Mantel der Gerechtigkeit - Susanne Zwing - E-Book

Mantel der Gerechtigkeit E-Book

Susanne Zwing

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Beschreibung

Der 26-jährige Cédric wird in Todesgefahr von Bojan gerettet. Bei dessen Familie findet er die Chance für einen Neuanfang und glaubt sein ehrloses Leben hinter sich lassen zu können. Zwischen Bojans Tochter Mila und Cédric beginnt eine heimliche Liebesromanze. Von inneren Kämpfen bedrängt, kommt Cédric nicht von seiner Vergangenheit los. Als Bojan vom mächtigen König El Redi auf einen langen Marsch geschickt wird, eröffnet sich Cédric damit die Möglichkeit, sich El Redis Heer anzuschließen. Cédric tritt in den Dienst El Redis ein und erhält als sichtbares Zeichen, unter wessen Namen und Schutz er nun lebt, den Mantel des gerechten Königs. Es ist seine einzige Hoffnung auf Freiheit. Zusammen mit Bojan macht er sich auf den abenteuerlichen Weg, weitere Mantelträger El Redis zu suchen und sie auf einer gefahrvollen Route zum schützenden Heer El Redis zu bringen. Durch den überraschenden Tod Bojans wird die Mission an Cédric übertragen. Bereit, Opfer zu bringen, wächst Cédric mutig über sich hinaus. Standhaft gelingt es ihm, den Auftrag siegreich zu Ende zu bringen.

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Seitenzahl: 402

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Susanne Zwing

Über die Autorin:

Susanne Zwing wurde 1968 in Ravensburg geboren. Sie studierte Biologie in Ulm und lebt mit ihrer Familie in Süddeutschland.

Von Susanne Zwing außerdem erschienen:

Das Bekenntnis

Roman

Mantel

der

Gerechtigkeit

1. Auflage 2020

Texte: © Copyright by Susanne Zwing

Umschlaggestaltung: © Copyright by Tamara Zwing

Illustrationen: © Copyright by Tamara Zwing

Alle Rechte vorbehalten

Selbstverlag Susanne Zwing

Lektorat: Christa Alexander

Korrektorat: Christa Alexander

Für alle meine Leser –

danke dafür, dass ihr euch darauf einlasst,

Die Prophetie

Gemeinsam werden sie gegen IHN Krieg führen.

Doch ER wird sie besiegen,

weil ER König über alle Könige ist.

Und die, die zu IHM gehören,

werden die Berufenen und die Auserwählten

Gestrandet

Er wachte auf und wusste, dass sich etwas verändert hatte.

Noch immer hörte er das sanfte Schlagen der Wellen. Doch die wogenden Bewegungen des Wassers, das ihn zwei Tage getragen hatte, waren einem festen Untergrund gewichen.

Die hölzerne Planke, an die er sich geklammert hatte, lag noch neben ihm, als er die Augen aufschlug.

Mühsam richtete er sich langsam auf. Ein Stöhnen der Erleichterung entfuhr unwillkürlich seiner Kehle, als ihm bewusst wurde, dass er überlebt hatte.

Ob noch einer der Männer am Leben war, die mit ihm auf dem Boot unterwegs gewesen waren? Zwei waren vor seinen Augen in den dunklen Tiefen des Meeres untergegangen. Die anderen fünf waren sofort von der Finsternis der stürmischen Nacht verschluckt worden.

Seine Zunge klebte am Gaumen fest und fühlte sich dick geschwollen an. Langsam richtete er sich ganz auf und sah sich um.

Vor ihm lag das Meer, ruhig und unschuldig. Er selbst schien sich auf einer steinigen Insel zu befinden. Nur hier und da ragten dürr vertrocknete Grasbüschel zwischen den Steinen heraus. Rings um ihn war das Meer von kleineren und größeren steinernen Inseln unterbrochen, die nicht anders aussahen als die, auf der er sich befand. Sanft erhoben sie sich aus dem Meer.

In der Ferne verdunkelte sich der Himmel mehr und mehr. Er konnte erkennen, wo der Regen bereits niederging. In dicken, dunklen Strichen verband sich dort der Himmel mit dem Meer. Schnell näherte sich die Regenwand seiner Insel. Schon konnte er sehen, wie das Meer dort aufspritzte.

Er schaute sich um, ob er einen Unterschlupf finden konnte. Doch da war nichts als spitzes Gestein, das ihm in die Füße stach.

Rasch kam die dunkle Front näher und er spürte die ersten dicken Regentropfen auf seinem Gesicht. Schnell kam der Regen, prasselnd und voll. Er riss seinen Mund weit auf, um möglichst viel aufzufangen. Der Regen wusch ihm die Salzkrusten von der Haut und löschte seinen schlimmsten Durst. Der Regen rettete ihm das Leben.

Hätte er gewusst, wem er dafür danken könnte, er hätte es getan. Auch für die Schiffsplanke, die im Sturm gegen ihn gestoßen war. Immer und immer wieder, bis er endlich danach gegriffen hatte. Sie war groß genug gewesen, um sich draufzulegen und sie umklammern zu können, wie die Frau, an die er in diesen Stunden oft gedacht hatte.

Als sich zu seiner rechten Seite die tief hängende Wolkendecke verzogen hatte, gab sie den Blick auf eine nahe liegende Bergkette frei, die hoch emporragte. Aus der Ferne meinte er, dort dunkle Stellen zu erkennen, die sich von dem hellen Gestein, aus dem die ganzen Inseln zu bestehen schienen, deutlich abhoben.

Sein Blick fiel auf die Planke vor ihm, die ihn zwei Tage durchs Wasser getragen hatte. Noch einmal ließ er seinen Blick ringsum schweifen. Nichts als Steine, kein einziger Baum. Auch die Inseln in Sichtweite schienen sich nicht von dem Flecken Land zu unterscheiden, auf dem er sich befand.

Er bückte sich, um das Gewicht des Holzes zu prüfen. Mit einem Ruck hievte er es auf seine breiten Schultern. Ein Stück weit konnte er es tragen, auch wenn es schwer war, noch vom Wasser durchtränkt.

Entlang des Wassers suchte er sich eine Stelle, die ihn möglichst nahe zum gegenüberliegenden Ufer brachte. Es war machbar. Ja!

Bald schon hatte er eine Landzunge erreicht, die direkt zum Festland hinausragte und die flach genug ins Wasser verlief. Mit letzten Kräften und blutigen Füßen stolperte er dorthin. Rote Spuren zeichneten seinen Weg über das spitze Gestein.

Die Sonne stand noch hoch genug. Ein paar Stunden hatte er noch Licht. Das sollte genügen.

Ächzend legte er das Brett ab und schob es ins Wasser. Ein kleines Stück schob er es vor sich her. Dann legte er sich bäuchlings darauf. Mit den Armen schob er das Wasser weg und paddelte zusätzlich mit den Füßen, das andere Ufer fest im Blick.

Was anfangs leicht ging, wurde bald mühsam und für seine Muskeln schmerzhaft. Nur kleine Pausen gönnte er sich. Wie in den Tagen zuvor, brannte ihm das Meerwasser in den Augen.

Mechanisch schob er seine Arme im Wasser nach vorne, drückte das Meer hinter sich und kam so Zug um Zug ans andere Ufer, das ihm mit demselben spitzen Gestein Füße und Arme aufschnitt. Mit letzter Kraft zog er sich beim schwindenden Tageslicht ans höher gelegene Ufer, blieb liegen und schlief sofort völlig ermattet ein.

Erst die wärmende Sonne weckte ihn am späten Morgen. Wieder lag dick und taub seine Zunge im Mund. Der Hunger nagte erbärmlich an ihm. Nur Steine und sein Brett. Stumpf starrte er ins Wasser, das hier in kleinen Buchten flach auf das Land traf. Zuerst nahm er die kleinen Bewegungen nicht bewusst wahr. Dann aber erkannte er darin fingerlange Fische, die sich in kleinen Schwärmen dort aufhielten. Sehr langsam trat er Schritt für Schritt ins Wasser, bis er hüfttief stand. Seine Hand tauchte unter Wasser. Reglos stand er dort, bis die Schwärme zurückkamen und um ihn herum schwammen.

Schnell griff er zu, wieder und wieder, bis er endlich mit der Hand einen der Fische umschlossen hatte. Ohne Zögern schnellte sein Arm zu seinem Mund und entlud dort die zappelnde Beute.

Er kaute nur wenige Male und schluckte.

Zweimal noch gelang ihm sein Unterfangen. Dann beendete er es enttäuscht, denn nur der salzige Geschmack im Mund war ihm übriggeblieben und sein Körper verlangte nach weit mehr als dreier erbärmlich kleiner Fische.

Wieder richtete er seinen Blick auf die nahe Bergkette, und so folgte er diesem über mehrere Hügelkämme. Hitze stieg aus den Steinen in seine Füße und von oben in seinen unbedeckten Kopf.

Abrupt endete sein Weg, als die Felsen vor ihm steil ins Meer abbrachen. Wieder trennte ihn das Meer vom Festland, wie er bitter erkennen musste. Er befand sich erneut auf einer Insel, wenn auch näher zum Festland gelegen. Seine Holzplanke hatte er liegen gelassen, im Glauben sie nicht mehr zu brauchen. Kein einziger Baum war zu sehen.

Schritt für Schritt kämpfte er sich auf dem Grat entlang, um wiederum einen möglichst kurzen Meeresweg zu finden. Eine Stunde, in seinem Zustand vielleicht zwei Stunden, vermochte er zu schwimmen. Das Wasser war ruhig. Heftig atmete er ein und aus.

Doch plötzlich löste sich das lose Gestein unter ihm und er rutschte mitsamt Geröll über den steilen Hang hinab ins Meer.

Laut klatschend versank er zusammen mit den Steinen im Wasser. Panik wollte sich seiner bemächtigen, doch er zwang sich, nach oben zu tauchen. Dort schnappte er laut prustend nach Luft. Seine Gliedmaßen konnte er alle bewegen. Dankbar registrierte er, dass er sich bei seinem Sturz nichts gebrochen hatte.

Den hoch aufragenden Bergkamm vor sich, begann er zu schwimmen. Gedankenleer nahm er Zug um Zug. Wenn er dort nicht Wasser und Nahrung fand, würde er ohnehin nicht mehr lange überleben.

Die Hand

Zuerst hörte er nur Stimmen.

Dann aber spürte er, wie ihn etwas am Kopf traf. Erschrocken versuchte er, es abzustreifen.

Da wieder. Stimmen! Näher!

Erneut traf ihn etwas Hartes.

Doch sein Mund ließ sich zu keinem Laut öffnen, um auf sich aufmerksam zu machen.

Das kleine Fischerboot kam in sein Blickfeld. Er sah zwei dunkle Schatten im blendenden Gegenlicht, die wild fuchtelten. Sie hatten ihm ein festes Seil entgegengeworfen, immer und immer wieder. Aber erst jetzt sah er es. Er griff danach. Spürte sofort einen Zug. Und hielt fest. Er wurde zum Boot gezogen. Starke Arme packten ihn unsanft unter den Schultern und er glitt wie ein nasser Fisch über den Bug in die Mitte des Bootes. Dort blieb er inmitten des Fanges liegen.

Heftig atmete er aus und ein, bevor er die Augen öffnete. Die Schatten hatten sich zu ihm herabgebeugt und sprachen immerfort in einer ihm völlig unbekannten Sprache auf ihn ein.

Ein faltiges, sonnengebräuntes Gesicht über ihm nahm Konturen an. Der große sprechende Mund. Wild und zerzaust umrahmten die sonnengebleichten Haare das fremde Gesicht.

Langsam drehte er seinen Kopf zu der jüngeren Stimme. Ein braungebrannter Jungmännerkörper ragte vor ihm auf. Stolze, freudig strahlende Augen trafen die seinen.

Da erst ließ seine ganze Anspannung nach und er verzog sein Gesicht zu einem ebenso breiten Grinsen, wie das des Jünglings über ihm.

„Joško.“ Dabei hämmerte der Jüngling auf seine Brust. Sein Grinsen steigerte sich zu einem glucksenden Lachen.

„Joško, Joško“, wiederholte er und zeigte dann auf ihn. Seine dunklen Augenbrauen zogen sich in Erwartung einer Antwort nach oben.

Er hatte ihn wohl verstanden. Aber seine Frage zu beantworten fiel ihm nicht leicht.

„C…“ Seine Zunge wollte ihm einfach nicht gehorchen. Die ältere Stimme befahl dem Jungen etwas. Dieser wandte sich um und angelte aus einem Korb einen ledernen Beutel. Vorsichtig löste er in dem schwankenden Boot den korkenen Stöpsel. Rasch ging sein Blick zu dem Älteren. Wahrscheinlich nickte er ihm zu, denn nun beugte er sich zu ihm herunter, um ihm die Öffnung an den Mund zu halten. Ein dicker Strahl Wassers ergoss sich ihm in den Mund. Er verschluckte sich daran und begann zu husten. Beim nächsten Versuch legte Joško ihm die Hand unter den Kopf und hob ihn etwas an. Kurz ließ er ihn schlucken. Eins ums andere Mal, bis er genug hatte.

Erneut versuchte er seine Zunge zu bewegen. Dieses Mal gehorchte sie ihm, wenn auch nicht so kräftig, wie normalerweise seine Stimme war.

„Cédric“, kam es schwach aus seinem Mund. Aber Joško verstand und lachte auf.

„Cédric“, wiederholte dieser und hatte offensichtlich Freude daran.

Cédric nickte.

Der junge Mann griff ihm unter die Schultern und gab ihm so zu verstehen, dass er sich aufrichten sollte. Das kleine Boot unter ihnen kam heftig ins Schaukeln, als Joško ihn auf die Bank im Bug zog. Ihm gegenüber nahm Joško seinen Platz ein und griff nach den Rudern. Mit gleichmäßigen Zügen zog er die Ruder durch das Wasser und sie näherten sich rasch dem Ufer.

Dieses hob sich wild zerklüftet aus dem Wasser. Sie steuerten eine kleine Bucht an, an deren Hang sich mehrere Häuser befanden. Zwischen den spitz aus dem Wasser ragenden Felsen lenkte Joško sie sicher hindurch. Die Bucht endete an einer kleinen Anlegestelle. Stufen waren dort aus dem Stein geschlagen und führten zu einem hölzernen Tor, das zwischen Fels und Mauerwerk eingebettet war. Eine aus dem Felsen gehauene Treppe führte zu dem höher gelegenen Haus. Joško und der Ältere halfen ihm aus dem Boot.

Sie brauchten nicht viele Worte, Cédric verstand auch so, was ihnen der Ältere bedeutete. Er sollte mit Joško mitgehen, während er selbst das Boot entlud und im Kellerraum hinter dem Tor ihren Fang versorgte.

Joško griff ihm herzhaft unter die Arme, sodass er sich auf ihn stützen konnte. Dankbar nahm er diese Hilfe an, denn der Boden schwankte bedenklich unter ihm. Noch ehe sie sich an die steilen Treppenstufen he-ranmachten, begrüßte sie eine aufgeregte Mädchenstimme von oben, die sich von der Terrasse oberhalb des Kellers zu ihnen herunterbeugte.

„Joško, koga bi?“

Cédric sah in zwei freudig aufblitzende Augen.

„Moja sestra!“, grinste ihn Joško mit einem verschwörerischen Lächeln an. Und schon war sie die Stufen hinuntergesprungen, um den seltsamen Fang ohne jede Scheu genauer zu begutachten. Von seiner einstigen Kleidung waren nur noch Fetzen der Hose übrig geblieben. Seine dunkel behaarte breite Brust verbarg die vielen Narben. Die dunkle verworrene Mähne gab ihm ein zusätzlich wildes Aussehen und stand im krassen Gegensatz zu dem ordentlich hell leuchtenden Zopf, der ihr lang geflochten über die Schultern nach vorne fiel.

Er überragte Joško kaum, obwohl dieser sicher noch nicht ausgewachsen war. Seine Muskelpakete waren dagegen deutlich mehr ausgeprägt und zeigten sein ausgereiftes Mannesalter. Er wusste, dass ihn die Frauen gerne betrachteten, und so störte er sich auch nicht an den neugierigen Blicken des Mädchens. Sie waren nie abgeneigt … Ein kurzer Schatten huschte über sein Gesicht.

Joško unterbrach ihr gegenseitiges Begutachten.

„Moja sestra“, wiederholte er.

„Mila“, kam sie schnell sprudelnd zuvor.

Mila, Joško. Nun war er wieder an der Reihe sich vorzustellen.

„Cédric.“

Mühelos sprach sie seinen Namen nach, wie schon ihr Bruder zuvor.

Der ältere Fischer – Cédric nahm an, dass es ihr Vater war – trat aus dem Dunkel des geöffneten Kellerraumes heraus und scheuchte sie nach oben.

„Dein Vater?“, fragte Cédric, an Joško gewandt.

Dieser nickte. „Da, moj otac.“

Langsam fand Cédric an dieser neuen Sprache Gefallen.

Sein Atem ging heftig, nachdem sie die engen Stufen zum Haus hinauf hinter sich hatten. Ein großer freier Platz, der in eine weitläufige offene Veranda überging, empfing ihn freundlich. Wie auch die Frau, die in ebendiesem Moment mit einer dampfenden Schüssel aus dem Haus trat. Sie nickte ihm zu, ging aber zuerst zu der langen hölzernen Tafel, auf dem sie ihre schwere Schüssel abstellte. Gleich darauf kam Mila, ebenso voll beladen mit einem Korb voller Brot, herausgestürmt. Sie schien immer zu „stürmen“, wie er amüsiert feststellte, denn ihre Mutter warf ihr einen ermahnenden Blick zu.

Joško hatte ihn inzwischen unter die überdachte Veranda geführt. Dort übernahm die Mutter das Kommando und zog ihn sachte auf einen großen, mit Kissen gepolsterten Stuhl. Cédric zögerte, weil er so schmutzig war. Aber sie spürte es sofort und nickte ihm auffordernd zu. Joško zuckte hinter dem Rücken seiner Mutter mit den Schultern und gab ihm so zu verstehen, dass er alles richtig machte, wenn er ihr gehorchte. Er kam um den Tisch herum und setzte sich neben ihn. Mila hatte inzwischen hölzerne Schalen und Löffel aus dem Innern des Hauses gebracht und setzte sich ebenso an den Tisch. Cédric gegenüber.

Weitere Kinder erschienen kreischend mit der Mutter und rasch war der Tisch gefüllt. Erschöpft ließ sich auch der Vater neben Cédric nieder. Als sie sich alle gesetzt hatten, wurde es eigentümlich ruhig. Niemand griff nach dem Essen. Cédric blickte erstaunt in die Runde und hielt den Atem an, als der Vater neben ihm leise die Stimme anhob. Sie wurde lauter und heftiger, um dann abrupt innezuhalten. Seine Frau führte das seltsame Selbstgespräch weiter, noch heftiger als er. Erst als sie geendet hatte, gab es ein allgemeines Aufhorchen und die Kinder begannen loszukichern. Ein jeder streckte seine Schale aus und die Mutter kam kaum nach, sie alle zu füllen. Nur hier und da warfen sie ihm einen neugierigen Blick zu. Aber nur so, als wären sie es gewohnt, fremde Gesichter am Tisch zu sehen. Selbst ein solch verwahrlostes, wie er es gerade bot. Nur Mila starrte ihn immerzu an. 

Nachdem auch er und der Vater den ersten Hunger gestillt hatten, versuchte der Hausherr ein Gespräch.

„Bojan“, stellte er sich vor. Cédric nickte verstehend. Dann zeigte er auf seine Frau.

„Draga.“ Draga nickte ihm lächelnd zu, hatte aber mit den Kindern reichlich zu tun.

Mila hatte einen Riesenspaß, ihm Löffel und Schale unter die Nase zu halten, und gab nicht eher Ruhe, bis er ihr die seltsam klingenden Worte nachgesprochen hatte. Mit jedem Wort, das er ihr richtig nachsprach, fiel sie in einen Jubelschrei aus.

Die Dämmerung war inzwischen hereingebrochen und mehrere Kerzen wurden entzündet. Die Kleinen waren längst davongesprungen. Doch Bojan und Draga hatten anscheinend viel zu besprechen. Davon verstand er kein Wort. Und sie gaben sich auch nicht die Mühe ihm zu erklären, worum es ging. Joško wurde die Arbeit für den morgigen Tag erklärt, wie sich Cédric zusammenreimte. Mila schien nicht immer einverstanden zu sein mit dem, was man ihr auftrug. Mürrisch knurrte sie dazwischen und ihr Vater musste sie mehrfach ermahnen.

Draga wurde immer häufiger in ihrem Gespräch abgelenkt, als Cédric seine Erschöpfung nicht länger verbergen konnte. Sie warf Bojan einen auffordernden Blick zu.

„Kommt mit mir, mein junger Freund“, sagte Bojan, an Cédric gewandt. Bojan stand auf und nickte Cédric auffordernd zu. Mila sah seine Unsicherheit und stupste Cédric am Arm. Sie grinste ihn belustigt an.

„Du sollst mit ihm gehen.“ Dabei wies sie mit dem Kopf auf Bojan und stand ebenfalls auf.

Cédric versuchte genauso schnell aufzuhüpfen wie dieses junge Mädchen. Aber die letzten Tage forderten ihren Tribut und ein Ächzen entfuhr ihm ungewollt, als er begann seine schweren Gliedmaßen in Gang zu bringen. Mila grinste noch breiter, verwehrte sich aber jeden Kommentar, als der ernste Blick ihres Vaters sie traf.

Draga nahm ihre Tochter am Arm und gemeinsam gingen sie ins Hausinnere.

Bojan schnappte sich die Laterne vom Tisch und nach einem kurzen Zögern griff er auch nach dem Rest des Brotlaibes und dem Wasserkrug.

Aus dem hell erleuchteten Inneren trat Draga an die Türschwelle. In ihren Armen hielt sie ein Bündel sauberer Wäsche, das sie Cédric mit einem freundlichen Blick entgegenstreckte. Ehrlich dankbar nahm er es ihr ab und in seiner Sprache raunte er ein „Merci beaucoup“.

Bojan war inzwischen vorausgegangen. Ein nah gelegener Stall war sein Ziel. Durch die seitlich offene Stallung trat er ein und wartete dort auf Cédric. Das Brot und den Wasserkrug stellte er auf dem Arbeitstisch ab. Mit der Laterne wies er auf eine Leiter, die hinauf auf den Heuboden führte. Cédric verstand. Suchend schaute sich Bojan um, bis er fand, wonach er suchte. Einen sauberen hölzernen Eimer. Er bedeutete Cédric, ihm mit dem Eimer zu folgen. Dieser schnappte danach, legte sein Bündel ebenso auf den Arbeitstisch und sie gingen noch einmal hinaus ins Dunkle. Dort hielt Bojan am Wassertrog inne, der mit einer Handpumpe gefüllt werden konnte. Cédric stellte seinen Eimer darunter und fing an auf und ab zu pumpen, bis er zur Hälfte gefüllt war. Bojan nickte und sie gingen zurück in den Stall.

Bojan wartete noch, bis Cédric die Leiter hochgeklettert war, dann ging er mit der Laterne zurück zum Haus.

Mitten in der Nacht wachte Bojan auf. Das rasche Atmen Dragas zeigte ihm, dass auch sie nicht schlief.

„Horch, sein Schreien.“ Sie hörten es bis in ihre Kammer. Gemeinsam begannen sie für den fremden jungen Mann zu beten. Eine Weile noch lauschten sie in die Nacht hinaus, bis das Stöhnen und Aufschreien verebbt war. Erst dann fielen sie selbst wieder in einen tiefen Schlaf.

Cédric erwachte spät am nächsten Morgen. Er merkte es daran, dass die Sonne durch die Fugen an seiner Seite hindurchstrahlte. Erst jetzt hörte er das laute Muhen und Scharren der Tiere unter ihm. Wie tief hatte er geschlafen, dass er sogar das morgendliche Füttern überhört hatte? Er richtete sich auf und strich sich durch das wirre Haar. Die Erinnerung an seinen nächtlichen Alptraum kehrte zurück. Cédric hielt sich die Hände vor die Augen, um die quälenden Bilder von sich fernzuhalten. Aber sie kehrten immer und immer wieder zurück und peinigten ihn. Er stöhnte auf. Er hatte es nicht unter Kontrolle. Tagsüber fütterte er sich mit den Bildern des Tages, aber im Schlaf war er seiner Vergangenheit schutzlos ausgeliefert. Und sie erinnerte ihn an alles. Kein Detail verblasste, wie sehr er sich auch danach sehnte.

Er stand auf und streifte sich das Heu vom Körper. Schweißgebadet und innerlich ausgetrocknet erinnerte er sich an den vollgefüllten Eimer. „Draga und Bojan“, murmelte er sich die Namen vor. „Mila und Joško.“ Von den kleinen Kindern war es ihm entgangen, wie sie sich angeredet hatten.

Die letzten Sprossen der Leiter sprang er schon weit behänder als am vorigen Tag hinunter. Die schmutzigen Fetzen seiner verbliebenen Kleidung streifte er in einem Zug herunter. Er tauchte einen Teil davon ins Wasser und benutze es, um sich damit am ganzen Körper abzuwaschen. Mit dem noch trockenen Teil trocknete er sich notdürftig ab. Dann griff er nach dem Kleiderbündel, das ihm Draga gegeben hatte. Eine kurze Pumphose, in die er hineinschlüpfte und die so geschnitten war, dass sie jedem gepasst hätte. Mit dem dazugelegten einfachen Gürtel zog er sie an der Hüfte zusammen. Das ärmellose Obergewand war ebenso praktisch geschnitten, wie er mit einem Grinsen feststellte. Der leichte Leinenstoff fühlte sich frisch auf seiner Haut an und bei der warmen Luft war es ausreichend.

Hastig trank er aus dem Krug und löschte seinen Durst. Das Brot riss er sich entzwei und verschlang es schnell. Noch einmal trank er gierig, dann wagte er den Gang ins Freie. Er schaute sich um. Aus dem Haus hörte er die Stimmen der Kinder und Dragas. Zum Meer hin sah er Joško am Boot arbeiten.

„Cédric“, hörte er aus etwas Entfernung seinen Namen rufen. Er drehte sich in diese Richtung und sah Bojan, wie er ihn hinter das Haus heranwinkte. Dieser stand neben einem Steinhaufen und begutachtete seine Arbeit. Als er Cédric neben sich stehen wusste, zeigte er mit den Armen auf das Fundament, das er im Begriff war zu bauen. Er zeigte auf das bestehende Haus und sprach dabei die fremden Worte. Dann auf seinen Anbau. Cédric wiederholte die fremden Worte und Bojan lachte erfreut auf. Eingehend betrachtete Bojan seinen Haufen aus Steinen der unterschiedlichsten Größe. Dann wieder seine begonnene Fundamentmauer. Cédric beobachtete ihn. Auch als Bojan anfing, gezielt nach einem Stein zu greifen und ihn auf eine Lücke gekonnt platzierte. Aus einem Eimer verteilte er weiter Mörtel. Nun war es an Cédric, denn Bojan wies auf einen besonders großen, schweren Stein. Immer begleitet von einfachen Worten, die Cédric schnell verstand. Überrascht vom schweren Gewicht hievte er den Gesteinsbrocken auf die angegebene Stelle. Bojan wies ihn an, die gerade Seite nach außen zu drehen.

„Er muss ganz satt sitzen, sodass er nicht wackelt, wenn du darauf stehst.“ Bojan stand auf dem Stein. Er drehte ihn so lange leicht hin und her, bis er einen festen Sitz hatte. So ging es Stein für Stein weiter. Fasziniert über Bojans passgenauen Blick, fand er bald Gefallen an dieser Arbeit. Auch wenn sein Körper durchtrainiert war, schmerzten ihn bald die Arme.

„Lerne einzuschätzen, welcher Stein passgenau ist.“

Bojan schüttelte den Kopf, als Cédric seinen ersten Versuch allein machte. Seine Hand wies auf den Gesteinsverlauf und zeigte auf eine Stelle, die ähnlich spiegelbildlich war. Auffordernd sprach er weiter, ihn an diese Stelle zu setzen. Cédric spürte es, wie der Stein sich einpasste. Er rüttelte daran, stand selbst darauf und lachte zusammen mit Bojan über seinen Erfolg.

Viel zu schnell war der Haufen aufgebraucht.

Bojan führte ihn an eine Stelle im Wald, wo der Fels steil nach oben ragte und an dessen Fuß Geröll lag, das im Laufe der Zeit abgebrochen war. Mit der mitgeführten Karre fuhren sie ein um den anderen Stein zu ihrer Baustelle.

Mila wartete bereits auf sie.

„Mama sagt, ihr sollt zum Essen kommen und mal eine Pause machen.“

Das Wort Essen verstand er bereits und wiederholte es mit einer hungrigen Grimasse.

Wie am Abend zuvor versammelten sie sich im angenehmen Schatten der Terrasse. Es gab gebratenen Fisch, den sie vom vorigen Tag mitgebracht hatten, Käse und frisches Brot.

Alle ließen sich Zeit. Erst als sich alle satt und zufrieden zurücklehnten, begann Draga die Reste der Mahlzeit in ein Tuch einzuwickeln und in einem einfachen Beutel zu verstauen. Cedric überkam ein eigenartiges Gefühl in der Magengegend. Packte sie sein Abschiedsmahl ein? Im Bruchteil einer Sekunde wurde ihm klar, dass er noch nicht von hier fort wollte. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wann er zuletzt solchen Frieden erlebt hatte wie hier. Bojan und Draga verschwanden wild gestikulierend im Haus. Mila blieb neben ihm sitzen und machte keinerlei Anstalten aufzustehen. Vielmehr versuchte sie Cédric weitere Worte beizubringen, woran sie großen Gefallen hatte und auch eine erfolgreiche Lehrmeisterin war.

Erstaunt blickte er auf, als ihn Bojan ansprach. Er hatte nicht bemerkt, wie er zurückgekommen war. Noch erstaunter war er, Bojan in frischer Reisekleidung zu sehen. Unter dem Arm eine zusammengerollte Decke. In der anderen Hand eine hölzerne Truhe.

„Komm bitte mit, Cédric!“

Cédric warf Mila einen ungewissen Blick zu und trat auf Bojan zu. Dieser stellte seine Sachen auf dem Tisch ab. Dann gingen sie zurück zur Baustelle.

„Ich werde für ein paar Tage fort sein.“ Er wies auf den nahen Bergkamm.

„Baue du hier weiter, wie du es bei mir gesehen hast.“ Cédric glaubte nicht, was er da zu verstehen meinte. Sagte der Bauherr gerade zu ihm, er solle hier fortsetzen, was er erst am Morgen begonnen hatte zu lernen? Cédric suchte fassungslos Bojans Blick.

„Du hast schon richtig verstanden.“ Bojan nickte mehrmals, ging entlang der Fundamentmauer und bedeutete ihm, wo er weitermachen sollte. Mit einer Latte zeigte er ihm die Neigung, die das Fundament haben sollte und wie hoch die Mauer werden sollte.

Cédric war völlig überrumpelt. Bojan meinte es ernst. Er klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und grinste ihn schelmisch an. Offensichtlich hatte dieser Freude an der Überraschung Cédrics. Bedenken über Cedrics Fähigkeiten schien er keine zu haben.

Bojan ließ ihn dort zurück und ging selbst in den Stall, um sein Pferd zu satteln. Er führte es über den Platz, befestigte die Truhe, seinen Beutel und die Decke. Seine Frau umarmte er innig und drückte ihr einen endlos scheinenden Kuss auf die Lippen. Jedes seiner Kinder kam johlend zu ihm gerannt, um von ihm geherzt zu werden. Er stieg auf, drehte sich zu Cédric, um noch einmal festen Blickkontakt mit ihm aufzunehmen.

Gefangen

Cédric verstand sich selbst nicht, als er am anderen Morgen bereits bei Sonnenaufgang vor der gemauerten Mauer stand und sie anstarrte. Er versuchte sich an alle Einzelheiten zu erinnern, die er gestern von Bojan verstanden hatte. Wenn er dessen Worte überhaupt richtig übersetzt hatte, verbesserte er sich. Was ihn aber irritierte, war, dass er diesen Bojan, den er erst einen Tag kannte, nicht enttäuschen wollte.

Gebannt starrte er auf die oberste Steinreihe und versuchte, sich die Formen einzuprägen. Dann wendete er sich, um die entsprechenden Gegenstücke zu finden. Bevor er den Mörtel anrührte, wollte er sicher sein, die passenden Steine parat zu haben.

Ein Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Ein grausames Gesicht, das ihn verspottete. Verächtlich lachte die Grimasse über ihn, wie er hier Steine schleppte.

Cédric stöhnte auf und sah die Steine vor sich liegen, die sie gestern angehäuft hatten. Innerlich spürte er einen viel schwereren Haufen, den er angehäuft hatte. Diese Brocken konnte er bewegen, doch die in seinem Inneren nicht. Ebenso wenig den Berg an Pfandschulden, den er in einer längst vergangenen Welt auf sich geladen hatte. Und nie beglichen hatte.

Ein Lachen hinter ihm schreckte ihn auf. Er zitterte. Er brauchte eine Sekunde, bis er sich gefasst hatte. Die Schritte hatte er nicht kommen hören. Wieder höhnte die Stimme in seinem Inneren: „So plötzlich werde ich vor dir stehen, und du wirst bezahlen mit Zins und Zinseszins!“

Cédric graute. Schweiß trat ihm auf die Stirn, der nicht von der schweren Arbeit kam. Denn es war noch früh am Morgen und die Luft frisch und angenehm.

Es war Milas Stimme, die ihn nun ansprach. Sich den Schweiß von der Stirn wischend, drehte er sich um.

„Hast du Hunger?“ Mila sah ihn unbekümmert an.

Als erwache er aus einem Traum, war er noch einen weiteren Augenblick benommen. Mila wiederholte ihre Frage und bewegte ihre Hand kreisend vor ihrem Bauch und führte sie dann zum Mund. Sie stopfte sich scheinbar etwas in den Mund und begann zu kauen.

Cédric lachte laut auf. Und Mila mit ihm.

Er hatte sie sehr wohl verstanden und versuchte die Worte nachzusprechen. Mila grinste über das ganze Gesicht und sagte noch einmal: „Hast du Hunger?“ Er wiederholte. Und sie nickte zufrieden.

Sie winkte ihm, mit ihr zu kommen.

Cédric wischte sich die schmutzigen Hände an der Hose ab und bemerkte, wie Mila eine Augenbraue nach oben zog. Da erfasste es ihn wieder. Er konnte nichts dagegen tun. Es kam einfach über ihn. Er wusste, sie sah nur den Schmutz an seinen Händen. Aber er sah das Blut an seinen Händen haften. Er sah die roten Spuren auf seiner Hose. Es klebte überall an ihm. Er sah in ihre Augen und bemerkte, wie sie sich verengten. Wie eine leise Furcht in diese schönen klaren hellen Augen kam, da, wo gerade noch ein freudiges Funkeln gewesen war. Sie drehte sich abrupt um und lief zum Haus zurück. Einmal drehte sie sich nach ihm um, aber er war reglos stehen geblieben.

Er kannte diesen Augenblick der Frauen und Mädchen, in dem das Grauen sie packte und sie versuchten, dem Entsetzen zu entfliehen. Nicht nur er hatte den Bewohnern Gewalt angetan. Sie hatten erst aufgehört, als ebenso das Haus, das Land in ihrer Gewalt verbrannt war. Cédric schauderte. Weshalb kam all dies gerade jetzt zurück?

Cédric rührte sich nicht von der Stelle. Langsam bückte er sich und nahm den nächstbesten Stein auf. Er setzte einen Schritt vor den anderen. Polternd fiel er ihm aus der Hand und knallte auf die Mauer und auf den Boden. Streifte dabei sein Bein und schürfte ihm die Haut auf. Blutstropfen drangen heraus, bildeten einen kleines Rinnsal, bis sein Blut in den Staub tropfte.

Er atmete auf, keuchte seinen Atem hinaus. Wieder nahm er den Stein auf und setzte ihn in die Mauer.

Er hörte ihr Schreien um Hilfe, den Schrei ihrer Schmerzen und ihrer Todesfurcht.

Cédric nahm den nächsten Stein auf und setzte ihn daneben. Und wieder und wieder. Jeder Stein ein Hilfeschrei. Er hatte nicht geholfen. Er hatte das Unheil getan. Weh ihm.{2}

Es nahm kein Ende. Selbst hier nicht. Weit entfernt von seinem bisherigen Leben.

Der Bruchteil des Augenblicks, in dem er Mila eben gesehen hatte, reichte aus, um in ihm die Gier auszulösen. Nackt und entblößt sah er das Mädchen vor seinem geistigen Auge stehen. Mit ihren Rundungen und Schönheiten.

Gier, sie hatte ihn vernichtet, und noch immer war er in ihrem Würgegriff gefangen. Er schämte sich dafür und wusste, er hatte das Unheil mit hierher gebracht. Dieses ES, das er nicht mehr losbekam. Es war wie eine Decke, durch die er nicht mehr hindurch kam. Er weinte über sich selbst, denn er war in seinem eigenen Gefängnis verschlossen.

Er hörte die Stimmen derer, die ihn beschimpften und ihm den Tod wünschten für all das Böse, das er getan hatte. Sie waren alle im Recht, doch wussten sie nicht, dass er längst tot war.

Cédric strich sich den Schweiß vom Gesicht, der sich mit seinen Tränen vermischt hatte. Wie hatte Bojan so dumm sein können und ihn hier mit seiner Familie allein gelassen.

Sein Magen knurrte und er spürte, wie ihn die Kräfte verließen. Für einen kurzen Moment setzte er sich in den Schatten des Olivenbaumes. Er sollte von hier verschwinden, sofort. Das wäre das Beste für diese Familie, die ihm das Leben gerettet hatte. Bevor er ihr Leben vergiftete.

Aus der Ferne beobachtete er Joško, wie er unten am Wasser am Boot arbeitete. Joško, ein aufrichtiger Bursche. Ein Sohn, wie ihn sich jeder Vater wünschen würde. Nicht so wie er. Zum ersten Mal überkam ihn eine Traurigkeit darüber. Er hatte seinen eigenen Vater getäuscht und ihn und alle anderen glauben gemacht, er sei tot. Er dachte, es sei leichter so für seine Familie. Aber es fühlte sich schwer an, verdammt schwer.

Es war lange her, dass jemand gewagt hatte ihm zu sagen, was er tun solle. Und wenn es jemand versucht hatte, wie es sein Vater anfänglich getan hatte, so war es ihm gleichgültig gewesen. Nun saß er hier. Bojan war fort. Und er hatte Hunger.

Langsam stand Cédric auf. Sein Schritt war verhalten. Am Brunnen pumpte er den bereitstehenden Eimer voll und säuberte sich sein Gesicht und Hände. Dann pumpte er noch einmal und trank sich direkt an dem heraussprudelnden Wasser satt.

Er hatte das noch nie getan.

Aber etwas in ihm sagte: „Geh zu ihnen.“ Er war sich nicht sicher, was das in ihm war, das ihn dazu drängte und er dieser Stimme sogar nachgab.

Zögerlich trat er auf das Wohngebäude zu. Sie sahen ihn kommen. Sie saßen im Schutz der schattenspendenden Veranda beim Essen zusammen. Joško war ebenso dazugekommen.

Sie blickten alle auf ihn. In Milas Augen sah er Unsicherheit, in den Augen der Mutter ein tiefes Wissen.

Cédric hielt inne. Nur wenige Meter von ihnen entfernt, ohne dass einer von ihnen einen Ton gesprochen hätte. Sollte er nicht doch besser sofort kehrt machen und abhauen? Was sollte er hier?

Es war die Mutter, Draga, die das Wort aufnahm. Sie sprach langsam und nur wenige Worte. Und sie wiederholte sie. Zeigte dabei auf den freien Platz bei den kleinen Kindern auf der langgestreckten Holzbank, die sofort eifrig zusammenrückten. Sie lachten ihn an und zeigten keine Furcht.

Er nickte und setzte sich mit dazu. Dabei grinste er die Kleinen an und tat so, als fiele er gleich wieder von der Bank herunter. Sie kicherten und machten ihm noch mehr Platz.

Als er aufsah, blickte er direkt in Milas meerblaue Augen, die ihn fixierten. Sie sagten: „Was sollte das vorhin?“

Er zeigte ihr sein schiefes Schmunzeln und sie musste ebenfalls grinsen.

Bittere Stunden

Cédric erwachte unruhig mitten in der Nacht. Er hörte den Sturm draußen. Das starke Rauschen der Bäume, das an- und abschwoll. Der Regen donnerte auf das Dach und wurde gegen die Seitenwand gepeitscht. Er brauchte einige Zeit, um sich zu orientieren und bis er sich sicher war, wo er war. An Land.

Nicht auf dem Meer. Es war wie an jenem Tag. Die Sonne stand am wolkenlosen Himmel und er hatte nicht erkennen können, dass irgendwoher Gefahr drohte. Sie wollten nur hinausfahren, johlten und tranken den starken Wein aus den Schläuchen, die sie erst kurz zuvor der alten Bäuerin entwendet hatten. Sie hatten nur mitgenommen, was sie hatten tragen können. Den Rest hatten sie über den Boden verteilt, waren so lange darauf he-rumgetrampelt, bis der rote Saft wie Blut herausgespritzt war. Es hatte sie toll gemacht und das Klagen der zahnlosen Alten hatte sie wütend gemacht, sodass sie sie, wie zuvor die Weinschläuche, hinein in die rote Lache geworfen hatten. Achtlos. Dann waren sie in das gestohlene Boot geklettert und hinausgefahren.

Sie wollten nur ein kleines Stück entlang dem Ufer rudern. Doch in ihrem Suff waren sie eingeschlafen. Und als der Erste wach geworden war und die anderen mit seinem Schreien geweckt hatte, war tiefste Dunkelheit um sie her. Nirgends ein Licht. Sie hatten nicht mehr gewusst, wo Festland und wo das offene Meer war. Nur Wasser um sie her. Wie Blinde hilflos umhertappen, fanden auch sie keinen Ausweg. Streit hatte begonnen. Sie ruderten mal dorthin, mal in die andere Richtung. Zwei Tage lang, ohne dass sie irgendetwas entdeckt hätten. Und ohne jede Vorräte an Bord.

In der dritten Nacht war der Sturm losgebrochen und ihr Todeskampf hatte begonnen. Sie kämpften die ganze Nacht hindurch: schöpften Wasser mit den bloßen Händen aus dem Boot, banden sich fest, um von den harten Wellen nicht über Bord gerissen zu werden, als ihre Kräfte nachließen.

Cédric wie auch die anderen spürten es. Dies also war der große Tag, an dem sie alle sterben würden. Hinweggerafft. Diese Stunden, sie schmeckten bitter.{3} Mehr als das Salzwasser, das ihm unaufhörlich ins Gesicht spritzte und auf der wunden Haut brannte wie Höllenfeuer. Der Geschmack des Todes breitete sich auch in seinem Inneren aus. Wo waren sie, die Helden? Dies würde ihre letzte Erfahrung sein. Er schaute sie an, die Männer, die vor keiner noch so großen Schandtat zurückgeschreckt waren. Sie schrien und heulten, die Gesichter zu grimmigen Masken verzerrt. Unter einem wolkendunklen Himmel, der zu ihren düsteren Seelen passte. Dieses letzte Mal richtete sich ihr Kampfgeschrei gegen sie selbst. In Todesangst, wie sie es mit ihren unschuldigen Opfern getan hatten, deren Blut sie in den Staub geschüttet hatten und deren Eingeweide sie wie Kot angewidert weggeworfen hatten. All ihr Silber und Gold, das sie geraubt hatten, rettete sie nicht. Sie würden vernichtet von Wasser und Wind, das ihnen peitschend ins Gesicht schlug und ihnen die Luft zum Atmen nahm. Nun erlebten sie ihre eigene Vernichtung und das Entsetzen griff nach ihnen. Erbarmungslos. Verlassen. Ohne Rettung verloren.

Cédrics Atem ging keuchend. Panisch wischte er sich einen Wassertropfen aus dem Gesicht, der durch das Dach hindurchgedrungen war. Für einen kurzen Moment sah er sich wieder im Dunkel der Meerestiefe untergehen. Er konnte noch immer diesen Sog spüren. Die Hilflosigkeit war das Schlimmste gewesen. Nichts hatte er dagegen ausrichten können, zu sinken. Immer tiefer.

Cédric schauderte. Wieder und wieder durchlebte er diesen Moment, in dem ihm das Leben weggenommen wurde. Aber er schauderte, weil er in eben diesem Moment des Todes erkannt hatte, wer ihm sein Leben nahm. Er war es selbst gewesen. Mit all seinen Vergehungen hatte er sich selbst den Tod gebracht. Was danach geschah, verstand er noch viel weniger. Und würde er es versuchen jemandem zu erzählen, er würde ihn für völlig verrückt erklären. Wie sollte er beschreiben, dass in diesen dunklen Meerestiefen plötzlich ein heller Lichtstrahl von oben zu ihm heruntergedrungen war. Und dass sich darin etwas auf ihn zubewegt hatte. Er hatte sie deutlich gesehen, diese Hand. Sie hatte ihn gepackt und nach oben gezogen aus der Tiefe. Er war mit dem Kopf aus dem Wasser geschnellt, hatte nach Luft gejapst, als etwas Hartes gegen ihn gestoßen war. Wieder und wieder, bis sein Verstand endlich zu ihm hatte durchdringen können und ihm sagte, er solle danach greifen und sich daran festhalten. Ein Brett, das Brett, an dem er sich festgeklammert hatte.

Noch mehr beunruhigte ihn allerdings, wie er das zweite Mal aus dem Wasser gezogen worden war. Er hätte schwören können, dass es dieselbe Hand war. Diese starke Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Sie hatte fest zugepackt, ihn umschlossen und nicht mehr losgelassen. Stark und braungebrannt, runzlig und von harter Arbeit gezeichnet. Es war die Hand Bojans gewesen.

Cédric wusste, es war nicht dieselbe Hand. Und dennoch hatte er gespürt, dass dieselbe Kraft ihn gezogen hatte. Er konnte sich dies nicht erklären.

Geschenkt

„Dobro jutro!“

„Dobro jutroooo!“

Cédric hörte Worte im Schlaf. Überrascht schlug er die Augen auf. Wieder hörte er die fremden Laute von draußen. Er schnellte in die Höhe.

Was in der Nacht noch nach sonnig duftendem Heu gerochen hatte, war nun wirklich warm und duftend um ihn, denn die Morgensonne hatte längst ihre warmen Strahlen durch den luftig zusammengezimmerten Heustall gefunden.

„Mist.“ Cédric sprang mit einem Satz hoch, öffnete die kleine Luke und spähte nach draußen.

Unter ihm strahlte ihn Mila an. Er wunderte sich, wie sie immerzu ein solch glückliches Leuchten im Gesicht haben konnte.

„Dobro jutro!“, rief er ihr zurück, in der Annahme, dass es ein Morgengruß bedeuten sollte.

Mila lachte laut auf und nickte ihm zu.

Rasch wischte er sich das Heu von den Kleidern und sprang die Leiter hinunter. Mila wartete auf ihn und er folgte ihr zurück zum Haus.

Er sah und hörte aufgeregtes Stimmengewirr vor dem Haus, wo sie alle um ihren Vater herumsprangen. Bojan schien gerade erst zurückgekehrt zu sein, denn er herzte noch immer die Kleinsten seiner Kinderschar. Als er sie kommen sah, blickte er auf. Bojan hatte dasselbe zufriedene Strahlen im Gesicht wie seine Tochter. Oder war es anders herum? Mila hatte es von ihrem Vater geerbt. Es rief in ihm eine Erinnerung wach, an seine Mutter, seine kleine Schwester. Einst hatte auch er dieses Glück gehabt. Aber es war verloren gegangen, begraben und verschüttet in unendlichen Tiefen. Gestorben war sein Gefühl, Teil einer Familie zu sein. Bojan und Cédric traten aufeinander zu und er klopfte auch ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Geht dir Junge gutt?“ Überrascht lachte Cédric auf. Bojan hatte in seiner Sprache gesprochen. Wenn auch nicht korrekt.

„Oui, Monsieur! Ça va bien“, antwortete er in seiner Muttersprache.

Noch immer um die Schultern gefasst, führte Bojan ihn in den Kreis seiner Familie.

Geöffnete, hölzerne Truhen standen über den Boden verteilt. Draga und die Mädchen umfassten Stoffe und Garne in den unterschiedlichsten Farben. Die Jungs wetteiferten um die Gunst ihres Vaters, die neuen Messer in die Hand nehmen zu dürfen. Joško beaufsichtigte die Kleinen, als die Messer verteilt wurden. So zogen sie einer nach dem anderen funkelnde Klingen aus kleinen Köchern.

Cédric staunte über die Fülle von Geschenken, die Bojan von seiner Reise zurückgebracht hatte. Nur die größte der Truhen war leer. Bojan wies stolz darauf und Draga strahlte. Während sich die Kleinen mit den neuen Schätzen verzogen, setzte sich Bojan mit Draga an den Tisch. Cédric blieb unschlüssig stehen und beobachtete Mila. Sie hatte ihre Webarbeit wieder aufgenommen. Täglich standen Mila und ihre Mutter für mehrere Stunden an ihren großen Webrahmen, die geschützt unter der lang gezogenen überdachten Veranda aufgereiht waren. Eine kleine Truhe mit verschiedenen Garnen stand vor ihr auf dem Tisch. Draga wies sie auf die neu mitgebrachte Wolle hin und ermutigte Mila, davon zu nehmen. Zumindest reimte er es sich so zusammen und eilte schnell, die Truhe für Mila zu holen und zu der anderen dazuzustellen. Er hatte wohl alles richtig gedeutet, denn sie strahlte noch mehr. Anerkennend nickte Bojan ihm zu.

Zum ersten Mal stand Cédric so dicht vor den gewebten Wandarbeiten. Er hatte noch nie jemanden im Stehen weben gesehen. In Milas Webrahmen waren ganz neu die Kettfäden in den Webrahmen eingespannt. Als er näher herantrat, sah er durch die von oben nach unten verlaufenden Kettfäden ein buntes Muster schimmern, das dahinter auf einer Papierhaut aufgezeichnet war. Überrascht schaute er zu Mila hinüber, die ihn beobachtet hatte.

„Hast du dies gezeichnet?“

Sie trat neben ihn, fasste mit ihren Fingern hinter die Kettfäden und fuhr sachte das Muster nach. Mila nickte. Cédric sog anerkennend die Luft ein und machte seine Augen groß, sodass Mila loskicherte.

Cédric wandte seinen Blick Dragas Kunstwerk zu. Anders als bei Mila hatte sie bereits einen guten Teil eingewebt. Helles Blau vermischte sich mit dunklen Wogen, Schaumkronen und aufgepeitschten Wellen. Unweigerlich erinnerte es ihn an die Tage, die er auf dem Meer um sein Überleben gekämpft hatte. Er schluckte hart und vermied es, Mila anzuschauen.

Erleichtert wandte er sich um, als er die Stimme Joškos nach ihm rufen hörte, der ihn zu sich winkte. Cédric sprang rasch und folgte ihm die schmale Außentreppe hinab zum Wasser.

Träume der Nacht

Bojan und Draga lagen wach in ihrem Bett.

„Wirst du etwas tun?“, fragte Draga ihren Mann.

„Es geht jede Nacht so mit ihm.“

„Hmm.  Bojan überlegte. Es machte auch ihn unruhig. Nacht für Nacht hörten sie sein Aufschreien. Sahen, wie seine Laterne entzündet und wieder gelöscht wurde.

„Du weißt, was mit ihm geschieht?“ Er nahm sie in seinen Arm.

„Wirst du mit ihm reden?“, fragte ihn Draga drängend.

Cédric war bereits mehrere Wochen bei ihnen. Er lernte schnell ihre Sprache. Und er selbst beherrschte ein wenig Französisch, das er auf seinen Reisen aufgeschnappt hatte. So waren sie schnell über die anfänglichen Sprachbarrieren hinweggekommen und sie konnten sich bereits mit einfachen Sätzen problemlos verständigen.

„Liebste, lass uns noch etwas warten, bis er die Sprache besser spricht. Du siehst, etwas hält ihn hier und er drängt nicht fortzugehen. Bist du einverstanden?“

„Hast du gesehen, wie ihn Mila anhimmelt? Ich habe gesehen, wie sie ihn beobachtet, wenn er sich wäscht.“

Bojan schaute sie verdutzt an.

„Naja, er ist ein stattlicher junger Mann und sein muskelbepackter Oberkörper ist ja auch schön anzusehen.“ Draga fuhr ihrem Mann zärtlich über seine Brust und kniff ihn liebevoll in seine starken Oberarme. „So wie du, mein Schatz.“

Bojan knurrte wohlig und zog seine Frau noch enger an sich heran.

Wann immer er ihre Haut so nahe spürte, begann es in ihm zu prickeln. Liebevoll umfasste er sie. Und als er spürte, dass auch sie seine Nähe genoss, liebten sie sich.

Als Cédric im Morgengrauen erwachte, fühlte er sich grauenvoll. Wie jede Nacht. Hörte es denn nie auf, nicht einmal hier? Weit abgeschieden vom Rest der Welt.

Die Fremden, die Bojan und Draga fast täglich aufsuchten, interessierten sich nicht für ihn. Er war noch nicht dahinter gekommen, was für Handelsgeschäfte Bojan führte. Oft saß er mit den Fremden zusammen, um zu reden oder vor sich hin zu murmeln. Hin und wieder lag ein kleines Lederbüchlein auf dem Tisch, in dem sich Bojan Notizen machte. Für ihn ergab das keinen Sinn.

Diese Nacht war er wieder von seinem eigenen Aufschreien wach geworden. Langsam schämte er sich vor den anderen. Er wusste nicht, ob sie ihn hörten. Schweiß klebte an seinem Körper. Genauso wie die Erinnerung. Sie ließ sich nicht abwaschen. Cédric hielt sich die Hände vor die Augen, doch selbst als er sie fortreiben wollte, waren die Bilder noch da. Die Bilder der Nacht und die Bilder seines Lebens. Er wusste, woher sie kamen, die Bilder. Er hatte sie schließlich geschaffen durch seine Taten. Nur war er heute Nacht das Opfer gewesen.

Sie waren in das Haus eingedrungen und stachen auf den Vater ein. Seinen Vater. Er starb.

Sie verletzten seine Mutter. Doch sie konnte zum Arzt gebracht werden und überlebte. Seine Schwestern, sie schrien, so laut, so voller Angst. Sie konnten entkommen. Er überlebte, weil er nicht zu Hause war. Seine Mutter schickte ihn fort. „Du bist mein einziger Sohn. Sie werden zurückkommen und dich töten.“ So ging der Sohn fort. Und er vermisste seine Mutter.

Cédric stand auf und wusch sich am Brunnen. Er fürchtete sich vor sich selbst.

Mila hatte beinahe alle Arbeiten, die ihr für den Tag aufgetragen worden waren, erledigt. Nur das Federvieh fehlte noch. Sie wusste, sie war etwas zu früh, aber sie wollte fort. Die Hühner ließen sich aber nicht so einfach einfangen und in den Stall drängen. Immer wieder wichen sie aus. Nur mit ein paar Körnern ließen sie sich ins Innere des Stalles locken, damit sie die Falltür für die Nacht schließen konnte.

Mehrmals zählte sie durch, musste wieder hinaus, bis sie auch die letzten zwei gefunden und für die Nacht hineingetrieben hatte. Dann erst war sie fertig. Ein letzter Rundblick nach den noch kleinen Gemüsepflänzchen, die sie herangezogen hatte.

In den leichten Schuhen begann ihr bereits kalt zu werden und sie blieb nicht länger als unbedingt nötig draußen. Die Erwartung trieb sie rascher voran, um den Küchenraum noch in Ordnung zu bringen. Letzte Krüge und Schüsseln mussten noch gespült werden. Das Brot vor den Mäusen sicher verpackt werden. Die Milch verschlossen und alle Fenster für die Nacht verriegelt werden. All das dauerte ihr heute viel zu lange und es wurde bereits merklich dunkler. Sie würde die warmen Schuhe wählen müssen, um nicht zu schlottern, falls sie dort auf ihn warten musste.

Bei jedem Gang an ein Fenster schaute sie hinaus, ob sie ihn womöglich irgendwo sehen konnte. Doch der Hof blieb leer. Alle waren sie froh, bei der kühlen, feuchten Luft nach dem Regen sich in der warmen Stube wärmen zu können. Noch einmal legte sie Holz und Torfwasen in den Kamin, damit die Glut noch nicht ausging. Sie hörte ihre Mutter im Nebenzimmer mit den Kleinen scherzen. Sie ging zu ihrem Vater und gab ihm eine kurze Umarmung zur Nacht und ging in ihre kleine Kammer, die sie für sich allein hatte. Wieder horchte sie. Im Hof regte sich weiterhin nichts.

Gespannte Aufregung ergriff Mila immer mehr. Ihr Herz hämmerte. Sie wollte nicht länger warten.

In ihrer Kammer zog sie warme wollene Unterkleider an und nahm sich gleich zwei Umhänge mit, die sie wärmen würden. Kurz hielt sie den Griff ihrer Laterne in der Hand. Sollte sie sie mitnehmen?

„Hmmm.“ Würde Cédric da sein, so hoffte sie, von ihm heimbegleitet zu werden. Sollte er nicht da sein, würde sie sich auf den Heimweg machen, noch bevor es komplett dunkel war. So ließ sie die Laterne an ihrem Platz.