Männliche Erotik -  - E-Book

Männliche Erotik E-Book

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Beschreibung

Weg von phobischem Narzissmus und dem Recht des Stärkeren hin zu Empathie und Ambiguitätstoleranz! Dies ist die Vision für eine neues Verständnis männlicher Erotik. Eros, der schönste aller männlichen Götter, – aus psychoanalytischer Sicht die vermittelnde Funktion zwischen Trieb und Objekt – ist in der Krise. Im Angesicht globaler Problemstellungen ist die Auseinandersetzung mit einem neuen Konzept von Männlichkeit essenziell, um eine neue, gerechtere Gesellschaft zu schaffen. Dabei gilt es, Widerstände weit verbreiteter Abwehrmechanismen und starre Konstrukte der bestehenden binären Geschlechterordnung zu überwinden. Der von Matthias Franz und André Karger herausgegebene Band beleuchtet philosophische, politische und psychologische Facetten einer möglichen neuen Männlichkeit. Themen sind u.a. familiäre Trennung, seelische Gesundheit, repressive männliche Sexualität, institutionell verankerter Missbrauch, AIDS, Erotik im Alter.

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Matthias Franz / André Karger (Hg.)

Männliche Erotik

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 5 Abbildungen und 3 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: S. Pietrek

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99463-5EPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Inhalt

Vorwort

Matthias Franz und André Karger

Erotik und Übergriff: Siamesische Zwillinge?

Klaus Theweleit

Männliche Erotik aus psychoanalytischer Sicht

Ilka Quindeau

Facetten männlicher Lustlosigkeit und ihre Bedeutung in Therapie und Beratung

Guido Schneider

Erotische Ver(w)irrungen oder Machtmissbrauch?

Andrea Schleu

Männliche Erotik im Alter

Eike Hinze

»Object Love«: Die Erotik der Verdinglichung in Liebesbeziehungen

Beate West-Leuer

Formen männlicher Erotik in Alfred Hitchcocks Filmen

Dirk Blothner

Prävention sexueller Traumatisierungen

Klaus M. Beier

Perspektivenwechsel: Der weibliche Blick auf die männliche Erotik

Inge Seiffge-Krenke

Die Selbstinszenierung von Männern in der Erotik – Evolution, Kultur und die Zukunft der Männlichkeit

Michael Klein

Blanker Spaß? Männliche Homosexualität in Zeiten von PrEP und TasP

Steffen Heger

Die Wahl der Waffen: Männliches Begehren zwischen Gewalt und Verführung

Thomas Junker

Die Herausgeber

Die Autor*innen

Vorwort

Matthias Franz und André Karger

Das Thema dieses Buches und dessen Relevanz erschließt sich nicht unbedingt sofort. Man kann sich angesichts der bedrückenden Großlagen im Zusammenhang mit Klima und ökologische Krisen, Armut, Migration, interkulturellen Konflikten, sozialen Spannungen und nun auch noch COVID-19 und Krieg in Europa schon wirklich fragen: Warum jetzt Erotik und dann auch noch männliche Erotik? Ist das nicht ein zu kleines Karo – auch angesichts der brisanten Themen, mit denen sich diese auf unseren Männerkongressen basierende Buchreihe über die Jahre hin beschäftigt hat?

Es ging uns bisher um durchaus Bedeutsames: um das neue Bild von Männlichkeit, um familiäre Trennung, seelische Gesundheit bei Jungen und Männern, um die Polarität von männlicher Sexualität und Bindung und den Zusammenhang von Macht und hegemonial-repressiver Männlichkeit in gesellschaftlichen Krisensituationen.

Und nun männliche Erotik? Dazu ein paar hinführende Worte aus psychoanalytischer Sicht, die dieses Thema in seiner Bedeutung erschließen sollen. Natürlich ist der Eros in Gestalt des triebtheoretischen Libidobegriffs, das sinnliche Begehren des oder der Einen und das werbende Verführen um die oder den Anderen, also der objektgerichtete Triebimpuls, seit je Gegenstand psychoanalytischer Betrachtung. Dabei werden alle Spielarten der Libido bis hinein in sublime soziale Aktivitäten oder gerichtet auf Triebziele, die manchmal als solche kaum noch zu erkennen sind, als Abkömmlinge des Sexualtriebes aufgefasst.

Philosophische Versuche, den Eros, der unter großen Versprechen auf die triebhafte Vereinnahmung des oder der Begehrten abzielt, von der freundschaftlichen Liebe, der »philia«, oder der selbstlosen Zugeneigtheit, der »agape«, abzugrenzen, werden in psychoanalytischen Kreisen bekanntlich eher belächelt. Diese Tarnkonstrukte mit fraglichem Abwehrcharakter werden zumindest aus triebtheoretischer Sicht illusionslos als sexuell triebhafte Natur identifiziert. Dieser vielleicht etwas monomanen und aus bindungswissenschaftlicher Perspektive mittlerweile auch wohl überholten Sicht entspricht das antike Konzept des Gottes Eros allerdings aber durchaus.

Eros entstammt dem von der Nacht erzeugten Urei als erster und schönster der Götter. Alle Menschen und Götter sind seiner Macht und Leidenschaft unterworfen. Er wirkt zwischen seinen Geschwistern, dem Seienden (personifizert mit Gaia) und dem Nichts (personifiziert mit Erberos, Nyx und Tartaros). Aus evolutionsbiologischer Sicht wird das erotische Begehren angesichts von Schmerz, Krankheit, Überlebenskampf, Heterophagie und Sterbenmüssen manchmal als das einziges Geschenk der Natur an den mit Todesbewusstsein geschlagenen Menschen bezeichnet. »Es ist der Wahn des Individuums für sein [geschlechtliches] Wohl zu sorgen, während es unbewußt dabei die Zwecke der Gattung verfolgt« – so drückt es Schopenhauer aus.

Dabei übernimmt der Eros aus psychoanalytischer Sicht eine vermittelnde Funktion zwischen Trieb und Objekt, auf das der Trieb angewiesen ist, wenn das Triebziel erreicht werden soll. Mit einem gestuften Erregungsversprechen scheint sich der männliche Eros dem Objekt zu nähern: Ich bin anziehend und stehe zur Verfügung. Schau – du kannst, wenn du willst, deinen Schautrieb an mir befriedigen. Durch diese erotische Offerte während des Flirts wird das Objekt attrahiert und vielleicht selber erregt – also gleichzeitig als Objekt adresssiert, ohne dass dies explizit wird.

Es folgt das Versprechen sexueller Wunscherfüllung. Der Eros tarnt sich gewissermaßen als Erfüllungsgehilfe der sexuellen Erregung und Bedürftigkeit des Objekts und erzeugt in ihm die Illusion nicht nur ein begehrtes Objekt sondern begehrendes und handelndes Subjekt zu sein. Im Falle der heterosexuellen Variante des männlichen Eros kommt als drittes Versprechen dazu: Ich weiß um deinen Kinderwunsch und du kannst ihn mit mir erfüllen, nur dafür bin ich jetzt da. Das Objekt wird also letztlich vom Geschlechtstrieb und seinem verführerischen Botschafter Eros genutzt und durch die manipulative Illusion – es ginge ja nur um die Erregung und Befriedigung des Objekts – verführt, wenn man es wieder mit Schopenhauer etwas skeptisch fassen möchte.

Also: Du kannst deine Schaulust an mir befriedigen, durch mich deine sexuelle Lust erleben und mit mir deinen Kinderwunsch erfüllen. Nach dessen Erfüllung hat der Eros bekanntlich für eine Weile ausgespielt, sein Ziel ist aus evolutionsbiologischer Sicht zunächst einmal auch erreicht. Denn mit dem eskalierenden Dreiklang erotisches Schauen, sexuelle Befriedigung und Erfüllung des Kinderwunsches dient der Eros den transpersonalen Zielen der Evolution und der Arterhaltung. Damit das niemand zu schnell merkt, blendet Eros mit seiner Erscheinung und verschießt betäubende, zuweilen aber auch schmerzende Pfeile.

Das schon erwähnte Geschenk der Evolution an den Menschen besteht darin, dass er den erotischen Prozess der Objektwahl normativ kultivieren, empathisch ritualisieren und individuell raffinieren, ja sogar genießen darf. Das energetische und zeitliche Investment unserer Spezies in die Nachkommenschaft ist offensichtlich so groß, dass dieses Geschenk schon ebenfalls sehr groß ausfallen musste, um uns zu diesem Investment zu bewegen.

Amüsant ist in diesem Zusammenhang, dass wir den im Codex unserer DNA verschrifteten Vertrag zwischen Evolution und unserer Spezies inzwischen endokrinologisch durchschaut und pharmakologisch entkoppelt haben – mit der erheblichen Folge, dass Eros – sehr zum Missfallen der Evolution aber auch religiöser Gruppen – nun seine Pfeile häufig vergeblich schießt.

Gratifikation ja, Investment nein. Klinisch besonders eindrucksvoll ist diese Programmatik zu beobachten im Erleben nicht weniger, häufig vaterlos aufgewachsener Männer, die sich aufgrund aversiver kindheitlicher Erfahrungen mit mütterlicher Abhängigkeit bewusst oder unbewusst vor der erneuten Abhängigkeit von einer im Erleben dieser Männer nur auf ihre Triebziele hin arbeitenden Frau fürchten. Für diese Männer ist der Schritt von der Empfängis zum Gefängnis ja bekanntlich nicht sehr groß. Männer, die sich aus diesen Gründen sterilisieren lassen, sind übrigens für viele Frauen erotisch nicht mehr ganz so interessant.

Ein Weiteres noch aus psychoanalytischer Sicht: Die im erotisch adressierten Gegenüber, also im Objekt, mit wachsender triebbestimmter Nähe auch entstehenden Ängste vor einem mit kindlichen Konfliktthemen verschränkten Autonomieverlust und unheilvoller Abhängigkeit und Verletzlichkeit einerseits und dann auch vor der in genau diese Abhängigkeit führenden, wachsenden eigenen sexuellen Erregung andererseits – diese triebbezogenen Ängste hegt der Eros durch ein Sicherheitsversprechen ein: Es geschieht nur, was auch du selber willst. Reife Erotik hat trotz oder gerade wegen der letztlich intendierten Vereinnahmung des Objekts deshalb immer auch dessen Bedürfnisse und Ängste im Auge. Die Grenze zur Ängstigung oder gar Beschädigung des Objekts wird nicht überschritten. Dieses empathische Sicherheitsversprechen reifer (männlicher) Erotik bei der Annäherung an das Objekt erinnert in diesem Punkt an die ebenfalls an die Grenzen – aber nicht darüberhinaus (!) gehende – väterliche Spielfeinfühligkeit, eine vielleicht akzentuiert männliche Modalität der Objektbeziehung.

Die erotische Fata Morgana, die dem Objekt vorspiegelt, es ginge ja eigentlich um dessen Wünsche, ähnelt in gewisser Weise auch dem Traum, der ja bekanntlich ebenfalls eine wunscherfüllende Funktion für den Träumer hat. Nur hat die erregende Anspielung des verführenden Eros auf die triebhaften Wünsche des Objekts in gewisser Weise parasitären Charakter, da die Erregung des Objekts hier von außen angestoßen wird. Erotisch attraktiv für das Objekt wird der erregende Eros, indem er die Triebwünsche des Objektes identifiziert und mit ihnen spielt, sich ihnen gewissermaßen als Erfüllungsgehilfe anbietet.

Das erfordert intuitive Empathie für die Wünsche aber auch die Ängste des oder der Anderen, so dass der Eros sich dem Objekt und dessen Triebwünschen seinerseits als Objekt anbietet und begehrenswert macht. Das Begehren des einen wird zum Wunsch der oder des anderen, eine erstaunliche Manipulation. Das Tröstliche an der erotischen Verwirrung ist, dass die Inanspruchnahme des Objekts im besten Falle wechselseitig erfolgt.

Dass diese Manipulation zum großen Teil unbewusst vor sich geht, wird zum Beispiel daran deutlich, dass Verliebte voneinander träumen oder dass wir etwas ratlos vom erotischen Zauber sprechen, der vom erotischen Verführer, dem Charmeur und seinen Signalen ausgehe. Wir finden ihn bezaubernd, weil wir nicht bewusst verstehen, wie er sich in unsere geheimen Wünsche und Träume, auch in die von einer unbeschädigten Kindheit einfühlt, sie zum Leben erweckt und sie sich zu eigen macht. Und auch wir Psychoanalytiker*innen als Spezialist*innen für das trieb- und affektgesteuerte Unbewusste kommen manchmal etwas schwerfällig daher, wenn wir versuchen die Vorgänge zu entwirren, die sich um Verführung und Verliebtheit entspinnen.

Ein zentraler Aspekt des erotischen Werbens um das Objekt besteht also in dessen Be-Lustigung und Ent-Ängstigung hinsichtlich seiner Trieb- und der damit unmittelbar zusammenhängenden Abhängigkeitsängste. Durch dieses erotische Sicherheitsversprechen, durch diese kollusive Abwehroperation kann sich im Objekt selber eine erregte Triebhaftigkeit entfalten.

Da dessen Triebimpulse nun seinerseits ebenfalls auf das andere erotisch verführerische Objekt gerichtet sind, das zur Erlangung des Triebzieles erforderlich ist, ist das dadurch gegebene Moment der Abhängigkeit wie erwähnt aber leicht auch bedrohlich. Je schlimmer oder je traumatischer die kindlichen Vorläufererfahrungen mit Abhängigkeit waren, um so bedrohlicher die mit sexueller Erregung wieder spürbaren Trieb- und Abhängigkeitsängste. Der werbende Eros mildert diese Bedrohlichkeit, indem er dem Objekt die narzisstische Illusion vermittelt, es selber bestimme die erregenden Abläufe und es geschehe alles nach seinem Willen. Hierdurch wird das libidinöse Objekt des Eros zum narzisstischen Subjekt, zum entfesselten Akteur, und das verführerische erotische Subjekt zum Selbstobjekt des verführten Objektes.

Im erotischen Idealfall, wenn man ihn einmal versuchsweise als denkbar annehmen möchte, eskalieren diese Vorgänge empathie- und triebgesteuert in wechselseitiger Hingabe und Aneignung, in Eindringen und Empfangen, um das evolutionäre Ziel unter den kulturell gesetzten Rahmenbedingungen sicher zu stellen.

Insofern Erotik immer auch die Entfaltung der sinnlichen Erregung und die Einhegung der Ängste des anderen im Blick hat, wird vielleicht deutlich, dass reife Erotik ohne – sagen wir – erregte Empathie nicht denkbar ist. Ohne sie wird die sexuelle Begegnung zur narzisstischen Vereinnahmung des nicht existenten Anderen.

Und damit wären wir dann doch wieder bei den großen, eingangs erwähnten global bedrohlichen Großlagen, die uns alle umtreiben. Auch diese werden sich nicht bewältigen lassen, wenn es an Empathie für den Anderen, die Anderen, ja auch für die Natur und die Biosphäre mangelt. Vielleicht beinhaltet männliche Erotik ja auch den Aspekt empathischer Schutzbereitschaft?

Beim Rundblick durch die politische Weltarena kann man den Eindruck bekommen, dass es derzeit diesbezüglich, und insbesondere was die männlichen Akteure angeht, leider nicht sehr erotisch zugeht. Aber trotzdem – ohne heute möglicherweise überholte Stereotypen zu bemühen: Empathische Schutzbereitschaft ist vielleicht etwas, was Männer – neben den bekannten Schlüsselreizen – auch erotisch interessant macht.

Das binäre Konzept der Geschlechteridentität weiter zu entwickeln ist sicher auch im Bereich der Erotik eine Herausforderung. Polare Realitätskonzepte im Sinne traditioneller Stereotypen und die obsessiv-aggressive Propagierung solcher Spaltungsmanöver sind fast immer ein Anzeichen dafür, dass tiefgründige Ängste vor Fragmentierung und traumatischen Reaktualisierungen mit den entsprechenden Verlust- und Identitätsängsten in Schach gehalten werden sollen. Die Entwicklung weg vom Konzept der exklusiven Männlichkeit – verbunden mit patriarchalischer Dominanz, phobischem Narzissmus, dem Recht des Stärkeren – hin zu einer inklusiven Männlichkeit – gekennzeichnet durch Empathie, spielerische Integration alteritärer Facetten von Sexualität sowie Ambiguitätstoleranz – ist allerdings ein zivilisatorisches Projekt, das erhebliche Zeiträume – möglichst ohne Unterbrechungen durch kollektive Großkatastrophen – benötigen und auf erhebliche Widerstände stoßen wird, weil immer noch so viele Menschen unter uns leben, die aus traumatischen kindheitlichen Erfahrungen heraus eine Tendenz zur Spaltungsabwehr haben (müssen). Die in Teilen doch sehr deutliche paranoide Regression großer Bevölkerungsanteile angesichts der Corona-Pandemie illustriert die Zusammenhänge sehr eindrucksvoll.

Also – was kann Erotik und schon gar männliche Erotik bewirken? Wie wirkt sie? Und wo wirkt sie und wo nicht? Wo fängt sie an und wo hört sie auf? Welche Wege geht sie und auf welche Abwege gerät sie? Wie lässt sie sich aus psychoanalytischer, therapeutischer und kulturwissenschaftlicher Sicht beschreiben? Diesen Fragen gehen die Autorinnen und Autoren dieses Buches nach.

Klaus Theweleit eröffnet einen psychohistorischen Rückblick auf die Legierung männlicher Erotik und Sexualität mit aggressiver Eroberung, Gewalt und Übergriff. Aus seiner Sicht kann von (galanter) männlicher Erotik jenseits von einengenden gesellschaftlichen Restriktionen und Rollen erst seit etwa 100 Jahren und seit der sexuellen Revolution vor 50 Jahren gesprochen werden. Standen diese neuen Freiheiten damals zunächst nur den heterosexuell orientierten Männern und Frauen zur Verfügung, erfordern aktuelle Entwicklungen die Integration auch vieler anderer Sexualitäten und perspektivisch die sich heute anbahnende Transformation des binär heterosexuellen Konzeptes von Erotik und Sexualität. Der Autor geht auf diesen Prozess ein, auf die hierdurch ausgelösten Ängste aber auch auf den möglichen zivilisatorischen Gewinn.

Auch in der Psychoanalyse geht die Theorie der männlichen Sexualität nach wie vor davon aus, dass sich Männlichkeit in Abgrenzung von Weiblichkeit konstituiert und erst sekunär die Integration weiblicher Anteile stattfindet. Dagegen entwickelt Ilka Quindeau mit Rückgriff auf Freud das Konzept einer konstitutionellen Bisexualität für beide Geschlechter, bei dem »männlich« und »weiblich« nicht unvereinbar nebeneinander stehen, sondern ein Spektrum entfalten. Für Männer bedeutet dies, in der Phantasie und in den Spielformen der reifen Sexualität einen Übergangsraum zu entwickeln, in dem die eigene Bisexualität angstfrei erfahren werden kann.

Guido Schneider geht in seinem Beitrag auf die allseits beklagte männliche Lustlosigkeit und ihre Bedeutung in Therapie und Beratung ein. Der Autor plädiert dafür, Lustlosigkeit nicht einfach nur als Vermeidung von Überforderung oder defizitär zu betrachten. Der Umgang mit Lustlosigkeit im Beziehungssystem des Paares erfüllt, teils kreativ, teils destruktiv, unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen im Spannungsfeld zwischen Macht und Ohnmacht. Wird diese beziehungsregulative Funktion von Lustlosigkeit in therapeutischen Kontexten außer Acht gelassen, führe dies nicht selten zu zähen, langwierigen und für alle Beteiligten demotivierenden Therapieverläufen. Demgegenüber stellt der Autor Perspektiven und Herangehensweisen im paar- und einzeltherapeutischen Setting dar, die diese unterschiedlichen Bedeutungen aufgreifen.

Sexuelle Übergriffe geschehen meist von Psychotherapeuten gegenüber Patientinnen und kommen regelmäßig in Psychotherapien vor. Andrea Schleu gibt einen Überblick über die wissenschaftliche Befundlage und stellt eigene Ergebnisse aus Befragungen von betroffenen Patientinnen vor. Hiernach sind erotische Verwirrungen und Verwicklungen, die von den Therapeuten angegeben werden, meist vordergründig und kaschieren nur die tieferliegenden narzisstischen Motive, bei denen es um Machtmißbrauch eingebettet in tradierte überhöhte Männlichkeitsvorstellungen geht.

Eike Hinze widmet sich dem Thema der männliche Erotik im Alter. Vor dem Hintergrund seiner langjährigen Erfahrungen in psychoanalytischen Behandlungen mit älteren Männern geht der Vortragende der Frage nach, wie sich die männliche Erotik im Alter entwickelt, und zeichnet ein differenziertes Bild diesseits der Extremstereotypen des asexuellen und des grenzüberschreitenden alten Mannes.

Sexuelles Begehren enthält neben den libidinösen immer auch aggressive Anteile. Dabei unterliegen die aggressiven Anteile oft einer Verdrängung und sind scham- sowie schuldbesetzt. Beate West-Leuer veranschaulicht dies anhand zweiter literarischer Beispiele, Goethes Gedicht vom »Heidenröslein« sowie das Gedicht »Wenn du schläfst« vom »Rammstein«-Sänger Till Lindemann. Dabei leistet (erotische) Literatur, oder allgemeiner das Imaginäre (Phantasie, Traum, Literatur etc.), die Zivilisierung des sexuellen Begehrens, in dem es Libidinöses und Aggressives im Erotischen darstellt und verbindet.

Der Beitrag von Dirk Blothner stellt einige der eindrücklichsten Filmausschnitte aus dem Werk Alfred Hitchcocks zusammen und beschreibt, in welchen Formen männliche – und natürlich auch weibliche – Ausdrucksformen von Sexualität dort zu beobachten sind. Dabei wird auch dargelegt, wie es dem Regisseur gelungen ist, das Publikum zu aktiven Mitspieler*innen bei den von ihm gestalteten erotischen Filmmomenten zu machen. Der Autor zeigt aus psychoanalytischer Sicht auch auf, wie verwoben persönlich-biographische Aspekte Hitchcocks mit den erotischen Themen und Konflikten seiner Hauptcharaktere sein können.

Harald Dreßing widmete sich 2019 in einem Beitrag im Deutschen Ärzteblatt1 dem Ausmaß und den Folgen sexueller Gewalt durch katholische Kleriker. Sexueller Missbrauch im institutionellen Kontext der katholischen Kirche zeichnet sich hinsichtlich der Täter, der Tatkontexte und der Betroffenen durch einige Besonderheiten aus, die vor dem Hintergrund der MHG-Studie2, die die Thematik des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen im Kontext der 27 Diözesen in Deutschland untersucht hat, referiert werden. Dabei geht es um die Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, die Merkmale der Missbrauchstaten sowie der Beschuldigten- und Betroffenengruppen und die spezifischen Strukturen innerhalb der katholischen Kirche, die das Geschehen möglicherweise begünstigen. Da der Verleger dieses Beitrags den Abdruck in diesem Band nicht autorisierte, können wir an dieser Stelle lediglich auf die Quelle in der Fußnote verweisen.

Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist ein verbreitetes und anhaltendes gesellschaftliches Problem, welches mit erheblichen gesundheitlichen Schäden für die Betroffenen einhergeht. 40–50 % der Männer, die sexuelle Übergriffe auf Kinder oder Jugendliche begehen, haben eine pädophile Sexualpräferenz, die einen der bedeutensten Risikofaktoren darstellt. Klaus Beier stellt in seinem Beitrag dar, wie erfolgreich präventive Maßnahmen sind, die psychotherapeutische Hilfen für die (potentiellen) Verursacher bereitstellen, um so Übergriffe zu verhindern. In der Gesellschaft benötigen solche präventiven Angebote eine höhere Akzeptanz und Unterstützung.

Inge Seiffge-Krenke wirft einen weiblichen Blick auf die männliche Erotik und das, was sich an diesem Blick möglicherweise verändert (hat). Auch bei Frauen stehen heute körperliche Attraktivität und Optimierung im Fokus. Explorative, selbstbestimmte Formen (Sexualität ja, Liebe nein) mit wenig »Commitment« haben zugenommen. In ihrem Beitrag geht die Autorin aus psychoanalytischer Sicht auf damit zusammenhängende Fragen ein: Stimmt es noch, dass Sexualität auch Trennung von den Eltern bedeutet, dass die eigene Vitalität Schuldgefühle macht und man eine Spaltung in das beruhigende und das erregende Objekt braucht? Und warum blieben Konzeptionen über die Attraktivität des bösen Objektes ungehört?

Das dem Erotischen innewohnende Moment der Verführung bedarf spezifischer weiblicher wie männlicher Strategien, durch Selbstinszenierung die eigene Attraktivität zu erhöhen. Dabei spielen historisch für Männer neben physischen Attraktivitätsmerkmalen wie breite Schultern, schmale Hüften, Körpergröße, Stimme etc. auch soft skills und Statusmerkmale eine wichtige Rolle. Michael Klein schildert in seinem Beitrag aktuelle Befunde der Attraktivitätsforschung und warnt vor dem zunehmenden Druck durch heterogene Rollenvorgaben und -muster, die durch digitale Medien noch verstärkt werden. Für Männer geht es darum, die Herausforderung der Suche nach individuellen Männlichkeitsentwürfen aktiver zu gestalten und in ihren (erotischen) Selbstinszenierungen nicht bloß massenmedial vermittelte Rollenmuster zu imitieren.

Steffen Heger beleuchtet die nach wie vor tiefgreifenden Auswirkungen der AIDS-Krise auf die männliche Homosexualität im Zusammenhang mit den mittlerweile verfügbaren präventiven und therapeutischen Möglichkeiten. Heute sind sich Mediziner einig, dass HIV-positive Personen unter wirksamer medikamentöser Behandlung nicht mehr ansteckend sind. Dies wird als »Treatment as Prevention« (TasP) bzw. »Schutz durch Therapie« bezeichnet. Außerdem steht die Präexpositionsprophylaxe (PrEP) zur Verfügung. Dazu nehmen HIV-negative Personen vorbeugend eine antiretrovirale Wirkstoffkombination ein, um sich vor einer Ansteckung mit HIV zu schützen. Diese Möglichkeiten haben die Einstellung zu HIV und das Sexualverhalten vor allem unter schwulen Männern in den letzten Jahren erheblich beeinflusst. Der Autor diskutiert die Auswirkungen auf die seelische Gesundheit und die sexuelle Praxis homosexueller Männer.

Thomas Junker betrachtet Probleme der Partner*innensuche und Partner*innenwahl aus evolotionsbiologischer Perspektive. Dabei kann man bei der sexuellen »Auslese« unterscheiden zwischen der direkten Auseinandersetzung, dem Kampf zwischen den Rivalen, und der Partner*innenwahl, bei der die Rivalen miteinander konkurrieren, indem sie in unterschiedlicher Weise auf ihre Qualitäten aufmerksam machen und danach ausgewählt werden. Männer bedienen sich beider Strategien. Die jeweilige gesellschaftliche Moral kann hier reglementieren und gestalten, letztlich entscheidend (für das Überleben der Spezies) ist die biologische Zweckmäßigkeit.

Wir wünschen dem*der geneigten Leser*in mit dem in diesem Buch aufgespannten Tableau an Themen und Perspektiven rund um männliche Erotik und Begehren, dass trotz aller Theorie die Sinnlichkeit nicht zu kurz kommt und auch Eros gleißnerisches Werk bei der Lektüre für angemessene Be-Lustigung und Ent-Ängstigung sorgt.

1Dreßing, H., Dölling, D., Hermann, D., Kruse, A., Schmitt, E., Bannenberg, B., Hoell, A.,Voss, E., Salize, H. J. (2019). Sexueller Missbrauch durch katholische Kleriker. Deutsches Ärzteblatt int 2019 (116). doi: 10.3238/artzebl.2019.0389

2MHG bezieht sich auf die Studienzentren Mannheim, Heidelberg, Gießen.

Erotik und Übergriff: Siamesische Zwillinge?

Klaus Theweleit

Ich weiß nicht, was »männliche Erotik« ist. Am unsichersten macht mich, dass die Formulierung »männliche Erotik« automatisch das Gegenmodell einer »weiblichen Erotik« aufruft, von der sie dann wohl unterschieden sein muss; ich habe aber vor Kurzem auf die Frage, ob Frauen und Männer »verschieden lieben«, nach kurzem Bedenken geantwortet: »Weiß ich nicht«.

Einen anderen Unterschied kann ich benennen. Ich habe viel gearbeitet zu einem Männertypus, zu dessen bezeichnendsten Eigenschaften die Lust am Töten gehört. Soldaten, Lustmord-Männer in Fragment-Körpern, angefüllt mit diffusen Ängsten, die sie durch Anrichten sogenannter Blutbäder zu beherrschen versuchen; durch das Zerfetzen anderer Körper. Eine von Frauen in ähnlicher Weise erlebte Lust an Körperzerstörung ist nirgendwo auf der Welt belegt. Hier ist eine klare Differenz.

Ich nehme aber an, dass die Leserinnen an genau diese Sorte männlichen Lusterlebens nicht denken, wenn sie das Stichwort männliche Erotik hören. Es muss da ja wohl noch etwas anderes geben.

Leider startet aber »das Erotische« unserer Kultur historisch in sexuellen Übergriffen.

»Am Anfang war die Einwanderung«, und: »Am Anfang war #MeToo«, steht einleitend über meinen letzten größeren Arbeiten. Um zu sehen warum, müssen wir 4000 Jahre zurückgehen; an den Nordrand jenes Gebiets, das wir heute »Griechenland« nennen. Da wird in größerem Maßstab »eingewandert«.

Einwanderung heißt: Es kommen welche dort an, wo andere schon sind. Die Ankommenden sind oft die Stärkeren, technologisch überlegen. Sie kommen zu Pferd, auf Rädern, mit Schiffen. Wenn sie vorhaben, zu bleiben, muss ein Teil derer, die da leben, flüchten. Einwanderung militärisch Überlegener bedeutet in aller Regel Tötung oder Versklavung der dort alltäglich Lebenden. Einwanderung heißt, fast immer, Landraub.

Die frühesten Erzählungen dessen, was wir heute »griechische Mythologie« nennen, haben eine solche Einwanderung zum Hintergrund. Ab 2000 v. u. Z. etwa wandern sog. Indogermanen aus den Gebieten Vorderindiens in jene Landstriche ein, aus denen im Lauf der nächsten 800 Jahre das frühe »Griechenland« entsteht. Sie haben Pferde und Streitwagen; die Einheimischen haben das nicht. In diesem Zeitraum spielen sich die Dinge ab, die die griechischen Autoren Homer und Hesiod wiederum 500 Jahre später in ihren Schriften festhalten.

Darunter Erzählungen über ortsansässige Königstöchter – es sind etwa dreißig –, die beschlafen und geschwängert werden von den Göttermännern der Einwandernden; meist gegen ihren Willen, öfter bei einsamen Strandspaziergängen oder auch im Schlaf; die also vergewaltigt werden von der neuen Gott-Kohorte mit Namen Zeus, Poseidon, Apollo, Dionysos. Natürlich waren das Menschen, Männer, die so vorgingen. Die Griechen aber entwickelten den Dreh, das als Göttertaten zu erzählen. »Genial«!

Die Königsväter, entsetzt über ihre plötzlich ehelos schwangeren Töchter, schreiten zur Bestrafung. Einige dieser Töchter kostet dies das Leben; andere werden von den eingreifenden Göttern gerettet; vor allem deshalb, weil sie deren Kinder austragen müssen. Diese Kinder bilden das Heldenpersonal der sogenannten griechischen Mythologie. Die sogenannten Heroen: Herakles, Theseus, Perseus, Bellerophon und wie sie alle heißen, sind ausnahmslos Kinder aus diesen Verbindungen; Gott und Königstochter. Die Vaterkönige, die in Konflikte mit den Göttern oder den bald heranwachsenden Sohnes-Helden geraten, verlieren dabei ihr Land und Leben.

»Landnahme über den Körper der Königstochter« habe ich das benannt; ein Vorgang, der sich seitdem wiederholt hat, überall auf der Welt, auch bei der Besiedlung der beiden Amerikas. Die »Einwanderung« ist dann besser als »Kolonisierung« zu bezeichnen. Zum Kolonisten, historisch-praktisch, gehört der Übergriff; insbesondere der körperliche Übergriff auf die Frauen der Population, die zu kolonisieren ist. Schließlich soll eine neue Bevölkerung entstehen. Das uns heute naheliegendste Beispiel ist die Bevölkerung Mexikos, die aus der sexuellen Vermischung spanischer Kolonisten mit Frauen der indigenen Indio-Population entsteht.

Alle Kolonialismen wurden/werden von Männern durchgeführt. Die »Einwanderungen« siegreicher Kolonisten unserer Geschichte geschahen immer entweder zu Pferd, per Schiff oder durch marschierende Soldaten. Das Pferd gehörte zunächst keinem Geschlecht zu. Es wurde domestiziert um das Jahr 4000 v. u. Z., gemeinsam von Frauen und Männern in Zentralasien. Aber um das Jahr 2000 v. u. Z., als Populationen aus Vorderindien in die Gebiete einwandern, die wir heute Griechenland nennen, hat es eine technologische Revolution gegeben. Nicht nur »das Rad« ist historisch da, sondern vor allem die Achse; diese wird, durch den Bronzeguss, metallisch. Aus der Achse geht ein Wagen hervor; und vor den Wagen kann man Pferde spannen. Wie aus allen neuen Technologien wird auch aus dieser eine neue Waffe: Streitwagen. Auf diesen rollen Männer mit Metallschwertern und Lanzen über alles hinweg, was sich ihnen nicht ergibt.

Bei der Seefahrt ist die Männerdominanz noch klarer. In der frühen Seefahrt rudern und segeln Schiffe nur in Küstennähe und gehen abends wieder an Land. Das schließt Frauen noch nicht aus. Aber im Moment der Hochseeschifffahrt mit den Fünfzig-Mann-Ruderbooten und mehreren Tagen auf See ab etwa 1500 v. u. Z. sind Frauen raus aus diesem Geschäft. Menstruation, Schwangerschaften und die Unmöglichkeit praktikabler Sexualität auf diesen kabinenlosen Booten machen Seefahrt zur Männerdomäne. Cortés hat keine Frauen an Bord.

Die Seefahrt ist überhaupt die entscheidende Technologie, durch die Männer auf der Welt insgesamt beherrschend werden. Sehen Sie auf die sogenannte »Entdeckung« der Amerikas und anderer »neuer« Kontinente. Nichts geht ohne Schiffe; und die Schiffe gehen nicht ohne mathematisch-navigatorische Kenntnisse: Männerdomänen.

Sexualität? Erotik? Der Typus Frauen, der diesen Männern »zur Verfügung« steht, sind kolonisierte Frauen, das romantisch hingeschönte sogenannte »Südseemädchen« oder, in den Städten, die Frauen, die die Hafenkneipen bevölkern. Zugang zu Frauen ist meist ein Zugriff; Übergriff, Vergewaltigung oder es geht per Bezahlung. Wenn heutige indigene Autor*innen Nordamerikas schreiben, jedes sogenannte »indianische« Mädchen sei von englischen Kolonisten vergewaltigt worden, ist das mit großer Wahrscheinlichkeit nicht weniger als die Wahrheit. Vorgänge wie diese führten mich zur Formulierung: Am Anfang war #MeToo. Man merkt, worauf ich hinauswill: Im allergrößten Teil unserer manndominierten Geschichtlichkeit, unserer Alltags- wie Kulturgeschichte, ist der männliche Zugriff auf den Frauenkörper ein kolonialistischer Übergriff; eine Art Alltagsrecht. Die Vergewaltigung – wie auch immer verbrämt: Bei Homer hat sie die Form »Liebesverhältnisse zwischen Göttern und menschlichen Frauen« – ist eine Art »Normalvorgang«; die männliche Sexualität historisch-faktisch legiert mit Gewalt.

Ich erinnere Sie daran, dass das, was wir heute die »Liebesheirat« nennen, erst im 18. Jahrhundert entstanden ist, im frühen europäischen Roman; im galanten Frankreich und dem (damals) auch »galanten« England. Zunächst nur in der Literatur und in der Malerei. Im Lauf des 19. Jahrhunderts konnte daraus in wenigen glücklichen Fällen auch eine tatsächliche Liebesheirat werden; aber selten.

Es dauert bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg, bis ein Mensch 1914, der an die Liebesheirat glaubte, weil er selbst eine hinter sich hatte, eine Theorie der Liebeswahl entwickelt: »Objektwahl«. Das war Dr. Sigmund Freud; im Selbstverständnis seit ca. 15 Jahren »Psychoanalytiker«.

Aber erst nach diesem Krieg erreicht die Möglichkeit von Liebesheiraten eine gewisse Stufe von Selbstverständlichkeit; und zwar durch »America«, durch das Kino und durch Songs, durch Musicals und Bars, in denen getanzt wird. Und später dann durch die Popmusik. »Sexuelle Emanzipation« passiert vorwiegend über die diversen Formen der Unterhaltungsbranche; Formen des Entertainments. Bis heute sind Vorstellungen von »Erotik« aller Geschlechter von diesen Sphären nicht zu trennen. Die erste sexuelle Revolution, die diesen Namen verdient, geschieht durch die partielle Auflösung verbindlicher Verhaltensformen durch den Weltkrieg, durchgesetzt durch Kino, Grammophon, Bars, Varietés, die Zirkuswelt und Tanzschuppen.

Von »männlicher Erotik« im heutigen Sinn können wir demnach erst seit etwa 100 Jahren reden. In den 3000 Jahren vorher werden die Vorstellungen vom erotischen Körper bestimmt durch griechische und römische Statuen sowie die Statuen und Gemälde der Renaissance; Bilder von Gottheiten. Aphrodite, Venus, Mars, Apoll sind ja keine Menschen. Zwar soll der, der am Kreuz hängt, ein »Mensch« geworden sein; seine erotische Ausstrahlung ist vorhanden, wenn auch unfreiwillig, aber die »Liebe« etwas einseitig. Wir haben die Berichte von der mittelalterlichen Erscheinung der sogenannten Jesusbräute; Nonnen, die unterm Kruzifix körperlich dahinschmolzen.

Zurück in die Moderne. Der nächste große Einschnitt liegt nun gut fünfzig Jahre zurück: die sogenannte »sexuelle Revolution« der 1960er/1970er Jahre. Durch die »Pille« und die hochgradig sexualisierende elektrisch verstärkte Musik einer neuen Kaste von Rockstars entwickelt sich eine Sexualität unter Student*innen und anderen Jugendlichen, die die körperlichen Liebesakte befreite aus dem Kontext von ungewollten Schwangerschaften und Ehezwängen. »Elvis befreite den Körper. Bob Dylan den Geist«, ist heute in den Booklets zu lesen. Körpermusik. Darin lag ein realer Bruch realer Gesetze; jener Gesetze, die im Paarungswesen »der Menschen« unserer Kultur jahrtausendelang gegolten hatten; d. h. im Paarungswesen heterosexueller Menschen. Andere Sexualitätsformen unterlagen Verboten.

Diese galten auch in den 60ern noch. Homosexuelle Frauen wie Männer hatten zwar einen bedeutenden Anteil an dieser politischen Revolte; aber ihre sexuelle Praxis – blieb verborgen; außer für ihre Insider-Zirkel, Bars, Clubs, Saunen, schwule WGs. All das wurde nur selten öffentlich; und blieb in den 60ern gesetzlich weiter verboten. Die dominierenden Heteros der Revolte hatten schlicht keine Ahnung von ihnen.

Ich erzähle das so ausführlich, weil ich denke, dass wir nun, 2021, seit einigen Jahren Zeugen und Akteure eines sexuellen Umbruchs sind, der den der 1960er/1970er Jahre nicht nur komplettiert, sondern der ganzen Geschichte des Erotischen und des Denkens überhaupt eine neue Wendung gibt.

LGBTQI – Lesbisch Gay Bi Trans Queer Inter– handelt ja nicht nur davon, die jahrelangen unter großen persönlichen Leiden geheim gehaltenen Liebesformen der Nicht-Heteros in die öffentliche Wahrnehmung zu transportieren. LGBTQI verlangt eine grundsätzliche Umorientierung unseres Denkens. Unseres Denkens in der Form von »Zweiheiten«; Auflösung des Prinzips des »Binären«.

Dazu gibt es einen ganzen Schwung neuer Publikationen. Ich greife ein Buch heraus: »Zart und frei. Vom Sturz des Patriarchats« von Carolin Wiedemann (2021). Der Untertitel macht klar, dass die neue Sexualität, »zart und frei«, eine politische Forderung impliziert. Die Herrschaftsform »Patriarchat« sei zu stürzen (ich würde den Begriff »Manndominierte Gesellschaften« bevorzugen; aber das nur nebenbei).

Am Anfang dieses Sturzes muss verändertes männliches Verhalten stehen; in Liebes- und auch allen anderen Dingen. Carolin Wiedemann zitiert dazu aus dem Buch »Boys and Sex« von Peggy Orenstein, die Gespräche geführt hat mit Männern zwischen 16 und 21, die aufs College gehen (Zitate in Wiedemann, 2021, S. 114–119).

Vorherrschend bei diesen sei nach wie vor das »alte Männlichkeitsideal«: Der Mann als Maschine, rational, beherrscht, hat alles in der Hand; sich selbst, das Geschehen, die Frauen. »Privilegien« für das Männliche seien in Ordnung, wenn der entsprechende Mann »die Anforderungen erfüllt«. Härte sich selbst gegenüber ist akzeptiert; gehört zum Leistungsideal. Akzeptiert wird auch die männliche Tendenz, in Gesprächen Monologe zu halten – sicher keine amerikanische Besonderheit. Auch eine Wortschöpfung wie »Mansplaining« wird bei uns ja genauso gut verstanden: Männer, die Frauen erklären, was Frauen sind.

Es gelten die »Männlichkeitsanforderungen der Peer Group«, auch wenn die Einzelnen es öfter peinlich finden für sich selbst, wenn sie sich nicht gegen Pussy-Witze aussprechen (die sie blöd finden); oder nicht fragen, warum immer alle »no homo« sagen; obwohl sie auch das blöd finden. Und: Alle interviewten jungen Männer kennen Typen, die Frauen gegenüber übergriffig waren. »Fast alle sagen, sie hätten in irgendeiner Weise im Laufe des Erwachsenwerdens die Verbindung zu ihrem Herzen gekappt. Kappen müssen, weil sie nicht verletzlich sein, sich nicht verletzbar zeigen dürften« (Wiedermann, 2021, zit. nach Orenstein, 2020, Kap. 4.2).

Zu solchen Versteinerungen gibt es seit einiger Zeit Gegenbewegungen, die sich von der fixen Gegenüberstellung männlich/ weiblich lösen. Wiedemann/Orenstein zählen auf:

In neueren TV-Serien eine neue Art Helden: »verunsichert, blass, dünn, sexuell unerfahren, aber emotional begabt, sensibel und kommunikativ« (Wiedermann, 2021, zit. nach Orenstein, 2020, Kap. 4.2).

Besonders in der Popkultur treffen sie auf Menschen, »die oft schon das binäre Modell ganz in Frage stellen und Lust machen auf die Unterwanderung der vermeintlich natürlichen Einteilung der Menschen in Mann und Frau. Inspiriert von Kunst und Mode« (Wiedermann, 2021, zit. nach Orenstein, 2020, Kap. 4.2).

Orenstein findet junge Männer, denen es mittlerweile »völlig egal sei, wenn sie für schwul gehalten werden« (Wiedermann, 2021, zit. nach Orenstein, 2020, Kap. 4.2), weil sie sich etwa für Mode interessieren oder anders vom »Männlichkeitsideal« abweichen.

Es gäbe nun auch Notrufe speziell für Männer, die verhindern sollen, dass Männer sich selbst oder anderen Gewalt zufügen, Suizide, Feminizide, Attentate.

Alles »Anzeichen dafür, dass sich nicht nur andere Formen von Männlichkeit entwickeln, sondern dass überhaupt die Dekonstruktion von Männlichkeit, des binären Modells von Geschlecht an Attraktivität gewinnt.« (Wiedermann, 2021, zit. nach Orenstein, 2020, Kap. 4.2).

Die »Idee, das binäre Modell schränke uns alle ein, verbreitet sich über alle Schichten und Regionen hinweg; ist nicht den sogenannten Eliten vorbehalten«, folgern – oder wünschen – die beiden.

Mir fällt dabei ein Buch aus den Siebzigern ein; ein französischer Reader – Autoren anonym – mit dem Titel: »Drei Milliarden Perverse« (Dieckmann u. François P., 1980). Das war die Zahl der damaligen Erdbewohner*innen. Und wollte sagen: Es gibt so viele Sexualitäten, wie es Menschen gibt. Und keine davon ist »pervers« bzw. wenn schon, dann alle. Michel Foucault soll unter den Autoren gewesen sein, auch Deleuze und Guattari; die französischen Leuchten einer erneuerten Psychoanalyse.

Zum Sprung nach Deutschland, in deutsche Verhältnisse, verhalf vor Kurzem dann wieder ein Medium aus der Unterhaltungsbranche; das wöchentliche »Magazin« der Süddeutschen Zeitung (5/2021). Auf dem Cover 58 Köpfe in Passbildgröße, alle mit Namen, und dem Text: »185 Schauspieler*innen outen sich in diesem SZ-Magazin als lesbisch, schwul, bisexuell, queer, nicht-binär und trans« (Emcke u. Fritzsche, 2021) – einige von ihnen uns allen bekannt aus Film, Theater, Fernsehen. Sie sagen, sie seien noch viel zahlreicher; aber viele hätten sich das Comingout (noch) nicht zugetraut.

Aus den Interviews, die sechs von ihnen – als Gruppe – gegeben haben, ist gut zu entnehmen, dass es sich hier um weit mehr dreht als um die Besonderheiten einer persönlichen Orientierung. Ich zitiere. Tucké Royale sagt zum bisherigen Ablauf seines Lebens:

»Ich komme aus einer Welt – und ich denke wir alle – die mir nicht von mir erzählt hat. Und wenn ich sozusagen von der Möglichkeit, ich zu sein, gehört habe, dann nur unter zwielichtigen Umständen oder in Verbindung mit Kriminalität, Gewalt oder Tod. Das ging so weit, dass ich mich lange gegen meinen Beruf ausgespielt habe. Ich hatte sehr große Angst, nicht in meinen Beruf reinzukommen, keinen Studienplatz zu bekommen, Angst, wieder rauszufliegen. Und ich dachte: ich kann diese Transition nicht machen, bevor ich in die Ausbildung gehe, ich kann es danach eigentlich auch nicht machen, mein Rollenfach ändert sich dann ganz total. Aber irgendwann musst du überlegen: welchem Tempel rennst du da eigentlich hinterher?« (Emcke u. Fritzsche, 2021).

Hier ist nicht weniger angesprochen als die Frage, wie man ein »Ich« ausbilden soll in einer Gesellschaft, »die mir nicht von mir erzählt hat« (Royale in Emcke u. Fritzsche, 2021) bzw. meine Existenzweise kriminalisiert.

Karin Hanczewski, Schauspielerin:

»Mir wurde immer gesagt, ich solle mich nicht outen. Wenn ich gedreht habe, habe ich meine Freundin zum Set mitgenommen, dort war es irgendwie kein Problem. Dämonisiert wurde das öffentliche Coming-out, jenes vor dem Publikum, vor der Öffentlichkeit« (Emcke u. Fritzsche, 2021).

Aus dieser Beschreibung kann man gut entnehmen, dass es im Punkt des Coming-out keinen prinzipiellen Unterschied gibt zwischen den verschiedenen »biologischen« Geschlechtern. Die Drohung ist für alle gleich: »Machst du als sexuell irgendwie abweichendes Wesen die Klappe auf, wirst du geächtet«.

Es betrifft nicht nur den »Sex«; es betrifft die Hautfarbe, es betrifft die Herkunft, es betrifft die Religion, es betrifft dein Dasein, wenn du eine Wohnung mieten willst; und es betrifft vor allem die Lebensmöglichkeiten am Arbeitsplatz.

Mehmet Atesci:

»Ich hätte mir als junger Heranwachsender auch Verbündete gewünscht – und das möchte ich hiermit sein« (Emcke u. Fritzsche, 2021).

Godehard Giese:

»Jede*r von uns hat in irgendeinem Lebensbereich schon ein Comingout hinter sich, vor Freund*innen, Familie oder auch Kolleg*innen. Aber wir sind mit unserer sexuellen Identität in der Öffentlichkeit nicht sichtbar. Es wird immer angenommen, man gehöre zur Norm« (Emcke u. Fritzsche, 2021).

Letzter Punkt ist eine typische Wahrnehmung von gesellschaftlichen Außenseitern. Sie glauben, sie stünden – als Teil ihrer jeweiligen Untergrundgemeinschaft – einer geschlossenen Welt aus »Normalos« gegenüber. Das ist aber nicht der Fall. Die »normale« »Norm« gibt es gar nicht. Viele von denen, die zur »Norm« zu gehören scheinen, fühlen sich kein bisschen so. Auch bei ihnen gibt es jede Menge »Abweichungen«, die sie aber nicht unter »schwul« oder »queer« unterbringen können. Sie fühlen sich einfach nur komisch. Mit mir stimmt was nicht. Aber was? Auch sie sind »für die Öffentlichkeit« nicht sichtbar. Und angefüllt mit Ängsten. Was geht in denen vor, die fünfzehnmal am Tag masturbieren müssen, um sich irgendwie real zu fühlen – die weder schwul noch hetero oder sonst was sind; sondern nur allein, unsicher, bedroht, ohne Verbindungen, aber in den (drohenden) Augen der »Öffentlichkeit« irgendwie »pervers«. »Pervers« – was ist das?

Das Konzept der »Perversion« dürfte die schlimmste Erbschaft sein, die die traditionellen Psychiatrien und auch die Freud’sche Psychoanalyse uns hinterlassen hat. Weil dies Konzept unterstellt: Es gäbe die Norm als das irgendwie »Gesunde«. Die gibt es psychisch nicht. Die gibt es für das Gesetz; sexueller Missbrauch von Kindern steht unter Strafe, zu Recht; ist aber eine kulturell-gesetzliche Entscheidung; ebenso wie viele der Verordnungen, die vorschreiben, wer wann mit wem schlafen darf und wer wann nicht; wer wen heiraten darf und wer nicht und warum; und was »weiblich« ist und was »männlich«: das Arbeitsfeld von Gesetzgebern und Religionen. Die meisten Vorschriften auf der Welt, wie z. B. »Frauen« sich zu verhalten haben im binären System, sind aus religiösen Vorschriften oder Verboten abgeleitet.

Karin Hanczewski:

»Wichtig ist der Aspekt der Befreiung, also mich selbst als Mensch zu befreien und zu mir zu stehen. Ich hatte immer den utopischen Wunsch, dass es, wenn ich mich oute, eine politisch-gesellschaftliche Relevanz hat« (Emcke u. Fritzsche, 2021).

Das ist ein Stückchen Utopie, das ausnahmsweise mal nicht im »Unerreichbaren« liegt.

Und, wie das so geht, der einen »Unerreichbarkeit« folgt gleich die nächste. In der Tageszeitung die märchenhafte Meldung, mehr als 800 Fußballer*innen hätten sich zwar nicht »geoutet«, fordern aber ihre Mitspieler*innen, die dies betrifft, auf, dies zu tun. Sie sichern diesen Mutigen Unterstützung zu, in ihren Vereinen und in der Öffentlichkeit; so geschehen auf Veranlassung des Fußballmagazins »11 Freunde«.

Es regnet geradezu verwirklichte Utopien.

Im »Manifest« der 185 Schauspieler*innen, das sich gegen die herrschende »Marginalisierung und Stereotypisierung« wendet, erscheinen nicht nur die LGBTQI-Kürzel; es erscheint auch ausdrücklich die Sexualitätsform »non-binär«. Weiter heißt es:

»Wir kommen vom Dorf, aus der Großstadt, wir sind People of Color, Menschen mit Migrationserfahrung und Menschen mit Behinderung; wir sind keine homogene Gruppe. […] Diversität ist in Deutschland längst gesellschaftlich gelebte Realität. […] Unsere Gesellschaft ist längst bereit. Die Zuschauer*innen sind bereit« (Emcke u. Fritzsche, 2021).

Interessant besonders die Betonung des »non-binär«. Dazu: keine homogene Gruppe, Diversität als gelebte Realität, Ablehnung von Stereotypisierung. Das geht alles weit über die Forderungen nach Sichtbarkeit hinaus; betrifft unsere herrschenden Denksysteme insgesamt. Die sind binär, die wollen homogen sein, die wollen nicht Diversität, sondern entweder-oder und sie wollen vor allem: Stereotypisierung.

Tucké Royale:

»Das muss einfacher werden für alle kommenden Generationen, und das müssen Hochschulen und Theater und die darstellende Branche (sich) reinziehen« (Emcke u. Fritzsche, 2021).

Ein Gebiet, auf dem die Verhältnisse schon anders geworden sind, beschreibt Jürgen Martschukat (2019); Buchtitel: »Zeitalter der Fitness«. Technologische Strukturen, auf Fitness und Leistung ausgerichtet, sind – so schreibt er – immer fester in unsere alltäglichen Befindlichkeiten und unser Verhalten eingeschrieben.

»Natürlich habe ich ein Messgerät an meinem Fahrrad und auch einen Schrittzähler auf dem Smartphone« (Martschukat, 2021).

Das sei etwas anderes als Sport; etwas, das das ganze Leben betrifft, und natürlich auch die erotische Anziehung:

»Die moderne Gesellschaft organisiert sich wesentlich um den Körper und dessen Leistungsfähigkeit herum […] Wenn wir uns gut um uns kümmern, unseren Körper pflegen und in Form halten, kommen Glück und Erfolg […] Der Fitnesskult ist hoch politisch: Es geht um Teilhabe an der Gesellschaft […] gesellschaftliche Anerkennung wird stark von der körperlichen Erscheinung abhängig gemacht« (Martschukat, 2021).

Neuer heutiger Begriff: Self-Empowerment. Das Laufen der Hippies, sagt er,

»war Teil der Suche nach einem alternativen Lebensstil – und nach Empowerment. Das Ziel war, von dem verkrusteten Dasein der Eltern und der kapitalistischen Verwertungslogik wegzukommen und zu sich selbst zu finden. Nach und nach wurden Zu-sich-selbst-Finden und Self-Empowerment zu einem gesellschaftlichen Leitprinzip und zu einer Massenbewegung« (Martschukat, 2021).

… mit dem Versprechen der Einzigartigkeit, das weiter eine zentrale Rolle spiele; auch wenn Marathonlaufen zu einem Massenphänomen geworden ist. Kein »Sport«, sondern eine Lebensform.

»Fitness braucht Freiheit. Es geht um die Freiheit, sich selbst verbessern zu können« (Martschukat, 2021).

In solchen Kontext gehört das ganze Arsenal heutiger Männlichkeitsaccessoires, Schuhe, Shirts, Kappen, Stirnbänder, Parfums, Frisuren.

Außerdem, so Martschukat,

»ist das Fitnessstudio auch ein zentraler sozialer Ort, etwa fürs Dating. Da kann man vorher beim Training erst mal den Körper auschecken und hinterher an der Bar noch einen Smoothie zusammen trinken. […] Viele Fitnessanhänger beschreiben ihre Hinwendung ja als durchaus religiöses Erweckungserlebnis […] Das ganze Leben muss sich radikal ändern; das hat eine durchaus spirituelle Dimension« (Martschukat, 2021).

Lieben auf »Sparflamme«? Keineswegs, sagt er:

»Fitness lässt das Recht auf den Exzess durchaus zu. ›Exercise like you party‹ ist da ein durchaus passender Werbeslogan« (Martschukat, 2021).

Und geht in die Richtung des bisher Gesagten; denn das Prinzip »Steigerung der eigenen Anziehungskraft« ist durchaus nicht auf »Männlichkeit« beschränkt. Alle Geschlechtsformen können sich fitnessmäßig hochsteigern. Und können in verschiedensten Transformationen sichtbar werden.

Ulrike Folkerts:

»Es gab eine Regisseurin, die nach Probeaufnahmen meinte: ›Ach, Sie lieben Frauen? Dann können Sie die Mutter nicht spielen‹« (Emcke u. Fritzsche, 2021).

Folkerts Antwort, wütend:

»Es ist mein Beruf, alles zu spielen, alles! Ohne es zu sein« (Emcke u. Fritzsche, 2021).

Selbstverständlich gibt es Hetero-Männer, die einen Schwulen besser spielen können als ein versierter Schwuler; und umgekehrt. So wie Andy Warhol von den Drag Queens seiner Filme sagte, sie wären als Frauendarsteller besser geeignet als Frauen mit einer Vagina; nämlich, weil sie das »Gesten-Repertoire weiblich« erst mühsam erlernen müssten; und es daher besser (d. h. verrückter) vorführen könnten.

Das macht eine Falle sichtbar: Das eigene LGBTQI-Sein für eine Art psychischer »Identität« zu halten. Ich glaube, dies beschränkt die einzelne Person sehr. Mein Hetero-Dasein z. B. bestimmt nicht einfach meine sogenannte Identität. Zu der gehört eine ganze Menge mehr, und nicht etwa nur »Einheitliches«. Mein persönliches und gesellschaftliches Verhalten wird zwar in einigen Punkten auch davon bestimmt, dass ich ein sogenannter cis-Mensch bin, aber in vielen Punkten auch nicht. »Identität« – soweit dieser Gummihammer von einem »Begriff« überhaupt brauchbar ist zur Bezeichnung der psychischen Kerne meines »Selbst« – besteht doch aus so viel mehr Teilchen und Facetten, vor allem aus Beziehungen zu allen geliebten Menschen meines Lebens, dass die Beschränkung solcher Definition auf eine bestimmte Form der sexuellen Geschlechtlichkeit vollkommen absurd ist. Ich bin doch nicht – »identitär« – ein Anhängsel meines Schwanzes.

Neue sprachliche Formen sind zu wünschen; z. B. da, wo Schwanzträger im Haushalt Tätigkeiten übernehmen, für die sie als cis-Männer nicht »vorgesehen« waren. Ein Beispiel. Der Psychoanalytiker Hans-Geert Metzger schreibt:

»Mittlerweile sind viele Männer partnerschaftlicher geworden. Sie suchen nicht mehr nur die berufliche Karriere, sondern versuchen, Beruf, Partnerschaft und Familie in Einklang zu bringen. Die sogenannten neuen Väter lassen mütterliche, also bisexuelle Anteile in sich zu und bemühen sich um einen Abbau dogmatischer Macht im Umgang mit ihren Kindern« (Metzger 2019, S.187).