl der Erfüllung nur einen Espresso lang währt. Denn mein Sehnsuchtsort ist ein eher kleines Café, das aber einen großen Namen hat.

Andere mögen mit dem »Rosati« lediglich eine Lokalität in Rom verbinden, wenn auch eine der bekanntesten und traditionsreichsten, in der sie schnell ein Tässchen trinken, um mal da gewesen zu sein. Ich habe im »Rosati« schon als Romanistikstudent glückliche Stunden verbracht, schwer verliebt in meine Kommilitonin Barbara. All die Jahre, die seither vergangen sind, brauchte ich nur die Augen zu schließen, und ich saß wieder dort, händchenhaltend mit der einzigen blonden Italienerin, die ich seinerzeit kannte.

Schon damals, vor über dreißig Jahren, war ich fasziniert von der internationalen Atmosphäre des »Rosati«, von der Historie dieses Cafés, das seit 1922 mehr ist als nur eines der Lokale an der Piazza del Popolo. In den Anfängen fanden hier Intellektuelle und Künstler, vertrieben aus ihren Heimatländern, zueinander und dadurch ein Stück Heimat; später wurde das »Rosati« für die Reichen und Schönen zum Tempel des »Dolce Vita«, zu dem auch Fellini kam, auf der Suche nach Anregungen für seine Filmstoffe.

Nun sitze ich selber hier, unter der warmen Frühjahrssonne auf der Terrasse, genieße die Atmosphäre, von der sich Rossellini und Pasolini haben inspirieren lassen, sitze vielleicht an genau jenem Platz, an dem schon Calvino und Moravia Ideen für ihre Werke notierten. Und ich sitze hier nicht als Cappuccino-Tourist, sondern als Autor; zumindest mache ich mir Notizen, denn nun schreibe auch ich an etwas Größerem.

Mit meinem schwarzen Büchlein, der Bleistiftsammlung und dem kleinen, silbernen Anspitzer – einer Erinnerung an vermögendere Zeiten – gehöre ich fast schon zum Inventar. Ich habe meinen festen Platz hinten rechts, unter der Markise, die mir an schönen Tagen Schatten spendet und mich manchmal auch vor Regen schützt, der aber hier in Rom meine Stimmung noch nie getrübt hat.

»Bon giorno, Signore Dieter, che si gode del suo Caffè.« Sebastiano ist ein liebenswert altmodischer Mensch. Für ihn bin ich noch immer der »Herr«, obgleich ich ihn, den Älteren, auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin nur beim Vornamen nenne. Es wäre zu wenig, Sebastiano nur den perfekten Oberkellner zu nennen. Im »Rosati« ist er eine Institution, die graue Eminenz, obwohl er schwarzes volles Haar hat, auch mit seinen sechsundsechzig Jahren noch.

»Ich habe ihn selbst zubereitet«, sagt Sebastiano in seiner gleichmütigen Freundlichkeit, als er die Tasse neben mein Notizbuch stellt. Dass er sich hinter den Tresen stellt, die Bohnen mahlt, das Pulver presst und brüht, ist eine besondere Ehre. Vor einem halben Jahrhundert hat er im »Rosati« als Barista begonnen, keiner macht den Espresso so gut wie Sebastiano.

»Grazie«, sage ich und blicke aufmerksamer zu ihm auf als sonst. Als Journalist, der ich einmal viele Jahre war, habe ich manchmal so eine Ahnung.

»Was ist los, Sebastiano?«, erkundige ich mich, während ich an meinem Espresso rieche. Ohne den Kult des »odorare«, des Erfreuens am Aroma, darf man ihn nicht trinken, schon gar nicht, wenn Sebastiano ihn bereitet hat. Danach genießt man den Espresso in kleinen Schlucken. Auch die Kunst des »gustare«, des bewussten Schmeckens, hat Sebastiano mich gelehrt. In Berlin habe ich Kaffee tassenweise getrunken. So wie Anne ihn in unserer Kantine gemacht hat, war er wirklich gut. Für Sebastiano wäre er trotzdem nur »schwarzes Wasser«.

»Nichts ist, Herr Dieter, tutto in ordine«, sagt er. Alles in Ordnung. Sebastiano sagt es hastig, als wolle er die Tür zu seiner Seele schnell zuschlagen, bevor ich durch Nachfragen gleichsam meinen Fuß dazwischensetze.

»Das wird ein sehr schöner Tag heute«, sage ich und blinzele hinaus auf die Piazza del Popolo. Es ist noch keine neun. Unter dem Obelisken, der weithin sichtbar mitten auf dem Platz steht, sammeln die Fremdenführer ihre ersten Gruppen. Noch kann ich das Plätschern der vier Brunnen unter dem Pfeiler bis zu meinem Tisch hören. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, auch mal selbst auf der Sonnenseite des Lebens zu sitzen. Allerdings ist mein neues Leben hier in Rom noch jung, jedenfalls gemessen an den gut fünfeinhalb Jahrzehnten, die bereits hinter mir liegen.

Aber Sebastiano benimmt sich heute anders als sonst. Falls ich es, während ich mich konzentriert über meinen Text beuge, richtig bemerkt habe, ist er erst vor einer halben Stunde gekommen. An anderen Tagen ist er immer schon vor sieben im Café, schiebt die Rollläden hoch, richtet den Sonnenschutz aus und genießt bei einer Zigarette den Blick über den Platz, beobachtet, welche Besucher schon an den Portalen der berühmten Zwillingskirchen rütteln, die direkt auf der anderen Straßenseite stehen. Im linken der beiden Gotteshäuser, der Basilica Santa Maria di Monte Santo, die sie nur »Chiesa degli Artisti« nennen, die Kirche der Künstler, wurde Sebastiano getauft, dort hat er vor dreißig Jahren seine Gina geheiratet und vor drei Jahren die älteste Tochter Romina als stolzer Brautvater zum Altar geführt.

Heute aber achtet Sebastiano nicht auf die Touristen, sein Blick verliert sich im Ungefähren. Sind seine Augen gerötet, als habe er geweint? Ich kann mir bei diesem stolzen Römer, so hochgewachsen und aufrecht, gar nicht vorstellen, wie er sich Tränen von den Wangen wischt.

»Der Tag ist zu schön, um ihn traurig zu beginnen«, sage ich dennoch. Mein Blick geht hinauf zu den Kuppeln der beiden Kirchen. Die Sonnenstrahlen lassen sie glänzen. Ich will Sebastiano nicht in Verlegenheit bringen, indem ich ihn bei dieser heiklen Bemerkung auch noch anschaue. Vielleicht liege ich völlig falsch.

Sebastiano schaut weiter auf den Platz, aber er strafft sich, sammelt sich, scheint seinen ganzen Mut zusammenzunehmen. Er rückt den Stuhl an meinem Tisch zurecht und setzt sich.

»Herr Dieter«, sagt Sebastiano, der zwei Stimmen zu haben scheint. Die sonore, ewig gleiche, freundliche des Oberkellners und die des Privatmannes Sebastiano, die jetzt schwach und unsicher klingt.

»Herr Dieter«, sagt er erneut, als wolle er einen neuen Anlauf nehmen und brauche den Schwung der Anrede für den zweiten Teil des Satzes, »haben Sie schon einmal wegen einer Frau geweint?«

Ich sehe diesen Mann an, der auf mich so viel männlicher wirkt, als ich mich je gefühlt habe, und suche nach Worten. Mein Italienisch ist gut, aber bei solch einem Thema muss ich nach Worten suchen. »Sebastiano, mein Weg hierher war nicht einfach. Glauben Sie mir, ich weiß, wie schwer es ist, als Mann die eigenen Tränen zu ertragen.«

Ich nippe an meiner Tasse. Diesmal umfasse ich sie mit beiden Händen, als könnte ich an diesem kleinen Porzellangefäß Halt finden. Es ist meine Geschichte, die ich jetzt wieder vor Augen habe. Aber ich sage nichts.

»Herr Dieter, meine Gina hat mich betrogen. Sie hat einen anderen Mann.«

»Sebastiano, sind Sie sicher?« Seine Frau ist gut fünfzehn Jahre jünger und eine attraktive Person. Aber auf mich wirkte sie treu und brav, wenn sie ihren Mann hin und wieder zum Feierabend im Café abholte.

Sebastiano schlägt die Augen nieder. Ich hätte mir meine Zweifel schenken können. »Wollen Sie mir Ihre Geschichte erzählen, Sebastiano?«, frage ich.

Er schüttelt den Kopf. »Nein, Herr Dieter. Ich will nur wissen, wie lange es wehtut.«

»Das weiß ich nicht, Sebastiano. Ich habe Esther verletzt, nicht umgekehrt. Sie müssten wohl Esther fragen.«

Sebastiano zupft an den Manschetten seines weißen Hemdes, das er zum schwarzen Anzug trägt, er lockert den Knoten seiner dunklen Krawatte, die sonst selbst bei größter Hitze korrekt gebunden ist. Ganz die alte Schule, ein Vorbild für seine adretten Kellner in ihren beigen Uniformen mit den goldenen Knöpfen. »Verzeihen Sie, Herr Dieter, aber jetzt und hier kann ich nur Sie fragen. Ich bin sicher, Sie werden aufrichtig erzählen.«

»Esther hat ihre eigene Version von dem Geschehenen.« Ich trinke den Rest meines Espressos, aber nicht »piano, piano«, sondern schnell und hastig. Ich werde einfach kein richtiger Italiener mehr.

»Erzählen Sie mir trotzdem, wie es war«, sagt Sebastiano mit einer überraschenden Bestimmtheit. »Erzählen Sie mir, warum Sie Esther das angetan haben. Vielleicht verstehe ich danach meine Gina besser.«

So habe ich mir den Vormittag nicht vorgestellt. Ich wollte mich mit ein paar Sätzen der Anteilnahme als einfühlsamer Mensch zeigen. Ich wollte weiter an meinem Buch schreiben, bis Maria vorbeischaut. Ich wollte mit ihr in der Sonne sitzen, vielleicht würde uns Donata die Freude machen und in ihrem Kinderwagen schlafen, und wir könnten uns einen kleinen Prosecco gönnen. Oder einen Rotwein, je nachdem, wann Maria tatsächlich kommen würde. Was Pünktlichkeit anbelangt, ist sie Italienerin und wird es immer bleiben.

Wenn mir jemand im vergangenen Sommer gesagt hätte, dass ich heute im »Rosati« säße, um auf Maria zu warten, und dass sie Mutter geworden wäre – ich hätte schallend gelacht: unmöglich. »Wenn es Ihnen schwerfällt, Herr Dieter, dann bitte lassen Sie es«, sagt Sebastiano. »Sie sind ein lieber Gast, den ich nicht bedrängen möchte.«

Bis jetzt hatte ich geglaubt, ich sei mehr als das. Nicht nur weil ich täglich komme, um zu schreiben, sondern auch wegen Maria, die zu dem großen Caféhaus-Clan zählt. Ich dachte, irgendwie würde das dann auch für mich gelten, den Möchtegern-Moravia aus Berlin. »Wo sollte ich da anfangen, Sebastiano?«, frage ich.

»Beginnen Sie damit, wie Sie sich kennengelernt haben, wie Sie glücklich waren«, meint Sebastiano. Ich bin sicher, ein feines Lächeln um seine Mundwinkel zu erkennen. Wer es im »Rosati« zum Oberkellner bringt, der weiß, wie man Menschen fängt.

Suchend schaue ich mich um. Warum kann Maria nicht um die Ecke biegen? Da vorne an der Kirche könnte sie auftauchen wie vom Herrn gesandt. Aber sie kommt nicht. Ich höre auch keine Donata schreien, auf die ich mich dann liebevoll kümmernd stürzen könnte. Keine Rettung in Sicht. Keine Szene auf der ganzen berühmten Piazza, mit der ich Sebastiano ablenken könnte.

Wo sind die vielen Prominenten und jene, die es gerne wären, wenn man sie braucht? Warum schlendert nicht gerade einer von ihnen auf das »Rosati« zu, damit ich einen kleinen Befreiungsschlag versuchen könnte: »Sebastiano, schauen Sie, da drüben winken Ihnen Woody Allen und Soon Yi zu.«

Ich rühre verlegen mit meinem Löffel im Kaffeesatz. Dieter Lindemann, der Meister des Zeitgewinnens, der König der Drückeberger.

Auf der anderen Seite der Piazza geht eine attraktive Frau an den Stufen der Basilica Santa Maria del Popolo vorbei. Das Haar, die Größe, der Gang: Es könnte Esther sein. Sie kommt in unsere Richtung. Sie überquert die Straße, setzt sich an einen Tisch in der ersten Reihe. Sie streicht ihr Haar aus dem Gesicht. Nur mit dem kleinen Finger. Wie Esther. Sie lacht wie Esther. Aber sie ist es nicht.

»Prego.« Stella serviert mir einen frischen Espresso. Sebastiano reicht sie einen Ristretto. Er hat ihr wohl ein Zeichen gegeben, ohne dass ich es bemerkt habe. Sebastianos diskreter Versuch, mich doch noch zum Erzählen zu bewegen.

Um ehrlich zu sein: Eigentlich zögere ich nur noch, weil ich nicht so recht weiß, wie ich beginnen soll. Mit meiner schweren Kindheit? Gott behüte – es gibt doch heute niemanden mehr, der nicht an seinem Elternhaus gelitten hat. Obwohl die Prägung meines Frauenbildes durch meine Mutter wunderbar zu erzählen wäre. Oder soll ich mit dem Höhepunkt meiner Vater-Karriere anfangen, auf den ich vor ziemlich genau einem Jahr zugesteuert bin? Immerhin bin ich seither ein Muster-Mann mit Auszeichnung, von einer Familienministerin öffentlich belobigt.

Nein, ich werde mit den Stunden davor beginnen, denn die sind viel bezeichnender als der große Auftritt selbst, von dem ich im Übrigen gar nicht weiß, ob er wirklich so glücklich war. Aber dazu kommen wir dann später.

In unserer Berliner Wohnung, in der längst eine andere Familie lebt, hatten wir eine Kleiderkammer. In unserem Fall ist die Bezeichnung treffend, denn die Kammer ist vollgestopft mit Esthers Kleidern. Ich muss daher schon ein wenig suchen, bis ich ihn irgendwo unter den Röcken und Kostümen finde, meinen einzigen dunklen Anzug. Er ist ein gutes Stück aus besseren Tagen, als Gratifikationsdefizit für mich nur ein Fremdwort war und nicht gelebter Alltag. Aber heute wird mein Feier-Tag. In wenigen Stunden werde ich die Anerkennung bekommen, nach der ich mich schon so lange strecke, vorausgesetzt, ich kann die Staubkruste aus den Nadelstreifen klopfen und dieses Teil aus meinen besten Jahren passt mir noch. Wenn ich schon mal eingeladen werde, will ich auch einen halbwegs guten Eindruck machen.

Ich schlüpfe also rein in meine alte Größe und zack – springt er ab, der Knopf am Bund. Es ist nicht länger zu leugnen, dass ich zugenommen habe. Zehn Kilo zu viel lassen sich nicht kaschieren, sosehr ich den Bauch auch einziehe.

»Esther«, rufe ich verzweifelt aus der Kammer. »Esther!«

Sie scheint mich nicht gehört zu haben. »Esther!«, brülle ich in unseren Flur hinein.

»Was willst du, Dieter?«, schreit sie aus der Küche.

»Bitte, komm einmal«, sage ich betont leise. »Ich brauche dich.«

Leon kommt, immerhin. Mein mich liebender Sohn. »Papa, Papa?«

»Mama soll mir einen Knopf annähen«, erkläre ich. »Mama Papa helfen«, ergänze ich, weil der erste Satz nicht kindgerecht war. Ich sehe das so, auch wenn jeder zweite Erziehungsexperte meint, dass man mit Kindern wie mit einem Erwachsenen sprechen soll.

Nun steckt auch Luca seinen Kopf in die Kleiderkammer und läuft sofort wieder raus. »Papa hat die Hose putte macht. Hose put, Papa.« Das Sprachtalent hat er von mir.

Leon tippelt empört hinterher: »Mama!«

Kurz vor der Küche erwischt Leon seinen Zwillingsbruder, schubst ihn, wirft sich auf ihn, noch bevor Luca auf dem Boden aufschlägt. Ich versuche sie zu trennen, mir rutscht die Hose auf die Knöchel. Warum hat Esther auch den Knopf noch nicht angenäht? Ich falle auf meine Söhne. Esther stürzt aus der Küche, Lenny an sich gedrückt, in Stillhaltung. Ich sehe ihre freie Brust. »Was ist hier los?«, herrscht sie mich an. »Kannst du denn nicht mal auf die Kleinen aufpassen?«

Was hätten wir früher, als die beiden so alt waren wie jetzt Lenny, aus dieser Situation gemacht? Ich mit heruntergelassener Hose am Boden, Esther mit blankem Busen über mir: Wir hätten unsere schreienden Zwillinge auf den Arm genommen, Esther vermutlich Leon, ich wohl Luca. Ich hätte gesagt: »Du hast übrigens immer noch wunderschöne Brüste.«

Und sie hätte gelacht und dabei Leon getröstet, während ich Luca beruhigt hätte. Und dann hätte Esther gesagt: »Ich habe nichts dagegen, wenn du die Hose runterlässt, aber bitte erst heute Abend, wenn die Kinder schlafen.«

Und dann hätte ich ihr ins Ohr gebissen, wir hätten beide gelacht, und alles wäre gut gewesen.

Heute dagegen belle ich zurück: »Nichts habe ich getan! Ich brauchte nur deine Hilfe! Das ist kein Verbrechen, wenn ein Mann seine Frau um etwas bittet!«

»Alles war gut«, schreit sie zurück, »bis du deinen Kleiderkammer-Zirkus gestartet hast. Kannst du dir deinen Anzug nicht alleine anziehen? Muss ich auch das noch machen?«

Ich nehme Leon und Luca an die Hand und sage: »Kommt, wir gehen, das müssen wir uns nicht anhören.« Die Jungs zögern. Ich hebe beide hoch und will nach vorne ins Wohnzimmer. In Tippelschritten, weil mir die Hose noch immer auf den Knöcheln hängt.

»Lass die Kinder aus dem Spiel«, giftet Esther. »Nimm du deinen Anzug und lass uns hier in der Küche in Frieden.« Das reicht natürlich, um schnurstracks wieder umzudrehen. Bloß keine Feigheit vor dem Feind. Noch ist das meine Wohnung, noch kann ich mich hier frei bewegen, wenn auch mehr stolpernd.

»Das ist auch meine Küche«, sage ich und baue mich vor Esther auf.

»Geh«, sagt sie. »Geh zu deinem Kongress und lass uns in Ruhe.«

Sie kramt in der Küchenschublade und reicht mir eine Sicherheitsnadel. »Nimm die, wird schon halten bis heute Abend.«

»Gib her«, sage ich, ziehe meine Hose hoch und verziehe mich in die Kleiderkammer. Alleine. Fünf Quadratmeter Ruhe.

Ich suche mir ein Paar dunkle Socken zusammen. Ich finde ein schönes Hemd, wo der Kragen noch nicht vollends durchgescheuert ist. Ich schaue aufs Etikett. Brooks Brothers. Wann war ich zuletzt in New York? Kurz bevor die Zwillinge geboren wurden.

Ich blicke in die Küche: »Tschüss.«

Esther stillt noch immer Lenny. Leon und Luca malen. Ein Bild des Friedens und des Glücks. Und so trügerisch.

Esther blickt kurz auf und sagt: »Mach’s gut.«

Ich gönne Dieter seinen Auftritt heute Abend. Ich würde mich sogar mit ihm freuen, wenn er nicht so ein Theater gemacht hätte. Er sagt, seine Nerven lägen blank. Glaube ich ihm gerne. Aber meine auch. Deshalb bin ich froh, dass er gegangen ist. Jede Minute länger hätte es nur schlimmer gemacht. Raus. Weg. Ruhe. Ich kann ihn nicht mehr sehen. Der Gedanke erschrickt mich. Ist es schon so weit? Was ist nur aus uns geworden?

Wir waren mal ein Paar, bei dem der eine den anderen gestützt hat. Dass wir Eltern von diesen drei Jungs sind, das haben wir nur geschafft, weil wir beide an einem Strang gezogen haben. Zumindest die meiste Zeit. Aber der Dieter, der sich da abends auf die Couch wirft und den selbst Fränki nicht mehr zu einer Joggingrunde am Kanal bewegen kann, das ist nicht mehr der Mann, den ich an jenem 14. Oktober kennengelernt habe. Das ist nicht der Dieter, den ich in Balapitiya geheiratet habe, der so lange als unser Glückstag galt. Dieter ist ein Jammerlappen geworden, der in Selbstmitleid zergeht. Statt mir Kraft zu geben, saugt er mich aus, schlimmer als Lenny.

Ich bin Scheidungsanwältin. Ich rate allen Mandanten zur Vorsicht, zu Eheverträgen. »Seien Sie realistisch, bedenken Sie schon vor der Eheschließung das Ende gleich mit.« Bei meiner Ehe habe ich diese Gedanken weggewischt. Dieter und ich, das ist für immer und ewig – habe ich gedacht. Jetzt frag ich mich: Wo ist der Mann, der mich stützt? Der mir die Last nimmt, statt mir neue aufzuladen? Merkt er denn nicht, dass auch ich meine Sorgen habe? Die Trennung von der Kanzlei fällt mir viel schwerer als gedacht, auch wenn sie mit der Übernahme durch Lea in der Familie bleibt. Ich will gar nicht wissen, wie Vater reagiert hätte, wenn sie in fremde Hände gegangen wäre. Da, wo heute der Kopierer steht, hatte er seinen Schreibtisch, als er vor mehr als einem halben Jahrhundert einstieg bei Schmitz & Gerber. Damals war das die Kammer für den Referendar. Später hat Vater die Kanzlei übernommen und zu dem gemacht, was sie lange war: eine feine Adresse mit einem guten Ruf, auch wenn Vater kein Fachanwalt war. Den Ruf konnte ich halten, den Umsatz nicht. Nach drei Kindern ist er halbiert.

Ob ich den Absprung geschafft hätte, wenn dieses Mandat der Familie von Plöttnitz nicht gekommen wäre wie ein Geschenk des Himmels? Als starke Frau müsste ich sagen: selbstverständlich. Aber ich bin keine starke Frau, jedenfalls nicht in dieser Zeit. Ich habe zu viele Abschiede zu bewältigen.

Natürlich hatten wir auch mal gute Zeiten. An unsere erste Begegnung vor gut zehn Jahren erinnere ich mich noch genau. Ein wunderbarer Tag. Berlin at its best. Sonnig, warm, laues Lüftchen, Müßiggänger und Touristen flanieren auf den Boulevards. Vor dem »Einstein« sitzt der halbe Bundestag, die andere Hälfte vor dem »Borchardt«. Ich hocke in der Redaktion. Dieser Mittwoch sollte mein Glückstag werden – obwohl er damit beginnt, dass der Chef mich zu sich ruft.

Becker ist ein Sandwich-Heini. Nicht ganz oben, nicht ganz unten. Druck von beiden Seiten. Becker aber findet, er sei zu Höherem bestimmt. Wie das so ist im Leben: Zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdbewertung liegt mehr als nur ein Und. Ich weiß, wovon ich spreche. So ist Becker seit Jahren Vorarbeiter in der Abteilung Internationales und höchst unzufrieden mit der Welt, die ihn verkennt. Diesmal bekomme ich das ab.

»Lindemann«, scheppert es aus der Tröte. Das ist eine kleine Box, die bei uns in der Redaktion auf jedem Schreibtisch steht. Wenn der Chef einen von uns sprechen will, kann ihn keine besetzte Telefonleitung aufhalten. »Ob Sie mal rüberkommen?«

Was für eine Frage. Ein Nein kann ich mir nicht erlauben. Becker sitzt bereits ab acht in seinem Zimmer und schreitet den Horizont ab, intellektuell. Meistens liest er sich nur Einschätzungen aus Kommentaren anderer Blätter zusammen. Darin allerdings ist er höchst geschickt. Keiner übernimmt Thesen so talentiert wie er.

Becker hat es zu einem beeindruckenden Eckzimmer gebracht. Er schaut auf das Brandenburger Tor. »Die Gegenwart der Vergangenheit«, erzählt er gern Besuchern und streicht mit der Hand über seinen kahlen Schädel. Die Aussicht hat, wer bei uns etwas darstellt. Die Nähe zur Historie können wir uns leisten, denn wir sind das größte Blatt Deutschlands, Europas, der ganzen Welt. Sogar des Universums, obwohl unsere Wissenschaftsredaktion bei dieser Behauptung doch zur Vorsicht mahnt. Ich habe von dem Ruhm wenig. Ich sehe nur in den Innenhof.

Bevor ich bei Becker (»Meine Tür steht immer offen«) klopfe, ordne ich noch einmal meine wenigen Strähnen und bereite mich mental auf eine kleine Lektion in Sachen Journalismus vor. Becker interessiert nicht, dass ich zehn Jahre länger bei dem Laden bin als er und schon Titelgeschichten geschrieben habe, während er bei seiner Volkszeitung im Osten auf die Wende nicht mal zu hoffen wagte. Er weiß, dass er sich dennoch auf mich verlassen kann; zu schätzen weiß er das nicht. Ich sei ihm einfach »zu schwierig«, hat er mir einmal gesagt. Außerdem würde ich mein »Potenzial nicht ausschöpfen«, meinte er. »Schreiben ist nicht Ihre Stärke, Lindemann, wenn ich das mal in aller Freundschaft sagen darf.« Das ist die Art von Freundschaft, auf die ich gut verzichten kann.

Wie Becker gerade drauf ist, zeigt seine Körperhaltung. Legt er seine Füße lässig auf den Schreibtisch, ist er halbwegs erträglich. Dann will er einem nur die Welt erklären, so wie sie ihm zuvor von unserer Chefredaktion erklärt wurde. Sitzt er ordentlich auf seinem Stuhl, will er die Arbeit weiterreichen, die ihm aufgetragen wurde. Dann ist Habtachtstellung angeraten. Heute ist es mal wieder so weit. Becker, blickt mich fest an und sagt: »Hamudistan.«

War klar, überrascht mich nicht. In dem islamischen Land, von dem wir seit Heinz Erhardt wissen, dass es zwischen Iran und Persien liegt, haben Revolutionswächter einen deutschen Kaufmann verhaftet. Einen kleinen Krauter, aus dessen Schicksal das Regime nun politisches Kapital schlagen will. Dass er mich auf den Fall anspricht, liegt daran, dass ich bei uns für Nah- und Mittelost zuständig bin, so eine Art Peter Scholl-Latour für Arme.

»Alles im Blick, Herr Doktor«, sage ich und berichte, dass ich längst Kontakt habe zum Auswärtigen Amt, das den armen Kerl in dem Geiseldrama gegenüber dem Regime in Hamudistan vertritt. »Ich treffe meinen Gewährsmann im AA heute zum Hintergrundgespräch«, versuche ich zu punkten.

Becker nickt gefällig. Gut gemacht, Lindemann, sage ich mir im Stillen. Die erste Klippe hast du schon mal umsegelt. Ich finde es erbärmlich, mich in meinem Alter so rechtfertigen zu müssen. Aber das Leben ist nun mal nicht gerecht.

»Wieso haben wir die Akte noch nicht?«, fragt Becker scharf. »Denken Sie, wir sind ein Monatstitel?«

»Weil mein Mann selbst erst heute Mittag an die Dokumente aus Hamudistan rankommt«, entgegne ich. »Aber wenn ich Glück habe, lässt er mich einen Blick hineinwerfen.« Ich gebe zu, ich bin ein wenig stolz, einen so guten Informanten an derart wichtiger Stelle im Amt zu haben. Ich hoffe, Becker wird meinen kleinen Erfolg honorieren. Tut er nicht.

»Warum nur einen Blick hineinwerfen? Warum gibt er Ihnen nicht Kopien der Akte?«, fährt er mich an.

»Weil er in der Kürze der Zeit keine Gelegenheit hat, sie durch den Kopierer zu schicken, unauffällig«, sage ich. Ist dieser Becker denn nie zufrieden?

Er legt die Beine hoch. Das heißt, dass ich abtreten darf. Das mache ich dann auch schleunigst, bevor ihm noch eine Belehrung in Sachen Journalismus einfällt.

Zu Dienstfahrten nehme ich immer eine Taxe, eigentlich. Ich komme auch sonst nicht mit meinem Wagen ins Büro. Mein Parkplatz in Kreuzberg ist mir zu kostbar, um ihn aufzugeben. Aber an diesem Abend will ich rausfahren zum Wannsee, zu meinem wöchentlichen langen Lauf. Da draußen zu joggen ist wie Urlaub, solange ich mich fernhalte von den Villen meiner Verlegerin und meines Chefredakteurs. Womöglich kann ich vom AA gleich los. Wenn ich einen Blick in die Akte werfen kann, wird Becker schon nicht mosern, wenn ich erst morgen früh wieder in der Redaktion auftauche.

Aber Becker kann mich nicht einmal in Frieden Auto fahren lassen. Ich bin noch nicht halb aus der Tiefgarage raus, als er anruft. Und ich Depp, eilfertig wie immer, fingere nach dem Handy, irgendwo in meinem Jackett.

»Ja, bitte«, sage ich, während ich mit einer Hand versuche, mich an der Ampel Richtung Friedrichstraße einzufädeln.

»Lindemann«, klingt es schneidend. Becker muss zu viele Krimis gesehen haben, in denen es diese Szene gibt: Der Verdächtige wiegt sich schon in Sicherheit, da platziert Inspektor Colombo noch eine entscheidende Bemerkung.

»Ich will die Akte auf dem Tisch haben, komplett, Lindemann«, kommandiert Becker. »Mit den Anwaltsbriefen ans Auswärtige Amt, der Korrespondenz mit Hamudistan und was der Mann eventuell aus der Todeszelle geschrieben hat. Die Akte, Lindemann.«

Ich sehe die Radfahrerin nicht, obwohl sie, wie ich später feststelle, sehr hübsch ist. Ich bin zu sehr damit beschäftigt, mein Handy wieder wegzustecken, und kann das Steuer nicht schnell genug rumreißen. Ich erwische die Frau am Hinterrad. Ich ramme sie nur leicht, sie kann einen Sturz noch vermeiden. Aber doch schlimm genug, um nicht einfach so weiterfahren zu können.

»Lindemann«, sage ich und reiche ihr die Hand. »Dieter Lindemann.«

»Klingt wie Bond«, sagt sie, »wie James Bond. Der fährt auch alle über den Haufen.«

»Entschuldigung«, stammele ich. »Ich habe Sie nicht gesehen.«

»Das habe ich gemerkt«, sagt sie ganz freundlich. Sie zickt nicht, sie macht keinen Aufstand. Sie schiebt ihr Rad auf den Bürgersteig. Ich trotte hinter ihr her, ohne auf die hupenden Fahrer hinter mir zu achten, denen ich den Weg versperre.

»Wollen Sie nicht weiterfahren?«, fragt sie.

»Nein«, sage ich, »ich muss doch erst mal sehen, ob Sie unversehrt sind.«

Sie zieht ihren Rock ein Stück höher als notwendig. Ich sehe, dass sie schöne Beine hat. »Alles unverletzt«, sagt sie.

»Alles makellos«, sage ich. Sie lacht, lacht mich an. Oder lacht sie über mich? In jedem Fall denke ich, dass ich so eine Mischung aus attraktiv und schlagfertig nicht einfach so weiterfahren lassen sollte.

»Wir müssen unsere Personalien austauschen«, sage ich, »falls sich Folgeschäden ergeben.«

Diesmal lacht sie mich an, ganz eindeutig, reicht mir ihre Karte und sagt, dass ich ja am Nachmittag vorsprechen könne.

Zwei Stunden später sitze ich in einer kleinen, aber feinen Kanzlei in der Nähe des Kurfürstendamms. Und mir gegenüber Esther Luedecke, ein sportlicher Typ mit braunem offenem Haar, einem feinen ironischen Lächeln und einem Designerkleid, das ich auf der Straße gar nicht so recht würdigen konnte. Sie wirkt so souverän und elegant, dass ich nur denke: Gut, Lindemann, dass du heute eines deiner besseren Jacketts angezogen hast.

Natürlich versuche ich ein bisschen Eindruck zu schinden, mit dem Üblichen, was man so erzählt: dass ich Journalist sei und schon lange bei dem berühmten Blatt; mit welchen Diktatoren und Intellektuellen ich gesprochen habe, weltweit.

»Orhan Pamuk ist ein feiner Kerl«, sage ich lässig und erzähle, wie ich mit dem Schriftsteller in Istanbul zusammengesessen habe.

»Ach«, sagt sie, »hat Ihnen ›Rot ist mein Name‹ auch so gut gefallen?«

Eins zu null.

»Ich kenne ihn wirklich gut«, beharre ich, kratze mich hinterm Ohr und setze meinen Dackelblick auf: »Allerdings habe ich seine Bücher nicht so sehr mit Muße gelesen, sondern eher auf ihre politischen Aussagen durchforstet. Und da ist ›Rot‹ ja nicht ganz so überzeugend.«

Sie lacht schallend, und ich werde so rot, dass Rot auch mein Name sein könnte. Dann nimmt sie ihre Handtasche, geht zur Tür und sagt: »Kommen Sie, Herr Lindemann, erzählen Sie mir beim Essen, welche Bücher Sie ansonsten nicht gelesen haben.«

Da bin ich sehr schnell aufgestanden, und weil das etwas uncool wirkt, sage ich mit tiefer Stimme: »Ich glaube, das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.«

»Ich bin nicht Louis«, erwidert sie. »Und auch nicht Ingrid Bergman.«

»Ich bin auch nicht Humphrey Bogart«, antworte ich und komme mir schlagfertig vor.

»Das sehe ich«, sagt sie und schiebt mich aus dem Zimmer.

Zwei zu null.

So ging das mit uns los. Mit einem klaren Punktsieg für Esther. Heute würde ich sagen: für wen sonst?

In jenen Tagen, in denen ich Dieter kennenlerne, ist ein neuer Mann so ziemlich das Letzte, was ich will. Mir geht es endlich wieder gut, zu gut, um mich auf eine neue Beziehung einzulassen. Ich habe meine Freundinnen: Nadja, Sophie und Tina. Mehr brauche ich nicht, wenn ich abends aus der Kanzlei komme. Mit Tina ziehe ich um die Häuser, mit Sophie kann ich stundenlang reden und mit Nadja mache ich Chi Gong und Tai Bo oder was mir sonst gerade Spaß macht, um mich fit zu halten. Ich bin stolz auf meinen Körper. »Bei dir lässt sich ja schon ein Sixpack ahnen«, sagt Nadja mit Blick auf meine Bauchmuskulatur. Und ich denke: Bist ein guter Typ, Esther. So eine Selbstzufriedenheit kann ein Mann nur verderben.

Zuvor ging es mir nicht gerade prima. Ich hatte mich in Marc verliebt, der vom Typ her eigentlich nicht mein Fall ist. Er ist mir einen Tick zu überzeugt von sich, gefällt sich zu sehr. Wobei ich gestehen muss, dass er klasse aussieht, so hochgewachsen und sportlich. Hätten wir ihn auf Sylt gesehen und nicht bei uns auf dem Kiez, hätte ich darauf getippt, dass er sich als Surflehrer über Wasser hält.

Aber wie er da so rumsteht im »Lohmanns«, vorne am Tresen, total lässig, erweckt er Tinas Aufmerksamkeit. Und ich bin sicher, nicht nur Tinas. »Wie findest du den?«, stupst sie mich an.

»Würde ich nicht von der Bettkante schubsen«, sage ich. Ernst meine ich das nicht. Ich bin keine Frau für eine Nacht. Aber ich muss auch nicht erst heiraten, um mit einem Mann zu schlafen.

»Komm«, sagt Tina, »wir schauen mal, wen von uns beiden er eher nehmen würde.«

Ich sage: »Du spinnst«, aber da steht Tina schon an der Theke und spricht mit Sascha, dem Kellner. Und der Surflehrer-Typ steht neben Tina und lacht sie an, und Tina lacht zurück und deutet hinüber zu mir. Und dann kommen sie beide an den Tisch, und er sagt, dass er »der Marc« sei, und da muss ich mir ein Lachen verkneifen.

Um diesem Ausrutscher namens Marc nicht zu viel Bedeutung zu geben: An dem Abend habe ich ihn mit Tina allein gelassen. Ich habe übrigens beide nie gefragt, ob sie etwas miteinander hatten in jener Nacht.

Aber drei Tage später ruft er mich an und überredet mich zu einer Goa-Party. Open Air, Trance Musik, er kifft und bietet mir natürlich auch was an. Ich habe nichts dagegen. Und irgendwann kommen wir zusammen an diesem Wochenende, von dem ich nicht mehr so recht weiß, was wir gemacht haben außer Musik hören, feiern und uns aneinander erfreuen. Bei richtig gutem Sex, einfach so. Ohne viel Umstände.

Es sind tolle Wochen mit Marc, gerade weil es nichts gibt außer dieser unverbindlichen Oberflächlichkeit. Tagsüber arbeite ich konzentriert, effektiv wie schon lange nicht mehr. Und dann, wenn mir danach ist, rufe ich ihn an, frage ihn, ob er Zeit und Lust hat – und er hat fast immer Zeit und Lust. Er ist freier Fotograf, möglicherweise ist er auch arbeitslos. Ich weiß es nicht. Mir gefällt, so unkompliziert mit einem Mann eine Beziehung zu haben. Bis ich erfahre, dass er mit anderen genauso unverbindlich seinen Spaß hat. Und bis ich merke, wie sehr er mich schon am Haken hat.

Es ist mir nicht egal, was er mit anderen treibt. So hatte ich das mit dem unabhängig und unverbindlich nicht gemeint. Er werde das aber nicht lassen, sagt Marc, Liebe sei frei, Zwang zerstöre alles. Männer-Phrasen, ich weiß Das Blöde ist nur, dass mir das nicht hilft. Ich kann trotzdem nicht von ihm lassen.

Ein Vierteljahr leide ich und versuche, damit klarzukommen, dass ich bei diesem Kerl am Fliegenfänger hänge. Dann bin ich durch mit ihm. So wie ich nach unzähligen Versuchen auch mit dem Rauchen aufgehört habe. Von Knall auf Fall, und es tut gar nicht weh.

Trotzdem bin ich danach ziemlich angeschlagen. Aber wozu hat frau beste Freundinnen? Meine Mädels bauen mich wieder auf, obwohl ich sie ziemlich vernachlässigt habe in den Monaten mit Marc. Tina lenkt mich ab mit Theaterpremieren, Kinoabenden und Ausstellungen. Kneipen meiden wir, besonders das »Lohmanns«. Mit Sophie spreche ich lange darüber, warum mich der Typ so fasziniert hat. Sie meint, ich hätte noch mal nachpubertiert. Vielleicht hat sie recht.

Vielleicht war diese Affäre aber auch nur Kompensation für den Stress der vergangenen Monate. Ich habe die Kanzlei von meinem Vater übernommen, ich will ihm beweisen, dass er sie mir zu Recht anvertraut hat. Wahrscheinlich will ich sogar besser sein, als er es war.

Und dann ist da noch der Film, der zwischen mir und meiner älteren Schwester läuft. Lea sitzt mir im Nacken, zumindest meine ich das. Wir sind schon immer wie Katz und Hund gewesen, aber seit ich die Kanzlei übernommen habe, herrscht zwischen uns so etwas wie kalter Krieg.

Ich habe für die Übernahme bezahlt, manchmal meine ich sogar, ich habe zu viel gezahlt. Lea hätte auch einen Kredit aufnehmen können, so wie ich. Unser Vater hätte die Kanzlei auch ihr übergeben. Aber das wollte sie nicht. Lea wollte lieber in der Kanzlei ihrer engsten Freundin arbeiten. Gut bezahlt, ohne Verantwortung für den Laden. Bitte schön, soll sie doch. Aber dann soll sie mir nicht immer den stummen Vorwurf machen, dass ich den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt habe.

Was die Überwindung meiner Krise mit Marc anbelangt, so darf ich Nadjas Verdienst nicht vergessen. Mit ihr buche ich alle Fitness-Kurse, für die noch irgendwie Zeit ist. Ich glaube, so durchtrainiert war ich noch nie.

Zur Belohnung kaufe ich mir das Designerkleid, das ich an jenem Tag trage, als Dieter Lindemann in mein Leben tritt. »17:30 Unfallgegner«, hatte Sandra nach seinem Anruf in meinen Kalender eingetragen.

Wir sind dann von der Kanzlei in die »Osteria« gegangen, das war Esthers Vorschlag. Ein Italiener ganz in der Nähe, Ku’damm-Flair. Und für sie ein Heimspiel. »Ah, die Avvocatessa«, begrüßt der italienische Kellner sie überschwänglich und hilft ihr sogleich aus dem Mantel. Ich bin so beeindruckt, dass ich ihm nicht einmal die Ignoranz übelnehme, mit der er mich behandelt.

Da wollte ich also nur mal zum Auswärtigen Amt fahren für einen Blick in die Hamudistan-Akten, und nun stehe ich mit großen Augen in einem Restaurant, von dem ich angesichts der Preise hoffe, dass der Laden meine Sparkassen-Kreditkarte akzeptiert. Wäre es ein Hintergrundgespräch auf Spesen, würde Becker mich zu sich rufen und mit Blick auf die Rechnung, die er abzeichnen muss, fragen: »Mussten Sie sich denn selbst auch einen Wein bestellen, Lindemann?«

Wenig später aber denke ich nicht mehr an das Blatt oder an Becker. Ich versinke völlig in Esthers grünen Augen, höre ihr gebannt zu, wie sie von ihren Mandanten erzählt, aber auch wenn sie von ihren Freundinnen Nadja, Sophie und Tina spricht. Großzügig ordere ich noch eine kleine Karaffe Wein. Für diese Frau ist mir nichts zu teuer.

Mit jedem Schluck merke ich, dass ich sehr persönlich frage und sehr persönlich erzähle. Der Mann an Tisch 16, der alles wissen will von dieser Frau, die er zwei Stunden zuvor noch gar nicht kannte, bin ich das? Dieter Lindemann, Sohn von Paul-Dieter und Ruth Lindemann, geborene Knäpper?

Ich steige von Wein auf Wasser um, bestelle noch zwei Flaschen. Für Esther stilles, sie mag keine Kohlensäure, das weiß ich schon. »Sie sind ja prickelnd genug«, sage ich.

»Sollte das ein Kompliment sein?«, fragt sie mild.

Schnell greife ich zu meinem Wasser. Gut, dass die in der »Osteria« so große Gläser haben, hinter denen man sich fast verstecken kann. Diese Frau, die mir da gegenübersitzt, das spüre ich an meiner ganzen Unsicherheit, an meinen leicht zittrigen Händen, wenn ich den Hummer pule, diese Frau würde mein Leben bestimmen, mehr als jede andere Frau – von meiner Mutter einmal abgesehen. Die allerdings war ein besonders schwerer Fall.

Damit wir uns nicht missverstehen: Offiziell lief in meinem Elternhaus in Essen alles rund. Jedenfalls bei mir. Das Schicksal meines Bruders Dirk will ich jetzt nicht erzählen. Unser Vater Paul-Dieter war ein ordentlich bezahlter Ingenieur, wenn auch kein diplomierter, sondern zum Bedauern meiner Mutter nur ein graduierter. Die Familie konnte sich eine große Wohnung leisten, im grünen Süden der Stadt, »in der Nähe der Krupps«, wie meine Mutter gerne hinzufügte, auch wenn unsere Etagenwohnung sehr tief im Schatten der »Villa Hügel« lag.

Da Vater Paul-Dieter es nicht zum zweiten Krupp gebracht hatte, sollte ich es allen zeigen. Das jedenfalls war der Masterplan meiner Mutter. Sie hatte Bankkauffrau gelernt, sich dann aber der Familie gewidmet. In ihrem Dieter sah sie so etwas wie ihr persönliches Aktiendepot. Wertsteigerung durch gute Zensuren in der Schule, Abi, Studium, dann am besten Chefarzt, so hatte sie sich das vorgestellt. Halbgott in Weiß, mindestens das schwebte ihr für mich vor.

Dass der Rainer, dieser Streber, die Buchpreise bekommen hat am Ende des Schuljahres und dann später, als Rainers Leistungen nachließen, die Auszeichnung an Michael ging, aber wieder nicht an ihren Jungen, konnte sie nicht verwinden. Mich dagegen hat vor allem genervt, dass der Rainer zudem ein guter Fußballer war und der Michael mit seinen langen Locken später auch noch bei Mädchen jeden Stich bekommen hat.

Ich stand in der vierten Reihe oder noch weiter hinten, ob beim Buchpreis, beim Sportabzeichen oder bei den Mädchen. Selbst wenn sie mit der halben Klasse knutschten, für mich blieben sie unerreichbar.

»Die war nichts für dich«, versuchte meine Mutter mich jedes Mal zu trösten. Aber tief im Herzen war sie wohl froh, dass sie ihren Prinzen nicht verloren hatte an ein »gewöhnliches Mädchen«, wie sie immer sagte. Ich dagegen lag nachts allein unter meiner Bettdecke und rief die Namen aller, die nichts von mir wissen wollten. Auch das war mehr eine Qual, weil ich lange gar nicht wusste, wie ich mir das vorstellen sollte, was die anderen längst trieben.

Was Beziehungen anbelangt – und alles, was so dazugehört –, bin ich denn auch eher ein Spätstarter. Und auch kein glücklicher. Wegen meiner ersten großen Liebe Claudia wollte ich zwischenzeitlich sogar sterben. Denn sie war nur bedingt verliebt in mich.

Für Claudia hieß das: Mal knutschte sie mit mir, mal wollte sie auch mehr. Aber dann ließ sie tagelang nichts von sich hören. Und wenn ich bei ihr anrief, in der großen Villa mit Blick auf den Baldeney-See, wo sie noch bei ihrem Vater lebte, vertröstete mich ihr alter Herr: »Claudia meldet sich bei dir, Peter.«

»Ich bin der Dieter«, sagte ich dann. Aber da hatte Claudias Vater schon aufgelegt.

Als ich den Verdacht hatte, dass Claudia mit einem anderen rummacht, statt zu mir zum Tee zu kommen – Teetrinken war damals total in –, wollte ich mir die Pulsadern aufschneiden. Im heißen Badewasser saß ich schon, wie die Suizidanten im alten Rom, nur bei mir war’s Essen-Rüttenscheid, meine erste eigene Bude.

Richtig sterben wollte ich aber wohl nicht. Jedenfalls habe ich das Brotmesser nicht längs über die Pulsader angesetzt. Ich habe mich nur am Unterarm geritzt, aber tief genug, um ordentlich Blut herauszudrücken und es auf die weißen Fliesen zu schmieren. Wenn Claudia mich so finden würde, sollte sie schon einen ordentlichen Schreck bekommen. Das war das Mindeste, was dieses Luder verdient hatte.

Aber ich habe vergebens gewartet, dass sie ihren Schlüssel ins Schloss steckt und meine Zwei-Zimmer-Flucht betritt. Während ich mich auf das Ende vorbereitete, hat sie irgendwo mit einem anderen geknutscht oder ist sogar mit ihm in die Kiste gestiegen. Ich dagegen bin nach drei Stunden wieder aus der Wanne geklettert und habe »Me and Bobby McGee« aufgelegt. Damals gab es noch Schallplatten. Janis Joplin hat mit mir gelitten. Das werde ich ihr nie vergessen, auch wenn ihre Platte mittlerweile im Keller verstaubt.

Was mir erst später aufgefallen ist: die Ähnlichkeit Claudias mit meiner Mutter. Die war groß und blond. Wahrscheinlich bin ich deshalb so auf diesen Typ fixiert. Obwohl ich fast immer – wie auch später mit Esther – bei Dunkelbraun lande. Aber eigentlich war Mama ja auch rothaarig. Mit Wasserstoffperoxid hat sie sich fast totblondiert.

Lange nach Claudia, die echt blond ist, jedenfalls soweit ich das in gewissen Momenten erforschen konnte, verliebte ich mich noch einmal in Blond, erfolgreich. Jedenfalls ein paar Monate lang. Barbara. Die einzige naturblonde Italienerin, die ich kenne, obwohl ich mal in Rom gelebt habe. Aber das mit Barbara ist eine andere Geschichte. Und das mit Rom sowieso.

Ich hatte in meinem Vorleben die verschiedensten Männertypen. Alle waren irgendwie nette Kerle, sonst hätte ich mich nicht mit ihnen eingelassen. Und doch fehlte ihnen etwas, irgendeine Art von Eigen-Art. Manchmal früher, manchmal auch später habe ich ihnen dann »Tschüss, mach es gut!« gesagt. Zumeist in aller Freundschaft.

Dieter ist anders. Er passt in kein Schema. Ich würde ihn jetzt nicht unbedingt gutaussehend nennen, mit seinem schon schütteren Haar. Die baldige Glatze ist absehbar. Aber Dieter ist ein Typ, ein irgendwie besonderer. Er ist der erste Mann, bei dem ich das Gefühl habe, dass er wirklich an mir interessiert ist. Ich meine diese aufrichtige Neugier an mir als Mensch. Er ist ein sehr aufmerksamer Zuhörer, einer, der sich hineinfühlt, der versucht zu verstehen.

Zudem hat er etwas zu sagen. Nicht unbedingt auf Heidegger-Niveau, auch ist er nicht der große Zeitgeschichtler, der das Weltgeschehen neu einordnet und bewertet. Er gehört vielmehr zu den ganz wenigen Männern, die den Mut haben, etwas von sich preiszugeben. Er fragt nicht nur nach meinen Wünschen, Ängsten und Sehnsüchten. Er erzählt mir auch von seinen.

Ich spüre, warum er ein guter Journalist ist, jedenfalls so, wie ich mir den traditionellen Journalisten vorstelle: als jemanden, dem es um Menschen und deren Schicksale geht, der Anteil nimmt und darüber berichten will, um andere daran teilhaben zu lassen. Er wäre ein guter Reporter geworden, wenn er sich nicht so ins Karrieredenken verbissen hätte.

Was ich an Dieter nicht mag, ist sein Tick mit der angeblich so harten Kindheit. Wir alle hatten es schwer, weil es niemand mit seiner Mutter oder seinem Vater leicht hat. Aber das muss man doch nicht so vor sich hertragen. Erzähle ich jedem, dass meine Eltern sich täglich gestritten haben, seit ich denken kann? Mach ich ein Drama daraus, dass mein Vater getrunken und er außerdem meine Mutter betrogen hat? Entschuldige ich irgendein Verhalten meinerseits damit, dass ich ein Scheidungskind war, hin- und hergerissen zwischen Vater und Mutter? Thematisiere ich den endlosen Kampf, den ich mit Lea um die Gunst unserer Eltern geführt habe und bis heute führe? Nein.

Es ist falsch, unglückliche Geschehnisse immer wieder aus der Vergessenheit hochzuholen und ihnen so noch mehr Gewicht zu geben. Eine Narbe, ob auf der Haut oder der Seele, bleibt eine Narbe. Da hilft alles Reden nichts. Das zu erkennen heißt, erwachsen zu werden. Selbst wenn das härter klingt, als ich es meine: So gesehen ist Dieter ein Kind geblieben.

Mit Esther erlebe ich zwei kleine Wunder. Beim ersten geht es um Sex, auf den ich durchaus fixiert bin.

Nun weiß ich nicht, wie es anderen geht, wenn sie die Frau fürs Leben treffen. Wir Männer sprechen über so etwas Banales nicht. Wir reden nur über Existentielles, etwa, wie gut eine Frau im Bett ist, was immer das heißt. Selbst dann reden wir eigentlich weniger über die Frau, sondern mehr über uns: Was für ein toller Hecht wir waren in dieser Nacht oder in der Umkleidekabine im Schwimmbad oder gar im Kaufhausaufzug zwischen der ersten und vierten Etage. Ich bin da auch nicht besser als andere, wenn es um eine gewisse Verbalisierung der Sexualität geht. Aber ich versuche halbwegs realistisch zu bleiben. Im Aufzug zwischen Kurzwaren und Haushaltsabteilung – wer glaubt das schon.

Aber bei Esther ist das anders. Sex interessiert uns beide in den ersten Wochen überhaupt nicht. Ich glaube nicht, dass Esther prüde ist. Ich bin es ganz bestimmt nicht. Aber das, was da zwischen Esther und mir passiert, ist zu kostbar für schnellen Sex. Bei ihr will ich behutsam sein. Ich meine nicht diese Pseudosensibilität, wie ich sie mal im Tantra-Kurs gelernt habe und die wir Männer einüben, um zügig unser Ur-Ziel zu erreichen: die Vereinigung.

Die Federboa, die ich ein Jahr zuvor bei meiner Tantra-Meisterin Samadhi gekauft hatte, bleibt im Schrank. Vorerst. Sensibilisierungsübungen (»Nur die Spitzen der Federn dürfen über den Körper streichen«) brauche ich bei Esther nicht.

Das zweite Wunder betrifft die Kinderfrage. In allen anderen Beziehungen habe ich nie an Familiengründung gedacht, obwohl ich beim ersten Treffen mit Esther immerhin fünfundvierzig Jahre auf dem Buckel habe. Kinder, so dachte ich bis dahin, sind vielleicht »nice to have«, aber kein »must have«. Mir ist nämlich durchaus klar, dass ich aus meiner Kindheit ein dickes Päckchen auf meiner Seele mitschleppe. Diese Macken, das sage ich mir so als Humanist, sollte ich besser nicht an die nächste Generation weitergeben.

Esther aber ist die erste Frau, mit der ich mir vorstellen kann, eine Familie zu gründen – und ein halbwegs guter Vater zu sein. Ich glaube, es ist ihre Selbstständigkeit, die mir das Vertrauen gibt, mich einzulassen auf so ein gewagtes Unternehmen wie Kinderkriegen.

Ich möchte meinen kürzeren Beziehungen und flüchtigeren Bekanntschaften nicht Unrecht tun: Jede dieser Frauen ist ihren Weg gegangen, hat für sich um ihr Stück vom Glück gekämpft. Und dennoch strahlt Esther eine Unabhängigkeit aus, wie ich sie noch nie erlebt habe. Sie hat keine Angst, dass ich ärgerlich werden könnte, wenn sie mir bei einer kleinen Übertreibung auf die Schliche kommt. Diese Geradlinigkeit und Konsequenz, die hätte ich auch gerne.

Esther sagt, was ihr nicht passt. Und sie sagt es mit diesem mokanten Lächeln, diesem feinen ironischen Unterton in ihrer weichen Stimme, dass ich mich mit jeder weiteren ihrer frechen Ehrlichkeiten mehr und mehr in sie verliebe. Dass ich sie »Hasi« nenne und sie mich »Löwi«, erweckt einen völlig falschen Eindruck von den Kräfteverhältnissen in unserer Beziehung.

Zwei Wunder mit einer Frau binnen weniger Wochen – ich bin so hin und weg, dass ich meine kleine Sammlung von Porno-Videos feierlich entsorge. Ein letzter Blick auf Gina, Allie, Montana und auf Nancy oder wie diese Lust-Darstellerinnen alle heißen. Und dann »bye-bye!«, altes Leben. Das war’s mit dem Lindemann, der sich nicht für eine Frau entscheiden wollte – oder konnte, weil er schon vergeben war seit frühester Kindheit. Ich sage nur: Mutterbindung! Aber gegen Esther hatte meine Mutter das erste Mal verloren. Auf ganzer Linie.

Dabei habe ich allen Grund, gerade bei Esther besonders zurückhaltend zu sein. Sie verdient ihr Geld nämlich vor allem als Scheidungsanwältin. Gegnerische Parteien, so ergeben unauffällige Erkundungen meinerseits, fürchten ihre scharfe Argumentation. Am Familiengericht aber wird sie geschätzt, weil sie sich dennoch um Vermittlung zwischen den zerstrittenen Paaren bemüht. Selbst wenn sie die härteste unter den Anwälten wäre: Ängste vor einem Scheidungs-Showdown in eigener Sache kommen bei mir nicht auf. Ich bin mir sicher, dass Esther und ich auf immer und ewig zusammenbleiben.

Männer und ihre Ängste, das ist mehr als ein Kapitel für sich. Ich mache es aber kurz, weil mir das Theater reicht, das Männer selbst darum machen, jedenfalls jene, die über ihre Ängste sprechen. Das tun mehr, als Dieter denkt. Denn so eine große Ausnahme ist er nun auch wieder nicht, jedenfalls nicht unter den Männern, die für mich infrage kommen – von Ausrutschern wie Marc einmal abgesehen. Aber diese Männer, die wie Dieter ihre Gefühle nicht unter Verschluss halten, übertreiben es nämlich mit dem Nachaußenkehren ihres Inneren.

Nur weil ich wissen will, was Dieter geprägt hat, weil ich seine Familiengeschichte interessant finde, weil ich nachfrage und das eine oder andere zu bedenken gebe, muss er mich ja nicht gleich zu seiner Analytikerin machen. Ich liebe ihn, ich will ihn verstehen. Aber ich will nicht mit ihm darüber diskutieren, ob seine Mutter ihm die Pubertät gestohlen hat, weil sie ihm den Umgang mit Beate verboten und er, als braver Junge, das Verbot auch befolgt hat. Seine Mutter ist lange tot. Das ist traurig. Aber Dieter sollte sie auch ruhen lassen. Das sage ich ihm schon ziemlich bald. Ich will schließlich einen Mann und keinen Sohn. Und ich will Dieters Frau sein, nicht seine Ersatzmutter.

Und dann passiert etwas, was wieder typisch Dieter ist, was ihn von anderen Männern unterscheidet und weshalb ich so sicher bin, dass er der Richtige ist. Er sucht sich eine Analytikerin. Nicht irgend so einen Larifari-Psychologen. Eine ausgewiesene Fachfrau, klassische Freud-Schule, kein Entkommen von der Couch. Zweimal die Woche geht er zu ihr und klärt mit Frau Doktor, was damals zwischen ihm und seiner Mutter gelaufen ist. Respekt.

Ich darf Dieter nicht unterschätzen. Was er sich vornimmt, das wird er durchziehen. Das ist sehr beruhigend, weil es Verlässlichkeit bedeutet. Ich spüre das erste Mal, dass ich mit Dieter gerne eine Familie gründen würde.

Vielleicht hätten wir in unserer »Osteria« darüber sprechen sollen. Die hat uns Glück gebracht. Dort haben wir uns gefunden. Aber wir entscheiden uns an jenem Novemberabend für das »Roatan«. Karibische Küche, exotische Cocktails, mal etwas anderes als Hummer an Trüffelschaum und Sauvignon Blanc. Das finden wir beide inzwischen leicht dekadent und auf Dauer können wir es uns auch nicht leisten. Ich bin nur ein schlichter Redakteur, und Esther hat sich für einen guten Ruf als Anwältin entschieden. Damit wird man nicht reich.

Vor allem aber sehnen wir uns nach Sonne und Strand, wie wohl die meisten Berliner, die in jenem Jahr sehr früh mit Schneematsch und verhangenem Himmel zu kämpfen haben. Gegen verfrühte Wintereinbrüche ist das »Roatan« mit seinen Rasta-Farben-Wänden und der Palmendekoration das beste Rezept. Esther wählt die Drunken Dragqueen Iguana, ich probiere den Rasta Mango Man. Genial. Dazu bestellen wir Surf-and-Turf, die wir uns teilen: für Esther die Scampi, für mich die Hähnchenbrust, beim Rinderfilet machen wir halbe-halbe.

Esther erzählt von ihrem neuesten Fall. Mary, eine schwangere Siebzehnjährige, stand heute Nachmittag bei ihr in der Kanzlei. Sie wollte ihren Vater anzeigen, weil er sie geschwängert hatte. Den jahrelangen Missbrauch hat sie gefügig ertragen. Aber ein Kind von diesem »Satan«, wie sie ihn nannte, das war ihr zu viel. Nun soll Esther übernehmen.

Ich hatte immer gedacht, mein Job sei schon belastend, weil ich in Krisengebiete fliege, in denen Menschen sterben. Soldaten und Terroristen, Freiheitskämpfer und Rebellenführer. Und all die Zivilisten, die Frauen und Männer, Alte und Kranke und Kinder, immer wieder Kinder, die unschuldigsten von allen. Aber so eine Mary vor sich sitzen zu haben und ihr zwei Stunden lang zuzuhören und für sie nun gegen diesen Schänder zu kämpfen, ihm demnächst gegenüberzustehen, ihm in seine Augen zu blicken und zu versuchen, ihn in den Knast zu bringen, das wäre für mich die viel größere Belastung.

»Auf meine Kämpferin«, sage ich und hebe mein Glas.

»Auf die tapfere Mary«, sagt Esther und stößt an.

»Auf die Kinder, die bei der Auswahl ihrer Eltern gar nicht vorsichtig genug sein können«, füge ich hinzu.