Mann – Insel für Einsteiger - Pippa McKenzie - E-Book

Mann – Insel für Einsteiger E-Book

Pippa McKenzie

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Beschreibung

Isle of Man! Ein einsamer Leuchtturm! Was nach einem romantischen Abenteuer klingt, ist für die Vierlinge Erik, Henrik, Fredrik und Cedrik eine einzige Zumutung. Sie vermissen die vertraute Großstadt Bergen und ihre Freunde, aber es kommt noch schlimmer: Selbst ihren Hobbys scheinen sie auf der Insel nicht nachgehen zu können. Der handwerklich geschickte Henrik muss auf seine Werkstatt verzichten, Erik findet keinen Handballverein und Musiker Fredrik keine Band, die zu ihm passen würde. Und Cedrik wird noch menschenscheuer als zuvor und vergräbt sich endgültig in seine Bücher. Doch dann verlieben sich Erik und Henrik in das gleiche Mädchen, und die Sache wird noch komplizierter, als die hübsche Erica in ihrer aller Leben tritt. Sie freundet sich mit den Jungs an – oder steckt doch mehr dahinter als Freundschaft? Fredrik dagegen hat alle Hände voll zu tun, als er ein kleines Wallaby rettet und aufpäppelt. Nach einem turbulenten Jahr geschieht das Unerwartete: Als die Vierlinge die Möglichkeit bekommen, nach Norwegen zurückzukehren, stellen sie zu ihrer eigenen Überraschung fest, dass sie es gar nicht mehr so eilig haben wegzukommen. Denn die Abenteuer auf der Insel inmitten der Irischen See haben gerade erst begonnen ...

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Pippa McKenzie

Mann – Insel für Einsteiger

Die Jungs vom Leuchtturm

Band 1

Roman

Copyright: © 2022 Pippa McKenziewww.pippamckenzie.com

Lektorat: Sabine Franz Korrektorat: Waltraud Horbas – www.waltraud-horbas.de Satz: Erik Kinting – www.buchlektorat.net Umschlag: Frauke Schneider – www.frauke-schneider.de

Druck: epubliwww.epubli.de Ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Das gilt ebenso für das Recht der mechanischen, elektronischen und fotografischen Vervielfältigung und der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Handlung und die handelnden Personen sowie deren Namen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden und/oder realen Personen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt. Markennamen sowie Warenzeichen, die in diesem Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.

Für Hein -mein Northern boy

Über Pippa McKenzie

Pippa McKenzie lebt mit ihrem Mann auf der Isle of Man. Sie arbeitet als literarische Übersetzerin und hat im Laufe ihres Berufslebens zahlreiche Romane aus dem Englischen und Niederländischen einer deutschen Leserschaft näherge-bracht. Doch die Leidenschaft, ihre eigenen Geschichten zu entwickeln und niederzuschreiben, entstand bereits während ihrer Jugend. Der Umzug auf die Insel mit ihrer rauen Schönheit und wilden Natur inspirierte sie zum ersten Band in ihrer Reihe »Die Jungs vom Leuchtturm«.

Weitere Titel von Pippa McKenzie: Die Jungs vom Leuchtturm 2: Mannomänner Die Jungs vom Leuchtturm 3: Manxies

1

»Jungs, alle mal herhören!«

Widerstrebend blickte Erik von seinem Handy auf, wo er gerade den Sportbericht las, als sein Vater mit einem Löffel an den Rand seines Saftglases klopfte. Auch Henrik und Fredrik unterbrachen ihre hitzige Diskussion über die neuesten Fußballtransfergerüchte. Lediglich Cedrik starrte weiterhin in das Buch, in dem er schon seit Tagen las. Sein »Reiseführer ins Zeitalter der englischen Königin Elisabeth I.« musste echt spannend sein, auch wenn Erik damit überhaupt nichts anfangen konnte. Er hatte keine Ahnung, wie man so was freiwillig lesen konnte; da waren ihm seine Handballzeitschriften wesentlich lieber. Unauffällig stieß er seinen Bruder mit dem Ellbogen an.

»Was ist?«, murrte Cedrik und hob ungehalten den Kopf. Eine rotblonde Haarsträhne fiel ihm in die Augen, und er wischte sie ungeduldig weg.

»Haakon will was sagen«, raunte Erik. Als Seemann war sein Vater so oft auf großer Fahrt gewesen, dass seine Brüder und er ihn nur selten zu Gesicht bekommen und deshalb von Kindesbeinen an immer beim Vornamen genannt hatten.

Sein Vater öffnete gerade den Mund, um wohl zu einem seiner üblichen Vorträge anzusetzen, als eine der Möwen, die den Leuchtturm hinter dem Haus ständig umkreisten, mit einem dumpfen Geräusch auf dem verglasten Anbau der Wohnküche landete. Der Seevogel kreischte auf, wagte ein paar unsichere, schlitternde Schritte auf den glatten Glaspaneelen des Wintergartens und beäugte die halb verbrannten Toastscheiben im Brotkorb. Haakon schaute kurz zu dem ungebetenen Gast hoch, räusperte sich und verkündete schließlich: »Hiermit eröffne ich die erste Sitzung des Familienrats – die erste in einer hoffentlich langen Reihe von Sitzungen …«

Erik, Henrik, Fredrik und Cedrik warfen sich betroffene Blicke zu.

Na, Mahlzeit. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Erik seufzte.

»Wie ihr alle wisst, werde ich auch im Rahmen meiner neuen Stelle als Schiffsinspektor viel unterwegs sein und daher kaum Gelegenheit haben, unsere neue Heimat richtig kennenzulernen …«

Unsere neue Heimat – das wüsste ich aber!, schnaubte Erik innerlich. Ein Blick auf seine Brüder verriet ihm, dass sie offenbar ähnlich dachten. Trotz der grellen Junisonne, die durch die hohen Fenster in den Anbau fiel, herrschte plötzlich eine düstere Stimmung im Raum – als hätte sich eine schiefergraue Wolke über die Köpfe der Sechzehnjährigen geschoben.

»Deshalb haben eure Mutter und ich beschlossen …«, setzte Haakon erneut an, schaute sich dann aber suchend um. »Marita, wo bleibst du denn?«

»Ich komme ja schon«, klang es aus dem Flur, und eine Sekunde später hastete ihre Mutter in die Küche. Wie so oft wirkte sie ein wenig gehetzt, während sie ihre dunklen Haare mit einem Gummi zusammenfasste.

»Deshalb haben wir beschlossen, dass ihr das für mich übernehmen werdet«, fuhr Haakon fort und betrachtete seine Söhne, die groß und schlaksig auf den schlichten Holzstühlen lümmelten.

»Was meinst du mit: Wir sollen das übernehmen?«, fragte Henrik pragmatisch. Erik war froh, dass sein Bruder als der Älteste von ihnen wie immer die Rolle des Sprechers übernahm. Denn im Gegensatz zu Henrik fiel es ihm schwer, offen seine Meinung zu äußern. Trotz des gemeinsamen Geburtstags und der äußerlichen Ähnlichkeit besaßen er und seine Brüder sehr unterschiedliche Charaktere. Und diese Unterschiede, die ihm zu Hause in Norwegen kaum aufgefallen waren, zeichneten sich in den wenigen Wochen seit ihrem Umzug immer deutlicher ab.

»Ich habe mir das folgendermaßen vorgestellt«, erklärte Haakon und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Der Duft vermischte sich mit der salzigen Brise, die durch die weit geöffneten Terrassentüren hereinwehte. »Ihr vier fahrt zu den Sehenswürdigkeiten, schaut euch in Ruhe alles an und berichtet mir dann, was ihr erlebt habt. Auf diese Weise bekomme ich wenigstens etwas von den Schönheiten der Insel mit.«

»Schönheiten? Sehenswürdigkeiten? Müssen wir uns das wirklich alles reinziehen?«, stöhnte Fredrik, griff sich seine Gitarre und zupfte unmutig an den Saiten. Erik fragte sich, ob Fredrik seine Kumpel aus der Band so sehr vermisste wie er seine Handballfreunde. Aber Fredrik war umgänglich und offen und konnte sich jederzeit eine neue Band suchen, während er Probleme hatte, Fremde anzusprechen. Außerdem spielte hier niemand Handball. Diese Sportart schien auf der Insel unbekannt zu sein; das hatte er in den vierzehn Tagen seit dem Umzug von Bergen schon herausgefunden. Vielleicht sollte er ja auf Rugby umsatteln.

»Ja, das müsst ihr«, erklärte seine Mutter, die sich inzwischen zu ihnen an den Tisch gesetzt hatte. »Wenn eure Großeltern uns im nächsten Frühling besuchen, sollt ihr schließlich in der Lage sein, sie überall herumzuführen und ihnen die Insel zu zeigen.« Sie nahm sich ein Toastbrot, kratzte die dunkelbraunen Stellen ab und bestrich die Scheibe dick mit Butter und Orangenmarmelade.

Eriks Gedanken schweiften ab. Dieser Toaster – ein Erbstück des Leuchtturmhauses – schien ein Eigenleben zu führen. Erik hatte keine Ahnung, wie die Vorbesitzer es hinbekommen hatten, die Scheiben nicht zu verbrennen. Aber vielleicht hatten sie ja auf angekokeltes Toastbrot gestanden …

»Roswitha und Joseph beehren uns mit ihrer Anwesenheit?«, fragte Cedrik skeptisch und riss Erik aus seinen Überlegungen.

Unwillkürlich musste Erik grinsen. Wenn Cedrik überhaupt etwas sagte, dann drückte er sich gern gewählt aus. Sein nächstälterer Bruder hatte früher schon nicht zu den gesprächigsten Menschen gezählt, aber hier auf der Insel war er total einsilbig geworden. Cedrik lebte erst auf, wenn es um sein Lieblingshobby Archäologie ging. Allerdings verstand Erik die Bedenken seines Bruders. Ihre Großeltern waren zwar lieb, aber sie stellten auch dauernd nervige Fragen. Sie wollten immer alles wissen: über die Schule, über ihre Freunde und … Mädchen. Als ob einer der Vierlinge jemals über so was reden würde.

»Ja«, bestätigte Haakon, »und Carl wird uns ebenfalls besuchen.«

Ihr Großvater väterlicherseits stellte kein Problem dar. Der steckte nicht dauernd seine Nase in ihre Angelegenheiten.

»In Ordnung«, sagte Cedrik gedehnt, »aber da wir gerade von Carl sprechen: Mich würde einmal interessieren, warum wir nicht einfach bei ihm bleiben konnten … bei ihm und unseren Freunden.«

Genau!, dachte Erik. Cedriks Einwand war mehr als berechtigt. Schließlich war ihr Großvater für sein Alter noch ziemlich rüstig und hätte bestimmt nichts dagegen gehabt, seine Enkel bei sich aufzunehmen. Klar, man hätte etwas zusammenrücken müssen, aber das hätte Carl schon irgendwie verkraftet.

»Das haben wir euch doch schon hundert Mal erklärt«, erwiderte Haakon mit einem leicht ungeduldigen Unterton in der Stimme und stellte die Kaffeetasse klirrend auf den Unterteller.

»Erklärt schon, nur verstanden haben wir es nicht«, warf jetzt auch Henrik missmutig ein.

»Erstens haben wir Anfang des Jahres alle gemeinsam beschlossen, hierher zu ziehen – auch wenn ihr euch jetzt nicht mehr daran erinnern wollt«, antwortete Haakon scharf. »Und zweitens sind eure Mutter und ich der Ansicht, dass ihr mal eine andere Region Europas kennenlernen solltet. Und zwar nicht nur auf Reisen.« Er sah Marita kurz an und fuhr dann fort: »Als wir in eurem Alter waren, da haben wir beide wichtige Erfahrungen beim Schüleraustausch gesammelt. Und als unsere Vorfahren in eurem Alter waren, da …«

»Unsere Vorfahren?«, unterbrach Henrik ihn. »Wen meinst du damit?«

»Ich meine unsere frühen Vorfahren. Unsere ganz frühen Vorfahren: Die Wikinger sind schon in jungen Jahren in winzigen Nussschalen über die sieben Meere gesegelt. Damals waren Achtzehnjährige gestandene Seeleute mit jahrelanger Erfahrung im Kreuz. Sie haben die Welt bereist, neue Länder erobert, ganze Kontinente entdeckt!«, dozierte ihr Vater jetzt und musterte die Brüder der Reihe nach.

»Du willst also, dass wir plündernd und brandschatzend durchs nächste Dorf ziehen?«, fragte Henrik gefährlich ruhig.

Erik musste erneut grinsen, und auch Fredrik und Cedrik feixten.

Müde ließ Haakon den Kopf in die Hände sinken. »Nein, natürlich nicht«, seufzte er und schaute dann wieder auf. »Ich will damit nur sagen, der Aufenthalt in der Fremde wird euch guttun … es wird euren Horizont erweitern.«

Horizont erweitern – dass ich nicht lache!, dachte Erik. Wo sollten sie denn hier ihren Horizont erweitern? Wenn sie in eine andere Großstadt gezogen wären, dann wäre das vielleicht was anderes gewesen. London oder zur Not auch Kopenhagen, das hätte er sich ja noch gefallen lassen. Stattdessen saßen sie jedoch auf dieser windumtosten Insel, ohne eine Menschenseele …

»Ich wollte mir eigentlich wieder ´ne Band suchen und muss noch Gitarre üben …«, versuchte Fredrik eine andere Taktik.

»Das kannst du während der Woche erledigen«, schmetterte seine Mutter den Einwand ab, nahm mit der Fingerspitze ein paar Toastkrümel auf und steckte sie sich in den Mund. »Wir möchten, dass ihr euch zumindest an den Wochenenden daran macht, die Insel zu erkunden.«

»Umfasst das auch historische Gebäude und alte Gemäuer?«, hakte Cedrik nach, der plötzlich ganz Ohr schien.

»Natürlich: Burgen, Ruinen, was ihr wollt. Hauptsache, ihr lernt unsere neue Heimat gründlich kennen«, bestätigte Haakon und stand auf. »Und damit ihr nicht schummelt …«, er warf seinem Zweitältesten einen bedeutungsvollen Blick zu; Fredrik war dafür bekannt, dass er sich bei Aufgaben im Haus gern elegant aus der Affäre zog, »… erwarte ich nach jedem Ausflug einen schriftlichen Bericht«, beendete Haakon seinen Satz.

»Och nö, muss das denn wirklich sein?!«, protestierte Fredrik unglücklich und spielte trübselig die ersten Akkorde von Chopins Trauermarsch.

Doch sein Vater zeigte sich davon wenig beeindruckt. »Ja. Aber das ist nicht alles. Ich habe mir gerade noch etwas anderes überlegt. Wenn ihr denn unbedingt nach Hause zurückwollt, mach ich euch einen Vorschlag: Ihr werdet die Insel ein Jahr lang kennenlernen und dann einen Test mit Fragen ablegen. Wenn jeder Einzelne von euch die Prüfung besteht, dürft ihr nach Norwegen zurück. Fällt aber auch nur einer durch, wird der Aufenthalt hier um ein Jahr verlängert.«

Ach, du Scheiße. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Erik starrte seinen Vater sprachlos an.

»Moment mal, habe ich da nicht auch ein Wörtchen mitzureden?«, wandte Marita sich an ihren Mann.

»Selbstverständlich«, bestätigte Haakon. »Schieß los.«

Hoffnungsvoll schaute Erik zu seiner Mutter. Bestimmt würde sie diesem Albtraum ein Ende bereiten.

»Also«, setzte sie an und holte tief Luft, »ich halte das Ganze für eine … großartige Idee!« Sie warf Haakon einen verschwörerischen Blick zu und drehte sich dann wieder zu den Vierlingen um: »Und, gilt der Deal?«

Erik seufzte. Er hätte es wissen müssen. Seine Eltern hielten immer zusammen; die beiden waren wie Kaugummi in langen Haaren.

Inzwischen war Haakon aufgestanden und in den Flur gegangen. Durch die geöffnete Tür konnte Erik sehen, wie sein Vater die schwere, orangegelbe Öljacke von der Garderobe nahm. Wann hatte sich die symbolische Farbe des Meers eigentlich so verändert?, fragte er sich. Früher hatte Blau die Ozeane repräsentiert, was sich in der Kleidung der Schiffsbesatzungen widergespiegelt hatte. Aber das schien nicht mehr der Fall zu sein. Sämtliche Seeleute trugen nur noch diese leuchtende Kleidung – ob nun Fischer oder Personal auf Frachtern und Bohrinseln.

Die silbernen Reflektorstreifen an Haakons Jacke blitzten auf, als er in die Küche zurückkehrte. »Aber gebt euch keinen Illusionen hin«, warnte er. »Es reicht nicht, irgendeinen Inselführer auswendig zu lernen. Ich erwarte mehr. Insiderwissen.«

»Insiderwissen?«, wiederholte Erik unglücklich. Es wäre ihm schon schwergefallen, sich die Informationen aus einem Reiseführer zu merken. Aber wenn nicht mal das genügte …

»Ja. Zum Beispiel möchte ich von euch wissen, was den Leuchtturm da draußen mit dem Roman Die Schatzinsel verbindet«, erklärte Haakon und lehnte sich mit zufriedener Miene an den Türrahmen, während Erik, Henrik und Fredrik ihn entgeistert anstarrten. Nur Cedrik schob erwartungsvoll seine heruntergerutschte Brille hoch.

»Ich bin mir sicher, ihr werdet eine Menge Spaß dabei haben!«, fügte Haakon hinzu, beugte sich zu seiner Frau hinunter, gab ihr einen schnellen Abschiedskuss und marschierte in Richtung Hausflur. Doch dann hielt er inne, machte kehrt und kam ein weiteres Mal zur Küchentür. »Da fällt mir etwas ein: Wo ist eigentlich meine Kiste mit dem Tauwerk? Ich möchte, dass wir das Training fortsetzen.«

Erik verdrehte die Augen. Nicht schon wieder. Er hatte gehofft, Haakon würde seine Marotte, ständig irgendwelche Seemannsknoten mit ihnen zu üben, endlich aufgeben. Blöderweise vertrat sein Vater die Ansicht, dass sie ihnen irgendwann im Leben mal nützlich sein könnten. Das Gleiche glaubte er vom Morsealphabet – weshalb sie noch kurz vor dem Umzug mit dem Lernen der Zeichenfolgen begonnen hatten. Aber Henrik war der Einzige von ihnen, der sich für Segeln, Schifffahrt und dergleichen interessierte. Der die Knoten beherrschte und die Tabelle mit den Zeichen einigermaßen auswendig konnte.

»Um keine Zeit zu verlieren, wiederholen wir kurz ein wichtiges Morsezeichen«, verkündete Haakon jetzt auch prompt. »Wer kann mir sagen, wie der internationale Notruf geht?« Fragend schaute er in die Runde.

Sofort widmete Fredrik sich eingehend den Stimmwirbeln seiner Gitarre. Cedrik duckte sich hinter sein Buch, und Erik stand auf, kehrte seinem Vater den Rücken zu und machte sich daran, den Frühstückstisch abzuräumen. Nur Henrik wirkte gelassen.

Aber Haakon war unerbittlich. »Cedrik, wie sieht´s aus?«

Erik bemerkte, wie Cedrik schluckte und hilfesuchend zu ihm schaute. Glücklicherweise gehörte dieser Morsecode zu den wenigen Zeichenfolgen, die er kannte. Unauffällig arrangierte Erik drei Eierbecher, drei Messer und schließlich drei weitere Eierbecher vor sich auf dem Tisch.

Cedrik warf einen Blick darauf und schien den Hinweis zu verstehen. »Das internationale Morsezeichen für SOS ist dreimal kurz, dreimal lang und dreimal kurz«, erklärte er und nickte Erik kaum merklich zu.

»Richtig«, bestätigte Haakon. »Na also, das klappt doch wunderbar. Und morgen zeigst du mir dann, wie man den Slipstek steckt. Wenn ich nur wüsste, wo meine Kiste hingekommen ist. Seit dem Umzug finde ich nichts mehr wieder …«

»Ich kümmere mich darum«, bot Marita an. »Jetzt solltest du allerdings los, sonst kommst du zu spät zur Arbeit.«

Haakon nickte. »Vergesst euren Auftrag nicht!«, forderte er die Jungen noch einmal auf. Dann verschwand er, mit Marita im Kielsog, die ihn zum Wagen begleitete.

Missmutig hockte Erik sich wieder zu seinen Brüdern, die ebenfalls finster vor sich hinstarrten. Nur Cedrik trank einen Schluck Tee und widmete sich wieder seinem Buch.

»Na, super!«, murrte Fredrik. »War das etwa deine Idee, Cedrik?« Er warf seinem Bruder einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Hm?« Cedrik schaute gedankenverloren von seiner Lektüre auf. »Was meinst du?«

»Ich meine die Tatsache, dass wir an den Wochenenden jetzt irgendwelche öden Sehenswürdigkeiten abklappern dürfen, statt unsere Freizeit zu genießen!«

»Nein, das war keineswegs meine Idee!«, erwiderte Cedrik verärgert. »Wie kommst du überhaupt auf den Gedanken, dass ich irgendetwas damit zu tun haben könnte?«

»Das kann ich dir sagen: Zum einen scheinst du über diesen blöden Auftrag gar nicht so unglücklich zu sein. Und zum anderen bist du doch bei uns derjenige, der für Kunst und Kultur zuständig ist!«

Da war was dran, überlegte Erik. »Ich sag´s nur ungern, aber Fredrik hat ausnahmsweise mal recht, Cedrik«, mischte er sich in die Diskussion ein. »Schließlich warst auch du derjenige, der Mum bei unserem Ausflug nach Paris den Floh ins Ohr gesetzt hat, wir müssten unbedingt den Louvre besichtigen …«

»Genau!« Fredrik prostete ihm mit seinem Orangensaft zu. »Wo wir uns dann diese grinsende Trulla ansehen sollten – Mona Pisa oder wie die Tante hieß –, aber vor lauter Besuchern nicht nah genug rankommen konnten.«

»Ich weiß gar nicht, was ihr wollt. Das war doch ein fantastischer Nachmittag in einem exzellenten Museum«, entgegnete Cedrik.

Fredrik lachte höhnisch. »Mit dieser Meinung stehst du aber verdammt allein da!«

»Was kann ich dafür, dass ihr Kulturbanausen seid?!«, schnaubte Cedrik aufgebracht und sprang auf.

Doch Henrik legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. »Jetzt hört schon auf. Statt uns gegenseitig zu zerfleischen, sollten wir uns lieber mal überlegen, wie wir aus dieser Nummer rauskommen. Oder zumindest das Beste daraus machen.«

Cedrik murmelte etwas vor sich hin, nahm aber wieder Platz.

»Hat irgendeiner eine Idee?«, fragte Henrik und fuhr sich mit beiden Händen durch die rotblonden Haare.

Einen Moment herrschte betretenes Schweigen.

»Ja, ich hätte einen Vorschlag«, räumte Cedrik schließlich ein und spielte mit seinem Teelöffel. Er war der Einzige in der Familie, der Tee trank. Die anderen bevorzugten, wie die meisten Menschen in ihrer Heimat, starken, schwarzen Kaffee. »Aber ich weiß nicht, ob ich euch überhaupt davon erzählen soll«, fügte er bockig hinzu.

»Bloß nicht«, murmelte Fredrik. »Da kommen wir nur vom Regen in die Traufe …«

»Nun lass ihn doch mal ausreden«, mahnte Henrik und musterte seinen jüngeren Bruder kopfschüttelnd.

»Also, ich habe mir da etwas überlegt«, sagte Cedrik, nahm den dicken Inselreiseführer aus dem Bücherregal und schlug anschließend den Veranstaltungsteil der Tageszeitung auf. Dann kramte er Stift und Papier hervor und begann zu schreiben.

Stumm sahen Erik, Henrik und Fredrik zu, wie er eine Liste erstellte, die immer länger wurde. Erik seufzte. Wenn jemand dem Ganzen etwas Positives abringen konnte, dann sein schlauer Bruder. Aber hoffentlich schoss er dabei nicht übers Ziel hinaus!

2

Fünf Minuten später kehrte Marita in die Küche zurück. Ihre schulterlangen, dunklen Haare mit den ersten silbergrauen Strähnen hatten sich aus dem Gummi gelöst und waren zerzaust. Fröstelnd rieb sie sich die nackten Arme. »Himmel, ist der Wind kalt! Ich hol mir schnell meine Strickjacke, und dann können wir loslegen.«

»Womit loslegen?«, rief Henrik ihr nach, als sie in der Speisekammer verschwand.

Erik hatte keine Ahnung, warum seine Mutter ihre Kleidung ausgerechnet in der Speisekammer suchte. Aber vermutlich hing es damit zusammen, dass hier im Leuchtturmhaus viele Dinge noch keinen richtigen Platz hatten – im Gegensatz zu ihrem alten Zuhause, wo jedes Teil an seinem festen Ort zu finden gewesen war.

Nach zwei Sekunden tauchte sie mit einer hellgelben Strickjacke auf, schlüpfte hinein und wickelte sie fest um ihr dünnes Baumwollkleid. »Na, mit der Suche nach Haakons Kiste«, erklärte sie. »Außerdem brauche ich Hilfe bei der Wahl der Lampen. Nicht nur für eure Zimmer und Schreibtische, sondern für alle Räume im Haus.« Sie nahm einen Katalog von der Küchentheke und hielt ihn hoch. »Hier sind sämtliche Beleuchtungskörper abgebildet, die im hiesigen Lampengeschäft erhältlich sind oder bestellt werden können. Wir müssen jetzt lediglich sorgfältig überlegen, was wohin passen würde …«

Die Jungen sahen sich bestürzt an. Fredrik sprang als Erster auf; er überragte seine Mutter um einen ganzen Kopf, obwohl sie nicht unbedingt klein war. »Da fällt mir ein, ich muss dringend meine Gitarre stimmen«, stieß er hervor und verdrückte sich eilig, dicht gefolgt von Henrik.

Sein ältester Bruder murmelte irgendetwas, von dem Erik nur Fetzen aufschnappte: »… meine Feile feilen … noch Nägel anspitzen … den Eimer Vakuum leeren, bevor er mir um die Ohren fliegt …«

Selbst Cedrik, der sich bei Einrichtungsfragen normalerweise gern aktiv beteiligte, klemmte sich den Notizblock unter den Arm und marschierte zur Küchentür. »Wenn ich die Liste nicht sofort fertigstelle, habe ich nachher wieder die Hälfte vergessen. Und wir wollen Haakon doch nicht enttäuschen, oder?«, fragte er treuherzig.

»Stimmt. Und genau deshalb solltet ihr mir ja auch helfen«, erwiderte Marita.

Doch Cedrik hatte die Tür bereits hinter sich ins Schloss gezogen. Nur Erik saß noch am Esstisch.

Seine Mutter drehte sich mit einem flehentlichen Blick zu ihm um. »Hilfst du mir denn wenigstens?«

Resigniert ließ Erik sich gegen die Stuhllehne sinken. »Also gut«, seufzte er. Worauf hatte er sich da wieder eingelassen? Seine Brüder hatten ihn ein weiteres Mal draufgesetzt und sich aus dem Staub gemacht – ohne Rücksicht darauf, was er davon hielt und ob er Lust hatte, mit seiner Mutter irgendwelche Lampen auszusuchen. Er hatte es wieder nicht geschafft, sich von ihnen nicht übervorteilen zu lassen.

Sein Blick fiel auf den Kalender an der Wand und den Tagesspruch: »Auch die längste Reise beginnt mit einem ersten Schritt.« Erik schnaubte innerlich. Diese Sprücheklopfer hatten ja keine Ahnung. Es war eine Sache, wenn man ein Einzelkind war und seine Schritte allein bestimmen konnte. Aber es war etwas völlig anderes, wenn man drei Brüder hatte, die einen immer wieder einholten und zurück auf »Los« zogen. Daran musste sich allmählich mal was ändern!

3

Erik kletterte umständlich aus dem kleinen Wagen und schaute seiner Mutter nach, die in ihrem zerbeulten Toyota Richtung Douglas davonfuhr, um die gewünschten Lampen zu besorgen. Obwohl er sich mit ihr bisher eigentlich immer gut verstanden hatte, war diese nervige Lampenaktion weniger harmonisch verlaufen als erwartet.

Erstens hatte das Ganze eine halbe Ewigkeit gedauert – geschlagene zwei Stunden, in denen er schweigend hinter seiner Mutter durchs Haus getrottet war und die Artikelnummern der Lampen pflichtbewusst notiert hatte. Anfangs hatte er ja noch versucht, sich einzubringen, auch wenn er genau wusste, dass ihre Frage »Was hältst du denn davon, Erik?« rein rhetorisch war. In Einrichtungsdingen ließ sie sich nur ungern reinreden. Doch nach dem dritten Vorschlag, den seine Mutter freundlich, aber bestimmt abgelehnt hatte, hatte Erik die Schnauze voll gehabt, seine Ohren auf Durchzug geschaltet und zu allem Ja und Amen gesagt. Kein Wunder, dass seine Brüder sich sofort verdrückt hatten.

Zweitens hatte sie ihn irgendwann dumm angemacht, ob er und seine Brüder denn inzwischen Anschluss gefunden und neue Freundschaften geschlossen hätten. Sie müssten sich mal langsam aktiv darum bemühen. Da war Erik der Kragen geplatzt. »Ihr seid doch diejenigen, die uns aus unserem Freundeskreis gerissen haben«, hatte er patzig erwidert. »Und jetzt sitzen wir hier in der Pampa. Wo sollen wir denn auf die Schnelle irgendwelche Leute kennenlernen? Die Schule fängt erst im September an, und unsere Versuche, auf anderem Wege Kontakte zu knüpfen, habt ihr mit eurem blöden Inselerkundungsauftrag torpediert.«

Seine Mutter schaute ihn betroffen an. »Wir wollen doch nur, dass ihr euch hier rasch einlebt. Du weißt, wie wichtig die Stelle für Haakon ist. Für unsere ganze Familie. Der Posten als Schiffsinspektor bedeutet schließlich, dass er nicht mehr monatelang auf See ist, sondern nur noch im Havariefall zum jeweiligen Schiff ausgeflogen wird. Wir werden endlich mehr Zeit miteinander verbringen können. Und das willst du doch auch, oder?«

Erik schwieg einen Moment und murmelte dann: »Ja, schon.« Aber was er wirklich wollte, war nach Hause zurückzukehren, zu seinen Freunden. Oder wenigstens mal wieder was von ihnen zu hören. Er wartete jetzt schon eine gefühlte Ewigkeit auf eine Nachricht. Anfangs hatten sie noch regelmäßig über die üblichen, sozialen Kanäle gechattet, aber dann waren die Abstände immer größer geworden, und seit ein paar Tagen herrschte völlige Funkstille. Erik wusste zwar, dass sein Kumpel Helge und die anderen ihre Sommerferien in der jeweiligen Familienhütte irgendwo draußen in der freien Wildnis verbrachten, wo es häufig keine modernen Errungenschaften wie Strom und fließend Wasser gab, oft nicht mal ein vernünftiges WC – von Internet und Handyempfang ganz zu schweigen. Aber trotzdem, seine Freunde fehlten ihm nun mal.

»Es ist ja nicht so, als ob wir noch im Kindergarten wären, wo man sich in der einen Minute die Plastikschaufeln um die Ohren haut und in der nächsten auf Sandkastenfreunde macht«, hatte er mürrisch hinzugefügt und war in die Abstellkammer gestapft, um nach Haakons Kiste zu suchen. Dort war es dann zum nächsten Streit gekommen.

Marita war ihm gefolgt und hatte nach einigem Wühlen Haakons Plastikbox in der hintersten Ecke unter ein paar Bücherkisten entdeckt. Als sie versuchte, diese hochzuheben, war sie fast zusammengebrochen.

»Verdammt noch mal, wer hat denn diese Kisten gepackt?«, schimpfte sie, drückte sich eine Hand in den Rücken und richtete sich mit gequälter Miene auf. »Ich hab euch doch extra eingeschärft, nicht zu viele Bücher hineinzustopfen. Die Dinger sind ja tonnenschwer. Wer soll die denn bewegen?«

Schweigend hatte Erik sich eine der Kisten gegriffen, sie mühelos hochgehoben und beiseitegestellt. Er konnte doch nichts dafür, dass seine Mutter und er unterschiedliche Ansichten hatten, was man als schwer bezeichnen musste und was nicht. Nachdem er als jüngster der nicht-eineiigen Vierlinge lange Zeit etwas schmächtiger gewesen war – weshalb seine Brüder ihm den superintelligenten Spitznamen »Kurzer« verpasst hatten –, hatte er inzwischen einen ordentlichen Schuss getan, sodass er die anderen sogar etwas überragte. Außerdem hatte er durch das Handball-Training breite Schultern und kräftige Muskeln entwickelt, aber der Spitzname war hängen geblieben.

Nachdem Erik Haakons Kiste in dessen Arbeitszimmer getragen hatte und auch die Lampenliste vollständig erstellt war, hatte er seine Mutter gebeten, ihn auf dem Weg nach Douglas in Andreas abzusetzen, weil er noch ein paar Zutaten für ein neues Waffelrezept besorgen wollte.

Und jetzt stand er hier, direkt gegenüber vom winzigen Dorfladen mit dem Minipostamt, wo man nicht nur Briefmarken kaufen, sondern auch seine Bankgeschäfte erledigen, Gas- und Stromrechnungen bezahlen und sogar Führerscheine und Angelausweise umschreiben lassen konnte, wie das großformatige, blaue Schild im Fenster neben der Eingangstür verriet. Hier im Ort, ein paar Kilometer vom Meer entfernt, war es deutlich wärmer als an der Küste. Erik öffnete den Reißverschluss seiner Jacke, überquerte die von Schlaglöchern übersäte Dorfstraße und nahm sich einen der Drahtkörbe, die neben der grünen Eingangstür gestapelt waren. Einkaufswagen gab es hier nicht; dafür waren die Gänge in dem Geschäft zu schmal. Entschlossen drückte Erik die Tür auf, die quietschend und mit einem leisen Bimmeln nachgab.

Als er den kleinen Laden betrat, der nach einer Mischung aus Gemüse, Waschpulver und Kaffee roch, fiel sein Blick direkt auf die junge Verkäuferin hinter der abgewetzten Holztheke: ein schlankes, zierliches Mädchen mit langen, dunkelbraunen Haaren und großen, dunklen Augen. Die hatte er hier noch nie gesehen. Vielleicht war sie neu …?

Ein paar Kunden, die hinter ihm hereinkamen, begrüßten sie allerdings wie eine alte Bekannte. Dann war sie vielleicht aus dem Urlaub zurückgekehrt? Und tatsächlich: Erik hörte, wie sie sich mit einem älteren Ehepaar über Spanien unterhielt und Reisetipps austauschte. Interessiert rückte Erik näher.

Aber in diesem Moment schaute das Mädchen auf und bemerkte, dass Erik sie anstarrte. Sie lächelte ihn freundlich an, doch Erik spürte, wie er errötete, und wandte sich verlegen nach links in den Gang mit den Zeitschriften an der einen Wand und den Backwaren auf der anderen Seite. Während er die nächstbeste Packung aus einem Regal nahm und sie scheinbar interessiert studierte – eine Fertigteigmischung für Muffins; so was würde er im Leben nicht verwenden, schnaubte er innerlich –, blickte er immer wieder in Richtung Kasse und musterte das Mädchen verstohlen. Sie war kaum älter als er und wirkte in ihrer abgewetzten Jeans und dem violetten Trägertop sehr hübsch. Aber was war das da, oberhalb ihres rechten Schlüsselbeins? Sah aus wie eine schwarze Schlange. Das musste er sich unbedingt näher ansehen.

Langsam schlenderte er an den Regalen entlang und suchte die Lebensmittel zusammen, die er für das Rezept benötigte: Kokosflocken, Milch, Butter, Eier. Dabei ließ er sich extra viel Zeit, um die Kassiererin in Ruhe betrachten zu können. Im Laden war nicht viel los, und das Mädchen füllte zwischen dem Kassieren immer wieder Regale auf, wobei sie gedankenverloren zur Musik summte, die im Radio lief. Gebannt verfolgte Erik ihre geschmeidigen Bewegungen, stets im Schutz der Regale, damit sie nicht sah, dass er sie heimlich beobachtete. Er hatte seine Liste abgearbeitet und häufte nun wahllos irgendwelche Artikel in seinen Korb: Puderzucker, Schuhcreme, Druckerpapier, Insektenspray, Wasserflaschen. Als der Korb schließlich so voll war, dass Erik nichts mehr hineinstopfen konnte, bummelte er in Richtung Kasse. Dann ließ er der einzigen anderen Kundin, die noch im Laden war – einer älteren Farmerin mit Wachsjacke und dreckbespritzten Gummistiefeln – galant den Vortritt. Zum einen machte das einen guten Eindruck, und zum anderen konnte er anschließend ungestört mit dem Mädchen reden. Na ja, reden war vielleicht zu viel gesagt. Aber zumindest schaute ihm dann niemand dabei zu, wenn er vor Verlegenheit vor sich hinstammelte.

Erik seufzte. Seine Versuche, mit dem weiblichen Geschlecht ins Gespräch zu kommen, hatten bisher fast immer damit geendet, dass er rot anlief und überhaupt nichts hervorbrachte. Nicht zum ersten Mal wünschte er, er wäre wie Fredrik: Dank der Auftritte mit seiner Band war sein Bruder daran gewöhnt, auf die Leute zuzugehen. Wodurch er bei den Mädchen ziemlich gut ankam, im Gegensatz zu ihm. Außerdem bildete hier die fremde Sprache noch ein weiteres Hindernis. Aber darüber durfte Erik erst gar nicht nachdenken, sonst konnte er gleich einpacken. Er spürte, wie ihm in seiner dicken Jacke warm wurde. Zu warm.

Um sich von seiner wachsenden Nervosität abzulenken, ließ er seinen Blick über die Wand hinter der Theke schweifen. Werbeplakate und Infos zu örtlichen Veranstaltungen wie Wohltätigkeitsbälle und ein Schulbasar an der benachbarten Grundschule waren mit Reißzwecken an einem Bord befestigt. Daneben pappte ein Zettel mit einer Einladung zum Nachmittagskaffee der Kirchengemeinde. Und über allem hing eine Kitkat-Wanduhr, deren großer Zeiger langsam nach Norden vorrückte, um die volle Stunde anzuzeigen. Was auch der Radiosprecher bestätigte, der kurz darauf aus den Lautsprechern tönte: »Es ist elf Uhr. Sie hören Manx Radio mit den Nachrichten …« Also noch eine Viertelstunde, bis sein Bus abfuhr. Zeit satt.

»Hallo«, begrüßte ihn das Mädchen in diesem Augenblick und riss ihn aus seinen Gedanken.

»Hi«, murmelte Erik und starrte auf ihr nacktes Schlüsselbein mit der schwarzen Schlange, die sich als Tätowierung entpuppte – und es war auch kein richtiges Reptil, sondern geschwungene Worte, von denen er allerdings nur das erste lesen konnte: »Carpe …« Der Rest verschwand unter dem Rand ihres Fleecepullovers, den sie zu seinem Bedauern inzwischen über das Top gestreift hatte. Als er sah, dass das Mädchen seinen Blick bemerkte, fühlte er, wie ihm das Blut in die Wangen schoss, und senkte verlegen den Kopf. Schweigend hob er den Korb auf die Theke.

Grinsend nahm das Mädchen die Waren einzeln heraus, tippte den Preis von Hand ein und legte die Artikel auf die Seite, damit Erik alles einpacken konnte. »Brauchst du eine Tüte?«, fragte sie freundlich und schaute ihn erwartungsvoll an, nachdem er gezahlt hatte.

Erik schüttelte stumm den Kopf. »Ich hab ´ne Tasche«, presste er schließlich hervor. Na bitte, geht doch, dachte er sarkastisch, ich hab tatsächlich was gesagt. Langsam schob er sein Portemonnaie in seine Gesäßtasche. Nun mach schon! Sag was, egal was! Frag sie nach ihrem Namen oder nach sonst irgendetwas. Aber steh da nicht stumm wie ein Ölgötze rum! Doch sein Hirn schien vollkommen leer zu sein und verweigerte jede Mitarbeit.

Plötzlich fiel sein Blick auf eine Holzkiste mit Zeitschriften, die hinter dem Mädchen im Regal stand. Auf dem vordersten Heft konnte er den Titel lesen: »RQ – Rugby Quarterly«. Interessant, dachte Erik, dann gab es hier also noch ganz andere Magazine, und nicht nur die üblichen in den Zeitschriftenfächern. »Äh, und die RQ. Bitte«, sagte er leise und zeigte auf das Heft mit den beiden Männern, die halb im Flug um einen Ball kämpften.

Das Mädchen drehte sich um, nahm die Zeitschrift aus der Kiste, warf einen Blick auf das Etikett am oberen Rand und lachte. »Ich glaub nicht, dass die für dich ist«, grinste sie. »Oder heißt du vielleicht ›Erica‹?«

»Nein, ich heiße E-Erik«, stotterte Erik verwirrt. »Aber ich versteh nicht ganz …?«

»Diese Zeitschriften sind für Leute mit einem Abo«, erklärte das Mädchen lächelnd. »Wir bewahren sie hier in der Kiste auf, bis der jeweilige Kunde sie dann beim nächsten Einkauf mitnimmt. Siehst du?« Sie zeigte auf die anderen Hefte, die alle mit einem Aufkleber versehen waren. »Wenn du willst, kann ich das Magazin für dich bestellen«, bot sie an, zückte ein dickes Notizbuch und schlug es auf. Auf den linierten Seiten standen zahlreiche Zeitschriftentitel neben Namen und Telefonnummern.

Erik zögerte. Er wollte ungern gleich ein Abo eingehen. Zum einen aus Kostengründen. Und zum anderen kannte er die Zeitschrift doch gar nicht.

Das Mädchen schien zu sehen, dass er Bedenken hatte, und meinte: »Du musst das nicht jetzt sofort entscheiden. Ruf mich einfach an, wenn du die RQ haben willst.«

»Danke«, brachte Erik heraus. Und dann kam ihm eine Idee: »Wie heißt du denn? Ich meine, wenn ich dich anrufen soll …« Elegant gelöst, Mann, gratulierte er sich innerlich.

»Lucinda«, verkündete sie ruhig, notierte ihren Namen und eine Telefonnummer auf einem Stück Papier und gab es Erik.

Sofort warf Erik einen Blick auf den Zettel. »Ist das deine Nummer, Lucinda?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Das hättest du wohl gern!«, lachte Lucinda und schob sich die langen Haare aus dem Gesicht.

Ja, das hätte ich tatsächlich gern, dachte Erik, stammelte aber: »Nein! Ich meine, ja! Ich, äh …«

Doch Lucinda schüttelte grinsend den Kopf und widmete sich dem nächsten Kunden, der in den Laden gestürmt war und nun ungeduldig nach vorn an die Theke drängte.

Erik rückte ein Stück zur Seite und verstaute die Wasserflaschen und Lebensmittel in seiner mitgebrachten Einkaufstasche, die jedoch schnell sehr voll wurde, woraufhin er den Rest sicherheitshalber in zwei weitere Netzbeutel packte, die Lucinda ihm beiläufig über die Theke zuschob.

»Bring die Dinger irgendwann wieder«, meinte sie freundlich.

Erik nickte dankbar und hörte mit einem Ohr zu, wie der Kunde – ein Handwerker in einem fleckigen, ehemals weißen Overall – das Päckchen Zigaretten bezahlte und dann hinaus zu dem bereits wartenden Transporter am Straßenrand lief. Erik nahm die beiden Beutel in eine Hand, die schwere Tasche in die andere und ging zum Ausgang. Er versuchte, die Tür zu öffnen, was aber derart beladen gar nicht so einfach war.

»Warte, ich helf dir«, sagte in diesem Moment eine Stimme hinter ihm: Lucinda hielt ihm die Tür auf.

Dankbar nickte er ihr zu und trat hinaus auf den Gehweg, wobei die Tasche mit den Wasserflaschen klirrend gegen die Mauer rumpelte. Plötzlich bemerkte er aus dem Augenwinkel eine hohe, rote Wand, die sich von rechts auf ihn zuzubewegen schien. »Mist, da kommt mein Bus!«, stieß er hervor und warf einen hastigen Blick auf seine schweren Einkaufstaschen und auf den Doppeldecker, der sich rasch näherte. Das sah verdammt schlecht aus. Wenn er nicht so beladen gewesen wäre, hätte er es vielleicht bis zur Bushaltestelle geschafft. Aber so? Keine Chance. »Ach, egal«, seufzte er resigniert. »Dann nehm ich eben den nächsten …«

»Wenn du diesen Bus verpasst, musst du ein paar Stunden warten«, warf Lucinda ein. »Der nächste geht erst um Viertel nach eins.«

»Ich könnte mir was Schlimmeres vorstellen, als hier mit dir herumzusitzen«, murmelte Erik kaum hörbar.

Doch Lucinda warf ihm nur einen amüsierten Blick zu, trat dann beherzt an den Straßenrand und gab dem Bus, der inzwischen auf Höhe des Ladens war, ein Zeichen.

Der Busfahrer nickte und setzte den roten Doppeldecker langsam um die Ecke.

»Los, los, los!«, rief Lucinda, schnappte sich eine von Eriks Einkaufstüten und rannte in Richtung Bushaltestelle.

Verwirrt schaute Erik ihr einen Moment nach, erwachte dann aus seiner Starre und folgte ihr, so schnell es die Tasche mit den klirrenden Glasflaschen zuließ. Als er die Haltestelle endlich erreichte, hatte Lucinda den Beutel bereits neben einem der vorderen Bussitze auf den Boden gestellt. Sie kam ihm an der Tür entgegen und half ihm mit den beiden anderen Taschen.

»Wohin soll´s denn gehen?«, fragte der Busfahrer.

»Point of Ayre«, erklärte Erik und legte ihm das abgezählte Geld für den Fahrschein auf die Münzablage. »Warte«, rief er Lucinda hinterher, die aus dem Bus stieg.

Lucinda drehte sich um und hob fragend eine dunkle Augenbraue.

»Wie … wie kann ich mich … revanchieren?«, fragte Erik durch die noch offene Einstiegstür. Der Busfahrer hatte die Münzen sortiert und sprach gerade über Funk mit der Zentrale.

»Revanchieren?«, wiederholte Lucinda. »Wofür?«

»Für deine Hilfe. Ohne dich hätte ich den Bus verpasst. Kann ich …« Erik zögerte und nahm dann seinen ganzen Mut zusammen. »Hast du Lust … auf einen Kaffee? Oder … vielleicht auf Waffeln? Ich back gern … und bin für jedes Versuchskaninchen dankbar.« Versuchskaninchen? Was faselte er denn da? Hatte er völlig den Verstand verloren? Kein Mädchen ließ sich gern als Kaninchen bezeichnen, und erst recht nicht für irgendwelche dubiosen Backversuche missbrauchen. Vielleicht war es besser, wenn er in Zukunft wieder den Mund hielt.

»Ich würde schon gern, aber …« Lucinda verstummte. »Eventuell … wenn ich am Wochenende Zeit hab, könnte ich ja mal vorbeischauen«, fügte sie vage hinzu.

»Aber du weißt meine Adresse doch gar nicht«, stieß Erik hastig hervor. Der Busfahrer hatte sein Gespräch beendet und trommelte nun ungeduldig mit den Fingern aufs Lenkrad; er wollte weiterfahren. »Ich wohne …«, rief Erik durch die Tür, die sich langsam schloss.

»Oben am Leuchtturm«, ergänzte Lucinda lachend. »Niemand sonst würde mit vollen Einkaufstaschen zum Point of Ayre fahren!«

Erik nickte stumm und hob die Hand zum Abschied. Dieses Mädchen war nicht nur extrem hübsch, sondern auch noch schlau. Er musste sie unbedingt wiedersehen! Und er wusste auch schon wie: Schließlich arbeitete sie im Dorfladen, wo er ab sofort nur regelmäßig aufzukreuzen brauchte. Nichts leichter als das …

4

»Morgen kann ich nicht. Ich muss dringend zum Baumarkt, um endlich die Holzbretter zu besorgen«, wandte Henrik sofort ein, als Erik und seine Brüder sein Zimmer betraten. Diesiges Licht fiel durch das hohe Fenster in den Raum mit den hellen Möbeln. Der Nebel hielt sich nun schon seit Tagen. Er war wie eine bleiche Wand vom Meer herangerückt und so dicht, dass man den Leuchtturm nur noch erahnen konnte – eine grauweiß gestreifte Silhouette. Dagegen waren das Nebelhorn und der kleine Leuchtturm, der wohl Winkie hieß, wie Erik irgendwo gelesen hatte, überhaupt nicht mehr zu sehen gewesen, als er am Morgen kurz auf seinen »Balkon« gegangen war. Er besaß zwar das kleinste Zimmer im Leuchtturmhaus, hatte dafür aber statt einem Fenster eine Terrassentür, die auf eine weiß gekalkte Außentreppe hinausging. Erik schätzte die Freiheiten, die ihm dieser private Austritt bot, und nutzte sie vor allem in den frühen Morgenstunden, wenn der Rest der Familie noch fest schlief. Dann konnte er das Haus ungesehen verlassen, durch die Dünen laufen und die lebhaft herumschwirrenden Seevögel beobachten. Doch an diesem Morgen hatte er weder eine Küstenseeschwalbe noch irgendeine Möwe wahrgenommen. Die feuchtkalte, reglose Luft des Nebels hatte die ganze Umgebung in eine unheimliche Stille gehüllt, ohne das Rauschen der Brandung und ohne die Rufe von Vögeln. Der Anblick hatte ihn an eine Mondlandschaft erinnert.

Fredrik warf sich auf Henriks Bett, Cedrik schnappte sich den einzigen anderen Stuhl und Erik ließ sich notgedrungen auf dem Boden nieder. Er lehnte sich an die weiß gestrichene Holzwand, zog die Beine an und stützte die Ellbogen auf die Knie.

Seine Brüder und er hatten sich hier verabredet, um endlich einen Termin für den Zwangsausflug zu vereinbaren, den Haakon ihnen am Anfang der Woche verordnet hatte. Erwartungsgemäß waren Henrik, Fredrik und er selbst deswegen ziemlich mies gelaunt.

Nur Cedrik schien die Aussicht auf einen Tag zwischen Trümmern und Ruinen nichts auszumachen. »Das kannst du doch auch nächste Woche noch erledigen«, protestierte er jetzt.

»Ach, wirklich? Und worauf soll ich in der Zwischenzeit schreiben, du Schlaumeier?«, knurrte Henrik und zeigte auf die leere Fläche unter dem Fenster, wo eigentlich sein Schreibtisch stehen sollte, sich aber nur zwei Tischböcke langweilten.

Auch Fredrik schien eine Chance zu wittern, das ganze Unternehmen zu torpedieren – oder zumindest auf unbestimmte Zeit zu verschieben. »Am Samstag geht´s auch nicht. Ich hab in der Zeitung eine Annonce gesehen: In Douglas gibt´s ´ne Band, die einen neuen Gitarristen sucht und zum Vorspielen einlädt. Da will ich unbedingt hin!«

»Und was ist mit dir?«, wandte Cedrik sich an Erik. »Musst du vielleicht dringend irgendwelche Zutaten für ein Rezept besorgen? Oder deine Schürze in die Reinigung bringen oder sonst was in der Art?«, fügte er aufgebracht hinzu, unterbrach sich dann aber und zog eine zerknirschte Miene. Offenbar bereute er seinen bissigen Ton, denn eigentlich liebte Cedrik Eriks Waffeln heiß und innig, genau wie der Rest der Familie.

»Nein, ich muss nichts besorgen«, erwiderte Erik ruhig, woraufhin Cedrik erleichtert nickte. Doch dann fügte er grinsend hinzu: »Aber am Sonntag trainiert der örtliche Rugbyverein, und ich wollte mir das mal ansehen …«

Verärgert sprang Cedrik auf. »Ihr wisst genau, was auf dem Spiel steht. Wenn wir uns die Insel nicht ansehen, wird keiner von euch die Fragen in diesem Test beantworten können. Was bedeutet, dass wir nicht nach Hause zurückkehren dürfen. Ich weiß ja nicht, wie ihr dazu steht, aber ich kann es kaum erwarten, wieder in einer richtigen Stadt zu leben.«

Erik seufzte, und Henrik und Fredrik nickten betreten. »Okay, okay, du hast ja recht. Wir werden schon einen Termin finden«, beschwichtigte er seinen Bruder. »Auch wir wollen wieder nach Hause«, versicherte er. Doch tief in seinem Inneren regte sich ein winziger Zweifel. Seit er Lucinda kennengelernt hatte, war es ihm plötzlich gar nicht mehr so eilig damit. Aber das musste er seinen Brüdern ja nicht verraten.

»Na, dann solltet ihr euch mal ein bisschen mehr Mühe geben«, murrte Cedrik, stiefelte aus dem Zimmer und warf die Tür mit einem Knall hinter sich ins Schloss.

Erstaunt sah Erik ihm nach. Cedrik war in letzter Zeit echt superempfindlich. So kannte er ihn gar nicht. Merkwürdig. Vielleicht sollte er mal mit ihm reden?

5

Am nächsten Vormittag saß Erik in seinem Zimmer und starrte gelangweilt aus dem Fenster. Er hatte keine Gelegenheit gehabt, unter vier Augen mit Cedrik zu sprechen, der sich nach dem Frühstück direkt in sein Zimmer verzogen hatte. Und die geschlossene Tür verriet ihm, dass er besser einen günstigeren Moment abwarten sollte.

Der Nebel hatte sich endlich gelichtet, und das Meer leuchtete dunkelblau. Kleine, weiße Schaumkronen tanzten auf den Wellen. Darüber schwebten Möwen scheinbar schwerelos in der Luft, während mehrere Küstenseeschwalben Mühe hatten, im kräftigen Wind nicht ins Trudeln zu geraten. Eigentlich hatte Erik keine Ahnung von Vögeln. Dass es sich um diese Vogelart handelte, wusste er nur, weil er die Schilder am Strand gelesen hatte. Offenbar brüteten die Schwalben hier, weshalb der gesamte Bereich vor dem Leuchtturm bis zum Ende des Sommers gesperrt war.

Als Eriks Blick auf ein paar Touristen fiel, die mit ihren Kameras am Brutgebiet vorbeischlenderten, sah er, wie die Küstenseeschwalben von ihrem ursprünglichen Kurs abbogen und dann regelrechte Attacken auf die Spaziergänger flogen. Hastig rissen die Leute die Hände über den Kopf und liefen in geduckter Haltung davon. Erik musste grinsen. Diese Erfahrung hatte er selbst auch schon gemacht. Seitdem hielt er sich vom Strand fern. Blöd, dass man ihn in den nächsten Wochen nicht nutzen konnte. Welchen Sinn hatte es, dann überhaupt hier rumzuhocken?

Und damit war er auch schon wieder bei seinem Lieblingsgrübelthema: Wie sollte er es jemals schaffen, sich all dieses Wissen über die Insel anzueignen? Seine einzige Chance, wieder nach Hause zurückzukehren. Seine Zweifel vom Vortag hatten sich ein wenig verflüchtigt. Lucinda hatte er seit Tagen nicht mehr gesehen, obwohl er jeden Morgen voller Hoffnung zum Laden gefahren war. Worüber sich seine Mutter zunehmend gewundert hatte. Und allmählich gingen ihm die Ausreden aus.

Bei der Erinnerung an Lucinda beschleunigte sich zwar jedes Mal sein Puls. Aber da war natürlich die große Frage: Würde er sie überhaupt für sich interessieren können? Zu Hause in Bergen war ihm das noch kein einziges Mal gelungen: Keines der Mädchen, die er nett gefunden hatte, war auf seine zaghaften Annäherungsversuche eingegangen.

In Gedanken wanderte er wieder durch das Hafengebiet seiner Heimatstadt. Der Lärm der Großstadt – Omnibusse, Autos und Tausende von Touristen – mischte sich mit dem ständigen Dröhnen der schweren Schiffsmotoren: Kreuzfahrtschiffe, Versorgungsschiffe für die Ölbohrinseln und Ausflugsdampfer zu den Fjorden. Dazu das ständige Kommen und Gehen der Fähren zu den weiter entfernten Stadtteilen, deren Fahrtziele als orangefarbene Leuchtschrift auf schwarzem Grund klar zu erkennen waren. Die Fähren kümmerten sich nicht um die vielen Privatjachten und Segelboote im schwarzgrünen Wasser – Berufsverkehr hatte schließlich Vorfahrt. Und zwischen all den Wasserfahrzeugen tuckerte der »Aquaflitzer«, wie seine Brüder und er die kleine Barkasse getauft hatten, die regelmäßig zwischen dem Fischmarkt und dem Aquazoo hin und her pendelte. In dieser Stadt, wo es mehr Tauben als Möwen gab, herrschte zu keiner Tages- oder Nachtzeit jemals Ruhe.

Dagegen war es hier am Leuchtturm so still, dass es ihm fast unheimlich erschien: nur das Rauschen der Wellen, die gegen den Kieselstrand schwappten, das Kreischen der Möwen und das Summen der Hummeln, gelegentlich durchbrochen vom Brummen eines Traktors in weiter Ferne …

»Kommt mal bitte alle in die Küche! Euer Vater und ich möchten etwas mit euch besprechen«, drang plötzlich die Stimme seiner Mutter ins Obergeschoss. »Und bringt eure Kaffeebecher mit nach unten! Wir haben nicht mehr alle Tassen im Schrank.«

Das weiß ich schon lange, dachte Erik grinsend und wartete ab. Einen Moment lang geschah nichts, dann hörte er, wie die Zimmertüren seiner Brüder aufgingen, und bequemte sich ebenfalls in den Flur.

»Was ist los?«, wandte Henrik sich skeptisch an seine Brüder.

Cedrik zuckte nur die Schultern, und auch Fredrik schüttelte den Kopf.

»Keine Ahnung«, sagte Erik. »Ich hoffe, ich hab nicht wieder irgendwas kaputt gemacht.«

»Das werden wir ja gleich rausfinden«, lachte Henrik und marschierte ins Erdgeschoss, dicht gefolgt von seinen Brüdern.

Ihre Eltern saßen am Esstisch, als Erik die Küchentür hinter sich zuzog. Die beiden schwiegen, winkten die Jungen aber heran.

»Was ist passiert? Wo brennt´s?«, erkundigte Fredrik sich sofort, griff sich einen Stuhl und setzte sich rittlings darauf.

Marita wartete, bis alle saßen, und faltete die Hände im Schoß, die nervös zu zittern schienen. Dann verkündete sie: »Euer Vater und ich haben euch etwas mitzuteilen. Ich bin … Wir haben …«

»Ah, ich weiß schon!«, fiel Fredrik ihr ins Wort und grinste breit. »Wir bekommen Nachwuchs, stimmt´s?« Als er die ratlosen Blicke seiner Brüder sah, berichtigte er sich: »Wir kriegen ein Geschwisterchen.«

»Gütiger Gott, bloß nicht«, stieß seine Mutter entsetzt hervor. Nach einem Blick auf die betretenen Mienen am Tisch, fügte sie hastig hinzu: »Entschuldigt bitte, das kam jetzt völlig verkehrt rüber. Versteht mich nicht falsch: Ich liebe euch von ganzem Herzen, und ihr seid mir das Wichtigste auf der Welt. Aber die Vorstellung, wieder für ein kleines Kind verantwortlich zu sein … die schlaflosen Nächte, wie am Fließband Fläschchen aufwärmen und Windeln wechseln. Und danach die unheilige Allianz aus Trotzphase und Möhrchenbrei. Der Geruch hing wochenlang in der Tapete. Nein, das muss ich nicht noch mal haben. Ich denke, ich spreche für uns beide, wenn ich sage, dass das Kapitel Familienplanung abgeschlossen ist.« Sie warf ihrem Mann einen fragenden Blick zu.

Haakon beugte sich zu ihr hinüber, nahm ihre Hand und nickte. »Absolut.«

»Aber das, worüber wir mit euch reden wollen, betrifft euch ebenfalls«, fuhr Marita fort. »Man hat mir … eine Stelle angeboten. Hier im Krankenhaus. Als Schwester auf der Pflegestation des angeschlossenen Seniorenheims.«

»Na, das ist doch wunderbar«, gratulierte Erik sofort, und auch seine Brüder nickten.

»Freut mich, dass ihr kein Problem damit habt. Dann werdet ihr ja auch sicher nichts dagegen einwenden, wenn wir die Aufgaben im Haus ab sofort verteilen, da Marita dafür in Zukunft kaum noch Zeit haben wird. Der Schichtdienst ist auch so schon anstrengend genug«, sagte Haakon.

Zweifelnd schaute Erik zu seinen Brüdern. So hatte er sich das eigentlich nicht vorgestellt. »Kannst du nicht auf das Jobangebot verzichten? Und alles bleibt wie bisher?«, wandte er sich an seine Mutter. Henrik, Fredrik und Cedrik nickten beifällig.

»Das könnte euch so passen. Ich habe lange genug eure Minna gespielt«, entgegnete sie empört. »Kommt nicht infrage.«

»Außerdem solltet ihr einen anderen Aspekt nicht vergessen: Wenn eure Mutter mitverdient, sind wir eher in der Lage, euch eine Wohnung in Bergen zu finanzieren«, sagte Haakon. »Sofern ihr den Test besteht!«, wiegelte er ab, als er die begeisterten Mienen seiner Söhne sah.

»Wo wir gerade vom Haushalt reden: Habt ihr die Tassen mit heruntergebracht?«, fragte Marita streng. »Ich habe keine Lust mehr, durchs ganze Haus zu laufen, um benutztes Geschirr einzusammeln. Aber das wird sich ja bald ändern. Denn diese Aufgabe übernimmt in Zukunft einer von euch – falls ihr euch nicht bequemen könnt, eure Tassen in die Küche zu bringen, nicht wahr?«, fügte sie zuckersüß hinzu.

Erik und seine Brüder sahen einander an und nickten widerstrebend.

»Wie ihr die Führung des Haushalts verteilt, überlassen wir euch. Ich bin mir sicher, ihr alle werdet Aufgaben entdecken, die ihr mit Freude erledigt. Und dazu so manches, das euch nicht schmecken wird. Aber da müsst ihr nun mal durch«, sagte Haakon und grinste. Dann reichte er ihnen eine Liste, auf der sämtliche Tätigkeiten im Haushalt aufgeführt waren. »Viel Spaß beim Aushandeln.«

Ha! Wenigstens ein Lichtblick in dem ganzen Drama. Verhandeln zählte zu den wenigen Dingen, bei denen er ausnahmsweise keine Hemmungen kannte, jubelte Erik innerlich. Endlich würden seine Brüder ihn mal nicht übers Ohr hauen können. Er konnte es gar nicht erwarten!

6

»Ich hab die Liste auf Zettel übertragen«, wandte Erik sich an seine Brüder, die sich in seinem Zimmer versammelt hatten. »Dann lassen sich die Aufgaben leichter verteilen.« Diese Arbeit hatte er gern auf sich genommen, denn wenn sein Plan aufging, würde er Lucinda regelmäßig sehen können.

Die anderen nickten und setzten sich an den Schreibtisch, auf dem Erik die Zettel ausbreitete.

»Gute Idee«, bestätigte Cedrik. Bedächtig schob er die Bündchen seines dunkelblauen Wollpullovers höher, sodass die Ärmel eines weißen Hemds darunter zum Vorschein kamen.

Eriks Blick fiel auf die leichte, grauweiß gestreifte Leinenhose, die sein Bruder dazu trug. Keine Ahnung, wie Cedrik es schaffte, dass seine Kleidung immer wie aus dem Ei gepellt aussah. Seine eigenen Sachen waren dagegen dauernd zerknittert. Ein Glück, dass er ohnehin lieber Sportklamotten trug.

»Ich nehm Einkaufen«, verkündete er, nachdem er den Stapel verteilt hatte. Blitzschnell schnappte er sich den Zettel, den er sicherheitshalber als Letzten auf den Tisch gelegt hatte. Geschafft! Wenn er jetzt einen Grund hatte, täglich zu Lucinda in den Laden zu fahren, konnte er sie im Laufe der Zeit vielleicht mit seinem Charme bezirzen. Und möglicherweise würde sie sich ja irgendwann auch für ihn interessieren. Erik seufzte innerlich. Realistischer war wohl folgendes Szenario: Wenn er sie oft genug gesehen hatte und ihm nicht mehr jedes Mal der Verstand aussetzte, war er vielleicht in der Lage, sie noch mal anzusprechen. Aber egal. Zumindest hatte er sich die Option gesichert.

»Moment«, sagte Henrik in diesem Augenblick. »Ich bin der Älteste, ich darf als Erster aussuchen. Also her mit dem Zettel.«

Widerstrebend streckte Erik die Hand aus. Das war so unfair! Wenn Henrik sich diese Aufgabe griff und regelmäßig zum Einkaufen nach Andreas fuhr, würde er sich mit Lucinda anfreunden. Genau wie damals im Kindergarten, wo Henrik sich immer genau mit den Kindern unterhalten hatte, die Erik nett gefunden, sich aber nicht getraut hatte, sie anzusprechen. Okay, sein Bruder hatte versucht, ihn ins Gespräch einzubeziehen, doch da Erik vor lauter Schüchternheit kein Wort herausgebracht hatte, war schnell klar geworden, wen die anderen Kinder interessanter fanden. Es wurde höchste Zeit, daran mal was zu ändern. Außerdem war Verhandeln doch seine Stärke – zumindest bei all den Quartett- und Videospielen, die sie immer gemeinsam gespielt hatten. Er konnte nur hoffen, dass das auch für echte Verhandlungen galt, bei denen es um mehr als nur Spielgeld ging.

»Nein!«, sagte er entschlossen, zog die Hand zurück und drückte den Zettel an sich.

»Aber das haben wir immer so gemacht«, wandte Henrik ein und tippte mit dem Zeigefinger auf die Stelle, wo der Zettel gelegen hatte.

Erik sah seine Brüder an. Fredrik und Cedrik nickten. »Ist mir egal«, widersprach er. »Mag ja sein, dass wir das zu Hause so gemacht haben, aber jetzt sind wir in einem fremden Land. Hier ist alles anders, hier läuft alles umgekehrt.«

»Was läuft hier denn umgekehrt?«, fragte Fredrik erstaunt.

»Na ja, zum Beispiel …« Hastig schaute Erik sich um. Dabei fiel sein Blick durch die Terrassentür, und er entdeckte ein Wohnmobil, das langsam über die Schotterpiste neben dem Leuchtturm zum Strand hinunterkroch. »Zum Beispiel fahren hier die Autos auf der gegenüberliegenden Straßenseite«, sagte er triumphierend. »Und deshalb darf ab jetzt der Jüngste zuerst aussuchen.«

Henrik zuckte die Schultern. »Also gut, von mir aus. Erik übernimmt die Einkäufe. Okay, Cedrik, dann such du dir jetzt was aus.«

Erleichtert atmete Erik auf, während Cedrik den Zettel mit der Aufschrift Garten vor sich auf den Tisch legte und zu Fredrik schaute. »Du bist an der Reihe.«

Mit nachdenklicher Miene studierte Fredrik die Zettel. Schließlich entschied er sich für Staubsaugen. »Dabei kann ich wenigstens Musik hören«, murmelte er und schaute zu Henrik, der sich zielstrebig den Zettel Reparaturen im Haus griff. Nun blieben noch eine Handvoll Zettel übrig.

»Die restlichen Aufgaben sollten wir auslosen«, schlug Henrik vor. »Das scheint mir die fairste Vorgehensweise. Okay?«

Als niemand Einwände erhob, schob er die Zettel zusammen, nahm Eriks Wollmütze, die auf dem Bett lag, und warf die Zettel hinein. »Erik, du darfst als Erster.«

Erik schloss die Augen und griff blind in die Mütze. Er mischte die Zettel ein paar Mal, zog einen hervor und legte ihn vor sich. Ach, du Scheiße. Kochen.

»Na, das passt ja«, meinte Cedrik und schlug ihm freundlich auf die Schulter. »Du backst schließlich gern Waffeln.«

»Aber das ist doch was völlig anderes«, protestierte Erik. »Ich hab keine Ahnung vom Kochen.«

»Meinst du vielleicht, wir wüssten, wie das geht?«, warf Fredrik ein.

»Trotzdem. Das soll lieber jemand anders übernehmen«, sagte Erik, während er den Zettel in Richtung Mütze schob. »Das mit dem Auslosen ist vielleicht doch keine so gute Idee.«

»Also gut, ich könnte mir vorstellen, dass ich uns mithilfe eines Kochbuchs irgendwie satt bekomme«, sagte Henrik. »Aber dann wäre es sinnvoller, wenn ich auch die Einkäufe erledige. Zumal ich für Reparaturen im Haus sowieso regelmäßig Besorgungen …«

»Okay, okay!«, fiel Erik ihm ins Wort. »Ich kümmere mich ums Kochen.« Nur über seine Leiche überließ er Lucinda seinem Bruder! Hastig zog er den Zettel wieder zu sich heran.

»Wirklich?«, hakte Henrik nach. »Es soll hier schließlich niemand zu irgendetwas gezwungen werden.«

»Kein Problem«, versicherte Erik. »Wie ihr schon gesagt habt: Backen und Kochen sind gar nicht so verschieden. Was kann da schon schiefgehen?«

»Das ist die richtige Einstellung«, grinste Fredrik. »Äh, ich hätte da eine Idee, wie wir das Ganze spannender machen können. Ich muss noch eben was nachgucken. Wir treffen uns in einer Viertelstunde unten in der Küche«, rief er über die Schulter und stiefelte aus dem Zimmer. »Sucht schon mal ein Kartenset raus.«

Erik lehnte sich erleichtert zurück. Er hatte es geschafft. Jetzt musste er nur noch dafür sorgen, dass er auch immer genügend Zeit für das Erledigen der Einkäufe hatte. Das durfte ja wohl kein Problem sein, oder?

7

Henrik schaute von den Karten auf, die er vor sich ausgebreitet hatte, als Fredrik in die Küche kam. Na endlich. Er hatte sich schon gefragt, wie lange sie noch auf ihn warten sollten. »Mann, das hat ja ewig gedauert.«

Doch Fredrik ging nicht darauf ein. »Was haltet ihr davon, wenn wir die restlichen Aufgaben nicht auslosen, sondern um die Verteilung spielen? Eine Partie Poker? Wer als Erster rausfliegt, muss drei Zettel aus dem Topf – oder in diesem Fall aus der Wollmütze – ziehen. Der Nächste bekommt zwei Zettel und der auf dem zweiten Platz einen. Nur der Gewinner braucht keinen zu ziehen.«

Poker? Da gab es nicht viel zu überlegen. »Ich bin dabei«, verkündete Henrik und schaute die beiden Jüngsten an. Er sah, wie Cedrik kurz zögerte und schließlich nickte.

Dagegen wurde Erik einen Moment bleich um die Nasenspitze. Doch dann versicherte er eifrig: »Klar, kein Problem.«

Henrik schwankte. Die Partie würde nicht fair verlaufen. Bei Cedrik ließ sich nicht sagen, ob er Poker spielen konnte – sein Bruder hatte so viele Geheimnisse. Um Fredrik musste er sich nicht sorgen, da er sonst den Vorschlag nicht gemacht hätte. Aber Erik war garantiert ahnungslos.

»Wie sind die Regeln noch mal?«, fragte er nun auch prompt.

»Erik, bist du dir sicher, dass du das auch wirklich möchtest?«, hakte Henrik pflichtbewusst nach.

»Klar, ich bin nur etwas eingerostet.« Erik setzte sich an den Tisch.

Okay, er hatte es versucht. Wenn der Kurze nicht zugeben wollte, dass er noch nie Poker gespielt hatte, konnte man nichts machen. Henrik lehnte sich zurück. Vielleicht kamen ihm ja endlich mal die Erfahrungen zugute, die er mit Anna und der restlichen Thekenbesatzung vom Trawler gesammelt hatte. Es hatte ihn verdammt viel Taschengeld gekostet, bis er bei den spätnachmittäglichen Pokerrunden in der Kneipe neben dem Sportzentrum endlich mal Land gesehen hatte.

Fredrik schnappte sich einen Stuhl und rieb sich erwartungsvoll die Hände. »Haben wir Chips im Haus, oder worum wollen wir spielen?«

»Ich dachte, wir würden um die Aufgaben spielen«, wandte Erik ein, womit endgültig klar war, dass er wirklich keine Ahnung hatte.

»Ja, schon, aber wir müssen ja irgendetwas als Einsatz verwenden – etwas, um das wir spielen können. Die Verteilung der Aufgaben erfolgt, wenn feststeht, wer gewonnen oder verloren hat«, erläuterte Cedrik und ließ sich ebenfalls am Tisch nieder. »Ich schlage vor, wir nehmen die Geldscheine aus dem Monopolyspiel.« Er stand wieder auf, ging zu einem der Sideboards in der Wohnecke und kam mit einem fleckigen, abgewetzten Spielekarton an den Küchentisch zurück.

»Also gut«, meinte Henrik, »dann mal los. Gespielt wird No Limit Hold´em. Jeder von uns bekommt 100 Dollar, und wir spielen maximal eine Stunde. Wer dann die meisten Scheinchen hat, hat gewonnen. Die Grundeinsätze steigen alle 15 Minuten; angefangen wird mit 1 und 2 Dollar als Small und Big Blind. Ich gebe, aber der Button wechselt nach jeder Hand. Erik ist der Jüngste und kriegt als Erster den Button. Irgendwelche Einwände?«

Fredrik und Cedrik schüttelten erwartungsgemäß den Kopf, aber Erik starrte ihn mit großen Augen an, schluckte mühsam und schloss sich dann seinen Brüdern an. Entschlossen mischte Henrik die Karten und gab jedem zwei.

Plötzlich schwang die Küchentür auf, und Marita steckte den Kopf herein. Sie hatte ihre Jacke übergestreift und ihre Tasche über die Schulter geschwungen. »Ich muss gleich zum Spätdienst«, sagte sie, warf dann aber einen neugierigen Blick auf den Tisch. »Ihr spielt Karten? Ach, wie schön. Das ist ja wie in alten Zeiten, als ihr vier von euren Quartettspielen gar nicht genug bekommen konntet.« Lächelnd zog sie den Reißverschluss ihrer Jacke zu. »Vielleicht war es ja doch keine so schlechte Idee, auf diese Insel zu ziehen. Dann bis später!« Damit zog sie die Tür hinter sich zu und verließ das Haus.

Henrik war ganz froh, dass sie keine weiteren Fragen zu der Art ihres Kartenspiels gestellt hatte. Wahrscheinlich wäre sie nicht so begeistert gewesen, wenn sie erfahren hätte, dass seine Brüder und er um die Verteilung der Aufgaben pokern wollten – wobei einer von ihnen definitiv keine Ahnung von den Spielregeln hatte.

Am Anfang verlief das Spiel ohne große Überraschungen: Erik flog nach wenigen Runden raus. Er wollte einfach bei jeder Hand mitspielen, offenbar in der Hoffnung, irgendwie die passenden Karten zu finden – mit dem Ergebnis, dass er innerhalb der ersten fünfzehn Minuten seine Spielscheine gleichmäßig an seine Mitspieler verteilt hatte. Henrik überlegte kurz, ob er ein schlechtes Gewissen haben müsste. Nein, schließlich hatte er seinen Bruder eindringlich gefragt, ob er wirklich Poker spielen könnte.

Missmutig griff Erik in die Wollmütze, zog drei Zettel heraus und legte sie so vor sich auf den Tisch, dass alle sie lesen konnten: Wäsche waschen, Betten machen und Fenster putzen.

Henrik verteilte die Karten für die nächste Hand und studierte dann seine Brüder: Fredrik spielte mit gerunzelter Stirn und äußerster Konzentration, aber immer nur dann, wenn er ein gutes Blatt hatte. Ansonsten stieg er sofort aus jeder Hand aus. Also brauchte Henrik nur gelegentlich zu bluffen, um ihm ein paar Dollar abzuknöpfen. Aufgrund der Tatsache, dass die Einsätze langsam, aber unerbittlich stiegen, würde sich der Rest von selbst erledigen, überlegte er.

Und tatsächlich, seine Rechnung ging auf: Nach einer Weile wanderten Fredriks letzte Scheine in die Mitte. Aber mit seinem Paar Siebener war sein Bruder chancenlos, denn Henrik ging mit und traf die benötigte Karte für ein höheres Paar – eine Dame. Innerlich rieb er sich die Hände. Das lief ja wie geschmiert.

Seufzend strich Fredrik sich die Haartolle aus der Stirn; im Gegensatz zu Cedrik, Erik und ihm hatte er keine rotblonden, sondern hellbraune Haare. Dann nahm sein jüngerer Bruder pflichtgemäß zwei Zettel aus der Wollmütze, warf einen Blick darauf und steckte sie schweigend ein. Offenbar wollte er nicht sagen, welche Aufgaben er da an Land gezogen hatte. Egal, nächste Runde.