Zu jung für alt - Dieter Bednarz - E-Book

Zu jung für alt E-Book

Dieter Bednarz

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Beschreibung

Alt sind immer nur die anderen, dachte auch Dieter Bednarz. Nach über dreißig Jahren beim SPIEGEL kommt er schwer ins Grübeln, als sein Chef ihn auf den Vorruhestand anspricht. Und dann kauft seine Frau ihm auch noch ein Rentnerticket … Aber: Bange machen gilt nicht! Dieter Bednarz beschließt, sich dem Abenteuer Alter zu stellen. Schon einmal hat Dieter Bednarz von einer Umbruchsituation erzählt: Sein Buch über das späte Elternglück, das sein Leben auf den Kopf gestellt hat, war vor fast zehn Jahren ein großer Erfolg. Nun beschreibt er offen und ehrlich die Krisen, die Frauen und Männer durchleben, wenn die Karriere an ihr Ende kommt, die körperlichen Malaisen nicht mehr wegzulächeln sind und die erste Rentenhochrechnung Ängste schürt. War es das? Nein! Es ist die Initialzündung für einen Neuanfang. Dieter Bednarz nimmt Sie mit auf seine Reise zu Experten und Betroffenen, die ihn ermutigen, die guten Seiten des Älterwerdens zu sehen und auch zu leben. Auf geht's in eine spannende Zukunft!

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Inhaltsverzeichnis
Willkommen an Bord!
Vorstoß in die Weiten des Alters
Zuckerbrot und Peitsche
Der späte Preis von Babyboom und Pillenknick
Wie viel Rentner bin ich und welcher Typ?
Alt sind immer nur die anderen
Was wir von Bach lernen können
Weg vom Fenster sind sie noch lange nicht
Ahoi, die Nachholer kommen!
Von Ehestiftern, Sitzenbleibern und Rucksackträgern
Wo der Lohn ein Lächeln ist
Silberfüchse auf der Ochsentour
Die Macht der Seele und sieben Ratschläge eines Weltmeisters
»Wem die Dankbarkeit geniert, der ist übel dran«
Literaturhinweise
Über den Autor

Für Fanny, Lilly und Rosa.

Und für Esther!

Ihr seid mein Jungbrunnen

Willkommen an Bord!

Sie greifen zu diesem Buch, das ist ein gutes Zeichen, denn »Zu jung für alt« steht für Veränderung. Im Kleinen, weil es darum geht, sich überhaupt erst einmal selbstkritisch jene beruflichen und privaten Wechseljahre anzusehen, in die viele Frauen und Männer ab Mitte 50, Anfang 60 kommen; im Großen, weil wir, die neuen Alten, aufbrechen, weil wir ausbrechen, weil wir das Steuer noch einmal rumreißen oder das Ruder zumindest ein paar Grad mehr links oder rechts halten können. Denn eins ist uns klar: So kann es nicht weitergehen.

Die Frage ist nur: Was tun? Das hat sich auch schon Lenin gefragt – und herausgekommen ist eine Revolution. Und vor einer kleinen Revolution stehen auch Sie, stehen alle, die an ihren Geburtstagen mehr als 50 Kerzen auspusten.

Sie lächeln? Sie schütteln den Kopf? Sie verweisen auf Ihr vorgerücktes Alter? Sie denken eher an Rente als an Rebellion? Macht nichts. Unsere Revolution beginnt damit, dass wir mit dem Klischee aufräumen, es sei das Vorrecht von Jungen und Wilden, Barrikaden zu stürmen und gegen gesellschaftliche Missstände aufzubegehren. Das war einmal! Unser Aufstand wird gerade von Älteren vorangetrieben, von Leuten wie Ihnen und mir. Man muss nicht 1968 auf die Straße gegangen sein, um mit 68 Jahren auf die Barrikaden zu gehen für eine neue Sicht auf das Alter und das Altern.

Unsere Bilanz kann sich durchaus sehen lassen: Durch die Rushhour unseres Lebens sind wir bereits mit vollem Tempo gerast, haben Karriere und/oder Familie irgendwie koordiniert bekommen – oder auch nicht. Es hat uns jedenfalls nicht aus der Kurve geschleudert. Weil wir Glück hatten. Oder weil wir achtsam waren. Oder aus ganz anderen Gründen. Fest steht jedenfalls: Wir sind nicht mehr in den sogenannten besten Jahren, haben unseren Fünfzigsten aber noch sehr lebendig vor Augen. Viele schielen bereits auf den Sechzigsten, und die etwas Voreiligen überlegen bereits, wie sie ihren Siebzigsten begehen wollen. Wir sind also in den wirklich besten Jahren. Mal ehrlich, eigentlich haben wir doch jetzt erst die Zeit für eine Revolution.

Und Alter ist in diesem Fall keine Entschuldigung. Im Gegenteil, es geht ja gerade ums Alter. Wir kämpfen für eine neue Sicht auf diese Lebensphase, in der Sie und ich uns gerade befinden, und für eine neue Sicht auf uns, die neuen Alten. Alt steht nicht länger für ausgelaugt und ausgemustert. Wir neuen Alten sind aktiv und autonom; wir lassen uns nicht aus dem Arbeitsleben drängen, nicht auf irgendein Altenteil abschieben.

Und falls es einem Chef gelingen sollte, uns um unseren Arbeitsplatz zu bringen, weil wir angeblich zu alt sind – warum sollten wir uns dann geschlagen geben? Warum erfinden wir uns nicht neu und starten wieder durch? Bewusster, besonnener, zufriedener! Warum machen wir uns nicht selbstständig oder werden sogar Unternehmer? Erfahrung und Kontakte haben wir genug! Oder wir besuchen nicht nur wieder öfter Schauspielhäuser, sondern machen selbst Theater. Oder wir gehen wieder – manche auch das erste Mal – zur Universität. Und diesmal geht es nicht ums Examen. Das ist unsere Ergotherapie.

So leben wir unseren Enkeln vor, was für jene, wenn sie selbst alt sind, selbstverständlich sein wird: dass der Mensch sein Leben lang lernen kann, dass der tradierte Lebenszyklus von Ausbildung – Arbeit – Altersruhe endgültig von gestern ist; dass nach einem ersten Berufsweg, von dem uns junge, präpotente Chefs vielleicht abgebracht haben, ein zweiter beschritten wird. Wer sagt denn, dass der ersten Karriere nicht eine zweite folgen kann? Warum nicht auch eine dritte? Wer sagt, dass mit Mitte sechzig Schluss sein muss? Wir nicht. Wir sagen: Da geht noch was!

Damit wir uns nicht missverstehen: Jedem, der mit schlichter Ruhe glücklich ist, sei diese von Herzen gegönnt. Niemand sollte sich verpflichtet fühlen, nun ein »neuer Alter« zu werden. Jenen, die womöglich ihre Tage bis zum Ruhestand gezählt haben, nun mit dem ersehnten Renteneintritt weitere Pflichten aufzuerlegen, wäre so in etwa das Letzte, was ich meinen Altersgenossen antun wollte.

Wer, um es plakativ zu machen, mit Kaffeefahrten, Fernsehen oder – in der bildungsbürgerlichen Variante – durch Bücherlesen und Bayreuth-Besuche seine Zufriedenheit findet, der möge diese Zeit genießen. Und wenn mein einstiger Kollege Hans mir auf einem der Abschiedsempfänge, die sich seltsamerweise in letzter Zeit häufen, kleinlaut gesteht, dass er »fast schon ein schlechtes Gewissen« habe, weil er jetzt nur noch mit dem Hund spazieren gehe und viel Klassik höre, dann bin ich es, der beschämt zu Boden schaut: Da habe ich wohl mal wieder zu dick aufgetragen mit meinen angedachten Aktivitäten als Unruheständler.

Nein, dieses Buch soll niemandem die Freude an seinen alten Tagen verderben. Ich empfinde sogar einen gewissen Neid auf Hans und andere liebe Bekannte, die sich im besten Sinne damit begnügen, es ruhig angehen zu lassen, morgens spät aufzustehen und nach ausgiebiger Zeitungslektüre einfach mal zu schauen, was ihnen der Tag so bringt und wohin der Hund sie zieht. Und wenn ich mich so umblicke, unter Männern wie Frauen, im Westen wie im Osten unseres Landes, dann stellen diese Traditionalisten noch immer die Mehrheit unter uns Alten.

Bei genauerem Hinsehen fällt mir allerdings auf, dass es unter diesen Alten nicht wenige gibt, denen es nur an Ermutigung fehlt; die sich im Stillen fragen, ob da nicht doch noch was ginge, wenn man es nur versuchen würde; die das Zeug hätten, sich den neuen Alten anzuschließen – und nur noch eines kleinen Anstoßes bedürfen, den ich ihnen nur zu gerne geben würde: ohne sozialen oder politischen Druck, mit dem wir uns aber noch auseinandersetzen werden.

Ja, noch sind wir neuen Alten in der Minderheit. Und ja, wir entsprechen nicht unbedingt dem Bild eines feurigen Revolutionärs. Ich etwa zähle eher zu den Unscheinbaren, den ewig Unterschätzten: Glatze, Bauchansatz, verheiratet seit 20 Jahren; mehr als das halbe Leben lang bei derselben Firma, drei Mäusesparkonten für die Kinder und einen Autoschutzbrief, falls unser alter Peugeot mal am Straßenrand liegenbleibt. Und doch schlägt da ein revolutionäres Herz in mir. Schlägt es nicht auch in Ihnen? Spüren nicht auch Sie, dass sich etwas ändern muss? Dass wir uns ändern müssen? Sie und ich und die anderen in unserer Lage?

Was uns droht, wenn wir uns nicht wehren, hat Anfang dieses Jahrtausends Frank Schirrmacher, der viel zu früh und allzu plötzlich verstorbene kluge Kopf hinter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, in seinem aufrüttelnden Bestseller »Das Methusalem-Komplott« so treffend wie hart formuliert: »In manchen Ländern dieser Erde nimmt man den Älteren Haus, Hof und Nahrung; in anderen Gesellschaften, zu denen wir gehören, beraubt man sie des Selbstbewusstseins und der Lust am Leben.«

Was der Visionär Schirrmacher gefordert hat und selbst nicht mehr umsetzen konnte, das leben wir neuen Alten heute, dafür kämpfen wir jetzt. Für eine Veränderung der Gesellschaft nicht nur durch die Jungen, sondern durch ein neues Bild vom Alter. Für eine Kulturwende, weil wir Alten neu lernen zu altern. Wir leisten endlich den von Schirrmacher geforderten Widerstand gegen eine altersungerechte Diskriminierung – auch wenn wir nicht mit Pflastersteinen werfen. Zumindest noch nicht. Aber wir sind fest entschlossen, diese tradierte Erniedrigung nicht länger hinzunehmen. Wir rütteln an alten Vorurteilen und wagen neue Wege.

Wir lassen uns nicht überrollen von dem Ungeheuren, das da auf uns zukommt, vor dem es kein Entrinnen gibt – es sei denn, wir stürzten uns aus dem Fenster oder sprängen vor den Zug. Nur durch ein selbstbestimmtes Ende, jetzt und hier, könnten wir dem eigentlich Schrecklichen entgehen: dem Anfang vom Ende. Dem Älterwerden. Dem Altwerden. Dem Alter. Tatsächlich steigt die Suizidrate mit dem Alter wieder an, besonders bei Männern, wie einschlägige Studien beweisen. Bei den über Sechzigjährigen ist sie höher als in jeder anderen Altersgruppe.

Das Alter, lässt Philip Roth in »Jedermann« seinen tragischen Romanhelden sagen, sei kein Kampf, sondern »ein Massaker«. Gott habe ihn selig, den großen Propheten. Es ist ja auch bitter, mit einem Mal, gleichsam über Nacht, alt zu sein. Nicht mehr gebraucht zu werden in der Firma, der man so lange gedient hat. Mich hat es gegruselt, als ich das erste Mal jenem Schreiben Beachtung geschenkt habe, Beachtung schenken musste, das mir die Rentenversicherung seit Jahren ins Haus schickt, und ich dann dieses hässliche Wort las: Rentenanspruch. Da kroch mir die Angst vor der Altersarmut den krummen Rücken hoch.

Nein, ich kokettiere nicht. Ich will mich auch niemandem anbiedern. Armut ist ein zu heikles Thema, um damit fahrlässig umzugehen. Aber wer als später Vater erfährt, wie weit die Schere auseinandergeht zwischen einem, zugegeben, stattlichen Gehalt und der nach 40 Jahren Beitragszahlen zu erwartenden Rente, der wird ziemlich blass – erst recht, wenn die drei Töchter bei seinem drohenden Ruhestand gerade ins konsumfreudigste Teenie-Alter kommen und das Abitur, vielleicht sogar ein Studium noch vor sich haben. Dass sie auf die Idee kommen könnten, die zehnte Klasse in den USA zu machen, will ich – sorry, Kids – nicht hoffen. Wie wir das Schulgeld aufbringen sollten, das weiß ich beim besten Willen nicht.

Da es vielen deutschen Arbeitnehmern, besonders sozial oft kaum abgesicherten alleinerziehenden Müttern, noch viele Male schlechter geht, verbietet sich jegliches Jammern. In stillen Stunden aber, wenn ich mich frage, wie ich die Lücke zwischen letztem Einkommen und zu erwartender Rente füllen soll, tritt mir nun mal der Angstschweiß auf die Stirn. Meine Frau beruhigt mich dann, dass wir uns alle miteinander bescheiden können und dass sie so schlecht ja nicht verdiene als Juristin. Und dass sie zehn Jahre jünger sei. Okay, es besteht kein Grund, uns zu bedauern. Aber Kopfschütteln über meine Ängste fände ich auch nicht fair.

Es ist also schon ziemlich verrückt, was das Alter so mit einem macht: Gestern noch dachte ich, und das war wirklich kokett, wenn ich nach einer weinseligen Nacht mit Kopfschmerzen aufwachte: »Man wird ja nicht jünger!« Nun, fürchte ich, wird es nicht mehr lange dauern, bis mir jemand im Bus mitleidig seinen Platz anbietet: »Setz dich, Opa!« Aber bin ich nicht erst gestern noch über den Kinderteller »Fix und Foxi« hergefallen? Das kleine Schnitzel mit Erbsen, Fix, und Möhren, Foxi, das mir mein Großvater, der wirklich ein Opa, ein alter Mann mit Anzugweste, Taschenuhr und Zigarre war, immer als Höhepunkt des Einkaufsbummels spendierte? Jetzt werden sie mir bald den Seniorenteller unter die Nase schieben. Ohne Erbsen. Die fehlen beim altersgerechten Essen; sie würden den zittrigen Greisen nur von der Gabel kullern. Philip Roth hat recht: Scheiß Alter!

Ja, so kann man das Alter sehen, so sehen es noch immer viele: Alter als permanentes Grauen, das immer öfter schon am Arbeitsplatz heraufzieht, kaum dass die Jahreszahl auf der Geburtstagstorte mit einer fetten Fünf beginnt. Mein Freund Robert schummelt daher seit einiger Zeit bei seinem Alter wie einst Zsa Zsa Gabor: Nur arbeitet er nicht in Hollywood, sondern in Hamburg, im Marketing. Mit Mitte Fünfzig gilt man da schon als scheintot. Kein Wunder, wenn Bobby – das klinge jünger, meint er – von Altersrassismus spricht. Wer Glück hat, wird dank einer noch nicht vollständig geschliffenen sozialen Marktwirtschaft sanft in Richtung Vorruhestand, Altersteilzeit oder Frührente geschubst. Die meisten werden eher rüde vor die Tür gesetzt.

Alle Ausgemusterten aber eint, dass sie sehen müssen, wo sie bleiben. Oft bleiben sie nach dem beruflichen Knock-out am Boden liegen: gekränkt, verletzt, deprimiert. Manche versinken im dunklen Loch der Perspektivlosigkeit, der Selbstzweifel und der Ohnmacht. Alles, was ihnen bleibt, ist Taubenvergiften im Park. Oder gleich selbst das Zyankali nehmen. Oder das Arsen. Nein, das ist nicht lustig, das ist bittere Realität.

Diesem Bild vom Alter als irgendwie totzuschlagender Restlaufzeit sagen wir neuen Alten auf die vielfältigste Weise den Kampf an. Altersgerecht friedlich gehen wir dabei vor – bislang; aber höchst nachdrücklich, kreativ und effektiv. Vereinzelt gründen wir bereits Lobbyorganisationen, Netzwerke und Vermittlungsplattformen für Senior-Experten: Die einen kapitalisieren ihre Erfahrung, um die Rente aufzupolstern, die anderen engagieren sich gemeinnützig und ehrenamtlich. Sie alle zeigen: Ja, da geht noch was!

Aber, das wollen wir nicht vergessen in einer aufrichtigen Bestandsaufnahme: Manches hört sich auch nur gut an, liest sich spannend, macht auf den ersten Blick einen tollen Eindruck. Und auf den zweiten kann man nur warnen vor Scharlatanerie, Beutelschneiderei und allerhand Wichtigtuern. Ja, es muss deutlich gesagt werden: Die neuen Alten sind längst als Geschäftszweig entdeckt, werden benutzt von Marketingstrategen und vor allem die jüngeren unter den neuen Alten werden ausgebeutet von einem Coach-Gewerbe, das mit einer neuen Karriere lockt, nachdem oft schon die erste nicht geklappt hat.

Wir werden sehen, dass es inzwischen immer mehr Firmen gibt, die gestern noch ihre Besten in den vorzeitigen Ruhestand abgeschoben haben, heute jedoch schon wieder darüber nachdenken, ob es nicht klug wäre, die Erfahrung ihrer Alten für das Unternehmen zu sichern und die Alten nicht gar weiterzubeschäftigen. Manche haben sogar die vorgestern Abgeschobenen bereits gestern wieder eingestellt. Nein, nicht aus purem Humanismus. Die Führungsetagen treibt der unaufhaltsame demografische Wandel, die Überalterung unserer Gesellschaft.

Im Interesse ihres Unternehmens müssen sich die Personalchefs Gedanken machen um die Alten in ihrem Betrieb. Nicht nur weil sie kostbares Erfahrungswissen mitnehmen. Das war schon immer so. Aber wenn Alte in Scharen in den vorzeitigen Ruhestand geschickt werden, weil die Jüngeren angeblich die Besseren, die Effektiveren und vor allem die Billigeren sind, dann macht die Masse die Lücke. Die Personaler sorgen sich, dass sie bald nicht mehr über genügend junge Nachrücker verfügen; stattdessen wird es jede Menge Alte geben.

Sollten die Jungen – die ja nur jünger sind, weil auch die Alten nicht alt, sondern nur älter sind – nicht aufpassen und uns Alte nicht gut behandeln, dann stehen ihnen bald Scharen von Senioren gegenüber, mit denen ich mich als Junger lieber nicht anlegen würde. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob alle von uns Altersmilde walten lassen würden.

Noch dominiert das alte Bild vom Alter: Da sieht man nicht hin, darüber spricht man nicht, da hört man nicht zu. Als wäre nicht bald ein halbes Jahrhundert verstrichen, gilt weiterhin, was Simone de Beauvoir in den frühen Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts in ihrem Werk »Das Alter« feststellte: »Die Menschen verdrängen, was ihnen missfällt. Und besonders das Alter.« Denn »für die Gesellschaft ist das Alter eine Art Geheimnis, dessen man sich schämt und über das zu sprechen sich nicht schickt«.

Genau jene Scham wollen wir neuen Alten überwinden. Für uns ist Alter kein Tabu, sondern wir machen es zum Thema. Wir schauen nicht weg, wenn unser Alter auf uns zukommt, wir nehmen es an als das, was es ist: ein großes Glück, wenn man es halbwegs gesund und schuldenfrei erreicht; eine beispiellose Herausforderung, mit etwas ganz anderem noch mal durchzustarten; eine einmalige Chance, das Leben erfüllt abzuschließen. Wir neuen Alten wenden uns nicht gegen das Alter. Wir rufen ihm zu: »Mensch, Alter!« – und umarmen es.

Der Weg zur Akzeptanz des Alters ist ein schmaler, holpriger und steiler Pfad. Wir gehen ihn dankbar, da wir – bis jetzt – von Unglück und Krankheit, von Krieg, Terror und Ruin weitgehend verschont wurden. Wir sind uns bewusst, dass wir, so verlässlich, wie wir seit der Ausbildung unsere Rentenbeiträge eingezahlt haben, uns nicht vor echter Armut fürchten müssen. Wir gehen den Weg demütig, weil wir um die Millionen wissen, die körperlich schwer schuften müssen, die um ihr täglich Brot so hart kämpfen müssen, dass sie nicht die Luft haben, sich mit Altern und Altwerden zu beschäftigen. Unsere Privilegien sind uns eine Verpflichtung, geben sie uns doch erst die Kraft, die Zeit und die Möglichkeit, den Pfad zu erkennen, uns voranzutasten, uns durchzukämpfen – auch für andere, die nach uns kommen.

Begleiten Sie mich auf dem Weg ins neue Altern. Lassen Sie uns zuerst gemeinsam schauen, was da los ist mit der Rente und dem Streit über ihre Höhe, mit der Demografie und Methusalems Komplott, mit dem Alter und wie wir damit umgehen.

Was da noch geht, wie es geht und wo es geht, entdecken wir gemeinsam im zweiten Teil. Sie werden staunen, welche Möglichkeiten das Alter bietet; Sie werden sehen, wer und was da hilfreich ist und wo Sie besser vorsichtig sein sollten.

Zum Schluss erkunden wir unsere Seelenlage. Denn neues Altern heißt auch, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen; Frieden zu schließen mit beruflichen Täuschern und Enttäuschern; sich abzufinden mit der Unerfüllbarkeit mancher Träume, auch im Privaten. Neues Altern bedeutet, sich vor sich selbst nicht wegzuducken, im tiefsten Inneren reinen Tisch zu machen, ohne Porzellan zu zerschlagen. Sich selbst die Hand zu reichen und mit sich auszusöhnen.

Besonders in diesem, der inneren Reise zugewandten Teil, aber auch in allen anderen versuche ich mich in größtmöglicher Aufrichtigkeit. Deshalb müssen Sie an einigen Stellen meine Naivität, manchmal auch meine Frustration ertragen. Ich hoffe, diese Offenheit ist für Sie wohltuend. Ich wünsche mir, Sie sehen, dass Sie mit Ihren Sorgen, Nöten und Kränkungen nicht allein dastehen. Und dass Sie mir folgen und sich selbst gleichfalls kritisch hinterfragen – um sich danach auch mit sich selbst zu versöhnen.

Für mich – und vielleicht auch für Sie – ist dieses Buch erst der Beginn der Reise ins Alter, einer großen Magical Mystery Tour, von der wir nicht wissen, wohin sie uns führen und wann sie zu Ende gehen wird. Aber wir neuen Alten lassen uns nicht von irgendwem kutschieren, nicht einfach irgendwohin verfrachten. Wir nehmen das Steuer selbst in die Hand. Wir bestimmen selbst, welche Abzweigung wir wählen, welche Ausfahrt wir nehmen. Wo wir Rast machen. Und mit wem. Deshalb, da bin ich sicher, wird unsere Reise ganz im Sinne der magischen Bustour der Beatles »a lovely time«.

Also, lassen Sie uns selbsternannte Alters-Revolutionäre aufbrechen in unsere besten Jahre. Vor uns liegt eine schöne, spannende, aktive Zeit: Willkommen an Bord!

Vorstoß in die Weiten des Alters

Um mit einem Zitat von Martin Walser zu beginnen: Mich hat das Alter »sensationell unvorbereitet« erwischt. Ich meine, es gibt in diesen digitalen Zeiten inzwischen für alles und nichts eine App, einen Hinweis, einen Alarm oder irgendeine Art Frühwarnsystem, das jedwede Überraschung verhindert. Nur das Alter, dieses Gefühl des Altseins, das kommt gleichsam von heute auf morgen. Gestern war man noch der junge Kerl oder das flotte Mädchen – und plötzlich bestellt einen der Chef – oder die Chefin – ein, und getarnt als »Perspektiv-Gespräch« sagen sie einem zuerst, wie »unverzichtbar« man sei. Nur um einem plötzlich zu offenbaren, dass der Vorruhestand meine Zukunft sein soll: »Mensch, Dieter, willst du dir unsere Modelle nicht wenigstens mal anschauen?«

Es ist nicht zu fassen: Da bin ich der wichtigste Mitarbeiter der größten Firma aller Zeiten und wollte gestern noch die Welt retten oder zumindest den eigenen Betrieb vor dem Untergang bewahren – und heute stehe ich vor der Ausmusterung. Zu alt. Zu teuer. Zu unflexibel. Sie können es beliebig ergänzen, solange Ihr Vorrat an negativen Attributen reicht.

Aber nun dürfen Chefs ja fragen, was sie wollen. Das heißt jedoch noch lange nicht, dass ich auf deren Gesülze – »Wir können uns eigentlich gar nicht leisten, dass du gehst …« – eingehen muss. Wohin soll ich denn gehen, wenn ich die Komfortzone von rund 35 Jahren Festanstellung verlassen sollte? Zum Arbeitsamt? Oder gleich ins Grab?

Während meine Vorgesetzten noch meinen Einsatz, meine Erfahrung und meine vielen, vielen Verdienste loben, sehe ich bereits, wie mir Sebastiano im »Casa Mia« in den Mantel hilft oder mir Jüngere in der U-Bahn ihren Platz anbieten. Nein, den Teufel werde ich tun und gehen. Mit aller Kraft werde ich mich dagegenstemmen, zum alten Eisen geworfen zu werden.

Allein aus dem Büroalltag hätte ich da einige Situationen zu bieten, in denen ich dachte, ich sollte beim Betriebsrat nachfragen, was er eigentlich gegen den Altersrassismus in unserem Haus unternimmt – was ich dann aber bei späterer, altersmilder Betrachtung für übertrieben hielt und daher unterlassen habe. Aber dazu kommen wir noch. Ganz ausgewogen und fair. Wenn ich mich beruhigt habe über die Hinterhältigkeit des Alters und dessen Handlanger, die Jungen. Oder zumindest die Jüngeren, unter denen es allerdings auch einige gut getarnte Alte gibt.

Weil ich Ihnen Aufrichtigkeit versprochen habe, will ich gestehen, dass ich lange versucht habe, mir etwas vorzumachen, mein Alter sogar vor mir selbst zu camouflieren. Nicht bewusst, einfach so, weil ich gerne Jeans und Turnschuhe trage. Gut, die blaue Bomberjacke spannte etwas um die Gürtellinie herum, und dass mein kahler Schädel nichts mit Haarausfall zu tun habe, sondern »Lifestyle« sei, hat mir vielleicht nicht jeder abgenommen, weil der Hipster-Bart fehlt. Aber die Bemerkung des pickeligen Jünglings neulich in diesem Szene-Club auf dem Hamburger Kiez wäre nun nicht nötig gewesen. Erst haut er mich cool an, ob ich nicht »’ne Fluppe« für ihn hätte. Und als ich ihm nicht mit einer Zigarette dienen kann, raunt er seinem Kumpel deutlich hörbar zu: »Jetzt kommen Sie schon zum Sterben hierher.«

Auf die verschiedenen Bilder vom Alter, die wir alle – die Jungen wie die Alten – in unseren Köpfen haben, gehen wir noch ausführlich ein.

Zunächst einmal möchte ich Ihnen meine Familie vorstellen, jene vier Frauen, für die ich immer der junge Siegfried bleiben werde, der Drachentöter, der nimmermüde Recke, der keine Niederlagen kennt – und damit auch kein Alter. Nur manchmal, so wie seinerzeit in den Herbstferien, kommt mir der Verdacht, dass ich mir auch da etwas vormache.

Die erste Woche hatten unsere drei Töchter – die zwölfjährigen Zwillinge Fanny und Lilly – und ihre nur knapp eineinhalb Jahre jüngere Schwester Rosa – brav in einer Sprachschule Englisch gelernt, nun sollten sie mit einem Besuch im Europa-Park belohnt werden, einer im baden-württembergischen Rust aus dem Acker gestampften Mischung aus Disneyland und Riesenjahrmarkt.

Damit wir uns nicht missverstehen: Nein, wir sind nicht reich, auch nicht vermögend, wir sind gefühlter Mittelstand, vielleicht einen Tick mehr in der oberen Hälfte, weil ich nun schon sehr früh zu einer renommierten Firma gekommen bin, die ihre Angestellten in guten Zeiten auch gut bezahlt hat, und Esther als Juristin sogar einen ordentlichen Beruf ausübt. Ja, ich fühle mich sogar trotz des einen oder anderen beruflichen Erfolgs eher als »kleiner Mann«, so wie es gemäß einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts INSA der Mehrheit der deutschen Männer – und auch Frauen – nicht anders gehen soll. Allerdings hängt das angeblich weniger mit einem vermeintlich zu geringen Verdienst zusammen als vielmehr mit dem Gefühl von Ohnmacht. Und das Gefühl verstärkt sich im Alter, erst recht, wenn man plötzlich in der eigenen Familie als »Senior« stigmatisiert wird.

Meine Frau leugnet jede Böswilligkeit, aber Tatsache ist, dass sie mich an jenem mehr grauen als blauen Sonntagmorgen kurz vor dem Aufbruch in jenen Freizeitpark ermahnt: »Und vergiss nicht, nach deinem Stück Kuchen zu fragen!« Dazu reicht sie mir das Ticket und zeigt auf etwas kleiner Gedrucktes.

Der Hinweis kam in ihrem so reizend-süßlichen Ton, dass meine Tochter Lilly sofort die Boshaftigkeit herausgehört hat. »Mamu, ärgere Papi nicht«, ergreift sie für mich Partei und schenkt mir ein »Nimm es nicht so tragisch«-Lächeln. Ach, meine Lilly, so empathisch wie ihr Vater.

Ich schaue meine Frau an. Esther sieht wunderbar aus. Ihre 51 Jahre sieht Mann ihr nicht an, nicht mal ihr eigener. Selbst dann nicht, wenn er innerlich grollt, weil seine Frau sich gerade wieder über seinen neuen Status mokiert hat.

Esther ist schon in ihr Jogging-Outfit geschlüpft. Leggins, Jacke, alles ganz dezent in Schwarz, so läuft sie seit Jahren in Hamburg um die Alster, und jetzt will sie hinunter an den Rhein, während ich mit den Kindern von Achterbahn zu Achterbahn ziehen darf. »Sieht ja aus, als wärest du schon Witwe«, sage ich mit einem bemüht abschätzigen Blick. Es ist eine billige Retourkutsche, ich weiß. Und sie bringt mir nichts. Esther ist nicht nur Hamburgerin. Sie ist Hanseatin. Beherrschung ist ihre Natur. Und sie ist Juristin. Prädikatsjuristin. Unerbittliches Nachsetzen ist ihre Stärke. »Schau mal«, säuselt sie und tippt auf das Ticket, das ich noch in der Hand halte, »du sparst jetzt richtig Geld. Über sechs Euro Altersrabatt.«

»Was ist mit Kuchen?«, fragt Fanny, die eine Minute älter ist als ihre Zwillingsschwester Lilly und gerne nachhakt. Ganz die Mutter.

»Nicht streiten«, sagt Rosa. Ja, die Kleine hat auch meinen versöhnlichen Charakter. Sie ist »fast elf Jahre alt«, wie sie gerne betont, um möglichst dicht an ihre beiden älteren Zwillingsschwestern heranzukommen. Ich hingegen mache mich oft jünger, wenn ich Fragen nach dem Alter partout nicht umgehen kann. Mir rutscht dann ein »Sechzig« raus, obwohl ich Jahrgang 1956 bin.

»Wir streiten nicht«, sage ich zu meiner Jüngsten und schaue ihr in die Augen, um die Aufrichtigkeit meiner Worte zu betonen. Zumindest will ich nicht streiten.

Esther zupft mir noch mal die Eintrittskarte aus der Hand und zeigt sie den Kindern. »Senioren, ab 60 Jahren«, liest sie vor. Das macht sie natürlich nicht, um mich als alten Mann vorzuführen, sondern weil sie als liebende Mutter die Nachfragen ihrer Kinder ernst nimmt und nicht unbeantwortet lassen will. »Der Papa ist ja schon so alt«, fügt sie erklärend hinzu, »dass er die ein oder andere Vergünstigung bekommt.«

»Pabu ist schon 61«, sagt Fanny. Mein Augenstern ist so korrekt. Das kann sie nicht von mir haben.

»Ja, das eine Jahr mehr bringt aber keine weiteren Vergünstigungen.« Ich bin mir nicht sicher, ob Esther bei diesem Zusatz bedauernd die Schultern zuckt.

»Aber was ist jetzt mit Kuchen?«, fragt Lilly.

»Hier steht nichts von Kuchen«, sagt Fanny, die sich die Karte genau besieht.

»Wollen wir jetzt nicht endlich gehen?«, frage ich und bemühe mich, entspannt zu klingen.

»Das steht nur im Netz«, erklärt meine Frau. »Für Senioren, heißt es da, gibt es kostenlos ein leckeres Stück Blechkuchen im Schloss Balthasar. Da solltet ihr mit dem Papa vorbeigehen.«

Damit meine Frau nicht das letzte Wort hat, zumindest diesmal nicht, sage ich: »Kommt, Mädels, der Park freut sich auf uns. Und auf Mama wartet die Joggingstrecke am Rhein.«

Bevor meine Frau dann doch das allerletzte Wort behält, stürme ich hinaus zu Fanny, Lilly und Rosa, die hinüber zum Park zeigen, der nur wenige Gehminuten von unserem gemieteten Appartement entfernt liegt: »Die Achterbahnen fahren schon!«, rufen sie und zerren an mir. Selten war ich für die Ungeduld meiner Kinder dankbarer.

Ich schaue hinauf zu einem Ungetüm aus Stahl und schüttele mich, während der Donner der nahen Achterbahnen mit jedem Schritt lauter wird. Und steht dahinten nicht noch eine? Und noch eine? Und überall stehen sie schon am frühen Morgen Schlange. Wie kann man sich nur freiwillig in solche Nervenkiller setzen?

»Alles nichts gegen ›Kärnan‹ im Hansapark«, sagt Fanny. Sie klingt so abgeklärt, als wäre sie schon mit allen Achterbahnen dieser Welt gefahren. Immerhin ist sie tatsächlich im vorletzten Sommer in diese Monsterbahn geklettert, die oben an der Ostsee in einem Konkurrenzpark steht. Der »Rückwärtsfreifall« aus über 60 Metern Höhe sei »weltweit einmalig«, loben die Parkbetreiber. Ich habe in jenem Juli wohlwollend am Rand der Achterbahn gestanden. Warum sollte ich da reinsteigen und mitfahren? Warum sollte ich mir das antun? Musste ich mir etwas beweisen? Nein. Es gab ganz und gar nichts zu beweisen. Niemandem. Vor zwei Jahren war ich auch noch nicht alt.

Aber jetzt stehe ich an diesem wetterwendigen Oktobertag mit Fanny 45 Minuten an, um in die Achterbahn »Euro-Mir« einzusteigen. Ein junges Paar vor uns, Dauerkartenbesitzer, erklärt uns, dass die in Anlehnung an eine russische Raumstation gebaute Bahn fast 30 Meter hoch sei, an die 1000 Meter lang und um die 80 Stundenkilometer schnell. In der Kategorie der Bahnen mit Spirallift und der Bahnen mit sich drehenden Wagen sei die Euro-Mir in beiden Bereichen weltweit unübertroffen, sagen die Kenner. Und diesem Highspeed-Terror will ich mich fast fünf Minuten aussetzen? Lass ich in meiner Familie nicht schon genug Nerven?

Mensch, Dieter, spreche ich mir Mut zu, der alte George Bush, 41. Präsident der Vereinigten Staaten, hat an seinem 90. Geburtstag noch einen Fallschirmsprung gewagt. Okay, es war nur ein Tandem-Sprung, untergeschnallt bei einem erfahrenen Springer. Dennoch eine Glanzleistung. Und ich? Ich bin 30 Jahre jünger und mach mir in die Hose vor einer lächerlichen Achterbahnfahrt, während meine Tochter Fanny von den Adrenalin-Junkies vor uns gar nicht genug hören kann über Roller Coaster aller Art. War ich nicht selbst mal Fallschirmspringer, »cleared for solo«, mit einer A-Lizenz, ersprungen in Eloy, Arizona, dem Mekka des Skydiving? Wo sind mein Mut und meine Zuversicht nur geblieben?

Statt als Bush senior sehe ich mich mehr als dessen Vorgänger Ronald Reagan. Der stand in seinen letzten Jahren einsam in seinem leeren Swimmingpool und harkte weltvergessen Laub. Auf dem Foto, das ich vor Augen habe, strahlte er dabei eine gewisse Würde aus. Vielleicht lag das daran, dass er sich zuvor, mit damals 83 Jahren, in einem offenen Brief an seine »lieben Landsleute« gewandt und ein bewundernswertes Bekenntnis zu seiner Alzheimer-Erkrankung abgeliefert hatte.

Noch in der Warteschlange suche ich auf meinem Smartphone im Internet nach Reagans Worten, auch um mich von meinem Blasendruck abzulenken: »Ich beginne nun die Reise, die mich zum Sonnenuntergang meines Lebens führt«, hatte er im November 1994 geschrieben, »in der Gewissheit, dass über Amerika immer wieder ein strahlender Morgen heraufdämmern wird.« Was für eine Größe angesichts der nahenden Umnachtung. Und mich quält meine Blase so sehr, dass ich eine Warteschlangen-Assistentin frage, ob ein Toilettenbesuch noch möglich sei? Nur ganz kurz!

Fanny reißt mich zurück und erklärt mich für »voll peinlich«. Zu Recht!

Vielleicht, überkommt es mich, ist es ja auch gar nicht die Nervosität, die mich kurz vor dem Einstieg in eine der Euro-Mir-Kapseln auf die Toilette treibt. In meinem Alter könnte das viel eher die Prostata sein. Keine Beschwerde klingt so sehr nach altem Mann wie Maleschen mit der Geschlechtsdrüse. Mein Freund Ruben in Frankfurt rennt siebenmal in der Nacht ins Bad, weil er meint, er müsse Wasser lassen. »Für jedes Jahrzehnt einmal«, scherzt er manchmal, wenn ihm die Dauermüdigkeit aufgrund seiner nächtlichen Geschäftigkeit noch die Kraft zum Witzeln lässt. Laufe ich denn nun sechsmal in der Nacht? Nein, ich stehe nur einmal auf, um ins Bad zu stolpern. Und auch das nur in der einen oder anderen Nacht. Also, von daher bin ich ein junger Mann. Eigentlich.

Die junge Frau, die ich vorhin noch nach der Toilette gefragt habe, drückt den Bügel unserer Gondel zu. Sie lächelt mir aufmunternd zu. Sie fragt mich nicht, ob ich einen Herzschrittmacher trage, sie will auch nicht mein Alter wissen, obwohl überall Hinweise stehen, die ältere Menschen vor der auch physischen Belastung durch Achterbahnfahrten warnen. Nein, ich scheine auf die Einsteige-Assistentin einen rüstigen Eindruck zu machen. Fanny sitzt neben mir, strahlt mich mit ihren herrlich blauen Augen an. Die Lebensfreude pur. Die reine Abenteuerlust.

Wir gleiten durch einen Schacht nach oben, unsere Gondel legt sich schräg, ich kippe nach hinten, jedenfalls kommt es mir so vor, während wir durch Stroboskopblitze zur Abschussrampe hochgezogen werden. Ich ahne das Licht, den Himmel, tatsächlich ist die Sonne herausgekommen. Wie entspannt könnte ich jetzt im Schloss Balthasar bei meinem Seniorenkuchen frisch vom Backblech sitzen, zusammen mit Lilly und Rosa, die sich ohne Bedauern oder das Gefühl von Feigheit entschieden haben, keine dieser »Verrücktheiten« wie Euro-Mir, Blue Fire oder Silver Star zu fahren. Ja, die Jugend kann es sich leisten, einfach »Nein!« zu sagen, ohne sich deshalb gleich als Versager fühlen zu müssen.

Und dann gleiten wir hinaus. Der Himmel ist tatsächlich blau, und der Europa-Park liegt uns zu Füßen. Die Gondeln drehen sich, und ich habe Angst, ins Leere zu fallen, wenn sie sich über die Fahrstrecke hinausschieben. Fanny strahlt.

Ich reiße die Augen auf, meine Hände krampfen sich um den Haltegriff. Wir schießen hinab, gleich sind wir um die Kurve, auf die abrupt die Tiefe folgt. Ich reiße die Augen auf, ich will sie nicht verschließen; nicht vor dem Abgrund, in den wir gleich stürzen, nicht vor dem Alter, das so unweigerlich auf mich zukommt wie die nächste Kurve. Und wenn ich beides nicht verhindern kann, warum werfe ich dann nicht die Angst über Bord? Warum genieße ich dann nicht den Kick, den mir die Euro-Mir jetzt bietet? Warum nehme ich dann nicht das Alter an und genieße die Strecke Leben, die jetzt noch vor mir liegt?

»Pabu, jetzt gleieieiei…ch!« ruft Fanny, juchzt, wirft die Hände hoch, und ja, sie genießt den fast freien Fall.

Loslassen traue ich mich nicht. Noch nicht. Aber ich halte die Augen auf, reiße sie weit auf. Ich will sehen: die nächste Kurve, die nächste Sturzfahrt. Und so werde ich mir auch das Alter ansehen. Mein eigenes Altern. Und das der anderen. Kein Wegschauen. Kein Augenverschließen.

Ich werde meine neue Lebensphase ergründen. Commander an Logbuch: Wir stoßen vor in die unendlichen Weiten des Alters, des Alterns und des Altwerdens.

Als wir aussteigen, halte ich Fanny die Hand zum High Five hin. Sie schlägt ein. Lässig. Cool. Ich bin wie berauscht. Von der Euro-Mir, von meiner wunderbar unerschrockenen Tochter, von der Überwindung meiner Ängste. Da geht noch was!, denke ich. Als würde Fanny meine Gedanken erahnen, sagt sie: »Da drüben steht die Blue Fire, Pabu. In zweieinhalb Sekunden von null auf hundert.«

»Klar«, sage ich. »Heute fahren wir alles.«

Wie wundersam doch das Leben ist: Als Eltern beschenken wir unsere Kinder mit diesem Besuch im Europa-Park, aber das eigentliche Geschenk macht mir Fanny mit ihrer Achterbahn-Verrücktheit, mit ihrem Spaß an freiem Fall, hohem Tempo und absolutem Nervenkitzel, denn ohne meine Tochter hätte ich diese Raumstation nicht betreten; aber ich sehe auch voller Bewunderung hinüber zu Lilly und Rosa, die uns am Ausgang in Empfang nehmen. Wie schön, dass sie sich so selbstbewusst abgrenzen können. Sie brauchen diesen »Wahnsinn« nicht, sie finden ihren Spaß im Park bei und auf anderen Attraktionen. Ich bin stolz, dass die zwei so bei sich sind und nicht gegen ihr gutes Gespür für sich selbst handeln. Lilly und Rosa müssen sich nichts beweisen – anders als ihr Vater. Aber die beiden sind auch noch jung, zu jung, um unter Druck zu stehen wie ihr Alter.

»Alles gut, Papi?«, fragt Lilly. Ich nicke. Vielleicht einen Tick zu schnell und zu heftig. Und vielleicht lässt Lilly deshalb ihren fürsorglichen Blick einen Tick zu lange auf mir ruhen.

Bevor wir weiterziehen, drehe ich mich noch einmal zur Euro-Mir um, schaue hinauf, wo die Abschussrampe neue Gondeln ausspuckt, die sich auf die Schussfahrt zudrehen.

Ganz leise spreche ich in den Kragen meiner Windjacke: »Commander an Logbuch: Der Countdown läuft.«

Zuckerbrot und Peitsche

Sie werden es nicht glauben, aber derselbe Typ, der im Freizeitpark seinen Seniorenstatus beweint, hat lange geglaubt, er werde niemals alt. Reifer – ja.

Älter – vielleicht. Aber mehr so in dem Sinne, dass man jedes Jahr etwas mehr Geld bekommt oder einen Urlaubstag mehr. Oder die Kinder größer werden.

Zumindest habe ich mich nicht an meinem Alter gestört, habe mich sogar öffentlich als später Vater geoutet. »50 ist nur eine Zahl«, habe ich im August 2006 in einem Sonderheft unseres Magazins mit dem bezeichnenden Titel »Jung im Kopf« behauptet, kurz bevor ich selbst so alt wurde. Und ich hatte wirklich nicht das Gefühl, dass bereits ein halbes Jahrhundert auf meinen Schultern lastete. Ich war ja auch kein alter Vater, sondern nur ein später.

Zudem befand ich mich nach der Geburt der Zwillinge im postnatalen Endorphinrausch; dass sich damals schon unsere Rosa ankündigte, hatte mir einen weiteren Euphorieschub gegeben.

Sogar ein Jahr Elternzeit habe ich genommen, was damals noch die ganz große Ausnahme war. In unserer Mitarbeiter-Postille kam ich als Vorbild auf die Titelseite. Verdammt lang her. Eine Ewigkeit.

Es war ein schöner Bericht, offen, ehrlich. Ich wollte späten Eltern Mut machen. Nicht den Anthony Quinns, die mit 81 Jahren noch einmal ihren Stammhalter in die Luft stemmen, um allen zu zeigen, dass da noch was geht – oder steht. Der Schauspieler Manfred Krug, so habe ich gehört, soll über seinen Kollegen Charles Brauer gesagt haben, als der mit 52 noch Vater wurde: »Manche Männer machen sich ihre Enkelkinder einfach selbst.«

Und ich würde auch nicht Frauen wie Rosanna Della Corte zum Vorbild erklären, die 1994 nach langer Hormonbehandlung mit 63 Jahren noch mal einem Sohn das Leben schenkte. »Mamma Nonna« titelten die italienischen Blätter: »Mutter Großmutter«. Vater Mauro, ein einfacher Landwirt, war noch einmal drei Jahre älter. »Geronto-Eltern« habe ich sie genannt – was man so von sich gibt über Alte, wenn man jung ist.

Mit besonderem Kopfschütteln lese ich, was ich damals geschrieben habe: dass ich damals tatsächlich für die Heraufsetzung des Rentenalters plädiert habe, zumindest indirekt: »… der späte Vater aus dem Mittelstand ist dankbar für jedes Jahr, das er länger anschaffen darf« steht da. Dass immer mehr Chefs aber gar nicht daran denken, ihre Mitarbeiter tatsächlich so lange arbeiten zu lassen, das war mir in meinem Vaterschaftshormonrausch nicht bewusst. Und dass jedes Jahr des früher Aufhörenmüssens die ohnehin zu knappe Rente weiter schmälert, hatte ich noch weniger bedacht.

Ganz zuversichtlich ging ich damals davon aus, dass ich durcharbeiten kann bis zur Rente im August 2022. Was danach kommt, verdränge ich in die Stunden des Morgengrauens: »Mindestens einmal in der Nacht wache ich schweißgebadet auf«, gestehe ich in dem Artikel, »und zermartere mir das Hirn, wie wir das alles schaffen sollen.« Ich gestehe auch, dass mir in diesen Stunden der völligen Erschöpfung »Gedanken an den eigenen Tod« kommen. Schließlich ist meine Mutter nur 49 Jahre alt geworden. Mein Vater ist mit 67 Jahren gestorben. Aber es war wirklich so, wie ich es beschrieben habe, es waren nur Anflüge von Ängsten: »Der Blick in die Kinderbetten, wie dunkel es im Zimmer auch sein mag, lässt alle Schwächen, alle Ängste schwinden. Hatte vorhin irgendwer Zweifel«, frage ich mich selbst in dem Bericht, »dass ich meine Enkelkinder nicht mehr erleben könnte? Ich nicht.«

Ja, so war ich als frischgebackener später Vater: selbstbewusst, strotzend vor Kraft und Zuversicht. Damals vor zehn Jahren. Schon gut, ich will korrekt bleiben: vor mehr als zehn Jahren. Mein Alter war für mich damals tatsächlich nur eine Zahl. Und Rente nur ein Wort – mit dem ich weniger anzufangen wusste als mit dem Namen Otto von Bismarck, dem wir diese soziale Errungenschaft zu verdanken haben. Ich sage nur: Zuckerbrot und Peitsche.

Mit der von Bismarck vor etwa 100 Jahren eingeführten Rente, dem Zuckerbrot, wollte der Reichskanzler die Arbeiterschaft an den Staat, an das Deutsche Reich, binden; mit der Peitsche der Sozialistengesetze hatte er zuvor versucht, die sozialdemokratische Arbeiterbewegung zu unterdrücken, denn er ahnte, welche gesellschaftliche Sprengkraft von einer starken Arbeiterbewegung ausgehen würde.

Die vergleichsweise noch jungen Gewerkschaften und die sozialdemokratische Partei speisten sich zwar nicht unbedingt aus dem Lumpenproletariat, sondern vorwiegend aus dem Handwerk und der Facharbeiterschaft; aber die beginnende Industrialisierung ein halbes Jahrhundert zuvor hatte die tradierten Arbeits- und Familienstrukturen aufgebrochen und hinreichend Elend produziert – ein für Bismarck gefährlicher Nährboden der Arbeiterbewegung. Denn die Industrialisierung hatte keinen Platz mehr für ältere Arbeiter; zudem veränderten sich die Familienstrukturen, und die Alten fanden immer öfter immer weniger Hilfe und Obdach bei ihren Kindern. Auch die Armenfürsorge durch die Gemeinden war überfordert mit der immer größer werdenden Freisetzung alter Arbeiter. Altersarmut ist wahrlich keine Erfindung unserer Zeit.