Mannomänner - Pippa McKenzie - E-Book

Mannomänner E-Book

Pippa McKenzie

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Beschreibung

Die Abenteuer auf der stürmischen Isle of Man gehen weiter … … und die Turbulenzen im Leben der Vierlinge Henrik, Erik, Cedrik und Fredrik nehmen kein Ende: Kaum hat Erik seine Liebe zu Erica entdeckt, als diese von der Insel verschleppt wird. Doch Erica ist nicht wehrlos! Mit viel Fantasie kämpft sie um die Rückkehr zu Erik, der längst alle Hebel in Bewegung gesetzt hat, um sie zu finden. Wenn da nur nicht ihre Mutter wäre, die für Erica eine Zukunft jenseits der geliebten Insel plant … Und auch die anderen stehen vor scheinbar unüberwindlichen Schwierigkeiten: Henrik versucht, Lucinda zu helfen, die von ihrer Kirchengemeinde unter Druck gesetzt wird, weil sie sich heimlich mit ihm trifft. Plötzlich steht Lucinda vor einer schrecklichen Entscheidung, die möglicherweise die Trennung von ihrer Familie bedeutet. Fredrik dagegen bekommt immer größeren Ärger mit seiner Band. Kann er sich gegen den egozentrischen Adam durchsetzen, der den Zusammenhalt ihrer Truppe zu zerstören droht? Auch Cedriks Leben gerät aus den Fugen: Gerade erst erlebt er seine erste Liebe mit dem jungen Motorradfahrer Yoshito, da macht sein Freund einen Rückzieher. Yoshito ist noch nicht bereit für sein Coming-out, und vielleicht wird er es nie sein … Und inmitten des Ringens um Erwachsenwerden und Selbstbestimmung steht ein Wallaby, das groß genug ist, um endlich in die Freiheit entlassen zu werden. Oder doch nicht?

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Pippa McKenzie

Mannomänner

Die Jungs vom Leuchtturm

Band 2

Roman

Copyright: © 2023 Pippa McKenziewww.pippamckenzie.com

Lektorat: Waltraud Horbas – www.waltraud-horbas.de Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.netUmschlag: Frauke Schneider – www.frauke-schneider.de

Druck: epubliwww.epubli.de Ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Das gilt ebenso für das Recht der mechanischen, elektronischen und fotografischen Vervielfältigung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Handlung und die handelnden Personen sowie deren Namen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden und/oder realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.

Über Pippa McKenzie

Pippa McKenzie lebt mit ihrem Mann auf der Isle of Man. Sie arbeitet als literarische Übersetzerin und hat im Laufe ihres Berufslebens zahlreiche Romane aus dem Englischen und Niederländischen einer deutschen Leserschaft näherge-bracht. Doch die Leidenschaft, ihre eigenen Geschichten zu entwickeln und niederzuschreiben, entstand bereits während ihrer Jugend. Der Umzug auf die Insel mit ihrer rauen Schönheit und wilden Natur inspirierte sie zum ersten Band in ihrer Reihe »Die Jungs vom Leuchtturm«.

Weitere Titel von Pippa McKenzie: Die Jungs vom Leuchtturm 1: Mann – Insel für Einsteiger Die Jungs vom Leuchtturm 3: Manxies

PROLOG

»Ich … möchte … nach … Hause.« Erica betonte jedes einzelne Wort, denn alles andere schien ihre Mutter einfach nicht begreifen zu wollen.

»Wie oft muss ich es dir noch sagen, Erica? Das hier ist jetzt dein Zuhause«, entgegnete Genevieve, nachdem die Haushälterin den Frühstückssalon verlassen hatte.

Erica sah sich im Raum um: ein im altenglischen Stil eingerichtetes Esszimmer mit schweren Samttapeten an den Wänden, in einem riesigen, zugigen Herrenhaus. »Das ist nicht mein Zuhause«, sagte sie verächtlich. »Das hier ist ein viel zu großer Kasten, der vermutlich ein Vermögen an Monatsmiete kostet!«

Ihre Mutter musterte sie eisig. »Dieser ›Kasten‹ ist kein gemietetes Haus, sondern der Landsitz deiner und meiner Vorfahren.«

»Das gehört alles dir?«, fragte Erica ungläubig und zeigte auf die umliegende Hügellandschaft auf der anderen Seite der Terrassentüren.

Genevieve folgte ihrem Blick. »Nun ja, genau genommen deinem Großvater. Noch. Aber ich werde das Anwesen in nicht allzu ferner Zukunft erben. Und eines Tages könnte es dir gehören.«

Erica schnaubte. »Nein, danke. Aber wenn mein Großvater noch lebt, wo ist er dann? Ich habe hier seit meiner Ankunft außer dir und deinen Angestellten noch niemanden gesehen.«

»Dein Großvater wohnt in einer Seniorenresidenz«, antwortete ihre Mutter knapp.

»Kann ich ihn besuchen?«, fragte Erica sofort. »Ich würde ihn gern kennenlernen. Und was ist mit meiner Großmutter?«

»Nein, ein Besuch kommt nicht infrage, da er oft verwirrt ist. Mit seiner Gesundheit steht es auch nicht zum Besten. Ein derartiger Überfall würde ihn nur aufregen und aus seiner Routine reißen. Und meine Mutter lebt schon lange nicht mehr.«

Bestürzt sah Erica sie an. »Das tut mir leid. Ich wollte nicht … Was ist damals denn passiert?«

»Jetzt ist nicht der richtige Moment für so ein Gespräch«, wimmelte Genevieve sie ab. »Vielleicht zu einem anderen Zeitpunkt.«

Erica betrachtete sie. Das machte sie jedes Mal! Sobald das Gespräch auch nur in die Nähe ihrer Vergangenheit kam und sie sich nach persönlichen Dingen erkundigte, gab ihre Mutter bloß noch vage Antworten. Genau wie bei der Frage nach der Heimkehr zur Isle of Man. Aber sie wollte sich nicht länger abspeisen lassen.

Vielleicht sollte sie mal mit Bettie reden. Sie hatte sich mit der Haushälterin angefreundet, nachdem sich die alte Dame seit ihrer Ankunft sehr um sie bemüht und sie mit Leckerbissen aus der Küche verwöhnt hatte. An die Woche in der Privatklinik erinnerte sie sich nur verschwommen. Sie wusste lediglich, dass ihr ständig übel gewesen war und sie das Gefühl gehabt hatte, in ihrem Kopf würde alles schwirren. Bettie war enorm erleichtert gewesen, als Erica sich nach ein paar Tagen nicht länger so schrecklich benommen gefühlt hatte. »Ein Glück, dass du dich nach deiner Blinddarmoperation so schnell erholt hast und nicht mehr unter diesen furchtbaren Schwindelanfällen leidest, wie am Anfang. Ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Denn genau so hat die Krankheit bei deinem Großvater angefangen«, hatte sie ihr anvertraut. Doch bevor Erica hatte nachhaken können, was sie damit meinte, war ihre Mutter in die Küche gerauscht und hatte sie mit in den Salon geschleift.

»Was ist?«, fragte ihre Mutter jetzt. »Warum siehst du mich so an?«

»Ich frage mich, ob du dich schon immer so abgeschottet hast. Und warum du niemanden an dich heranlässt … und anderen nicht zuhörst«, erwiderte Erica.

»Wieso? Ich höre dir doch zu.«

»Nein, tust du nicht. Ich weiß nicht, wie oft ich es schon gesagt habe: Ich möchte nach Hause, zu Granny Rose.« Und zu Erik! Erica schob ihren Teller von sich. Obwohl Bettie die Eier perfekt pochiert hatte, war ihr der Appetit vergangen.

»Ach, vergiss doch die dumme Insel! Dir steht die ganze Welt offen.« Genevieve trank einen Schluck Kaffee.

»Und genau das meine ich: Du hörst nicht zu!« Erica sprang auf. Ein heftiger Stich in der Seite erinnerte sie zwar daran, dass die Wunde noch immer nicht vollkommen verheilt war, aber das spielte jetzt keine Rolle.

»Setz dich wieder hin!«, donnerte ihre Mutter.

Doch Erica schüttelte den Kopf. Sie war fast siebzehn und ließ sich nicht mehr wie eine Fünfjährige herumkommandieren. Ihre Mutter hatte offenbar verdrängt, wie viel Zeit vergangen war, seit sie sie einfach bei ihrer Großmutter abgegeben hatte und dann verschwunden war. »Nein. Ich geh jetzt nach oben und packe meine Sachen«, entgegnete sie entschlossen.

Ihre Mutter schnaubte. »Mach dich nicht lächerlich. Du vergisst wohl, dass ich das Sorgerecht für dich habe. Und solange du nicht volljährig bist, machst du das, was ich dir sage: Du bleibst hier. Und jetzt iss gefälligst deine Eier!«

»Träum weiter. Dann hau ich eben bei der nächsten Gelegenheit ab. Sobald du wieder nach London in die Kanzlei musst, finde ich einen Weg, um nach Hause zurückzukehren. Du kannst mich nicht auf ewig hier einsperren.« Erica machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Tür.

»Also gut!«, rief ihre Mutter. »Aber unter einer Bedingung: Ich möchte, dass du mich zuerst zu einer internationalen Konferenz im Ausland begleitest.«

Langsam drehte Erica sich um. »Im Ausland? Warum das denn? Wieso kann ich nicht direkt zu meiner Granny?« Und zu Erik!

»Weil … Wenn du mich begleitest, können wir endlich mehr Zeit miteinander verbringen … und all die tollen Mutter-Tochter-Sachen machen, zu denen wir nie Gelegenheit hatten. Du bist doch mein einziges Kind …«

Widerstrebend kehrte Erica an den Tisch zurück. Sie hatte so gehofft, Erik bald wiederzusehen. »Wie lange dauert diese Konferenz denn?«

»Etwa eine Woche«, erklärte Genevieve. »Du wirst dich also bis danach gedulden müssen. Abgemacht?«

Eine Woche. Eine Woche, bis sie endlich nach Hause zurückkehren durfte. Ja, damit konnte sie leben. Sie nahm die Hand, die ihre Mutter ihr entgegenstreckte. »Okay, einverstanden.«

»Sehr schön. Jetzt, da das geklärt ist, wirst du ja sicher einsehen, dass du neue Kleidung brauchst. In diesem Aufzug kann ich dich unmöglich in das Fünf-Sterne-Hotel in Brügge mitnehmen«, verkündete Genevieve. »Ich lasse gleich eine Auswahl von meinem Lieblingscouturier kommen. Als meine Tochter musst du wenigstens einen ordentlichen Eindruck machen. Mehr wage ich gar nicht zu hoffen.«

Niemals! Erica hatte keine Lust, sich in eine Miniversion ihrer Mutter verwandeln zu lassen, mit Chanel-Kostüm und Perlenkette. »Nein, ich …«, setzte sie zu einem Protest an.

Doch ihre Mutter fiel ihr ins Wort: »Ich lasse dir die Wahl. Du kannst mich zu der Konferenz begleiten, in vollkommen neuer Aufmachung. Oder aber auf deinen alten Jeans und zerfransten Pullovern bestehen. In diesem Fall sollte dir jedoch eines klar sein: Wenn du nicht einwilligst, werde ich dich in einem Internat anmelden, und dann wirst du deine geliebte Insel in nächster Zeit sicher nicht mehr zu Gesicht bekommen.«

Sprachlos starrte Erica ihre Mutter an. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein!

Ungerührt fuhr Genevieve fort: »Und bilde dir nicht ein, dass du von dort einfach so verschwinden könntest. In diesem Internat ist man darauf eingerichtet, Minderjährige keine Minute aus den Augen zu lassen.«

Erica schnappte nach Luft. Das war glatte Erpressung! Ihre eigene Mutter setzte ihr die Pistole auf die Brust. Wieso hatte sie sich eigentlich jemals nach ihr zurückgesehnt?! Erica lachte freudlos. Wie lautete das Sprichwort noch mal? Sei lieber vorsichtig mit dem, was du dir wünschst – es könnte in Erfüllung gehen!

1

Erik starrte nachdenklich auf seinen Laptop, auf dem er gerade eine weitere E-Mail an Erica geschrieben hatte. Hoffentlich hatte er dieses Mal Erfolg und sie würde darauf reagieren. In all den Wochen seit ihrem Verschwinden hatte er nichts von ihr gehört.

Langsam scrollte er durch die letzten Nachrichten:

E-Mail Nr.15:

Liebe Erica,

Ich hoffe, du erholst dich gut und kannst bald auf die Insel zurückkehren. Du weißt ja, ich bin kein Freund von romantischen Worten. Obwohl … das stimmt nicht ganz. Wenn mir jemand etwas Nettes sagt, gefällt mir das ziemlich gut. Ich weiß nur nicht, wie ich das selbst formulieren soll.

Also, wenn du mir was schreiben möchtest – nur zu! Ich gebe die Hoffnung nicht auf, auch wenn du bisher auf keine meiner E-Mails geantwortet hast. Allmählich frage ich mich, ob du sie überhaupt bekommst … Aber das wird mich nicht daran hindern, dir weiterhin zu schreiben und dir von unserem Alltag zu berichten – so wie früher, als wir noch alles miteinander besprochen haben. Unsere Gespräche fehlen mir.

Du fehlst mir.

Okay, dann mal zu den Fakten:

Unsere Eltern sind zurzeit in Südafrika. Haakon musste wegen einer Havarie da hin, und Marita hat ihn auf eigene Kosten begleitet. Damit sie endlich mal ohne uns, nur zu zweit verreisen können. Sie sind guter Hoffnung … ha-ha, du verstehst: Kap der Guten Hoffnung? Nein? Na, lassen wir das. Jedenfalls schätzen sie, dass sie in drei bis vier Wochen wieder zurück sind. Bis dahin halten wir hier die Stellung. Aber Mum ruft jeden Abend an, um sich zu erkundigen, ob auch alles in Ordnung ist. Fast schon ein bisschen nervig, aber andererseits auch irgendwie verständlich: Haakon und sie lassen uns zum ersten Mal über einen längeren Zeitraum allein.

Ich hab mich letztens mal mit ihr unterhalten und sie gefragt, warum sie uns – nach unserer Kindheit, in der sie wie eine Löwenmutter über uns gewacht hat – mit dem Haushalt einfach alleingelassen hat, nur um in letzter Zeit die Daumenschrauben wieder anzuziehen. Schließlich sind wir aus dem Alter raus, wo sie ständig auf uns aufpassen muss.

Sie hat lange geschwiegen – ich dachte schon, ich bekomme gar keine Antwort – und dann erwidert: Wir vier wären viel zu früh auf die Welt gekommen, und es wäre lange Zeit nicht sicher gewesen, ob wir überhaupt überleben würden. (Das hatte ich zwar schon mal gehört, aber mir gar nicht klargemacht, was das für sie und Haakon bedeutet haben muss.) Diese Grundsorge hätte sich tief in ihrem Mutterbewusstsein verankert, und da Haakon berufsbedingt viel Zeit auf See verbracht hat, hätte sie fast alle Entscheidungen immer allein treffen müssen. Deshalb der »eiserne Griff« – zu unserem Wohl. Und erst hier auf der Insel, mit der Rückkehr in ihren alten Beruf, sei ihr bewusst geworden, dass sie uns mehr Freiheiten und Verantwortung einräumen sollte. Aber möglicherweise sei sie dabei etwas übers Ziel hinausgeschossen, wie ein Pendel, das von einem Extrem ins andere schwingt. Ob ich das verstehen würde?

Klar kann ich das verstehen. Aber was ich nicht begreife: Wieso will sie sich jetzt plötzlich wieder in alles einmischen und über jede Sekunde in unserem Leben bestimmen? Und das hab ich ihr auch gesagt.

Daraufhin hat sie mich angesehen, als hätte ich gerade die absurdeste Frage der Welt gestellt. »Das liegt an dir!«, hat sie geantwortet. Der Schreck nach unserem – also deinem und meinem – lebensbedrohlichen Ausflug zum Tower of Refuge … die Angst, eines ihrer Kinder zu verlieren, hätte die alten Wunden wieder aufgerissen. Und natürlich wisse sie, dass wir fast volljährig wären. Aber sie wäre auch nur ein Mensch und könne eben nicht immer aus ihrer Haut heraus.

Na, fantastisch! Das verspricht für die Zukunft noch ein paar lustige Situationen. Aber zurück zur Gegenwart:

Mimmi ist verfressen wie eh und je. Mittlerweile muss ich sie aus der Küche sperren, wenn ich koche, weil vor ihr nichts mehr sicher ist, selbst wenn ich etwas – vermeintlich außerhalb ihrer Reichweite – in ein Regal lege. Sie hüpft einfach auf den Tisch oder die Anrichte und von dort aus mit einem gezielten Sprung zum Objekt ihrer Begierde. Dabei ist schon so manche Tasse zu Bruch gegangen, und man sollte meinen, der Knall würde sie irritieren und von zukünftigen Raubzügen abhalten. Aber weit gefehlt! Also muss sie draußen bleiben, sobald der Herd angeht – was dazu führt, dass sie entweder an der Terrassentür steht, mit wehleidigem Blick in die Küche starrt und leise keckert. (Wir haben die Terrasse eingezäunt, damit Mimmi Zeit im Freien verbringen kann. Noch ist sie nicht in der Lage, den Zaun mit einem Satz zu überspringen, aber auf Dauer werden wir nach einer anderen Lösung suchen müssen. Und irgendwann werden wir sie wohl in die Freiheit entlassen … Das wird Fredrik das Herz brechen, aber bis dahin vergehen hoffentlich noch ein paar Jahre.)

Oder sie steht im Flur, schabt an der Küchentür und stößt so laute, unzufriedene Grunzgeräusche aus, dass man glaubt, eine Horde Wildschweine hätte sich ins Haus verirrt. (Gibt es auf der Insel überhaupt Wildschweine?)

Henrik, Fredrik und Cedrik geht’s gut, wobei Cedrik noch immer ziemlich mies drauf ist. Hoffentlich gelingt es ihm, aus seiner Winterdepression herauszukommen, wenn der Frühling voranschreitet und das Wetter wieder besser wird. An der Situation zwischen Henrik und Lucinda hat sich nichts geändert, und Fredrik spielt nächstes Wochenende wieder mit seiner Band. Wenigstens bei ihm ist alles in Ordnung.

So, das war’s für heute.

Liebe Grüße

Erik

PS.: Morgen werde ich mal was Neues wagen und Grillhähnchen servieren. Ich hab ein ziemlich einfaches Rezept im Internet gefunden. Das müsste eigentlich gut klappen. Ha-ha.

E-Mail Nr.16:

Kurze Info zu meinem letzten Kochabenteuer:

Das Grillhähnchen war ein Bombenerfolg. Sofern man auf geschmolzenes Plastik mit Hühnereingeweiden steht. Ich hatte leider vergessen, den Beutel mit den Innereien aus dem Vieh rauszunehmen, und es mit allem Drum und Dran in den Backofen geschoben. Der Gestank war einfach unglaublich. Selbst Fredrik hat nicht mehr gelacht …

Erik kontrollierte seine letzte Mail noch einmal und klickte dann auf »SENDEN«. Sechzehn Nachrichten, aber bisher keine einzige Reaktion von Erica. Vielleicht stimmte ja seine Befürchtung, dass sie seine Briefe nicht bekam. Er würde es ihrer Mutter durchaus zutrauen, dass sie sie nicht weiterleitete. Deren Mailadresse hatte er aus dem Schreiben, das sie im Krankenhaus für Granny Rose hinterlassen hatte. Der Brief, der Ericas Großmutter einen Herzinfarkt beschert hatte. Seine Mails waren seine einzige Kontaktmöglichkeit zu Erica, da ihr Handy ja auf dem Meeresgrund lag.

Möglicherweise sollte er den Herzinfarkt doch mal erwähnen. Die alte Dame hatte ihm zwar verboten, Erica davon zu erzählen, damit deren Erholung nach der schweren Blinddarmoperation nicht gefährdet wurde. Aber Rose fragte jeden Tag, sobald Lenny und er sie im Krankenhaus besuchten, ob er vielleicht von Erica gehört hatte.

Oder war Erica wegen dieser Geschichte am Tower of Refuge so sauer auf ihn, dass sie doch nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte? Aber er würde ihr weiterhin schreiben – bis sie wieder hier auf der Insel war. Er würde niemals aufgeben!

2

Argh, er gab auf! Cedrik warf sein Handy auf das Kissen neben ihm. Warum nur hatte er eingewilligt, hier zu bleiben, in diesem kalten Haus mit den zugigen Fenstern und der altersschwachen Heizung? Auf dieser Insel, wo es vor jungen, glücklichen Pärchen und Familien nur so wimmelte, aber sich niemand, wirklich niemand fand, der ihn verstand. Er könnte jetzt wieder in Bergen sein. Mit zahlreichen Gleichgesinnten die Nacht zum Tag machen. Oder was auch immer.

Aber vermutlich müsste er bei Carl leben; seine Eltern würden unter keinen Umständen eine Wohnung nur für ihn allein finanzieren können. Dazu kam, dass sein Großvater auch nicht gerade zentral wohnte, was alles andere als förderlich wäre für sein Liebesleben.

Er konnte sich die Gesichter schon vorstellen, wenn er den Nachtclub um elf Uhr abends verlassen musste, um die letzte Fähre in die Vorstadt zu nehmen. Insgesamt eine äußerst unbefriedigende Situation, im wahrsten Sinne des Wortes. Er hing hier fest, und es sah nicht danach aus, als ob sich daran bald etwas ändern würde.

3

Wie viel Zeit musste man verstreichen lassen, bevor man sich wieder um jemanden bemühen konnte? Henrik schob die Schutzbrille hoch und starrte aus dem kleinen Fenster der mit Eriks Hilfe improvisierten Werkstatt hinaus auf den Garten und die dahinter liegende Dünenlandschaft. Ein kräftiger, noch kalter Frühlingswind bog die Pampasgräser, die Cedrik angepflanzt hatte, um eine besonders sumpfige Ecke trockenzulegen. Wie lange sollte er warten, bis er einen weiteren Versuch startete, Kontakt zu Lucinda aufzunehmen?

Er wusste von Erik, dass sie Zeit zum Nachdenken brauchte. Also sollte er sich vielleicht gedulden, bis sie zu ihm kam. Oder deutete sie seine Zurückhaltung als Desinteresse? Damit würde er das Gegenteil von dem erreichen, was er wollte: wieder mit Lucinda zusammen zu sein! Er konnte an nichts anderes mehr denken als an sie.

Oder hatte die Kirchengemeinde den Druck auf Lucinda derartig erhöht, dass sie gar keine Möglichkeit sah, sich aus deren Griff zu befreien und ein normales Leben zu führen? Sie hatte schließlich keinen Zweifel daran gelassen, dass sie das unbedingt wollte.

Konnte er ihr dabei irgendwie helfen? Aber dazu musste er sich erst mal mit ihr aussprechen!

Vielleicht sollte er Mary nach Ladenschluss abpassen und sie um Hilfe bitten. Inzwischen war ihm jedes Mittel recht. Entschlossen setzte er die Schutzbrille wieder auf und schaltete die Kreissäge ein.

4

»Was ist denn mit euch los? Wieso macht ihr solche Trauermienen?«, keuchte Fredrik. Schnaufend stellte er seinen Verstärker vor Steves Transporter ab. Kälte lag in der Luft und ein Geruch, den er aus seiner alten Heimat kannte – so als würde es noch mal schneien, obwohl Ostern schon vor dem Eingang stand. Oder wie auch immer das hieß …

»Die Anlage ist defekt«, erklärte Steve und deutete mit dem Kopf in Richtung Kofferraum, wo abgesehen vom Kontrabass und seinem Ampeg-Bassverstärker gähnende Leere herrschte. »Beim letzten Auftritt hatte ich das Gefühl, dass einer der Kanäle gekratzt hat. Und da wir bei unserer ehemaligen Band schon mehrfach das Problem hatten, dass während eines Gigs ein Kanal ganz ausgefallen ist, dachte ich mir, ich überprüf das lieber noch mal.«

»Und?«, fragte Fredrik.

»Na ja, ich hatte recht: Die Anlage funktioniert überhaupt nicht mehr. Ich schätze, das war’s dann endgültig. Der Techniker meinte schon bei der letzten Reparatur, wir sollten uns besser eine neue anschaffen. Er könne sicher eine Menge Probleme beheben, aber keine Toten wiedererwecken.« Steve schaute zu Dave, der niedergeschlagen nickte.

»Heißt das, dass der Auftritt in der Purple Hall geplatzt ist?«, hakte Fredrik nach. Das wäre echt blöd. Mimmis Augen waren zwar vollständig verheilt, aber ihr Futter und die regelmäßigen Tierarztbesuche kosteten auch Geld. Und wenn er keine Einnahmen hatte …

»Nein, der Wirt lässt uns über die Hausanlage des Pubs spielen«, erklärte Steve. »Aber das ist auf Dauer keine Lösung. Wir brauchen eine neue Anlage.«

»Wofür uns aber die Kohle fehlt. Oder hast du zufälligerweise fünfhundert Pfund herumliegen?«, fragte Dave.

Fredrik schüttelte den Kopf. »Schön wär’s.«

»Genau. Also müssen wir das Geld durch Auftritte verdienen. Und damit kommen wir zum Problem: Wenn wir keine Anlage haben, können wir nicht spielen. Wenn wir nicht spielen, können wir kein Geld verdienen. Und wenn wir kein Geld verdienen, können wir keine neue Anlage kaufen.«

Das klang leider logisch. »Und was jetzt?«, fragte Fredrik.

Steve zuckte schweigend die Schultern.

»Es gäbe da eine Lösung«, setzte Dave an.

»Nein.« Steve schüttelte den Kopf.

»Doch«, beharrte Dave. »Du willst dich bloß nicht mit dem Gedanken anfreunden.«

»Gedanke? Welcher Gedanke?« Fredrik war ganz Ohr. Sofern auch nur ein Funken Hoffnung bestand, war er dafür. Er wollte unbedingt weiter Musik machen.

Steve seufzte. »Wir haben vor Jahren mal mit einem Saxofonisten namens Adam zusammengespielt, der nicht annähernd so gut war, wie er selbst dachte. Aber er hatte immer das neueste und beste Equipment, das für Geld zu haben war – der einzige Grund, warum wir ihn eine Weile in der Band behalten haben. Was sicherlich kein besonders feiner Zug von uns war. Aber irgendwann ging es dann einfach nicht mehr. Und Dave möchte jetzt, dass ich Adam kontaktiere, weil ich damals derjenige war, der kein Blatt vor den Mund genommen hat.«

Dave nickte. »Ich denke, wenn du dich entschuldigst, besteht vielleicht eine Chance, dass er uns seine Anlage leiht.«

Steve schwieg und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ist der Typ wirklich so schlimm?«, fragte Fredrik. Das konnte er sich gar nicht vorstellen.

Steve richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Ich habe mit Adam schon in mehreren Bands gespielt. Und das endete jedes Mal ziemlich unschön.«

»Wieso? Was ist denn passiert?«

»Die erste Band hat sich aufgelöst. Wegen ›künstlerischer Differenzen‹. Tatsächlich wollte Adam allein über unser Repertoire bestimmen.«

»Und danach?«

»Da hat mich der Typ so genervt, dass ich gegangen bin. Er wusste ständig alles besser. Schließlich hätte er Musik studiert – wie er uns bei jeder Gelegenheit unter die Nase gerieben hat! Und das, was wir fabrizieren würden, wäre alles total amateurhaft. Ich hatte keine Lust, mich noch länger beleidigen zu lassen.«

»Ach, das liegt doch alles schon Jahre zurück«, wiegelte Dave ab. »Bestimmt hat Adam sich inzwischen geändert. Er ist jetzt Lehrer.«

»Wie passend!«, schnaubte Steve. »Die armen Schüler tun mir leid.«

»Ohne Anlage können wir einpacken. Das weißt du genau«, gab Dave erneut zu bedenken. »Ich schlage vor, dass ich zuerst mal mit ihm rede. Vielleicht ist er ja bereit, uns seine Anlage zu leihen, bis wir wieder flüssig sind. Könnt ihr euch damit arrangieren?«

Steve zögerte, nickte dann aber widerstrebend.

»Ja, ich auch«, bestätigte Fredrik. Das klang doch nach einem ganz vernünftigen Vorschlag.

5

Sprachlos sah Erica sich um. Sie hatte das Gefühl, als hätte man sie ins Mittelalter verfrachtet. Das Taxi fuhr sie durch eine Stadt mit Kopfsteinpflaster und Gebäuden, die sie so nur aus historischen Filmen oder Computerspielen kannte. Dazu die Häuser aus der Hansezeit: Treppengiebel, so weit das Auge reichte. Man konnte fast meinen, dass Griet, das Mädchen mit dem Perlenohrring, jeden Moment um die Ecke biegen würde – auch wenn das hier nicht Delft, sondern Brügge war.

Ihr Blick wanderte zum Rapunzelturm dieses unglaublichen Gebäudes hinauf, das ihr Hotel beherbergte: ein echter Palast aus dem fünfzehnten Jahrhundert, in dem die Herzöge von Burgund lange residiert hatten – wie der Taxifahrer während der Fahrt durch die enge Straße erklärte. Licht strahlte aus fast allen Fenstern und verlieh dem Vorplatz mit den sorgfältig gestutzten Bäumen und Sträuchern eine verzauberte Atmosphäre.

Sofort eilte ein Portier in Livree herbei, half ihnen beim Aussteigen und kümmerte sich um ihr Gepäck.

Mit halbem Ohr hörte Erica, wie ihre Mutter das Einchecken an der holzgetäfelten Rezeption übernahm, und folgte ihr dann durch die imposante Eingangshalle mit den hohen, weißen Marmorsäulen hinauf in ihre Suite: ein in warmen Rottönen gehaltener Raum mit Sofaecke und Schreibtisch, von dem zwei separate Schlafzimmer abgingen. Ihr Gepäck stand bereits an einer der Wände, direkt unter dem riesigen Flachbildschirmfernseher. Schweigend betrat Erica ihr Schlafzimmer, überwältigt von der Pracht um sie herum. Ihre Mutter musste ein Vermögen für diese Unterkunft hingeblättert haben. Stieg sie immer so fürstlich ab? Oder wollte sie ihre Tochter beeindrucken? Aber Erica hätte nichts dagegen gehabt, in dem Flughafenhotel in Brüssel zu übernachten, wo auch Genevieves Konferenz stattfand. Je schneller sie am Ende dieser Woche in den Flieger steigen und nach Hause zurückkehren konnte, umso besser.

»Geh schon mal hinunter ins Restaurant. Ich muss noch E-Mails beantworten und zwei Geschäftstelefonate führen. Unser Tisch ist für zwanzig Uhr reserviert«, rief Genevieve aus dem Wohnraum.

Erica warf einen Blick auf die Uhr: kurz vor halb acht. »Okay.« Sie nahm ihre Jacke – dieses alberne Kostümoberteil -, verließ die Suite und lief die ausgetretenen, knarrenden Holzstufen des uralten Treppenhauses mit den Buntglasfenstern hinunter. Allerdings würde sie einen Teufel tun und dreißig Minuten allein in einem Restaurant hocken. Während der Taxifahrt hatte sie durch eine Seitenstraße eine Art Marktplatz bemerkt. Den würde sie sich mal näher ansehen.

Kurz darauf lief sie durch eine breite Gasse. Inzwischen war der Abend angebrochen, aber die Geschäfte auf beiden Seiten hatten fast alle noch geöffnet: viele kleine Boutiquen mit der neuesten Frühlingsmode, Souvenirläden mit Brügger Spitze und eine Café-Chocolaterie neben der anderen. Doch vom Ausgang der Gasse schlug ihr der Geruch von gegrilltem Fleisch entgegen und von … Pferdeäpfeln?

Und im nächsten Moment hörte sie auch schon lautes Wiehern, das von den Ziegelsteinmauern der Gebäude hallte. Neugierig trat sie aus der Gasse heraus.

Der Anblick verschlug ihr förmlich den Atem: Vor ihr lag ein gewaltiger Platz, mit einem Denkmal in der Mitte. Direkt gegenüber ragte ein prunkvolles Gebäude auf – das Rathaus?, fragte Erica sich -, während die rechte Seite von einem Bauwerk mit hohem Turm beherrscht wurde. Das musste der Belfried sein, von dem der Taxifahrer gesprochen hatte. Links von ihr reihten sich mehrere Häuser mit Treppen- und anderen Giebelformen, die ein Restaurant neben dem nächsten beherbergten. Unter den Markisen mit den rot glühenden Heizspiralen standen dichte Tischreihen, die trotz der anbrechenden Dunkelheit alle mit Gästen besetzt waren. Die meisten vermutlich Touristen, wie sie selbst. Kerzen flackerten in Laternenhäuschen, und der Duft von Grillplatten und Ähnlichem wehte ihr entgegen. Und davor warteten bestimmt zehn Kutschen mit großen, schweren Pferden auf Kundschaft.

Erica hörte ein wahrhaft babylonisches Sprachengewirr um sich herum – neben Englisch, Französisch und Deutsch auch südeuropäische Stimmen. Direkt neben ihr ging eine Gruppe vorbei. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die sie an die Vierlinge erinnerte, wenn sie mit ihrem Großvater skypten. Der Gedanke an Erik versetzte ihr einen Stich. Wie schade, dass sie das hier nicht mit ihm teilen konnte. Dass sie nicht mal ein Handy hatte, um diese Szenerie aufzunehmen und ihm zu schicken.

Plötzlich ertönte von dem hohen Turm – dem Belfried – ein Glockenspiel. Viertel vor acht. Sie sollte ins Hotel zurückkehren, wo ihre Mutter bestimmt schon auf sie wartete. Und falls Genevieve noch nicht fertig war, konnte sie in der Zwischenzeit ihren Koffer auspacken. Vor allem ihre wenigen persönlichen Sachen, die sie noch besaß. Mal sehen, welche Gardinenpredigt sie als nächste über sich ergehen lassen musste. Aber morgen würde sie wiederkommen und die Stadt erkunden. Sie war fest entschlossen, aus diesem Zwangsaufenthalt so viel wie möglich herauszuholen, bevor sie endlich nach Hause durfte.

»Ach, übrigens: Ich habe gesehen, wie du vorhin deinen Koffer durchwühlt hast. Fehlt irgendetwas?«, fragte Genevieve und schaute von der Speisekarte auf.

»Ja, ich habe meinen Onesie gesucht. Für später. Der ist so gemütlich.«

»Die Mühe kannst du dir sparen«, sagte Genevieve. Sie schob sich die aschblonden Haare hinter die Ohren. Die Perlstecker an ihren Ohrläppchen schimmerten cremerosa. »Ich habe das Ding entsorgt.«

»Du hast was?«, keuchte Erica.

»Ich habe diesen unsäglichen Strampelanzug für Riesenbabys weggeworfen. Du bist eine junge Frau, Erica, fast erwachsen. Allmählich solltest du dich auch mal entsprechend kleiden.«

Erica starrte ihre Mutter aufgebracht an, schluckte ihre Wut dann aber hinunter. Es hatte keinen Zweck, mit ihr zu streiten. Die Erfahrung hatte sie inzwischen gemacht. Außerdem wollte sie etwas von ihr, das wesentlich wichtiger war als ihr geliebter Jumpsuit. »Ich möchte gern ein eigenes Handy«, sagte sie so freundlich wie möglich. »Wenn ich wieder zu Hause bin, erstatte ich dir das Geld.«

»Aber das brauchst du doch nicht«, erwiderte Genevieve.

Erica atmete auf. Das ging ja besser als gedacht. Doch ihre Erleichterung hielt nicht lange an.

Denn als ihre Mutter ihre erfreute Miene sah, fügte sie hinzu: »Ich meinte, du brauchst kein eigenes Handy. Schließlich hast du ja mich.«

»Und was ist, wenn du nicht da bist und ich dich erreichen muss?«, wandte Erica ein. So leicht wollte sie nicht aufgeben. Sie musste unbedingt hören, wie es Rose ging. Und Erik.

»Dann gehst du zum Hotel und rufst mich von unserer Suite aus an«, erwiderte Genevieve.

»Kosten diese Hoteltelefonate denn nicht ein Vermögen?«

»Ja. Aber ich gehe davon aus, dass wir hier von einem Notfall reden. Komm bloß nicht auf die Idee, irgendwelche anderen Gespräche damit führen zu wollen. Und schon gar keine internationalen Telefonate.« Genevieve warf ihr einen scharfen Blick zu. »Hast du mich verstanden?«

Erica nickte widerstrebend, kreuzte aber unter dem Tisch die Finger. Ihre Mutter hatte offenbar kein Problem damit, eine Unmenge von Geld für ihre Suite hinzulegen, doch ein einfaches Telefonat war ihr zu teuer. Aber da spielte sie nicht mit! Sobald Genevieve bei ihrer Konferenz war, würde sie versuchen, Granny Rose vom Hotel aus anzurufen. Sie musste unbedingt mit ihrer Großmutter sprechen. Bestimmt machte sie sich große Sorgen, weil sie so lange nichts von ihr gehört hatte. Und vielleicht erfuhr sie dann ja auch, wie es Erik ging.

6

Regen tropfte in Eriks Kaffeebecher – eine vollkommen neue Erfahrung. Und keine besonders schöne. Henrik und er reparierten jetzt schon seit Stunden den Schuppen und hatten eine kurze Pause eingelegt. Natürlich hatte er seinem Bruder versprochen, ihm zu helfen, aber er musste unbedingt zu Granny Rose. Sie brauchte seine Hilfe jetzt wesentlich dringender. Seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus halfen Lenny und er im Haushalt und machten Besorgungen – im Grunde all die Dinge, die Erica sonst erledigt hätte. Aber leider wusste ja niemand, wann sie zurückkommen würde. Ob sie überhaupt zurückkam …

Frustriert holte Erik einen Tennisball aus seiner Sweatshirttasche und warf ihn Mimmi zu, die unter dem Dach der Terrasse saß und sich putzte. Als sie den Ball jedoch über die Steinplatten rollen sah, hüpfte sie ihm sofort hinterher, nahm ihn in die kleinen Pfoten und brachte ihm den Ball zurück. Erik streichelte ihr über den Kopf und gab ihr eine Rosine aus dem Beutel Studentenfutter, den Henrik und er sich als Pausensnack teilten. »Gut gemacht, Mimmi!«

Henrik starrte ihn mit offenem Mund an. »Seit wann kann Mimmi apportieren?«

»Ach, das hab ich ihr vor einiger Zeit beigebracht. Ich dachte, sie braucht etwas Bewegung, wo sie schon keine Spielkameraden hat«, erklärte Erik und warf den Ball erneut. Sofort jagte Mimmi ihm wieder nach.

»Und wie hast du das gemacht? Ich meine, Wallabys sind ja keine Hunde. War das nicht total schwer?«

Erik winkte ab. »Nein, ich hab Mimmis Verfressenheit ausgenutzt und sie mit einem Futterbeutel trainiert, der wie ein Tennisball aussieht.« Sanft kraulte er das Wallaby hinter den Ohren. »Hör mal, dauert das hier noch lange? Ich hab Ericas Großmutter versprochen, für sie einzukaufen.«

Henrik grinste. »Wir sind gleich fertig. Ich muss nur noch die Dachpappe festnageln. Wenn du in der Zwischenzeit die Nägel aus den Holzlatten hämmern könntest …«

»Holzlatten?«, fragte Erik.

»Ja, die da drüben.« Sein Bruder zeigte auf vier Bretter, die an der Wand lehnten. »Die Verkleidung. Die hab ich heute Morgen abgenommen, bevor ich die alte Dachpappe entfernt habe. Sie dienen als Schutz und zusätzliche Befestigung.«

Erik nickte und stellte seinen Kaffee unter einen Fenstervorsprung, damit er nicht noch mehr verwässerte. Dann nahm er sich einen Hammer und die erste Latte. Auf der Rückseite ragten sechs Nägel heraus.

»Du brauchst sie nicht vollständig rauszuhauen. Nur so weit, dass ich sie nachher beim Annageln der Latten wieder verwenden kann«, sagte Henrik, legte die Latte auf die Seitenlehnen der Gartenbank und demonstrierte, was er meinte: Nach drei gezielten Schlägen seines Hammers verschwand der Nagel zurück durch das Holz, bis die Spitze plan mit der Oberfläche abschloss und der Nagelkopf auf der Vorderseite der Latte herausragte.

Sah eigentlich ganz leicht aus, dachte Erik und machte sich zuversichtlich an die Arbeit. Doch obwohl er die Spitze regelmäßig traf – statt daneben oder sich auf den Daumen zu schlagen -, wollte sich der Nagel einfach nicht bewegen. Erik verstärkte seine Bemühungen und hämmerte wie wild auf den Nagel ein, aber die Latte schwang auf und ab, und es tat sich nichts.

»Kleiner Tipp: Das funktioniert besser, wenn du die Latte so auf die Bank legst, dass sich der Teil mit dem Nagel relativ nah an der Seitenlehne befindet«, rief Henrik von der Leiter herunter.

Einen Moment lang überlegte Erik, ob sein Bruder ihn auf den Arm nehmen wollte. Diese andere Position konnte doch keinen so großen Unterschied machen, oder? Aber dann gab er sich einen Ruck und probierte es aus. Und tatsächlich: Der Nagel bewegte sich.

»Die Kraft deiner Schläge geht jetzt in den Nagel und wird nicht von der federnden Latte abgefangen«, erklärte Henrik ruhig.

Erik nickte und widmete sich wieder seiner Aufgabe. Er brauchte zwar noch immer deutlich mehr Schläge als Henrik, aber ein Gefühl der Genugtuung strömte durch seine Adern, als der Nagel verschwand und nur noch die Spitze zu sehen war. Zufrieden schaute er von seinem Werk auf. Henrik hatte ihm einen brauchbaren Tipp gegeben und ihm ein kleines Erfolgserlebnis beschert. Vielleicht würde die gemeinsame Arbeit an den Nebengebäuden ja doch nicht so schlimm werden, wie er befürchtet hatte. Und vielleicht würde dabei ja auch etwas von ihrer früheren Vertrautheit und engen Freundschaft zurückkehren.

Plötzlich fuhr ihm ein Gedanke siedend heiß durch die Glieder. Natürlich! »Ich Idiot!«, stieß er hervor. Das hatte er die ganze Zeit falsch gemacht.

»Was ist los?«, fragte Henrik und nahm ihm die erste Latte ab.

»Ich Depp habe Ericas Mutter die ganze Zeit mit E-Mails bombardiert. Also aus der Ferne bearbeitet. Dabei muss ich nah an sie ran, damit sie so reagiert, wie ich es will. Genau wie diese Nägel hier«, erklärte er. »Sie behauptet zwar, sie würde meine Mails an Erica weitergeben, aber ich hab den Verdacht, dass das nicht stimmt.«

Henrik schaute ihn fragend an. »Und wie kommst du darauf?« Er hob die Latte an und befestigte sie mit präzisen Hammerschlägen an der Dachkante.

»Na ja, sie hat so seltsam ausweichend geantwortet: ›Selbstverständlich drucke ich all deine Briefe aus und nehme sie mit ins Krankenhaus. Aber ich kann dir versichern, dass jeder Einzelne ungelesen entsorgt wurde.‹ Da stand mit keinem Wort, dass Erica die Nachrichten nicht sehen wollte. Vermutlich wurden sie von ihrer Mutter weggeworfen. Und ungelesen stimmt auch nicht. Zumindest Genevieve muss sie gelesen haben, denn sonst wüsste sie ja nicht, dass ich mich in einem der Anhänge gefragt habe, ob Erica meine Nachrichten überhaupt bekommt.« Erik reichte Henrik die nächste Latte. »Verstehst du, was ich meine?«

Henrik nickte. »Ja, das klingt logisch. Und was willst du jetzt tun?«

»Ich muss versuchen, sie in ihrem Büro abzufangen und mit ihr zu reden. Vielleicht kann ich sie im persönlichen Gespräch davon überzeugen, dass Erica hierher gehört. Die Insel ist ihr Zuhause«, erklärte er. »Hier wird sie gebraucht. Granny Rose braucht sie. Und ich«, fügte er leise hinzu.

»Du willst ihre Mutter in ihrem Büro abfangen? Arbeitet sie etwa hier auf der Insel?«

»Nein«, erwiderte Erik und gab ihm die letzte Latte. »Ich muss nach England. Aber zuerst muss ich zum Lhen.«

7

»Ihr jungen Mädchen von heute wollt es doch gar nicht bis ganz nach oben schaffen. Wahre Unabhängigkeit interessiert euch nicht«, sagte Genevieve am Montagmorgen verächtlich beim Frühstück.

»Wieso das denn?«, staunte Erica. Da war sie aber mal gespannt.

»Wenn euch das tatsächlich am Herzen liegen würde, würdet ihr euch viel stärker für die Durchsetzung der Frauenquote engagieren.«

»Ach, die Frauenquote ist doch der letzte Schwachsinn«, entgegnete Erica abschätzig.

Klirrend stellte ihre Mutter die Kaffeetasse ab. »Wie bitte?«, fragte sie in eisigem Ton.

»Ich sagte, die Frauenquote ist …«, setzte Erica an, wurde aber von Genevieve unterbrochen.

»Ich habe dich akustisch sehr wohl verstanden, aber es wäre schön, wenn du mir erläutern könntest, was du mit ›Schwachsinn‹ meinst. Immerhin reden wir hier von einer der wichtigsten Errungenschaften in der Geschichte des Feminismus«, sagte Genevieve.

»Errungenschaft – dass ich nicht lache! Es ist der gleiche Fehler, den die Männer jahrhundertelang gemacht haben: Eine Person nur aufgrund ihres Geschlechts auf einen Posten zu setzen, widerspricht jedem gesunden Menschenverstand. Es ist derselbe Fehler, nur mit anderem Vorzeichen«, sagte Erica.

»Ach, was verstehst du denn schon davon? Du bist doch noch viel zu jung!« Ihre Mutter schnaubte.

»Ich mag erst sechzehn sein, aber ich bin nicht blöd. Hast du nicht letztens noch behauptet, die Intelligenz hätte ich von dir geerbt?«

»Und was schlägst du dann vor? Statt der Frauenquote, meine ach so schlaue Tochter? Wie soll das Ungleichgewicht sonst behoben werden?«, fragte ihre Mutter zuckersüß.

»Ich bin für die Einführung einer Kompetenzquote«, verkündete Erica und schmierte dick Butter auf ihr Croissant.

»Einer was?«

»Einer Kompetenzquote«, wiederholte Erica. »Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der jemand mit Ahnung von der Materie gefragt wird. Und es ist mir scheißegal, ob diese Kompetenz in Gestalt einer Frau, eines Mannes oder eines … eines Wallabys daherkommt!«

»Ich muss doch sehr bitten! Dein Sprachgebrauch lässt erneut sehr zu wünschen übrig. Aber das werden wir bald ändern«, sagte Genevieve entschieden, griff dann nach der Financial Times, schlug sie wütend auf und hielt sich die Zeitung so vor die Nase, dass sie dahinter verschwand. Ihre rotlackierten Fingernägel hoben sich wie Warnsignale vom lachsrosa Zeitungspapier ab. Für Genevieve war das Gespräch damit offensichtlich beendet.

Typisch, dachte Erica. Auf das, was sie gesagt hatte, auf den Inhalt ihrer Forderung, war ihre Mutter wieder mal nicht eingegangen. Mürrisch blätterte sie in der flämischen Zeitung, die auf dem Tisch lag, verstand aber kein Wort. Wie gern hätte sie jetzt ihr Handy gehabt und darin gelesen, aber ohne Geld konnte sie sich diesen Gedanken abschminken. Und Genevieve hatte ja gesagt, dass Erica ihrer Ansicht nach kein neues Handy brauchte. Schließlich war sie jetzt immer in der Nähe. Erica hätte heulen können.

»Du solltest dir langsam mal überlegen, was du mit deinem Leben anfangen willst«, sagte Genevieve plötzlich und legte die Zeitung beiseite. »Hast du schon irgendeine Idee?«

Erica musterte sie skeptisch. Konnte es wirklich sein, dass ihre Mutter sich für ihre Meinung interessierte? Das wäre mal was ganz Neues. »Ich …«, setzte sie vorsichtig an, »ich hab letztens von einem Online-Kochkurs der BBC gelesen. Das klang ganz spannend, und ich würde gern Köchin …«

»Unsinn«, fiel Genevieve ihr ins Wort. »Diese Kurse taugen nichts. Das weiß schließlich jeder.«

Erica musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu schreien. Mit mühsam beherrschter Stimme erwiderte sie: »Aha. Hast du einen dieser Kurse besucht?«

»Natürlich nicht!«

»Dann kennst du jemanden, der mal daran teilgenommen hat?«

»Mach dich nicht lächerlich!«, schnaubte Genevieve.

»Hm. Also hast du einen Zeitungsartikel gelesen oder einen Fernsehbericht gesehen, der sich kritisch darüber geäußert hat?«

»Nein, habe ich nicht. Aber glaub mir: Diese Kurse sind nichts für dich.«

»Und woher weißt du das so genau? Klär mich doch bitte auf.« Ihre Mutter legte Wert auf gehobenen Sprachgebrauch? Den konnte sie gern bekommen.

»Ich weiß es einfach.«

»Aha. Du bist also eines Morgens aufgewacht, und da ist dir plötzlich die Erleuchtung gekommen: Diese Fernkurse sind der letzte Mist. Und wenn ich jemandem begegne, der sich dafür interessiert, muss ich ihm das unbedingt mitteilen. Oder wie?«

Ein Mädchen am Nebentisch prustete los.

Genevieve warf ihr einen vernichtenden Blick zu, schleuderte ihre Serviette auf den Tisch und stand auf. »Mir ist der Appetit vergangen. Ich muss mal kurz telefonieren. Du kannst hier warten, ich bin gleich wieder zurück.«

8

Jean schaute in sein dünnes Portemonnaie. Er brauchte Geld, und zwar schnell. Wenn er nicht bald einen Job oder eine andere Einnahmequelle fand, würde er nach Liège heimkehren müssen – und er hatte sich geschworen, nicht mit eingezogenem Schwanz zu seinem Vater zurückzukehren. Deshalb hatte er ja seine ganze Hoffnung auf Brüssel gesetzt, auf einen Job im Finanzwesen. Aber die Stelle bei der Bank hatte sich als Rohrkrepierer erwiesen, und damit er nicht mittellos auf der Straße stand, hatte er den nächstbesten Zug nach Brügge genommen. In dieser Touristenmetropole wurden schließlich immer Barkeeper oder Kellner gesucht. Aber obwohl ihm seine Englischkenntnisse die Tür zur Finanzwelt geöffnet hatten, war sein Flämisch offenbar doch zu schlecht, um ihm auch nur zu einem Job als Tellerwäscher zu verhelfen. Daran hatte der Personalchef dieses piekfeinen Hotels keinen Zweifel gelassen. Er und alle anderen Restaurant- und Kneipenbesitzer, bei denen er vorgesprochen hatte.

Nachdenklich schaute Jean sich um. Möglicherweise musste er doch in den sauren Apfel beißen und nach Hause fahren. Denn das Angebot der Bardame aus dem Club, in dem er am Abend zuvor seinen Frust ertränkt hatte, wollte er lieber nicht annehmen – auch wenn sie ihn noch so freundlich eingeladen hatte, doch einfach zu ihr zu ziehen. Als er dankend abgelehnt hatte, hatte sie sich sein Handy geschnappt und sich selbst eine Nachricht geschickt, damit er sie »jederzeit erreichen« konnte. Darauf verzichtete er lieber; so was gab nur Theater.

Neben ihm schwang die Hoteltür auf. Eine Frau mittleren Alters in einem eleganten Kostüm rempelte ihn mit der Schulter an, als sie sich grob an ihm vorbeidrängte. Sie hatte ein Smartphone am Ohr und sprach leise auf Englisch in das Gerät. Normalerweise hätte Jean nicht zugehört, aber diese Frau war so unhöflich, dass er kein Problem hatte, ebenfalls auf jede Höflichkeit zu pfeifen.

»Guten Morgen, mein Name ist Gascoigne. Genevieve Gascoigne. Ich möchte den Direktor sprechen«, sagte sie in forderndem Ton. »Ja, ich warte … Ah, Mr Fitz-Gerald, ich muss eine kleine Änderung des Plans vornehmen. Wäre es möglich, dass meine Tochter schon früher zu Ihnen ins Internat kommt? … Wunderbar! Dann bringe ich Erica also nächste Woche vorbei, wenn es recht ist? … Schön. Und der Privatlehrer ist auch bestellt? Meine Tochter hat ja eine Menge aufzuholen und kann die Osterferien dazu nutzen, den Stoff zu lernen und sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen. Ach ja, ich hätte noch eine Bitte: Schicken Sie die Unterlagen doch freundlicherweise an meine Büroadresse. Meine Tochter braucht vorerst nichts davon zu erfahren.«

Jean spitzte die Ohren. Das klang interessant. Hier sollte wohl ein Mädchen ohne ihr Wissen in ein Internat gesteckt werden. Vielleicht ließ sich daraus Kapital schlagen.

»Ja, genau«, fuhr die Frau fort. »Wir wollen ihr armes Köpfchen schließlich nicht unnötig belasten. Bis bald, Mr Fitz-Gerald.« Sie klappte ihr Handy zu und steckte es mit zufriedener Miene ein.

»Kleine Überraschung für die Tochter geplant, Ms Gascoigne?«, fragte Jean unverfroren.

Die Frau zuckte zusammen und starrte ihn dann finster an. »Hast du etwa mein Telefonat belauscht?«, herrschte sie ihn an.

»Das war gar nicht zu vermeiden. Schließlich haben Sie mich sehr unsanft aus dem Weg gestoßen, weil Sie es offenbar gar nicht erwarten konnten, Ihr Gespräch zu führen. Dabei sollten Sie lieber vorsichtig sein – heutzutage weiß man ja nie, wer alles mithört. Und sich diese Informationen vielleicht zunutze macht …« Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

Genevieve Gascoigne funkelte ihn an und trat drohend einen Schritt auf ihn zu.

Sie war kleiner als er, aber er zweifelte keine Sekunde daran, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen war. Unter normalen Umständen hätte er jetzt einen Rückzieher gemacht. Aber diese Gelegenheit war ein Geschenk des Himmels; er durfte sie sich nicht entgehen lassen. Mit hochgezogener Augenbraue musterte er sie. »Muss ich es wirklich aussprechen?«, fragte er.

»Was aussprechen? Dass du mich erpressen willst?« Unter ihrer dick geschminkten Stirn wölbte sich eine pulsierende Ader.

»Erpressung ist so ein hässliches Wort«, erwiderte Jean. »Ich biete Ihnen lediglich meine Dienste an. Meine Dienste, das Geheimnis um den geplanten Internatsbesuch Ihrer Tochter auch weiterhin vor ihr verborgen zu halten.«

»Tatsächlich?« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Dann nickte sie nachdenklich. »Also schön. Aber dafür verlange ich eine Gegenleistung.«

Jean jubelte innerlich. Er hatte eigentlich nicht damit gerechnet, dass diese Frau sich auf seinen Vorschlag einlassen würde, weil er ja im Grunde überhaupt nichts in der Hand hatte. Aber wenn das so war … »Ich bin mir sicher, dass wir uns einig werden.«

9

Erik schloss die Tür auf und betrat das kleine Cottage. Seit Rose’ Entlassung aus dem Krankenhaus war er hier so oft ein- und ausgegangen, dass es sich nicht mehr wie ein Sakrileg anfühlte, einfach in ein fremdes Haus hineinzumarschieren – zumal Ericas Großmutter Lenny und ihm jeweils einen Hausschlüssel anvertraut und gleichzeitig das Du angeboten hatte. »Schließlich bist du der feste Freund meiner Enkelin und damit Teil unserer Familie«, hatte sie gesagt und ihn umarmt. »Und du darfst mich ebenfalls ab sofort beim Vornamen nennen«, hatte sie, an Lenny gewandt, lächelnd hinzugefügt.

»Rose!«, rief Erik jetzt. »Wo bist du? Ich hab eingekauft und noch ein paar Scones mitgebracht.«

»Hier, in der Küche«, antwortete sie. »Oh, vielen Dank für die Lebensmittel und vor allem für die Scones. Hast du die selbst gebacken?«

Erik nickte. »Ja, das erste Mal ohne … ohne Erica.« Es hatte ihn wirklich Mühe gekostet, sich allein ans Backen zu machen. Sie fehlte ihm!

Rose schien das an seinem Gesicht ablesen zu können. Sie tätschelte ihm die Hand. »Möchtest du eine Tasse Kaffee oder Tee? Wir könnten hinausgehen, auf die Terrasse. Das Wetter ist so schön.«

Erik folgte ihrem Blick durchs Fenster: Auf dem benachbarten Feld zogen blökende Schafe mit ihren Lämmern vorbei und sonnten sich in der inzwischen warmen Frühlingssonne. Dahinter glitzerte das Meer tiefblau. »Klar. Ich will nur schnell mal mit dem Staubsauger durchs Haus gehen.«

Rose winkte ab. »Das hat Lenny gestern schon erledigt. Aber es wäre toll, wenn du hier in der Küche aufräumen könntest. Es fällt mir schwer, das Geschirr mit nur einer Hand zu spülen, während ich mich auf den Stock stützen muss.« Traurig hob sie den Gehstock hoch, den man ihr im Krankenhaus gegeben hatte.

»Ach, das wird bestimmt bald besser. Ich bin mir sicher, in wenigen Wochen bist du wieder so springlebendig wie die Lämmer da draußen auf der Wiese«, versuchte Erik sie zu trösten. »Setz dich schon mal in den Garten. Ich kümmere mich um die Küche und bring uns dann den Tee raus«, fügte er hinzu und half ihr beim Aufstehen.

Eine Viertelstunde später trug er ein Tablett mit Tee, Scones, Butter und Erdbeermarmelade zu der Sitzecke auf der Terrasse.

»Hast du denn überhaupt Zeit, einer alten Frau etwas Gesellschaft zu leisten?«, fragte Rose und hielt eine Hand schützend vor die Augen, als sie zu ihm hochschaute.

»Aber immer! Ich wollte sowieso mehrere Sachen mit dir besprechen«, erwiderte Erik, während er ihnen Tee einschenkte.

Rose gab Zucker und Milch hinein und schnupperte genießerisch an der dampfenden Tasse. »Gleich mehrere Sachen? Das klingt gefährlich. Oder teuer. Oder beides«, sagte sie schmunzelnd.

Erik setzte sich zu ihr an den Tisch. »Zuallererst wollte ich mich noch mal dafür entschuldigen, dass ich Erica mit dem Picknickausflug zum Tower of Refuge in Gefahr gebracht habe.«

»Papperlapapp! Ich hab dir ja bereits gesagt: Ich will nichts davon hören«, entgegnete Rose und legte das Messer beiseite, mit dem sie gerade ihr Gebäckstück hatte aufschneiden wollen. »Wenn du nicht mit Erica zum Tower gelaufen wärst und schließlich den Rettungsdienst verständigt hättest, wäre sie allein zu Hause gewesen. Weil ich nämlich übers Wochenende bei einer Freundin in Port Erin war. Erica hätte bestimmt keinen Notdienst angerufen, sondern still vor sich hin gelitten. Und das weiß ich deshalb so genau«, fuhr sie rasch fort, als Erik protestieren wollte, »weil ich sie kenne: Erica will niemandem zur Last fallen. Als Kind hat sie lange Zeit geglaubt, ihre Mutter hätte sie weggegeben, weil sie mit dem Dreirad gestürzt war und sich die Knie aufgeschürft hatte. Und deshalb hätte sie mit ihren Bauchschmerzen hier zu Hause gesessen, bis es zu spät gewesen und der Blinddarmdurchbruch dann nicht mehr zu retten gewesen wäre.« Sie schluckte schwer und nippte nach einem Moment vorsichtig an ihrem Tee. »Außerdem hasst Erica Arztbesuche und Krankenhäuser. Kurz nach ihrer Ankunft auf der Insel mussten ihre Mandeln entfernt werden, und sie war allein im Krankenhaus. Zwar konnte ich sie täglich besuchen, aber ich musste mich gleichzeitig um den Hof und die Felder kümmern, die ich damals noch bewirtschaftet hatte.« Sie schaute nachdenklich über die benachbarten Felder und die weiter unten liegenden Dünen. »Ich weiß, wie viel dir an meiner Enkelin liegt, deshalb vertraue ich dir jetzt etwas an, das ich noch niemandem gesagt habe: Erica leidet unter Verlassensängsten … weil ihre Mutter sie einfach bei mir deponiert hat und nicht mehr aufgetaucht ist. Das führt dazu, dass sie einerseits niemandem richtig traut und versucht, alles allein zu machen. Aber wenn sie jemanden erst einmal ins Herz geschlossen hat, ist sie bis zum Äußersten loyal … immer auf der Suche nach der verlorenen Familie. Dadurch nimmt sie unter Umständen so manches in Kauf, was andere sich nicht bieten lassen würden – bis ihr der Kragen platzt und sie überreagiert und den Kontakt vollständig abbricht.«

Erik nickte. Das erklärte einiges. »Aber ich hätte Erica davon abhalten müssen, zum Tower zu laufen. Wenn wir mit dem Picknick an der Promenade geblieben wären, wäre die Situation erst gar nicht so lebensgefährlich geworden«, gab er zu bedenken.

Rose beugte sich vor und tätschelte ein weiteres Mal seine Hand. »Du brauchst dir wirklich keine Vorwürfe zu machen. Ich weiß, wie stur sie ist. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt sie sich von niemandem davon abbringen. Nicht einmal von ihrer eigenen Mutter. So wie vor ein paar Jahren, als sie unbedingt diese Hauswirtschaftskurse belegen und das Geburtstagsgeld von ihrer Mutter dafür verwenden wollte.«

»Wieso? Was ist damals passiert?« Erik fühlte sich jetzt etwas besser und griff nach einem Scone.

»Genevieve hatte das Geld an die Bedingung geknüpft, dass Erica sich irgendwelche ›schicke‹ Kleidung davon kauft. Daraufhin hat Erica sich im Secondhandladen ein günstiges Sommerkleid besorgt, ihrer Mutter ein Foto geschickt und den Großteil des Geldes für die Abendkurse verwendet.«

»Clever!« Erik lachte.

Rose blickte sinnend Richtung Meer. Am Strand wanderten zwei winzige Punkte zum Naturschutzgebiet. »Ich bin ewig lange nicht mehr am Strand spazieren gewesen«, sagte sie nachdenklich. »Früher sind wir oft nach Peel gefahren, haben Strandliegen und einen Windfang gemietet. Die klassischen Strandbuden gab es dort nie, aber öffentliche Toiletten und eine Eisdiele. Und ich weiß nicht, was wichtiger war!« Sie lachte. »Aber du wolltest noch etwas anderes mit mir besprechen.«

»Ja, ich habe vor, Genevieve persönlich aufzusuchen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie Erica abschottet. Ich hab auf meine ganzen E-Mails bisher keine einzige Antwort erhalten. Und falls Erica nicht noch immer furchtbar wütend auf mich ist …«

»Das ist sie nicht«, warf Rose ein.

»Okay, also dann finde ich das ziemlich ungewöhnlich für sie. Normalerweise hätte sie doch bestimmt reagiert – sofern sie die Briefe überhaupt erhalten hat. Deshalb will ich mit ihrer Mutter reden und sie davon überzeugen, dass Erica nach Hause kommen darf«, erklärte er.

»Viel Glück«, schnaubte Rose traurig. »Wenn ich meine Quasi-Schwiegertochter richtig einschätze, wird sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehren. Sie hat mir in all den Jahren nicht einmal ihre Privatanschrift gegeben, nur die Büroadresse – unter dem Vorwand, sie würde viel reisen und das Büro in London wäre schließlich von Montag bis Freitag besetzt.« Sie seufzte. »Ich habe keine Ahnung, was sie sich vorgestellt hat, wie ich sie in einem Notfall am Wochenende erreichen sollte. Glücklicherweise ist es nicht dazu gekommen.«

»Könntest du mir diese Adresse geben?«, fragte Erik. Der »Herzinfarkt-Brief« hatte nur ihre E-Mailadresse enthalten. Aber vielleicht würde man ihm in dem Londoner Büro ja ihre persönlichen Kontaktdaten anvertrauen, wenn er die Situation erklärte.

Rose nickte. »Natürlich. Wann willst du los?«

»Sobald ich einen Platz auf der Fähre bekomme. Allerdings rechne ich damit, dass die gesamte Reise ein paar Tage dauern wird. Und das bedeutet, dass ich mich nicht um deine Einkäufe kümmern kann.«

»Das stellt nun wirklich kein Problem dar, Erik. Hol Erica nach Hause – das ist viel wichtiger«, erwiderte Rose. »Hast du gewusst, dass es im Fährterminal in Douglas früher ein Restaurant gab, von wo aus man auf den Tower of Refuge hinausblicken und das Kommen und Gehen der Fähren verfolgen konnte? Es hieß ›Crows Nest‹ und war ziemlich teuer. Aber ich erinnere mich gern daran zurück. Kleine Schilder an den Fenstern zeigten an, in welche Himmelsrichtung man schaute«, berichtete sie mit einem nostalgischen Ausdruck in den Augen und biss dann herzhaft in ihren Scone.

Rose wusste so viel über die Insel, dachte Erik. Seine Brüder und er hätten sie mal nach Informationen fragen sollen … vor diesem blöden Test, den Haakon auch noch um mehrere Monate vorgezogen hatte – mit dem Argument, er wäre schließlich seit April auf der Insel und hätte das mit »ein Jahr« gemeint. Mit Rose’ Wissen hätten sie alle besser abgeschnitten. Allerdings hätte das auch nichts geändert. Sein Entschluss, auf der Insel zu bleiben und Erica zurückzuholen, stand fest.

»Rose, bist du auch ganz sicher, dass ich dich ein paar Tage allein lassen kann?«, hakte er nach.

»Mach dir um mich keine Sorgen!«, lachte Rose. »Morgen Nachmittag kommt Lenny vorbei. Am Mittwoch trifft sich mein Fechtverein statt zum Training hier bei mir zum Teetrinken. Donnerstagvormittag fährt Lenny für mich zum Laden und erledigt den Wochenendeinkauf, denn für Freitagnachmittag hat sich die halbe Nachbarschaft zum Besuch angekündigt. Und Samstag bist du vielleicht ja schon wieder zurück. Hoffentlich zusammen mit Erica«, fügte sie hinzu.

Erik nickte. Wenn es nach ihm ging, definitiv zusammen mit Erica.

10

Als Genevieve zehn Minuten später an den Tisch zurückkehrte, schien sie etwas besserer Laune zu sein. Erica hatte keine Ahnung, wieso. Aber es war ihr auch egal. Ihre Mutter schenkte sich ein Glas Sekt ein und kramte eine Pillendose aus ihrer Handtasche.

»Was nimmst du da alles ein?«, fragte Erica erstaunt.

»Ach, das sind nur Kollagen-Präparate. Für meine Haut. Die könnten dir übrigens auch nicht schaden«, erwiderte Genevieve und warf einen vielsagenden Blick auf Ericas Gesicht.

Unsicher fasste Erica sich an die Wange. »Granny Rose hält nichts von künstlichen Pillen«, sagte sie.

»Ach, tatsächlich? Und warum nicht?«, fragte Genevieve spitz.

»Sie meint, man sollte lieber Obst und Gemüse essen. Denn das Ganze sei wie ein Ballett: Wenn man nur die Ballerina auftreten lässt, wäre das zu wenig. Etwas Wichtiges würde dann fehlen. Nur durch das Zusammenspiel der anderen Beteiligten würde eine gelungene Aufführung daraus werden«, erklärte Erica und trank einen Schluck Tee.

»Nun ja, wie toll das funktioniert, erkennt man ja an dir!« Genevieve funkelte sie an. »Und überhaupt: Wie siehst du wieder aus?«

Klirrend stellte Erica die Tasse ab und stand auf.

»Wo willst du hin?«, fragte ihre Mutter fordernd.

»Raus. Ich brauch dringend frische Luft«, sagte Erica und marschierte in Richtung Ausgang.

»Vergiss den Termin nicht!«, rief Genevieve ihr nach. »Ich habe uns beide für elf Uhr angemeldet. Du findest die Wellnessabteilung im obersten Stockwerk …«

Erica stiefelte weiter, ohne sich noch einmal umzuschauen. Allerdings sah sie in einem der Spiegel an den Wänden, wie ihre Mutter sich umdrehte und einen dunkelhaarigen Mann, der an einem der Nebentische stand, herrisch zu sich heranwinkte.

Seufzend verabschiedete er sich von seiner Gesprächspartnerin und machte sich pflichtbewusst auf den Weg zu ihr.

Erica hatte fast Mitleid mit dem Kellner. Bestimmt würde Genevieve ihre Wut jetzt an ihm auslassen.

Eigentlich hatte sie überhaupt keine Lust auf diese »Mutter-Tochter-Zeit«, wie Genevieve es formuliert hatte. Aber der Wellnessbereich des Hotels machte einen guten Eindruck, und vielleicht konnte sie hier ja ein paar Minuten abschalten und sich von ihrer nervigen Mutter erholen.

»Nur eine Pflegepackung«, schmeichelte Genevieve in diesem Moment. »Wenn du schon so lange Zauseln hast, sollen sie wenigstens gepflegt aussehen. Du bist schließlich meine Tochter!«

Erica seufzte. Okay, eine Pflegepackung konnte vielleicht nicht schaden. Ihre Haare waren nach der Geschichte am Tower of Refuge und dem Krankenhausaufenthalt nicht im Bestzustand. »Also gut, von mir aus.«

Sofort kam einer der Angestellten herbeigeeilt. Doch statt einem Pflegeprodukt hielt er einen dampfenden Kaffee in der Hand und streckte Erica die Tasse entgegen. »Eine kleine Aufmerksamkeit des ’auses«, flötete er in seinem charmanten französischen Akzent. Obwohl in Brügge hauptsächlich Flämisch gesprochen wurde, schienen viele der Hotelangestellten aus dem französischsprachigen Teil Belgiens zu stammen.

»Nein, danke, ich mag keinen …«, setzte Erica an und stutzte: Der Mann kam ihr irgendwie bekannt vor. Hatte sie ihn nicht beim Frühstück im Speisesaal gesehen? Aber vermutlich irrte sie sich; schließlich saß der Friseur wohl kaum mit den Gästen zusammen im Speisesaal und frühstückte in aller Ruhe. Wahrscheinlich hatte sie sein Gesicht in der Werbebroschüre des Hotels gesehen, in der die leitenden Angestellten der verschiedenen Abteilungen mit Bild vorgestellt wurden.

Ungeduldig mischte Genevieve sich ein: »Nun sei doch nicht so unhöflich, Erica! Antoine hat sich extra die Mühe gemacht!« Sie nahm dem Friseur – Antoine – die Tasse ab und platzierte sie auf der Ablage vor Ericas Stuhl. Dabei stellte sie sich aber so unbeholfen an, dass die Flüssigkeit über den Rand schwappte – was ungewöhnlich für Genevieve war. »Ich Dummerchen«, tadelte sie sich, machte sich hektisch an der Untertasse zu schaffen und kippte den verschütteten Kaffee zurück in die Tasse. »Was bin ich heute aber auch ungeschickt!« Sie schaute in den Spiegel und schenkte sich selbst ein mildes Lächeln. »Hier nimm«, sagte sie und drückte Erica die Tasse in die Hand.

Erica seufzte erneut. Vorsichtig nippte sie an der lauwarmen Flüssigkeit. Irgendwie schmeckte der Kaffee seltsam. Aber vielleicht lag es am Wasser oder an der Tatsache, dass sie nicht zu den größten Kaffeekennern der Welt zählte. Sie wollte die Tasse gerade wieder abstellen, als ihr Blick auf die gerunzelte Stirn ihrer Mutter fiel.

»Nun trink schon aus«, drängte sie. »Lass Antoine nicht so lange warten.«

Antoine stand hinter ihrem Stuhl und nickte aufmunternd.

Erica biss innerlich die Zähne zusammen und kippte den Inhalt der Tasse in einem Zug hinunter, um die Sache hinter sich zu bringen. Dann nahm sie eine der angebotenen Zeitschriften und blätterte lustlos darin herum. Diese Modemagazine waren nicht ihr Fall. Aber eine Sportzeitung würde sie hier bestimmt vergebens suchen.

Nach ein paar Minuten spürte sie, wie sie von einer bleiernen Müdigkeit erfasst wurde. Sie konnte kaum noch die Augen aufhalten. Offenbar hatte die Operation sie doch stärker erschöpft als vermutet, und sie war noch lange nicht wieder so fit, wie sie gedacht hatte. Träge ließ sie den Kopf gegen die hohe Stuhllehne sinken und nahm gerade noch wahr, wie ihr die Zeitschrift aus den Händen glitt, als eine überwältigende Dunkelheit sie in die Tiefe zog.

11

Genevieve warf einen Blick in Ericas Kabine. Ihre Tochter schlief tief und fest. »Es ist soweit, Antoine«, rief sie ihn zu sich heran. »Du weißt, was du zu tun hast. Die Wirkung der Tablette hält nicht ewig an. Ich gehe jetzt ein paar Runden schwimmen und bin in einer Stunde zurück.« Sie drückte ihm ein Bündel Geldscheine in die Hand. »Und wo du gerade dabei bist, kannst du ihr auch gleich etwas Make-up auflegen.«

»Oui, Madame.« Antoine schob die Scheine in seine Kitteltasche und zückte die Schere.

12

Diese blöde Schere war total stumpf! Vielleicht sollte er mal lernen, die frischen Kräuter mit einem Küchenmesser zu hacken – so wie Erica.

Erica …

Wenn er nur an sie dachte, blutete ihm schon das Herz.

Erik seufzte und wandte sich an seine Brüder: »Ich muss nach London.«

Henrik und Cedrik waren gerade zum Mittagessen in die Küche gekommen. Fredrik saß bereits mit Mimmi am Tisch und spielte Fang-die-Rosine. »Nach London?«, fragte er. »Was gibt’s denn da?«

»Ericas Mutter ist da. Ich muss zu ihr und sie davon überzeugen, dass Erica wieder nach Hause darf«, antwortete Erik, während er den Tisch deckte.

»Wir sollten dich begleiten«, sagte Fredrik sofort.

»Und was machen wir dann mit Mimmi?«, konterte Erik. Das Wallabyfräulein spitzte die Ohren, als es seinen Namen hörte.

»Die kommt natürlich mit!«

Erik schüttelte den Kopf. »Nein, eine Großstadt ist nichts für sie. Und wir würden viel zu viel Aufmerksamkeit mit ihr erregen. Ich will eigentlich nur schnell zu Genevieves Büro, mir ihre Privatadresse besorgen und Erica abholen. Wenn ihr alle mitkommt, erhöht das die Kosten unnötig. Außerdem brauche ich euch hier, damit ihr mir Mum gegenüber Rückendeckung gebt. Ihr müsst irgendwas erfinden, wenn sie anruft … dass ich beim Training bin oder einkaufen oder sonst was.«

»Kein Problem«, erwiderte Henrik. »Aber wovon willst du die Reise überhaupt bezahlen?«

Erik holte den Auflauf aus dem Backofen, streute die zerkleinerten Kräuter darüber und stellte ihn auf den Tisch. Der köstliche Geruch von Kartoffeln und Zucchini in Sahnesauce erfüllte die Küche. »Vom Haushaltsgeld. Ich werde so billig wie möglich reisen: als Fußpassagier mit der Fähre nach Liverpool und von dort aus per Anhalter nach London.«

Seine Brüder nickten und machten sich über das Gericht her.