Männer haben keine Zukunft - Anthony Clare - E-Book

Männer haben keine Zukunft E-Book

Anthony Clare

0,0
7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gesellschaftliche Entwicklung, Bildungsstatistiken, Medizin und Genforschung beweisen: Es geht bestens ohne Mann. Noch besetzen Männer zwar die entscheidenden Machtpositionen, doch die Vormachtstellung des Mannes ist faktisch bereits Makulatur. Der Versuch, die eigene Dominanz mit Gewalt zu verteidigen, hat dramatische, zerstörerische Folgen – für die Welt, aber auch für die Männer selbst. Denn die Entwicklung lässt sich nicht aufhalten und nicht zurückdrehen. Zukunft haben Männer nur, wenn sie lernen, auf dem Gebiet «unersetzlich» zu werden, das sie bisher gemieden haben wie die Pest: im Bereich der Gefühle und der Beziehung zu anderen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 479

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Anthony Clare

Männer haben keine Zukunft

Aus dem Englischen von Christine Strüh

FISCHER Digital

Inhalt

In Erinnerung an meinen [...]Kapitel 1 Der sterbende PhallusKapitel 2 Wozu das Y?Testosteron und das männliche GeschlechtTestosteron, Aggression und DominanzMänner und MathematikDas männliche und das weibliche GehirnZusammenfassungKapitel 3 Männer und GewaltDas Ausmaß männlicher GewaltUrsprünge männlicher GewaltKapitel 4 Das Y verblasstTestosteron und GesundheitMänner, Ehe und GesundheitSelbstmordSoziale UnterstützungMänner, Frauen und ArbeitKapitel 5 Das Zeitalter der AmazoneUnterwegs zur reproduktiven EntbehrlichkeitIn-vitro-FertilisationKünstliche Befruchtung durch einen SpenderKlonenDas Schrumpfen der männlichen SexualitätZusammenfasssungKapitel 6 Wer braucht schon einen Mann in der Familie?Die Trennung von Heim und BerufMänner und ScheidungZusammenfassungKapitel 7 Der Mann als VaterDie Trennung vom Vater und ihre AuswirkungenWas der Vater zu bieten hatVäter, Söhne und TöchterVäter und ihr EngagementDer Vater als BeschützerDer Vater als ErnährerZusammenfasssungKapitel 8 Männer und die LiebeDie Furcht der Männer vor den FrauenMänner und KontrolleMänner, Frauen und MachtDer Weg aus der KriseDank

In Erinnerung an meinen Vater

Kapitel 1 Der sterbende Phallus

Je älter und hoffentlich weiser ich werde, desto klarer erkenne ich, was ich alles nicht weiß. Ich weiß immer noch nicht, was die Menschen glücklich macht, obwohl ich einiges darüber sagen kann, was sie unglücklich macht. Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt, obwohl ich früher einmal mit leidenschaftlicher Überzeugung an ihn geglaubt habe. Ich weiß nicht, ob gute Mütter so geboren oder gemacht werden, ich weiß nicht, wie es kommt, dass manche Menschen Führungspersönlichkeiten und andere Mitläufer sind, ich weiß nicht, ob noch zu meinen Lebzeiten ein Heilmittel gegen Krebs, Schizophrenie oder Alzheimer gefunden wird.

Aber ich weiß, was es heißt, ein Mann zu sein. Wenn ich allerdings genauer darüber nachdenke, wie ich gelernt habe, was Männlichkeit ist, dann merke ich, dass fast der gesamte Lernprozess implizit oder durch Osmose verlaufen ist. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater, meine Mutter, meine Lehrer, meine Freunde oder sonst irgendjemand jemals gesagt hätten: «So musst du sein als Mann, als Sohn, als Bruder, als Liebhaber, als Vater.» Aber ich lernte sehr früh eine ganze Menge darüber, was ein Mann tut; ich lernte auch, dass die Arbeit eines Mannes genauso wichtig, ja, sogar noch wichtiger ist als das, was ein Mann ist; ich lernte, dass ein Mann in der modernen kapitalistischen Gesellschaft nicht durch das Sein definiert wird, sondern durch das Tun.

Für andere und auch für mich selbst spielte meine berufliche Laufbahn, vor allem meine medizinische Karriere, immer eine größere Rolle als meine Partnerin, meine Familie und meine Freunde. Während des Studiums – ich studierte erst Medizin, dann Psychiatrie – habe ich kein einziges Mal erlebt, dass ein männlicher Kommilitone seiner Familie die erste Priorität eingeräumt hätte. Völlig unbekümmert planten Männer Abendtermine und wunderten oder ärgerten sich dann, wenn ihre Kolleginnen darauf hinwiesen, dass sie wegen häuslicher Verpflichtungen leider nicht kommen konnten. Wenn ein Mann eine solche Entschuldigung vorgebracht hätte, wäre er sofort abgestempelt gewesen als einer, der sich nicht genügend für seinen Job engagiert. Die meisten Männer waren damit beschäftigt, überall zu demonstrieren, dass sie jede Stunde, die Gott ihnen schenkte, mit Arbeit verbrachten. Man fühlte sich an Schimpansen erinnert, die sich an die Brust schlagen und die Zähne blecken. Oft genug war es ebenso produktiv.

In einem 1912 in der New York Times veröffentlichten Interview[1] stellte C.G. Jung fest, dass sich die Libido der amerikanischen Männer fast ausschließlich auf den Beruf konzentriert: Als Ehemann sei er froh, keine Verpflichtungen erfüllen zu müssen, und überlasse die Leitung des Familienlebens lieber seiner Frau. Was gern als Unabhängigkeit der amerikanischen Frauen dargestellt wurde, sah Jung als Faulheit der amerikanischen Männer, die sich zu Hause erholen, die dort nett und zuvorkommend sind, im Beruf aber umso härter kämpfen.

Jung sprach von den amerikanischen Männern zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Doch die folgenden gut achtzig Jahre hätte er über Männlichkeit, Karriere und Familienleben mehr oder weniger das Gleiche sagen können. Jedenfalls über mich. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts scheint die feministische Analyse und die sexuelle Revolution einiges verändert zu haben – für die Frauen. Aber was ist eigentlich mit den Männern passiert?

Als junger Psychotherapeut Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre begegnete ich regelmäßig dem Phänomen, das man damals als «Leeres-Nest-Syndrom» bezeichnete. Es befiel verheiratete Frauen, die ihr Leben der Familie und der Kindererziehung gewidmet hatten und mit fünfzig plötzlich feststellten, dass ihre Kinder erwachsen und aus dem Haus waren, während ihr Ehemann sein eigenes Leben führte, vorwiegend bestehend aus Arbeit und Golf. Heute, in den neunziger Jahren, bekomme ich nicht mehr viele Frauen aus «leeren Nestern» zu Gesicht. Stattdessen treffe ich Männer mittleren Alters, die ihr Leben einer Firma oder einem Unternehmen geschenkt, die alles geopfert haben und inzwischen erbarmungslos in Rente geschickt wurden, die unfreiwillig im Ruhestand sind, um mehrere Nummern geschrumpft und überflüssig. Verstört blicken sie um sich, aber ihre Kinder sind ausgeflogen und ihre Frau ist anderweitig beschäftigt. Jetzt spielen die Frauen Golf, jetzt haben die Frauen Jobs und Freunde bei der Arbeit. Die Männer dagegen kauern im leeren Nest, konfrontiert mit dem, was einer meiner Freunde, ein redegewandter irischer Geschäftsmann, einmal «die vergessene Zukunft» genannt hat.

Seit mein öffentliches Leben als Mann begonnen hat – in der Schule, auf der Universität, im Diskussionsclub, im Forschungszentrum für Doktoranden, im Krankenhaus – lernte ich, mit anderen zu konkurrieren und ein Selbstbewusstsein an den Tag zu legen, das ich selten (genauer gesagt, nie) wirklich besaß. Das ist es, was man von Männern verlangt, mit dem Ergebnis, dass eine der häufigsten Ängste von erwachsenen Männern darin besteht, auf irgendeine rätselhafte Weise «entlarvt» zu werden. Als junger Vater schrie ich meine Kinder an, um mich überlegen zu fühlen. Auf Umwegen oder manchmal auch ganz direkt verkündete ich, dass richtige Jungs nicht jammerten, sondern stark und verantwortungsbewusst seien, dass sie ihre Verletzlichkeit unterdrücken müssten, vor allem, damit sie von anderen Jungen nicht schikaniert würden. Als junger Ehemann liebte ich meine Frau und war ein mitfühlender und emanzipierter «neuer» Mann – jedenfalls glaubte ich das. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher. Meine Frau hat viel geopfert, um Vollzeitmutter zu sein. Ich dagegen musste fast nichts dafür aufgeben, um am Rande mit wenig Zeitaufwand eine kleine Vaterrolle zu spielen. Aber ich war der Ernährer der Familie, und das war wichtig – jedenfalls für mich –, und ich war ein Vater für meine Kinder, auch wenn es mir sehr schwer gefallen wäre, genau zu definieren, was das bedeutete.

Heute sind die Männer – wozu sie gut sind, ihr Zweck, ihr Wert, ihre Rechtfertigung – ständig Thema der öffentlichen Diskussion. Einige durchaus ernst zu nehmende Zeitgenossen meinen, dass Männer überflüssig sind, dass Frauen sie nicht brauchen und Kinder ohne sie besser dran wären. Am Beginn des 21. Jahrhunderts kann kaum noch jemand der Erkenntnis ausweichen, dass Männer ein ernsthaftes Problem haben. Überall in der Welt, ob in hoch entwickelten Industrienationen oder in Entwicklungsländern, ist antisoziales Verhalten eine Männerdomäne. Gewalt, sexueller Missbrauch von Kindern, illegaler Drogenkonsum, Alkoholmissbrauch, Glücksspiel – dies alles sind vorwiegend männliche Aktivitäten. In Gerichtssälen und Gefängnissen wimmelt es von Männern. Wenn es um Aggression, Kriminalität, Risikoverhalten und soziales Chaos geht, stehen Männer an vorderster Front.

Glücklicher scheinen sie dabei aber auch nicht geworden zu sein. Überall in Nordamerika, in Europa und Australien ist die Selbstmordrate von jungen Männern drei- bis viermal so hoch wie die von Frauen.[2] Die Zunahme von Selbstmorden bei jungen Männern in großen Teilen der westlichen Welt ist zutreffenderweise als Epidemie bezeichnet worden, und bei alten Menschen sieht es nicht besser aus. Auf sechs von hunderttausend älteren Frauen, die sich pro Jahr das Leben nehmen, kommen vierzig ältere Männer. Und diese Zahlen können als Spitze des Eisbergs männlicher Depression gesehen werden, denn Männer gelten entweder als zu stolz oder als emotional zu verklemmt, um zuzugeben, dass sie ihre Gefühle nicht mehr unter Kontrolle haben. Männer, die einerseits berüchtigt sind für ihre Neigung, zu kiffen, sich zu besaufen oder sich auf sexuelle Abenteuer einzulassen, geraten andererseits in Panik, wenn es darum geht, einem anderen Menschen zu zeigen, dass sie auch deprimiert, abhängig oder hilfsbedürftig sein können – und es oft genug auch sind.

Nun könnte man sagen, das sei schon immer so gewesen. Die Veränderung besteht darin, dass die Männer sich jetzt endlich aus ihrem emotionalen Versteck hervorwagen. Nachdem Männer die Emotionalität der Frauen so lange lächerlich gemacht, verpönt und von oben herab behandelt haben, akzeptieren sie inzwischen, wie wichtig es für eine reife Persönlichkeit ist, Gefühle nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern offen und zivilisiert auszudrücken.

Andererseits sieht es ganz so aus, als hätten Männer reichlich Grund, um unzufrieden zu sein. Ganz oben auf der Liste steht das wachsende Durchsetzungsvermögen der Frauen. Dank der feministischen Revolution, so wird argumentiert, seien Frauen nicht länger bereit, Besitz der Männer zu sein, die männliche Vorherrschaft werde überwunden. Wie den Kolonialherren, die zusehen müssen, wie ihr Imperium allmählich zerbricht, so gefällt auch den Männern diese Entwicklung nicht. Aber nur sehr wenige Frauen lassen sich auf diese Argumentation ein, denn so viel Boden haben die Frauen bislang nicht gewonnen. Noch immer sitzen wesentlich mehr Männer in Machtpositionen, noch immer wird der politische und wirtschaftliche Aufstieg der Frauen durch den mehr oder weniger latenten Sexismus verhindert, noch immer stolzieren die Männer in fast jedem westlichen Land der Welt durch Kabinett und Vorstandsetage, noch immer sind die Männer letztlich Herren ihres eigenen und des Schicksals ihrer Untergebenen. In den Entwicklungsländern ist die Situation sogar noch unfairer. Die Geschlechterunterschiede bei der Verteilung unbezahlter Arbeit sind geradezu grotesk, und allem Gerede von Gleichberechtigung zum Trotz müssen Frauen überall auf der Welt länger arbeiten als Männer und bekommen weniger Geld dafür. Die Kolonialherren haben noch immer das Heft in der Hand.

Unter den gegebenen Umständen ist es durchaus verständlich, dass Frauen wenig Geduld für die Empfindlichkeiten der Männer aufbringen. Aber vielleicht geht diese Reaktion an der Sache vorbei. Es stimmt, dass das Patriarchat noch nicht erledigt ist. Aber die Argumente zu seiner Rechtfertigung sind durcheinander geraten. Die Kolonialherren sind noch nicht gestürzt, aber die Kolonisierten planen, diskutieren, organisieren und haben bei einigen kleinen, gut geplanten Aufständen bereits gezeigt, was in ihnen steckt. Zumindest in den Außenbezirken des patriarchalischen Imperiums herrscht das Gefühl, dass die Zeit der männlichen Autorität, Dominanz und Herrschaft vorbei ist. Die männliche Macht wird untergraben. Überall in Europa – in den Grundschulen, den weiterführenden Schulen und auch auf den Universitäten – zeigen Mädchen inzwischen bessere Leistungen als Jungen. In der Europäischen Union schließen zwanzig Prozent mehr Frauen ihr Studium ab als Männer. Beim Verlassen der Schule oder Universität können sich Frauen bessere Chancen auf einen Arbeitsplatz ausrechnen. In Deutschland verloren zwischen 1991 und 1995 beispielsweise doppelt so viele Männer wie Frauen ihren Arbeitsplatz. Für Frauen gab es 210000 zusätzliche Jobs, für Männer 400000 weniger. Manche männliche Teenager trösten sich damit, dass die Männer später, mit zwanzig, dreißig, ihren angestammten Platz zurückerobern – den an der Spitze natürlich. Aber diese Beteuerungen klingen aus den verschiedensten Gründen reichlich hohl. Frauen sind auf dem Vormarsch, und obwohl sie noch einen weiten Weg vor sich haben, fühlen die Männer sich bedroht und reagieren mit Aggression gegen die Frauen und gegen sich selbst.

Und als wären die Veränderungen in Erziehung, Ausbildung und Arbeit nicht genug, um den Durchschnittsmann zu verunsichern, gibt es dazu auch noch die deprimierende öffentliche Seifenoper über die Beziehung zwischen dem Mann und seinem Penis. Männer, denen in den meisten anderen Lebensbereichen so viel daran liegt, alles unter Kontrolle zu haben, sind allem Anschein nach unfähig, ihre sexuellen Bedürfnisse im Zaum zu halten. Ernster ausgedrückt: Man kann der Konfrontation mit den dunklen Seiten männlicher Sexualität nicht ausweichen, die sich nur allzu deutlich in der männlichen Aggression gegen Frauen und Kinder zeigt – Vergewaltigung, Belästigung, sexuelle Gewalt. Kein Wunder, dass viele unschuldige Männer (beispielsweise Verwandte von Folterern und Mördern) anfangen, Verbrechen zu entschuldigen, die sie nicht selbst begangen haben.

Aber haben Männer Angst vor ihren Gefühlen, und wenn ja, gibt es vielleicht gute Gründe dafür? Empfinden Männer Verachtung für Frauen, und wenn ja, was nährt diese Empfindung? Noch immer steht die Behauptung im Raum, dass Misogynie, der Hass auf Frauen, unverbrüchlich zur männlichen Entwicklung gehört und dass es ganz einfach keine guten Männer gibt.[3] Könnten die Angst und die Verachtung vielleicht mit einer tieferen Angst in Zusammenhang stehen, einer noch grundlegenderen Furcht, die mit der Beschaffenheit der männlichen Sexualität zu tun hat? Hier betritt man gefährliches Terrain. Ein falscher Schritt, und schon riskiert man den Vorwurf, man mache Frauen dafür verantwortlich, dass Männer ihre sexuellen Gefühle und ihre Aggression nicht in Schach halten können. Davon sind viele Männer überzeugt, und leider handeln manche auch entsprechend. Frauen werden gefürchtet, verachtet und manchmal sogar vernichtet aufgrund von dem, was sie den Männern angeblich antun. Für solche Männer ist die eigene Sexualität genau deshalb aufregend, weil sie unberechenbar, launenhaft und potentiell gefährlich ist – und am Ende sind die Frauen für alles verantwortlich, denn sie haben diese Sexualität ja provoziert. Durch ihre bloße Existenz stellen Frauen eine geradezu verstörende Herausforderung an die männliche Selbstbeherrschung dar. Und weil Kontrolle für viele Männer der wichtigste Maßstab ihrer Männlichkeit ist, stellt bereits die kleinste Bedrohung dieser Kontrolle die Essenz ihrer Definition als Mann in Frage. Bill Clintons Sexualverhalten zeigte deutlich, dass der Mythos des Gartens Eden im Herzen des amerikanischen Imperiums blüht und gedeiht. Männer werden schwach, weil Frauen sie verführen. Noch immer ist dies für Männer die beliebteste Erklärung für ihr Sexualverhalten. Statt sich einer wirklich rigorosen Analyse der Natur männlicher Sexualität und ihrer Beziehung zu Macht, Sozialstatus, Aggression und Kontrolle zu stellen, ziehen sich die meisten Männer bei diesem Thema auf ein selbstmitleidiges und letztlich deprimierendes Gejammer zurück und beklagen sich, wie schwer es doch ist, in unserer modernen postfeministischen Welt der Geschlechtergleichheit ein richtig heißblütiger Mann zu sein und in einer dynamischen Beziehung mit einer Frau zu leben.

1989 fragte ich Germaine Greer in einem Interview, ob sie glaube, dass Männer hinter dem ganzen aufgeblasenen Getue und Gehabe vielleicht gar nicht so selbstbewusst sind, wie sie vielleicht wirken. «Mir ist die phallische Unsicherheit eigentlich ziemlich gleichgültig», erwiderte sie scharf, fügte aber hinzu:

Schließlich hat der Mann die Vorstellung vom Phallus selbst geschaffen. Es sind die Männer, die sich Sorgen darüber machen, ob im phallischen Bereich alles stimmt, während die Frauen mit dem ganzen anderen Zeug zufrieden sind – Sozialstatus, Macht, Intelligenz.[4]

Sie hat vollkommen Recht. Nach wie vor sind Männer besorgt, «ob im phallischen Bereich alles stimmt». Sie machen sich Gedanken über Größe, Form und Erektionspotential ihrer Genitalien. Alte und junge Männer geraten aus der Fassung durch spöttische Anspielungen auf ihr «bestes Stück». Der erfolgreiche britische Film «Ganz oder gar nicht» zieht ausdrücklich eine Analogie zwischen den Minderwertigkeitsgefühlen eines Mannes, der seinen Arbeitsplatz verloren hat, und der Besorgnis um die genitale Potenz. Männer müssen Beziehungen eingehen, emotional Kontakt aufnehmen, sich auf andere Menschen einlassen und sich splitterfasernackt ausziehen – voreinander und vor den Frauen –, wenn sie jemals vollständige Menschen werden wollen. So jedenfalls lautet die Botschaft des Films. Doch dann kam der große Rückzieher: Vor dem Kinopublikum wurde wirklich alles entblößt – bis auf das «beste Stück»!

Die ständige Beschäftigung mit dem Penis scheint vor allem auf Angst zu beruhen: Nicht auf der freudschen Kastrationsangst, sondern eher auf der adlerschen Angst vor Lächerlichkeit. Sind wir der Aufgabe gewachsen? lautet die bange Frage der modernen Männer, während sie besorgt ihren runzligen Pimmel mustern und ihre sozialen Fähigkeiten analysieren; sind wir der Konkurrenz gewachsen, dem Erfolgs- und Leistungsdruck, sind wir stark genug, ständig zu kämpfen, alles unter Kontrolle zu haben, uns durchzusetzen, uns für unfehlbar zu halten und dann auch noch einen hochzukriegen? Denn natürlich ist da zu allem Überfluss auch noch die unbestreitbare Ungleichheit der Geschlechter, die Tatsache nämlich, dass Frauen einen Orgasmus vortäuschen können, Männer aber nicht. Die Sichtbarkeit der männlichen Geschlechtsorgane, die Größe des Penis, Erregung oder Schlaffheit – all das kann gemessen und verglichen werden. Deshalb überrascht es nicht, dass Viagra nicht nur mit anzüglichen Scherzen und widerlichen Zweideutigkeiten begrüßt wurde, sondern auch mit grimmigen und panischen politischen Diskussionen, ob sich die Männer nicht vielleicht wie die Wilden auf das neue Wundermittel stürzen und damit das ganze Gesundheitssystem zusammenklappen lassen würden.

Der einzige biologische Geschlechtsunterschied, über den sich alle einig sind, besteht in den Chromosomen: Frauen besitzen zwei X-förmige Geschlechtschromosomen, während es bei Männern ein X und ein kleines Y-förmiges sind. Das Y-Chromosom ist verantwortlich für die größere männliche Körperkraft, Statur, Muskelmasse, Fingerfertigkeit, Laufgeschwindigkeit. Diese Eigenschaften waren sehr wertvoll in einer Welt, in der solche Eigenschaften das Überleben sicherten. Wir haben uns daran gewöhnt, uns unter einem «richtigen» Mann jemanden vorzustellen, der in der Eisen-, Stahl- oder Kohleindustrie arbeitet, im Schiffsbau, als Holzfäller oder als Bauer. Unsere streitbaren Helden sind fast ausschließlich männlichen Geschlechts, sowohl in der Fantasie als auch in der Wirklichkeit, wenn es um den Kampf von Mann zu Mann, um rein körperlichen Mut, Überlebenswillen oder athletische Verwegenheit geht. Doch was bedeutet all die brutale Stärke, Überlegenheit und maßlose Energie heute, wo mehr Menschen indisches Curry kochen als im Kohlebergwerk schuften, wo computergesteuerte Roboter statt schwitzender Männer Autos zusammensetzen, wo der männliche Hang zur Gewalt nicht mehr den Nationalstolz rettet, sondern viel eher das Überleben der Welt bedroht?

In der modernen Gesellschaft gibt es kaum noch etwas, was nicht auch und genauso gut von Frauen erledigt werden kann. «Na und?», sagen die Frauen, was nur verständlich ist, wenn man bedenkt, wie lange es gedauert hat, diesen Zustand zu erreichen. Na und? Aber die Männer haben ein Problem damit, und zwar vor allem diejenigen – und das war bisher die Mehrheit –, die ihr Leben, ihre Identität, die Essenz ihrer Männlichkeit über ihre berufliche Leistung definiert und sich etwas darauf eingebildet haben, eine Arbeit zu machen, die nur von Männern erledigt werden konnte. Die Generation meines Vaters war stolz, die Ernährerrolle zu übernehmen – für ihre Ehefrauen, ihre Familien, für sich selbst. Heute scheint diese Rolle ihren Sinn verloren zu haben. Immer mehr verheiratete Frauen ernten die Früchte ihrer Ausbildung, nutzen ihre Intelligenz und verdienen ihr Geld selbst. Als Alleinerziehende machen sie sich stark für Kinderhorte am Arbeitsplatz und bessere Kinderbetreuung insgesamt, für Unterstützung aus der Sozialversicherung als Ausgleich für Männereinkünfte. Doch nicht nur die Rolle des Ernährers befindet sich unter Beschuss, auch die Rolle des Vaters ist bedroht. Mit dem Ende des zweiten Jahrtausends ist die männliche Rolle bei der Fortpflanzung und bei der Kindererziehung bedenklich geschrumpft. Die steigende Anzahl unverheirateter Mütter legt nicht nur den Verdacht nahe, dass Männer als Partner und Väter unfähig, sondern womöglich schlicht überflüssig sind. Frauen beweisen, dass sie Kinder allein empfangen und aufziehen können. Sie brauchen keinen Mann als Vater für ihre Kinder. Die Entwicklung von Techniken wie In-vitro-Fertilisation, künstliche Befruchtung durch einen anonymen Spender und Leihmutterschaft, und auch die hoch politische und kontroverse Behauptung, dass die Erziehung genauso gut und erfolgreich von nur einem Elternteil wie von zweien bewältigt werden kann – das alles wirft die Frage auf: Was soll aus der Vaterschaft werden? Wenn Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung problemlos ohne aktive Beteiligung des Mannes bewerkstelligt werden können, warum soll man sich dann überhaupt noch mit ihm abgeben, wenn man bedenkt, wie viel Kummer und Ärger der moderne Mann macht – allein durch seine Verbohrtheit? Früher war er so stolz auf seinen Penis (schließlich hat Freud behauptet, dass Frauen ihn darum beneiden), und nun muss er entdecken, dass das gute Stück zu einem Samenträger degradiert worden ist, während die Frauen nicht nur bei der Schaffung neuen Lebens die erste Geige spielen (das haben sie ja schon immer), sondern auch bei seiner Aufzucht. Kein Wunder, dass es inzwischen Männer gibt, die allen Ernstes der Meinung sind, die einzige Möglichkeit, wieder eine wichtige Rolle bei Fortpflanzung und Elternschaft zu spielen, bestünde darin, dass die Wissenschaft ihnen dabei hilft, selbst Babys zur Welt zu bringen!

Vor hundert Jahren wunderte sich Sigmund Freud über die scheinbare Epidemie hysterischer, depressiver, lethargischer und unzufriedener Frauen und fragte sich gereizt: «Was wollen die Frauen?» Er stellte diese Frage in einer Zeit, als das Frausein an sich als krankhaft galt, während Männer die strotzende Gesundheit schlechthin verkörperten. Ein Jahrhundert später sind es nicht mehr die Frauen, die als pathologisch angesehen werden, sondern die Männer; nicht mehr die Wünsche der Frauen geben uns Rätsel auf, sondern die der Männer. Aber ehe wir damit beginnen können, eine Antwort auf die Frage zu finden, was Männer wollen, verdienen oder brauchen, sollten wir uns erst einmal fragen, was wir über Männer wissen. Was führt das Y-Chromosom, auf das der ganze Ärger ja letztlich zurückgeht, denn nun im Schilde? Sind Männer von Natur aus und unheilbar gewalttätig? Muss es bei der Diskussion zwischen den Geschlechtern unbedingt darum gehen, ob Männer herrschen oder sich beherrschen lassen, während Frauen die Wahl haben, entweder Widerstand zu leisten oder sich unterzuordnen? Können Männer in einer Welt der Chancengleichheit für beide Geschlechter die Beziehung zu sich und zu den Frauen neu aushandeln? Ist noch etwas übrig von der männlichen Rolle als Ernährer und Beschützer? Brauchen wir Männer? Brauchen wir Väter? Und wenn ja, was für Männer, was für Väter brauchen wir?

Noch immer ist die moderne Welt in zwei Bereiche eingeteilt – die Privatsphäre, in der hauptsächlich Frauen wohnen, und die öffentliche Sphäre, in der Männer ihre Identität finden und kultivieren und ihre Dominanz ausüben. Die Macht des Patriarchats, diese Verknüpfung von Machtbeziehungen, durch die Männer fähig sind, Frauen zu kontrollieren, gründet sich auf den Glauben, dass das Öffentliche dem Privaten überlegen sei. Bei Frauen, die den Zwängen des Patriarchats entfliehen wollen, wird ein stillschweigendes Einverständnis vorausgesetzt, dass alles Öffentliche – die Firma, der Beruf und das Büro – mehr wert ist als die private Welt. Daher spüren die Männer keine Notwendigkeit, ihre Überzeugung von der ersten Priorität des Öffentlichen in Frage zu stellen, vielmehr wird die Tatsache, dass die Frau ihre eigene öffentliche Legitimität zu etablieren sucht, als weiterer Beweis dafür angesehen, dass der öffentliche Bereich wirklich die Nummer eins und der private eher zweitrangig ist.

Bei meiner Untersuchung über die Lage der Männlichkeit habe ich in diesem Buch ganz bewusst das Wort «Phallus» gewählt. Der Penis ist ein anatomischer Begriff, der das männliche Fortpflanzungsorgan bezeichnet. Der Phallus dagegen ist ein anthropologischer und theologischer Terminus, der auf das Image des männlichen Geschlechtsorgans Bezug nimmt. Der Penis ist ein Organ mit biologischen Funktionen, der Phallus ist eine Idee, die in verschiedenen Religionen als Symbol männlicher Macht verehrt wird. Der Ausdruck phallisch bezieht sich nicht nur auf den Penis, sondern umfasst auch Vorstellungen von Potenz, Manneskraft, Männlichkeit, Stärke und Macht. Man hat ihn als «Symbol der Symbole» bezeichnet, als das Merkmal, das ein Individuum als männlich definiert und mit Begriffen wie Autorität, Kontrolle und Dominanz in Verbindung bringt.[5] Der Phallus «symbolisiert das, was Männer zu haben glauben und was Frauen angeblich fehlt»[6]. Der Penis steht nicht zur Disposition, bestenfalls insofern, als er als Fortpflanzungswerkzeug entbehrlich werden könnte. Aber der phallische Mann, der autoritäre, dominante, durchsetzungsfähige Mann – der nicht nur sich selbst, sondern auch eine Frau unter Kontrolle hat –, stirbt langsam aus. Deshalb erhebt sich nun die Frage, ob ein neuer Mann an seine Stelle tritt wie der Phönix aus der Asche oder ob der Mann als solcher weitgehend überflüssig wird.

Kapitel 2 Wozu das Y?

Was vergrößert die Chancen, dass ein Schüler Nachhilfe braucht, dass ein Jugendlicher Ärger mit der Polizei bekommt und mit zwanzig im Gefängnis sitzt? Wodurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch Heroin spritzt, zu viel Alkohol trinkt, seinen Ehepartner betrügt und seine Kinder verlässt? Was erhöht das Selbstmordrisiko auf das Dreifache und die Gefahr, einen Mord zu begehen, auf das Zehnfache? Die Antwort lautet: Die Tatsache, dass dieser Mensch ein Mann ist. Und was macht den Mann zum Manne? Ein winziges, Y-förmiges Chromosom, für das nackte Auge unsichtbar, das kleinste der Chromosomen, die unsere menschlichen Gene tragen. Die Gene auf dem Y-Chromosom sind verantwortlich für die Entwicklung männlicher Charakteristika, unter anderem des Penis und der Hoden, der Produktion von Sperma und der sekundären Geschlechtsmerkmale wie Gesichtsbehaarung, tiefe Stimme, Form und Umfang des Beckens.

In jeder menschlichen Zelle befinden sich sechsundvierzig Chromosomen. Vierundvierzig davon gehören zu identischen Paaren, die restlichen beiden bilden ein ungleiches Paar – eines hat die Form eines X, das andere die Form eines Y. Diese beiden Chromosomen steuern die sexuelle Entwicklung. Möglicherweise wurde vor hunderten Millionen von Jahren das Geschlecht nicht durch Chromosomen, sondern durch Umweltfaktoren bestimmt, beispielsweise durch die Temperatur, bei der das Ei ausgebrütet wurde. Bei Tieren wie Krokodilen und Meeresschildkröten ist dies immer noch der Fall. Aber das Geschlecht des menschlichen Embryos wird von den Geschlechtschromosomen festgelegt. Frauen haben normalerweise zwei X-förmige Chromosomen, Männer ein X und ein Y. Unter einem Mikroskop hat das Y-Chromosom, das den Schlüssel der Männlichkeit enthält, nur etwa ein Drittel der Größe eines X-Chromosoms. Ohne das Y-Chromosom wird der Embryo weiblich. Während man auf den X-Chromosomen tausende von Genen findet, gibt es auf dem Y wahrscheinlich nur ein paar Dutzend. Bis heute haben die Forscher nur 21 Gene identifiziert, die in drei Gruppen aufgeteilt werden können, je nach der Rolle, die sie im Körper spielen.[7] Eine Gruppe enthält nur ein einziges Gen, das die Ausbildung der Hoden steuert. Die zweite Gruppe, in der sich zehn Gene befinden, wird erst in der Pubertät aktiv und beeinflusst die Spermaproduktion. Die dritte Gruppe, bestehend aus den übrigen zehn bisher bekannten Genen, sorgt dafür, dass die Körperzellen effizient und effektiv arbeiten.

Bei der menschlichen Fortpflanzung steuern Mann und Frau jeweils ein Geschlechtschromosom zum Geschlechtschromosomenpaar des Embryos bei. Die Frau kann nur ein X-Chromosom weitergeben, der Mann dagegen entweder ein X (wodurch ein weibliches Kind entsteht) oder ein Y (wodurch der Embryo sich männlich entwickelt). Man geht davon aus, dass das Mischen und Kombinieren der elterlichen Gene die Überlebenschancen der menschlichen Spezies erhöht. Indem sich das neue Wesen sowohl von der Mutter als auch vom Vater genetisch unterscheidet, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Nachkommen die Möglichkeiten einer sich verändernden Welt besser nutzen können und trotz widriger biologischer oder umgebungsbedingter Umstände überleben.

Schon sehr früh in der Entwicklung des menschlichen Embryos kann man eine primitive Struktur namens «Müller-Gang» erkennen. Der Müller-Gang ist ein Vorläufer des Uterus und der innere Teil der Vagina. Sowohl männliche wie weibliche Embryonen besitzen dieses Merkmal, und bis der vom Y-Chromosom beeinflusste fötale Hoden mit der Hormonsekretion beginnt, gibt es beim Embryo keine geschlechtliche Differenzierung. Wenn der Hoden zwar vorhanden ist, aber aus irgendeinem Grund kein Sekret absondert, entwickelt sich ein weiblicher Embryo. Der Basiszustand des Menschen ist also weiblich – bis zu dem Zeitpunkt, in dem der fötale Hoden zu arbeiten beginnt, sind auch wir Männer weiblich. Ein hervorragender Beitrag zur Biologie der Geschlechtsunterschiede stellt kurz und bündig fest:

die männliche Differenzierung tritt ein, weil die fötalen Hoden aktiv Androgen (Testosteron) produzieren und dazu eine Substanz, die die Entwicklung der weiblichen Anlagen unterbindet (Müllersche Hemmsubstanz). Auf diese Weise zwingen sie dem grundlegend femininen Trend des Körpers die Männlichkeit auf, während in relativer Abwesenheit dieser Einflüsse die weibliche Differenzierung weitergeht. (Hervorhebungen des Autors)[8]

So ist eine der ältesten Erklärungen der Schöpfung, ja, einer der Grundsteine des jüdisch-christlichen Patriarchats – nämlich die Geschichte der Genesis in der Bibel – gleich zu Anfang einem spektakulären Irrtum erlegen. Eva wurde nicht aus Adams Rippe geformt, sondern Adam ist aus Eva entstanden. Um ein Mann zu werden, braucht ein Mensch nicht nur ein Y-Chromosom, sondern die Gene auf dem Y müssen sozusagen auch noch den entsprechenden Schalter umlegen. Wenn das nicht geschieht, wird der Embryo weiblich, Y-Chromosom hin oder her.

Die meisten Leute interessieren sich nicht besonders für das Y-Chromosom, wenn es darum geht, zu erklären, wie Männer funktionieren. Stattdessen konzentrieren sie sich auf das Testosteron – das von den männlichen Hoden produzierte Hormon. Angesehene Wissenschaftler und politische Kommentatoren – praktisch alles Männer – statten dieses Hormon mit wahrhaft beeindruckenden Qualitäten aus. Auf das Testosteron, so behaupten sie, gründet sich die patriarchale Gesellschaft, seinetwegen herrscht in Regierungen und auf Vorstandsetagen ein Übergewicht an Männern, das Testosteron treibt amerikanische Jugendliche dazu, Schulkinder mit Maschinengewehren niederzumähen, Testosteron fördert die sexuellen Beziehungen zwischen den Geschlechtern, ist aber für auch den Missbrauch von Frauen und Kindern verantwortlich. Testosteron veranlasst Männer, zum Mond zu fliegen, den Mount Everest zu besteigen, die Sixtinische Kapelle zu bemalen und sich mit Pornographie abzugeben. Kurz, Testosteron ist, wie es ein freimütiger Verfechter des Patriarchats formuliert, der Grund, warum

die menschliche Biologie die Möglichkeit eines menschlichen Sozialsystems ausschließt, dessen Autoritätsstruktur nicht von Männern beherrscht wird und in dem die männliche Aggression sich nicht in Dominanz, Konkurrenzstreben, Status und Macht manifestiert.[9]

Und die Sozialbiologen stehen mit dieser Ansicht durchaus nicht allein da. Obgleich Germaine Greer das Testosteron durchaus nicht für die einzige Erklärung hält, lässt sie keinen Zweifel daran, dass das Endergebnis all dieser embryonalen Interaktionen bemitleidenswert, wenn nicht sogar abstoßend ist. «Ein Mann zu sein», schreibt sie in ihrem neuesten Buch,

bedeutet, eine Art «Idiot savant» zu sein, ein weiser Idiot, besessen von allerlei fetischistischen Aktivitäten und Fantasiezielen, verbohrt in willkürliche Projekte, verdammt zu Konkurrenz und Ungerechtigkeit, nicht nur gegenüber Frauen, sondern auch gegenüber Kindern, Tieren und anderen Männern.[10]

Aber wo sind die Beweise dafür, dass das Testosteron tatsächlich der Schlüssel zu männlicher Aggression und Gewalttätigkeit ist? Das Hormon und seine Metaboliten (für den Stoffwechsel unentbehrliche Substanzen) erklären, warum Männer körperlich im Durchschnitt größer, stärker, schneller und schlanker sind als Frauen, warum sie einen Bart bekommen, warum sie eine tiefere Stimme und schmalere Hüften haben. Außer seiner maskulinisierenden Wirkung haben Testosteron und ihm verwandte männliche Sexualhormone (die man mit dem Sammelnamen Androgene bezeichnet) auch anabolische (Protein bildende) Eigenschaften. Die anabolischen Steroide, die von Sportlern zum Aufbau von Muskelmasse eingesetzt werden, die das Fettgewebe reduzieren und die körperliche Leistung steigern, sind synthetische Derivate von Testosteron. Ihre Funktion besteht darin, die Proteinsynthese zu maximieren und die vermännlichenden Effekte möglichst gering zu halten.

Die anatomische und physiologische Entwicklung der männlichen und weiblichen Sexualität ist verhältnismäßig gut erforscht, und wir können davon ausgehen, dass das Y-Chromosom die genetische Basis der Männlichkeit bildet. Zusammen mit den Hormonen, die seine Gene stimulieren – Testosteron und seine Metaboliten – führt es zur Entwicklung der männlichen Anatomie. Aber ist das alles? Was ist mit den Unterschieden zwischen den Geschlechtern, die nach Überzeugung der Sozialbiologen dadurch entstehen, dass das männliche und das weibliche Gehirn anders verdrahtet sind? Können all die Behauptungen über Männer – dass sie aggressiv sind, streitlustig, gewalttätig, promiskuös und antisozial, dass sie zu Missbrauch und Suchtverhalten neigen – wirklich an dem winzig kleinen Y-Chromosom mit seinen 21 Genen festgemacht werden?

Testosteron und das männliche Geschlecht

Auf den ersten Blick sieht die Beweislage viel versprechend aus für das Argument der Biologen, das Testosteron bewirke die fundamentalen Unterschiede in der Gehirnfunktion der Männer. Die Forschung der letzten dreißig Jahre zeigt, dass die sexuelle Differenzierung des Embryos nicht nur im Bereich der inneren und äußerlichen Geschlechtsorgane stattfindet, sondern auch im zentralen Nervensystem, einschließlich des Gehirns. Der bekannte Neurophysiologe Torsten Wiesel beschreibt das sehr gut:

Die Gene, die die embryonale Entwicklung steuern, formen die Struktur des kindlichen Gehirns; die Erfahrungen des Kleinkinds in der Welt verfeinern dann das Muster der neuralen Verbindungen, die den Gehirnfunktionen zugrunde liegen. Diese Feinabstimmung … geht sicherlich bis ins Erwachsenenalter weiter.[11]

Inzwischen wissen wir, dass die Geschlechts- oder Sexualhormone nicht nur die Anzahl der Gehirnzellen regulieren, sondern auch das Wachstum der Axone und Dendriten, die die Gehirnzellen mit Hilfe von Synapsen oder Kontaktpunkten verbinden, und außerdem bestimmte Rezeptoren im Gehirn. Die von den Geschlechtshormonen eingeleitete sexuelle Differenzierung des Gehirns findet in einer relativ kurzen Entwicklungsphase statt, führt jedoch zu permanenten Veränderungen in denjenigen Teilen des Gehirns, die für diese Hormone empfänglich sind.

Die meisten Untersuchungen zur sexuellen Differenzierung des Gehirns wurden an Labortieren durchgeführt und ergaben hinsichtlich der auf die Rezeptoren einwirkenden Hormone zahlreiche Unterschiede zwischen den Geschlechtern, unter anderem bei der Kopulation, der Geruchsmarkierung, der Vokalisierung und der Partnererkennung. Wenn bei neugeborenen männlichen Ratten beispielsweise Teile bestimmter Gehirnzentren entnommen und neugeborenen weiblichen Ratten eingepflanzt werden, zeigen die erwachsenen weiblichen Tiere männliches Kopulationsverhalten.[12] Bei Singvögeln wurden sexuelle Unterschiede in Gehirnteilen entdeckt, welche die Stimmkontrolle steuern.[13] Außerdem wurde gezeigt, dass weibliche Mäuse und weibliche Rhesusaffen aggressiver werden, wenn man das Gehirn in der Entwicklungsphase einer hohen Dosis zirkulierender männlicher Sexualhormone aussetzt.[14] Die Tierversuche scheinen zu belegen, dass (a) die Verabreichung männlicher Geschlechtshormone an genetisch weibliche Tiere zu einer Entweiblichung und/oder der Entwicklung männlicher Attribute und Verhaltensweisen führt und dass es (b) bei genetisch männlichen Tieren durch die Entnahme der männlichen Sexualhormone in der vorgeburtlichen Phase zu einer Entmännlichung und/oder zu einer Entwicklung weiblicher Attribute oder Verhaltensweisen kommt, wenn diese Tiere das Jugend- und Erwachsenenalter erreichen.[15]

Solche genialen Forschungsergebnisse haben die Biologen dazu verführt, die menschlichen Geschlechtsunterschiede ausschließlich als Ergebnis der Sexualhormone und ihrer Wirkung auf das sich entwickelnde Gehirn zu erklären. Doch der Rückschluss von Tieren auf den Menschen birgt immer Gefahren in sich. Aus ethischen, moralischen und rechtlichen Gründen können an Menschen nicht die gleichen Manipulationen vorgenommen werden wie an Ratten, Hamstern oder Meerschweinchen. Deshalb – und dies ist der wichtigste Kritikpunkt – beschränkt sich jede Interpretation der Beziehung zwischen der Wirkungsweise der Hormone in der pränatalen Phase und der menschlichen Verhaltensentwicklung auf korrelative Zusammenhänge, die nicht als kausal angesehen werden dürfen.

Dennoch haben Wissenschaftler die populäre biologische Theorie der Geschlechterunterschiede im aggressiven Verhalten sehr ernst genommen. Auf Grundlage der bereits erwähnten Tierversuche geht diese Theorie davon aus, dass bei unterschiedlicher Einwirkung der männlichen Sexualhormone (Androgene) das männliche und das weibliche Gehirn unterschiedlich für die aktivierenden Effekte der Androgene sensibilisiert werden und das männliche Geschlecht mit höherer Wahrscheinlichkeit aggressiv reagiert.[16] Jeder weiß, dass Jungen mit Soldaten und Kanonen, Mädchen aber mit Puppen und Puppenwagen spielen, jeder weiß, dass Jungen gerne raufen, während Mädchen sich lieber mit friedlicheren Spielen beschäftigen, in denen häusliche und familiäre Fantasien die Hauptrolle übernehmen.

Was passiert also, wenn weibliche Embryonen oder Kleinkinder aus irgendeinem Grund mit Testosteron in Kontakt kommen? Macht es sie aggressiver? Wird aus einem Mädchen ein typischer Junge, oder kompensiert die Wirkung ihrer Chromosomen und ihrer Erziehung vielleicht die Auswirkungen des Testosterons?

Durch einen seltsamen Unfall bei der medizinischen Behandlung bekam die Wissenschaft Gelegenheit, die Wirkung von Testosteron auf die weibliche Entwicklung zu beurteilen. Etwa zwischen 1940 und 1970 wurden über eine halbe Million Schwangerschaften mit dem nichtsteroiden synthetischen Östrogen Diethylbestrol (DES) behandelt, um bei Frauen mit einer Neigung zu Fehlgeburten einen spontanen Abbruch zu verhindern. Bei Tieren zeigt DES einen ähnlichen Effekt wie die männlichen Geschlechtshormone. Demnach wäre zu erwarten, dass das Verhalten der Mädchen und Frauen die als Embryo dem DES ausgesetzt waren mehr maskuline Charakteristika aufweist. Doch obgleich diese Untersuchungen von denen, die an biologische Ursachen der Aggression glauben, gern herangezogen werden, sind die Befunde bei genauer Betrachtung widersprüchlich und wenig überzeugend. Bei den pränatal dem DES ausgesetzten Frauen gab es keine konsistenten Veränderungen des Geschlechtsrollenverhaltens, obwohl zahlreiche Studien angestellt wurden. Häufig zitiert wird die Studie von Ehrhardt und seinen Kollegen an der Columbia University.[17] Dreißig in der pränatalen Phase dem DES ausgesetzte Frauen wurden mit einer Kontrollgruppe von ebenfalls dreißig Frauen ohne DES verglichen, die nach einer Vorsorgeuntersuchung wegen eines auffälligen Pap-Abstrichs zur Untersuchung an die Klinik verwiesen worden waren. Mit einem halb strukturierten Interview und einer Reihe von Skalen, die stereotypes männliches und weibliches Verhalten messen sollten, wurde das Geschlechterrollenverhalten in der Kindheit, während der Pubertät und im Erwachsenenalter bewertet. Die Ergebnisse, die in einer Vielzahl von Artikeln in renommierten biologischen und medizinischen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden, waren enttäuschend. Alles, was sich zeigen ließ, war ein Hinweis darauf, dass die Frauen, die im Mutterleib dem DES ausgesetzt gewesen waren, als Erwachsene ihren eigenen Kindern gegenüber weniger intensives Elternverhalten an den Tag legten als die Kontrollgruppe. (Man nehme zur Kenntnis, dass unzureichendes Elternverhalten als typisch männlich angesehen wurde!)

Die Natur selbst liefert eine weitere Möglichkeit, die Wirkung der männlichen Hormone auf biologische Entwicklung und Verhalten zu studieren. Bei einer genetischen Störung mit dem Namen Kongenitale Nebennierenhyperplasie (congenital adrenal hyperplasia, CAH) tritt bei Frauen eine Überproduktion männlicher Hormone auf, was zu einer ähnlichen Situation führt wie bei den Embryos, die dem DES ausgesetzt waren. Frauen mit dieser Krankheit sind chromosomal weiblich (sie besitzen beide X-Chromosomen), haben aber aufgrund der erhöhten Androgenproduktion von Geburt an maskulinisierte Genitalien. Wird der Zustand nicht behandelt, haben die erkrankten Kinder eine maskuline körperliche Erscheinung, eine relativ tiefe Stimme und eine vergrößerte Klitoris; in der Pubertät entwickelt sich keine Brust, es kommt zu keiner Menstruation, dafür aber zu einem ausgeprägten Hirsutismus (starke Körperbehaarung). Die Häufigkeit der voll entwickelten Form wird in Europa und den USA auf etwa einen Fall pro 6000 Lebendgeburten geschätzt.

Mehrere frühe Studien schienen zu zeigen, dass CAH-Mädchen in der Kindheit mehr jungenhaftes Verhalten an den Tag legten als ihre Schwestern oder nicht verwandte Kontrollpersonen. Häufig waren sie körperlich aktiver, neigten eher zu Raufereien und Konkurrenz und träumten eher von beruflichem Erfolg als davon, Kinder zu bekommen – alles Dinge, die von den Forschern als Anzeichen einer männlichen Orientierung angesehen wurden.[18] In einer viel zitierten Untersuchung[19] beobachteten Sheri Berenbaum und Melissa Hines das Spielverhalten von Mädchen, die unter CAH litten, und verglichen es mit dem ihrer Geschwister. Wenn man die CAH-Mädchen vor die Wahl stellte, sich entweder mit Autos und Bauklötzen oder mit Puppen und Küchenmöbeln oder mit Büchern und Brettspielen zu beschäftigen, bevorzugten die CAH-Mädchen die stereotyp «maskulinen» Spielsachen, und zwar etwa für die gleiche Zeitspanne wie Jungen einer Kontrollgruppe. Sowohl die CAH-Mädchen als auch die gesunden Jungen unterschieden sich in ihrem Spielverhalten von den gesunden Mädchen.

Es wurde viel Wind um diese Untersuchung gemacht, dabei steckt sie voller Mängel. Zuerst einmal ist das Sample der kranken Mädchen sehr klein. Zweitens weisen die Wissenschaftler selten darauf hin, dass die an CAH erkrankten Mädchen zum größten Teil anatomisch und psychologisch schwer beeinträchtigt sind. In den ersten Lebensjahren haben sie eine penisartige Klitoris und einen Hodensack, was nur durch einen operativen Eingriff geändert werden kann, der natürlich seinerseits nicht ohne Auswirkungen bleibt. Außerdem bleibt die Frage offen, welche Einstellung die Eltern gegenüber ihren kranken Töchtern haben, welche Erwartungen sie an sie stellen. Wie Bleier sehr überzeugend argumentiert,[20] ist es sehr gut möglich, dass die Mädchen, die das so genannte maskuline Verhalten zeigten, auch diejenigen waren, die anatomisch unter den stärksten Beeinträchtigungen litten und demzufolge sich selbst auch am ehesten als Jungen sahen, womit sie in anderen Menschen, einschließlich ihrer Eltern, eher die Erwartung hervorriefen, dass sie sich auch wie Jungen verhalten würden.

In einem anderen seltenen natürlichen Experiment geht es um chromosomale Männer (XY), die aufgrund eines Defekts des Androgen-Rezeptor-Proteins (5a-Reduktase Typ 2) unter einer partiellen Androgen-Unempfindlichkeit leiden und nicht auf normale Mengen Testosteron reagieren. Das Syndrom tritt mitten in der sexuellen Differenzierung des Embryos auf: Das produzierte Testosteron führt nicht zu der normalen anatomisch männlichen Entwicklung, mit der Folge, dass die Kinder mit unvollständig differenzierten Genitalien zur Welt kommen. Da sie gewöhnlich eher weiblich erscheinen, werden sie meist auch als Mädchen erzogen.[21] In diesen Fällen gibt es einen Konflikt zwischen dem Genotypen – das heißt, der Kombination der geerbten Gene, die hier ja auch das Y enthalten – und dem Phänotypen – den beobachtbaren Auswirkungen, die diese Gene auf das Individuum ausüben. Behandlungen mit hoch dosierten männlichen Geschlechtshormonen scheinen die Virilisation und die Sexualperformanz zu verbessern, aber viele Männer lassen sich auch den etwas verformten Penis und die oft vorhandenen, aber versteckten Hoden chirurgisch korrigieren.

Eine der berühmtesten (und ausgiebig untersuchten) Patientengruppen mit diesem Syndrom befindet sich in drei Dörfern im Südwesten der Dominikanischen Republik. Ein Forscherteam von der medizinischen Fakultät der Cornell University und der Pädiatrischen Abteilung der Nationaluniversität der Dominikanischen Republik hat diese männlichen Hermaphroditen ausführlich erkundet, um der Rolle des Testosterons bei der Entwicklung der männlichen Geschlechtsidentität auf die Spur zu kommen.[22] Die Versuchspersonen reagierten sehr eindrucksvoll auf Testosteron, und der Effekt des Testosterons auf die Bildung der Geschlechtsidentität ließ sich sehr gut an ihnen messen. Auf der Basis einer detaillierten Befragung zum bisherigen Leben (als die Wissenschaftler mit den 38 Individuen in Kontakt kamen, hatten sie bereits das Erwachsenenalter erreicht) wurde festgestellt, dass 18 von ihnen als Mädchen erzogen worden waren. Anatomisch waren sie anfangs weiblich gewesen – bei der Geburt hatte der Hodensack ausgesehen wie eine Vagina, die Klitoris war relativ groß und es waren keine Hoden zu erkennen gewesen (bei dieser Störung wandern die Hoden nicht herab, sondern befinden sich in der Bauchhöhle). Während der Pubertät, als das Testosteron endlich eine Wirkung zeitigte, trat eine eindeutige Maskulinisierung ein: Die Stimme wurde tiefer, die Klitoris wuchs auf die Größe eines Penis heran, die Hoden wanderten in den Hodensack. Um diese Zeit wurde den Eltern und den betroffenen «Mädchen» klar, dass etwas nicht stimmte: Die «Mädchen» waren in Wirklichkeit Jungen.

Von den achtzehn als Mädchen aufgewachsenen Versuchspersonen wechselten siebzehn prompt zu einer männlichen Geschlechtsidentität. Die Forscher kamen zu dem recht theoretisch formulierten Schluss: «Wo das Geschlecht der Erziehung anders ist als das vom Testosteron hervorgerufene biologische Geschlecht, setzt sich das biologische Geschlecht durch, wenn man die normale, vom Testosteron verursachte Aktivierung der Pubertät zulässt.»[23] Einfacher ausgedrückt: Die Auswirkungen des Testosterons in der Pubertät sind stärker als die Auswirkungen der Erziehung in Kindheit und Jugend. Diese Befunde dienen dazu, den Triumph des Testosterons über die Erziehung zu illustrieren. Die Befürchtung mancher Eltern, vor allem mancher Väter, dass ihre Söhne durch die Erziehung verweichlicht werden, könnten demnach also beruhigt ad acta gelegt werden.

In den erwähnten Dörfern der Dominikanischen Republik spielen Mädchen und Jungen bis zum Alter von sechs Jahren zusammen, werden dann aber angehalten, sich je nach Geschlecht getrennt zu beschäftigen. Die Mädchen helfen ihrer Mutter im Haushalt, während die Jungen in der Pflanz- und Erntesaison dem Vater zur Hand gehen. Man bestärkt die Jungen, sich außerhalb des Hauses umzusehen; die Mädchen sollen bei der Mutter bleiben oder im Haus spielen. Ab etwa elf Jahren vergnügen sich die Jungen in den Bars und bei Hahnenkämpfen. Die Pseudohermaphroditen waren als Mädchen großgezogen worden, hatten ihrer Mutter geholfen, waren zu Hause geblieben, hatten jungenhafte Aktivitäten gemieden und waren keine Jungenfreundschaften eingegangen, doch als sie die Pubertät erreichten, kehrten sie zurück zur Männlichkeit, und das – so wird behauptet – ohne erkennbare negative Nebenwirkungen. Dass das Testosteron in den frühen Jahren der Entwicklung keine Wirkung zeigte, führte nicht zu nennenswerten physischen oder psychischen Problemen in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter, als das Testosteron korrekt funktionierte. Dieser Befund ist ebenso interessant wie der etwas offensichtlichere – dass Testosteron die Entwicklung der sekundären Geschlechtsmerkmale einleitet, die den Beginn der männlichen Pubertät signalisieren.

Was passiert, wenn man die Testosteronzufuhr drosselt? Die Forschung hierzu beschränkt sich auf den Effekt bei aggressivem und auffälligem sexuellem Verhalten. Es gibt Untersuchungen an verurteilten Sexualtätern, die kastriert wurden[24] oder eine chemische Substanz verabreicht bekamen, die das Testosteron unterdrückt.[25] Eine Anzahl von Studien deutet darauf hin, dass Injektionen der chemischen Substanz, welche die Sekretion von Testosteron hemmt, die Häufigkeit und Intensität sexueller Fantasien und abweichenden Verhaltens reduzieren.[26] Zwar existieren ähnliche Behauptungen über eine geringere Rückfallquote und allgemein sinkende Gewalttätigkeit, aber sie wurden nie mit entsprechenden Erhebungen bei nicht behandelten Fällen verglichen. Auch gibt es Hinweise darauf, dass die Rückfälligkeit bei Pädophilen nach einer so genannten chemischen Kastration sinkt, doch der Wert eines solchen Ansatzes ist durch eine hohe Verweigerungs- und Abbruchrate recht begrenzt. Man würde jedoch erwarten, dass es den Sexualtrieb vermindert, wenn das Testosteron ganz ausgeschaltet wird; diese Frage wird weiter unten erörtert. Allerdings wissen wir, dass Männer, die Frauen und Kinder sexuell missbrauchen und belästigen, keine konsistenten, reliablen und signifikanten Abnormalitäten in der Testosteronsekretion und im Testosteronspiegel aufweisen. Außer dem Testosteron muss also noch etwas anderes im Spiel sein.

Testosteron, Aggression und Dominanz

Wie steht es mit der Verbindung zwischen Testosteron und Aggression? Männer haben mehr Testosteron im Stoffwechsel als Frauen, und sie sind aggressiver.[27] Aber auch Frauen produzieren Testosteron, und auch Männer produzieren Östrogen. Bei Frauen kommt das Testosteron aus der Nebennierenrinde und aus den Eierstöcken. Jeden Tag produziert eine normale Frau etwa 200 Mikrogramm Testosteron und 120 Mikrogramm Östrogen, also ein Testosteron/Östrogen-Verhältnis von 1,6 zu 1. Der normale Mann produziert täglich eine ähnliche Menge Östrogen (100 Mikrogramm), aber eine vergleichsweise sehr große Menge Testosteron – 5100 Mikrogramm pro Tag –, was zu einem Testosteron/Östrogen-Verhältnis von 51 zu 1 führt. Nicht nur haben Männer einen viel höheren Testosteronspiegel als Frauen, er liegt auch noch am höchsten kurz nach der Pubertät und zwischen Anfang bis Mitte zwanzig – wenn das antisoziale und aggressive Verhalten der Männer sich auf dem Höhepunkt befindet.[28] Mit zunehmendem Alter sinkt der Testosteronspiegel der Männer, beginnend zwischen Anfang und Mitte zwanzig.[29] Auch die männliche Libido, Aggressivität und das antisoziale Verhalten nehmen von diesem Zeitpunkt an ab.[30] Doch ehe man nun wie selbstverständlich annimmt, dass das eine das andere verursacht, muss darauf hingewiesen werden, dass der Testosteronspiegel tatsächlich nur geringfügig absinkt. Bis um die siebzig sondert ein Mann im Verhältnis zu seiner Körpermasse große Mengen davon ab.[31]

Testosteron ist notwendig für einen normal ausgeprägten männlichen Sexualtrieb, aber nicht ausreichend. Ohne Testosteron scheinen Männer das Interesse an Sex zu verlieren. Aber die Beziehung zwischen Testosteron und dem Penis ist sehr komplex. Spontane Erektionen, wie sie zum Beispiel nachts auftreten, hängen stark vom Testosteronspiegel im Körper ab. Wenn er niedrig ist, treten sie seltener oder gar nicht mehr auf, bei Injizierung von Testosteron werden sie häufiger.[32] Dagegen scheinen Erektionen als Reaktion auf einen erotischen Reiz unabhängig vom Testosteronniveau aufzutreten.[33] Der Zusammenhang zwischen Testosteron und Aggression ist sogar noch komplizierter.[34]

Mit der Entwicklung einfacherer und zuverlässigerer Methoden zur Testosteronmessung werden aufgrund von Forschungsstudien unterschiedlich fantasievolle und einfallsreiche Behauptungen in die Welt gesetzt. Ein hoher Testosteronspiegel wurde bei Gewaltverbrechern festgestellt, bei besonders aggressiven Eishockeyspielern, bei Kriegsveteranen mit signifikanten Eheproblemen, bei Alkohol- und Drogenabhängigen, bei Männern mit antisozialem Verhalten und Problemen mit dem Gesetz.[35] In einer sehr interessanten Studie wurde der Testosteronspiegel bei vier Ärzten im Alter zwischen 28 und 38 gemessen, die sich zusammen auf einer zweiwöchigen Kreuzfahrt befanden. Man entdeckte eine Korrelation zwischen dem Testosteronspiegel und dem dominanten und aggressiven Verhalten, das von den sich ebenfalls an Bord befindlichen Frauen eingestuft wurde.[36]

Auch der kontroverse und immer häufigere Einsatz von anabolischen Steroiden bei Sportlern bietet Gelegenheit, Licht in die Zusammenhänge zwischen Hormonen und Aggressionen zu bringen. Diese Steroide ähneln dem Testosteron in ihrer pharmakologischen Zusammensetzung und ihrer allgemeinen Wirkungsweise. Der illegale Gebrauch dieser Mittel ist bei männlichen wie bei weiblichen Sportlern zur Stärkung der Muskelkraft, der Ausdauer und der allgemeinen körperlichen Verfassung weit verbreitet; dabei werden viele verschiedene Steroide und Steroidkombinationen verwendet. Beim Missbrauch von anabolischen Steroiden treten erwiesenermaßen heftige Stimmungsschwankungen auf, beispielsweise schwere Depressionen, Euphorie, Gereiztheit und Aggressivität. Harrison Pope und David Katz vom McLean Hospital in Boston liefern mit ihrer Untersuchung von 88 betroffenen Sportlern drastische Beispiele dafür, welche Aggressionen bei Steroid-Missbrauch auftreten können.[37] Ein Mann hatte sich in einem Verkehrsstau geärgert und beschädigte drei Autos schwer, indem er mit den Fäusten und mit einem Metallrohr auf sie einschlug; die Insassen waren völlig verängstigt. Ein anderer wurde festgenommen, weil er in einem Wutanfall bei einer Sportveranstaltung Gegenstände zertrümmerte, wieder ein anderer prügelte seinen eigenen Hund fast zu Tode. Einige der Versuchspersonen berichteten, sie seien schon wiederholt von Eltern, Ehefrauen oder Partnerinnen wegen ihres aggressiven Verhaltens aus dem Haus gejagt worden. Fast alle Sportler verneinten die Frage, ob sie vor dem Steroidmissbrauch vergleichbare Verhaltensweisen gezeigt hatten. Doch das Problematische an dieser wie auch an anderen Studien besteht darin, dass die untersuchten Sportler oft nicht nur anabolische Steroide, sondern auch andere Drogen nehmen, unter anderem Alkohol, Kokain, Opiate, Amphetamine und Halluzinogene. Unklar ist außerdem, in welchem Maß anabolische Steroide aggressive oder reizbare Tendenzen verursachen oder in diesen konkurrenzbewussten und äußerst zielstrebigen Individuen lediglich bestehende Neigungen verstärken. Dennoch gibt es eine wachsende Anzahl von Veröffentlichungen, die die Ansicht untermauern, dass anabolische Steroide, vor allem in hoher Dosierung, ernsthafte Stimmungsschwankungen und Aggressionen hervorrufen können.

Also kann man die Akte nun schließen oder nicht? Testosteron führt zu Aggressionen. So wird die Forschung in den Medien wiedergegeben, so wird sie von Lesern und Zuschauern aufgenommen. Hand in Hand mit dieser Interpretation geht die resignierte Schlussfolgerung, dass alle Versuche, Männer zu zivilisieren, durch den gnadenlosen Imperialismus des Testosterons von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Die vom Testosteron angekurbelte Aggression sorgt für die Geschlechterunterschiede in den gesellschaftlichen Rollen und stärkt dem Patriarchat überall in der Welt den Rücken. Und weil das so ist, müssen wir es entweder akzeptieren oder die Männer mit pharmakologischen Mitteln eliminieren.

Aber die Wirklichkeit ist wesentlich komplizierter. Was diese Untersuchungen beweisen, ist lediglich eine Korrelation zwischen dem Aggressionsniveau und dem Testosteronspiegel. Für eine solche Korrelation gibt es jedoch mehr als eine Erklärung. Sicher, ein erhöhter Testosteronspiegel könnte der Auslöser von Aggressionen sein. Umgekehrt ist aber auch denkbar, dass aggressives Verhalten ein höheres Testosteronniveau verursacht. Möglicherweise ist sogar keines von beiden die Ursache des anderen. Zu allem Überfluss sind die Ergebnisse nicht sehr konsistent. Auf jede Untersuchung, die eine positive Korrelation zwischen aggressivem oder antisozialem Verhalten und Testosteron findet, kommt eine andere, in der kein solcher Zusammenhang festgestellt wird. Beispielsweise gibt es Studien über normale Jungen,[38] kriminelle Jungen[39] und hoch aggressive präpubertäre Jungen,[40] die keinerlei Zusammenhang zwischen Testosteron und aggressivem Verhalten nachweisen konnten. Am wichtigsten jedoch ist, dass es keinen Beweis dafür gibt, dass Männer mit einem normalen Testosteronspiegel aggressiver oder gewalttätiger werden, wenn man ihnen Testosteron in hohen Dosierungen verabreicht.[41]

Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass aggressives Verhalten oder die Erwartung eines drohenden Konflikts oder einer Konkurrenzsituation zu höheren Testosteronwerten führen könnte? Ein groß angelegter Überblick über den derzeitigen Forschungsstand, den Allan Mazur von der Syracuse University und Alan Booth von der Penn State University durchführten, dokumentiert eine beträchtliche Anzahl von wissenschaftlichen Ergebnissen, die einen solchen Zusammenhang bestätigen.[42] Beispielsweise konnte gezeigt werden, dass bei Sportlern der Testosteronspiegel vor einem Spiel wie unter Erwartungsdruck ansteigt.[43] Möglicherweise befähigt dieser Anstieg das Individuum, Risiken einzugehen und außerdem die Koordination, die kognitive Performanz und die Konzentration zu verbessern. Außerdem ließ sich nachweisen, dass der Testosteronspiegel bei Gewinnern höher liegt als bei den Verlierern.[44] Andere Studien über nichtkörperliche Wettbewerbssituationen zeigen ähnliche Ergebnisse. Beispielsweise steigt der Testosteronspiegel vor einem Schachspiel und ist danach bei den Gewinnern höher als bei den Verlierern.[45] Selbst beim passiven Zuschauer kann es zu Veränderungen im Testosteronwert kommen. Nach dem Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 1994 (Brasilien besiegte Italien im Elfmeterschießen) stieg der Testosteronspiegel bei brasilianischen Fans, die das Spiel im Fernsehen gesehen hatten, während er bei den italienischen Fans sank![46]

Noch signifikanter ist die Forschung an Männern, die mit einer symbolischen Herausforderung oder einer Beleidigung konfrontiert wurden. Hier zeigt sich die Komplexität der Rolle des Testosterons bei aggressivem Verhalten sehr deutlich. Erwiesenermaßen finden es Leute in den Südstaaten der USA eher gerechtfertigt, einen anderen Menschen zu töten, um das eigene Heim zu schützen. Südstaatler nehmen an Beleidigungen eher Anstoß und halten Gewalt für eine angemessene Reaktion. Außerdem geben sie eher zu, dass sie ihren Kindern raten würden, ein anderes Kind, das sie schikaniert, zu schlagen, statt die Sache mit dem Peiniger auszudiskutieren.[47] In einem sehr einfallsreichen Experiment wurden Collegestudenten in einem engen Korridor von einem Versuchsleiter geschubst und beschimpft. (Die Studenten hatten sich freiwillig bereit erklärt, an der Untersuchung teilzunehmen, wurden aber nicht vorgewarnt oder genauer informiert.) Nordstaatler neigten dazu, den Vorfall zu ignorieren. Südstaatler dagegen nahmen die Sache nicht auf die leichte Schulter. Nach dem Vorfall stieg der Testosteronspiegel der Südstaatler beträchtlich an, der der Nordstaatler nicht.[48]

Dann fügten die Forscher eine weitere Variable ein. Mitten auf dem Korridor näherte sich den Studenten drohend ein massiv gebauter Typ. Südstaatler, die nicht beleidigt worden waren, machten Platz, wenn die einschüchternde Gestalt knapp drei Meter von ihnen entfernt war. Solche, die beleidigt worden waren, ließen sie bis knapp einen Meter an sich herankommen, ehe sie auswichen. Allem Anschein nach waren die beleidigten Südstaatler noch in Streitlaune, selbst wenn sie einem Menschen gegenüberstanden, der ihnen körperlich unzweifelhaft überlegen war. Wann die Nordstaatler auswichen, wurde nicht davon beeinflusst, ob sie zuvor beleidigt worden waren oder nicht.

In anderen Studien konnte gezeigt werden, wie stark soziale oder kulturelle Faktoren den Zusammenhang zwischen Testosteron und Aggression modifizieren und verändern. Unter den Veteranen der US-Armee mit einem hohen sozioökonomischen Status lag beispielsweise die Wahrscheinlichkeit für Probleme mit antisozialem Verhalten oder übermäßigem Drogenkonsum bei denjenigen mit einem hohen Testosteronniveau nicht höher als bei ihren Kameraden mit normalen Testosteronwerten.[49] Unter den Veteranen mit niedrigem sozioökonomischem Status jedoch war die Wahrscheinlichkeit für derartige Probleme bei den Männern mit einem hohen Testosteronwert fast doppelt so hoch wie bei ihren Kameraden. Dov Cohen, ein führender Wissenschaftler auf diesem Fachgebiet, sieht eine plausible Erklärung darin, dass es in einer Umwelt mit geringerem sozioökonomischem Status «eher Gefahren und Auslöser für Schwierigkeiten gibt und dass die Menschen mit höherem T (Testosteron) den Ärger auf sich ziehen.»[50]

Solche Studien unterstützen die Hypothese, dass sich aggressives und gewalttätiges Verhalten nicht allein durch das Testosteron erklären lässt. Für ein «normales» Aggressionsniveau ist tatsächlich ein «normaler» Testosteronspiegel notwendig, aber wenn man die Testosteronmenge im Blut innerhalb der normalen Bandbreite verändert, beeinflusst dies nicht das Niveau des aggressiven Verhaltens. Führt man große Mengen Testosteron zu (und es muss wirklich sehr viel sein!), wird das aggressive Verhalten zwar verstärkt, aber selbst dieser Zusammenhang ist nicht so einfach, wie es vielleicht klingt. Robert Sapolsky beschreibt in einem ausgesprochen klugen und geistreichen Aufsatz ein Experiment mit einer Gruppe von Affen. Man ließ den Tieren Zeit, damit sich die übliche Hierarchie von Dominanz und Unterwerfung einpendeln konnte. Dann wurde einem von ihnen eine massive Dosis Testosteron injiziert. Erwartungsgemäß wurde der Affe aggressiver, aber nicht etwa willkürlich. Den Affen gegenüber, die ihm vor der Injektion überlegen gewesen waren, verhielt er sich weiterhin unterwürfig, aber zu den Affen, die in der Hackordnung unter ihm standen, wurde er geradezu unerträglich aggressiv. Sapolsky fasst die Situation so zusammen: «Testosteron verursacht nicht Aggression, es übertreibt nur die bereits vorhandene Aggression.»[51] Und er fährt fort:

Studie um Studie hat gezeigt, dass der Testosteronwert nichts darüber aussagt, wer in einer neu zusammengestellten sozialen Männergruppe aggressiv sein wird. Die anschließenden Verhaltensunterschiede steuern die hormonellen Veränderungen, nicht umgekehrt.[52]

Argumente, die das vielschichtige und komplizierte Verhaltensmuster, das wir Aggression nennen, dem Anstieg oder der Verminderung eines einzigen Hormons, des Testosterons, zuschreiben, sind extrem verführerisch, und zwar deshalb, weil wir uns dann nicht um so komplizierte Dinge wie Waffenkontrolle, Entfremdung der Jugend, Zerstörung der Familie, soziale Vereinsamung und Armut kümmern müssen, wenn wir die Gewalt in einer Gesellschaft bekämpfen wollen. Stattdessen können wir uns einfach auf die chirurgische oder pharmakologische Manipulation eines einzelnen Hormons oder einer Hormongruppe konzentrieren. Auf einmal sind Aggression und Gewalt keine politischen und sozialen Probleme mehr, sondern lediglich eine biochemische Herausforderung. Wie viel leichter ist es dann – politisch gesehen –, darüber zu sprechen! Vergleichen wir doch nur die Klarheit der falschen Behauptung («Testosteron ist die Ursache für Aggression») mit der Komplexität der Wirklichkeit («Testosteron und aggressives Verhalten sind in einem zirkulären Zusammenhang miteinander verbunden, in dem aggressives Verhalten zu einem erhöhten Testosteronspiegel führen kann und umgekehrt»). Aus der ersten Behauptung eine Schlagzeile für ein Boulevardblatt zu konstruieren braucht wenig Fantasie, im zweiten Fall müsste man dafür schon beinahe ein Genie sein.

Zudem gibt es natürlich noch das Problem, was wir eigentlich mit Aggression meinen. Für Mazur und Booth handelt ein Individuum dann aggressiv, wenn seine eindeutige Absicht darin besteht, einem Mitglied seiner Spezies körperlichen Schaden zuzufügen. Sie unterscheiden zwischen aggressivem und dominantem Verhalten. Das Verhalten eines Individuums gilt für sie als dominant, wenn seine eindeutige Absicht darin besteht, einen hohen Rang in der Hierarchie seiner Spezies zu erreichen oder zu behalten – das heißt Macht, Einfluss oder Privilegien.[53] Die aggressiven Korrelate des Testosterons sind schon seit 1849 bekannt, als Berthold ein paar Kapaunen die Hoden von Hähnen einpflanzte, worauf die Kapaune «lustig krähten, oftmals miteinander und mit anderen Hähnen Kämpfe austrugen und die für ihre Art übliche Reaktion Hühnern gegenüber an den Tag legten».[54] Mazur und Booth zeigen, dass eine solche direkte Verbindung zwischen Aggression und Testosteron für viele Tierarten zutreffen mag, für menschliche Wesen jedoch entschieden zu simpel ist. Aggressives Verhalten ist eindeutig kein einfaches Verhalten, und aller Wahrscheinlichkeit nach hängen Veränderungen im Testosteronspiegel nur mit einzelnen Aspekten zahlreicher Verhaltensformen zusammen.

Was bedeutet nun also Dominanz? Mazur und Booth definieren sie als eine Handlung, die den eigenen Status erhöhen soll. Sie definieren die zentralen Elemente mit Begriffen wie «mächtig, gebieterisch, autoritär, kontrollierend, herrisch, aufwärts strebend». Dabei konzentrieren sie sich auf das Wettbewerbsverhalten, bei dem ein Individuum auf Kosten der anderen den Sieg davonträgt. Im Zentrum der Dominanz liegt der Wunsch, die Ansichten oder Handlungen der Artgenossen zu verändern, und die Bereitschaft, Verhaltensweisen zu zeigen, die eine solche Veränderung herbeiführen. Die neuseeländische Sozialforscherin Valerie Grant fügt hinzu, dass das dominante Individuum nicht bereit ist, eigene Meinungen oder Verhaltensweisen nur deshalb zu ändern, weil sein Gegenüber dies möchte (das heißt ohne Erklärung).[55] Manchmal ziehen andere auch einen Nutzen aus dem Dominanzstreben eines Einzelnen, beispielsweise wenn ein starker Anführer nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Anhängern hilft. Altruistische Helden und Heldinnen helfen ihren Mitmenschen. Jede Handlung, die bei anderen Hochachtung hervorruft, kann den Betreffenden dominant machen. Natürlich müssen Männer, die dominieren wollen, nicht unbedingt auf aggressive Verhaltensweisen zurückgreifen, um ihr Ziel zu erreichen. Vielleicht reichen ihre Redegewandtheit, ihre manipulativen Fähigkeiten und die bloße Androhung von Gewalt. Wie wir gesehen haben, gibt es nun zwar Hinweise darauf, dass Testosteron die menschliche Aggression – das absichtliche Zufügen eines körperlichen Schadens – nicht verursacht,[56]