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Die 20-jährige Cathline verbirgt sich auf einem abgelegenen französischen Hofgut. Mühsam versteckt sie ihre wahre Herkunft. Der Gutsherr Jean und Cathline verlieben sich. Doch Cathlines rätselhafte Vergangenheit verhindert eine Liebe zwischen den beiden. Bei einer Reise wird Jean lebensgefährlich verletzt. Nur Cathline kann Hilfe holen, um sein Leben zu retten. Dabei wird sie erkannt. Auf Drängen von Jean gesteht Cathline, dass sie vor dem Tyrannen de Vauchot davongelaufen ist, der sie zur Heirat zwingen will und deshalb nach ihr sucht. Jean versteckt Cathline im Wald und flieht kurz darauf mit ihr zusammen. Die Jagd beginnt. Auf der Suche nach ihrer wahren Vergangenheit kehrt sie in das Kloster zurück, in dem sie die letzten Jahre zugebracht hatte. Dort findet Cathline heraus, dass ihr noch fünf Tage bleiben, bis de Vauchot sie rechtmäßig als Besitz einfordern kann. Ohne eine Lösung gefunden zu haben, flüchten sie weiter. Die Verfolger holen unaufhaltsam auf. Als ein Entkommen nicht mehr möglich ist, stellen sie sich ihren Gegnern und sind bereit sich füreinander zu opfern. Unerwartet greift ein Ritter in dem ausweglosen Aufeinandertreffen ein, der sich als zurückgekehrter Vater von Cathline offenbart und es vermag, seine Tochter auszulösen. Cathlines und Jeans Weg für eine gemeinsame Zukunft ist nun offen.
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Seitenzahl: 313
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Über die Autorin:
Susanne Zwing wurde 1968 in Ravensburg geboren. Sie studierte Biologie in Ulm und lebt mit ihrer Familie in
Süddeutschland.
In dieser Reihe
von Susanne Zwing außerdem erschienen:
Mantel der Gerechtigkeit
Lieber Leser, besuchen Sie die Autorin auf: www.reaching-hearts.de
Roman
Das
Bekenntnis
1. Auflage 2021
Texte: © Copyright by Susanne Zwing
Umschlaggestaltung: © Copyright by Tamara Zwing
Illustrationen: © Copyright by Tamara Zwing
Alle Rechte vorbehalten
Selbstverlag Susanne Zwing,
Buchenberg 2, 89296 Osterberg
Lektorat: Christa Alexander
Korrektorat: Christa Alexander
Vertrieb: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Für alle meine Leser –
Ohne euch wäre alles Schreiben nutzlos.
Mit euch wird es zum größten Anreiz.
Danke!
Die Prophetie
Ich werde mein Volk durch mich,
den HERRN, stark machen,
und in meinem Namen wird mein Volk leben,
spricht der HERR.{1}
Unabänderlich ist dieser Eid.{2}
Herzklopfen
Mit klammen Fingern versuchte Cathline ihren fadenscheinigen Umhang zusammenzuhalten. So wie sie auch ihre Tränen zurückzuhalten versuchte.
Heftig sog sie die feuchte und kalte Luft ein. Mit einem langen Atemstoß stellte sie sich der Begegnung, die über ihr weiteres Schicksal entscheiden sollte.
„Seht, Kindchen!“ Die alte Frau an ihrer Seite drückte ihr dabei energisch mit ihrer verrunzelten Hand in den Arm. „Dort kommt er!“
Mit klopfendem Herzen wandte Cathline ihren Blick in die Richtung, die ihr die Alte wies. Die zwei Männer, die ihnen von dort zwischen den Stallungen entgegenkamen, blickten zum Himmel und schüttelten verwundert ihre Köpfe. Wild flogen ihnen die Schneeflocken ins Gesicht. Die grauen Wolken ließen immer wieder die Sonne hindurch, sodass der Schnee sofort wieder schmolz, sobald er die Erde erreichte. Ihre Gesichter konnte sie nicht deutlich erkennen, da sie ihre Hüte tief ins Gesicht gezogen hatten.
Beide trugen sie Arbeitskleidung; ein wollenes Hemd, hohe Stiefel und ein ledernes Wams, das sie gegen die Morgenkühle schützte. Dies und die wettergegerbten Gesichter hätten sie beide gleichermaßen als Bauern gekennzeichnet, wüsste sie nicht, dass einer der beiden der Seigneur des Gutes sein musste. Inzwischen waren sie dichter herangekommen, nahmen aber noch immer keine Notiz von der kleinen Gruppe, die ihnen entgegensah. Der eine, erkannte sie nun, konnte nicht viel älter als sie selbst sein. Der andere, ein dunkelbärtiger Hüne, starrte auf seine ledernen Stiefel hinab, die zweifellos das Wasser nicht mehr zurückhalten konnten und ihm schon am frühen Morgen nasse Füße bescherten.
Verunsichert glitt Cathlines Blick von dem nur wenig älteren Hünen wieder zurück zum Jüngeren, der in eben diesem Moment in ihre Richtung sah.
Rasch wandte Cathline ihren Blick von ihm ab und drehte sich Hilfe suchend der Alten neben ihr zu. Diese nahm aber keine Notiz von dem Unbehagen der jungen Frau. Vielmehr schob sie diese aus dem Schatten der schützenden Hütte ins Freie. Selbst aber trat die alte Magd hinter Cathline zurück, während ihr Mann, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, aus dem Schatten heraustrat und auf die beiden Männer zueilte.
„Seigneur! Seigneur Jean, entschuldigt.“ Stockend brach er ab und neigte seinen Blick, zur Überraschung von Cathline, vor dem Jüngeren.
„Was gibt es denn, Jacques?“ Verwundert richtete er seine Aufmerksamkeit dem herangekommenen Knecht zu.
„Nun, Herr, diese“ – kurz hielt er stockend inne – „diese junge Frau dort sucht Arbeit.“ Sichtlich unangenehm über sein Anliegen, senkte er den Kopf noch tiefer und schaute verstohlen zu den beiden wartenden Frauen zurück.
„Du weißt doch, dass ihr Dahergelaufene fortschicken sollt!“, gab der junge Mann unwirsch zurück, hatte aber den unglücklichen Blick des Knechtes bemerkt und schaute nun doch in dessen Richtung.
Wie schämte sich Cathline plötzlich, als sie den abschätzenden Blick, der sie musterte, auf sich spürte. Sie hatte ihr Möglichstes getan. Dennoch war ihr Kleid schmutzig und am Saum zerrissen. Ihre kastanienbraunen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten, der jedoch unter einem wollenen Kopftuch verborgen war. Schmerzlich war sie sich ihrer verwahrlosten Erscheinung bewusst und nur mühsam hielt Cathline den Drang zurück, davonzulaufen.
Während der Bärtige sich abwandte, trat der Angesprochene mit wenigen kraftvollen Schritten auf sie zu. Auch er war groß gewachsen, stellte sie erstaunt fest. Sollte dieser also der Herr des Gutes sein? Mit einem kaum wahrnehmbaren Knicks blieb sie starr stehen und bohrte ihren Blick in den Boden.
Dabei sah sie die flehentlichen Blicke nicht, die die alte Magd unverhohlen mit dem jungen Herrn wechselte.
Einen langen Augenblick herrschte banges Schweigen.
„Wie ist Euer Name?“ Seine kräftige Stimme durchschnitt plötzlich die erdrückende Stille, und da sein Tonfall kein Misstrauen erkennen ließ, schöpfte sie Hoffnung.
„Cathline, mein Herr.“ Mit diesen Worten sah sie langsam auf. Mit der Morgensonne im Rücken lagen seine Augen im Schatten und sie hätte nicht sagen können, welche Farbe sie hatten. Aber sein Gesicht strahlte Offenheit und Neugierde aus, wodurch sich ihre Aufregung etwas legte und ihr Atem ruhiger wurde.
„Wenn Ihr die Arbeit nicht scheut, so könnt Ihr bis auf Weiteres bleiben. Nicolas wird Euch sagen, was zu tun ist.“ Er deutete mit dem Kopf auf ein kleines Stallgebäude, vor dem sich der Hüne zu schaffen machte und sie von dort aus beobachtete.
„Ich danke Euch, Herr!“
Unverwandt forschte er in ihren Augen und Cathline hoffte inständig, dass er nicht allzu tief in sie hineinblicken konnte. Ein kurzes Nicken seinerseits beendete die Vorstellung abrupt und ohne einen weiteren Ton von sich zu geben, wandte er sich ab und ging auf das große Herrenhaus zu.
Erleichtert atmete Cathline aus. Er hatte sie nicht fortgeschickt.
„Geht nun, mein Kind, und seid ohne Sorge. Nicolas sieht zwar aus wie ein Bär, ist aber eine gütige Seele. Ihr könnt ihm vertrauen!“ Leiser fügte Françoise hinzu: „Auf Eure Tochter werde ich schon Acht geben.“ Aufmunternd legte die alte Magd ihre Hand auf Cathlines Arm. Sie überließ Cathline ihrem weiteren Schicksal und ging zusammen mit ihrem Mann auf eine kleine abseits gelegene Hütte zu, die ihr in den letzten Tagen Unterschlupf gewesen war.
Plötzlich ganz allein gelassen, beeilte sich Cathline, zu dem Stallgebäude zu kommen, in dem der Bärtige verschwunden war. Es fiel ihr schwer, ruhig zu bleiben. Aber sie war froh, hier an diesem abgeschiedenen Ort bleiben zu können. Das war mehr, als sie zu hoffen gewagt hatte.
„Hallo? Hallo, ist da jemand?“ Zaghaft öffnete sie das hölzerne Tor des Gebäudes und spähte in das dämmrige Innere. Nur ein leises metallisches Klirren verriet ihr, dass tatsächlich jemand im Gebäude war. Gleich darauf erschien sein riesiger Schatten.
„Der Seigneur schickt mich zu Euch. Er sagte, Ihr habt Arbeit für mich.“
„Aha!“, stellte er fest. Grübelnd fuhr er sich mit der Hand durch seinen Bart.
„Kommt mit, es gibt allerhand zu tun.“
Im Stillen wunderte er sich über seinen Herrn. Mit dieser zierlichen Gestalt würde sie sicherlich nicht lange bei der harten Arbeit draußen durchhalten. Warum hatte er sie ausgerechnet zu ihm geschickt und nicht ins Haus?
Mit großen Schritten war er vorangegangen und Cathline beeilte sich ihm zu folgen. Sie traten durch eine rückwärtige Tür ins Freie hinaus. Dort schloss sich ein von einer niedrigen, steinernen Mauer eingefasster Gemüsegarten direkt an das Stallgebäude an.
„Seht selbst!“ Dabei schritt er eine lange Reihe vernachlässigter Beete entlang. Einfassungen hatten sich gelöst, Wurzelreste und Unkraut des Vorjahres lagen verstreut auf der hart gewordenen Erde. Ganz offensichtlich fehlte es hier an Zeit oder der nötigen Hingabe.
„Die Beete müssen für die Aussaat und das Pflanzen vorbereitet werden.“ Dabei wies er auf den weitläufigen Gartenbereich, der sich um Süd- und Westseite des Gebäudes erstreckte. Nicolas hatte sehr wohl ihren erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkt. Mitleid wollte in ihm aufkommen bei dem, was sie hier erwartete. Doch so ausgemergelt wie sie aussah, war ihr bisheriges Leben auch nicht gerade komfortabel gewesen.
„Ich zeige Euch die Geräte, kommt mit“, versuchte er sich nun etwas freundlicher.
Gemeinsam gingen sie zurück in das Stallgebäude, das sich als Lagerraum für die verschiedensten Dinge entpuppte. Als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte sie trotz dem heillosen Durcheinander von Hacken, Eimern und Karren schnell die Geräte, die sie brauchen würde.
„Werdet Ihr allein zurechtkommen?“, fragte Nicolas mit deutlich hörbarem Zweifel in der Stimme. Entschuldigend fügte er an: „Wir hatten im Winter das Fieber hier, einige sind daran gestorben und vieles kam dadurch durcheinander.“ Ein kurzer Schatten huschte über sein Gesicht. „Es wird zu Euren Aufgaben gehören, hier Ordnung zu schaffen. Habt Ihr denn überhaupt eine Ahnung von der Arbeit, die hier auf Euch wartet?“ Missbilligend glitt sein Blick über ihre bleiche Haut.
„Ja, gewiss“, erwiderte sie mit aller Zuversicht, die sie in ihre Stimme legen konnte. Die Pflege eines Gartens war ihr tatsächlich vertraut. Doch gerade deshalb wusste sie, wie viel Arbeit es brauchen würde, bis alles rechtzeitig zur Aussaat vorbereitet war.
„Nehmt, was Ihr braucht. Dann beginnt Ihr am besten an der Südseite, wo der Boden schon trockener ist. Damit werdet Ihr die nächsten Tage genügend Arbeit haben.“
Ein Funken Mitleid überkam ihn, denn schon bald würden ihr alle Muskeln schmerzen. Unvermittelt schenkte er ihr ein langes, freundliches Lächeln.
„Ich muss jetzt raus auf die Koppel. Werdet Ihr zurechtkommen?“, fragte er noch einmal mit einer Stimme, die seinen Zweifel verriet.
„Nun geht schon. Ich brauche Euch gewiss nicht“, warf sie ihm unerwartet keck zu. Erleichtert lachte Nicolas auf und ließ sie kopfschüttelnd zurück.
„Also gut!“, machte sich Cathline selber Mut. Es war schließlich nicht das erste Mal! Und es war ihr allemal lieber, hier draußen allein zu arbeiten als in dem dampfend stickigen Waschhaus oder der allzeit geschäftigen Küche.
„Ob hier wohl irgendwo ein brauchbarer Spaten zu finden ist?“ Mühsam kämpfte sie sich bis in die hintersten Ecken durch das Gewirr von abgebrochenen Stielen und rostigen Klingen.
„Ah! Das könnte doch gehen!“ Sie raffte sich Spaten und Hacke unter den einen Arm. In der anderen Hand zog sie zwei hölzerne Eimer hinter sich her. So trat sie wieder hinaus ins Freie und wurde von den ersten wärmenden Sonnenstrahlen des Tages freundlich gegrüßt, die nun endgültig über die letzten Schneeflocken gesiegt hatten. Ein lauer Wind bewegte sachte Bäume und Gebüsch um sie her und alles schrie förmlich nach einem neuen Anfang. Tief sog sie die Kraft des Frühlings ein und mit ebendieser Entschlossenheit machte sie sich daran, die winterschwere Erde umzugraben.
Von den neugierigen Blicken, die die anderen im Vorübergehen auf sie warfen, nahm sie nichts wahr. Nur kurze Pausen gönnte sie sich, stemmte die Hände in ihr Kreuz und versuchte dadurch die Anspannung ihrer Muskeln zu lösen. Mit all ihrer Willenskraft schaffte sie es, bis zur Dämmerung durchzuhalten. Als sie den Ruf für das Abendessen hörte, seufzte sie erleichtert auf. Hastig räumte sie ihre Sachen auf, schloss sorgfältig das kleine Tor und ging in die Richtung, in der sie die anderen hatte verschwinden sehen.
Der Weg führte sie seitlich an das Hauptgebäude; dort stand eine Tür weit offen. Vorsichtig spähte sie im Vorbeigehen durch die hell erleuchteten Fenster und konnte einen geräumigen Raum mit Holztischen und langen Bänken ausmachen. Aufgeregt schlug ihr das Herz bis zum Hals und zum wiederholten Mal an diesem Tag musste sie ihre Bedenken loslassen und ihre Zukunft dem überlassen, dem sie geschworen hatte zu vertrauen.
Ein Gewirr von Männern, Frauen und Kindern drängelte sich um die langen, schweren Holztische, die von grob geschnitzten Holzbänken umgeben waren. Schnell ließ sie ihren Blick über die Menge gleiten. Da war das freundliche Gesicht der alten Françoise, die ihr zunickte. Sie hielt das kleine Kind auf dem Arm, nach dem sie Ausschau gehalten hatte.
„Ah, Marie, mein Schatz. Da bist du ja!“ Dankbar empfing sie ihr Kind aus den Armen der guten Magd. Wie froh war sie doch, sich an ihr festhalten zu können. Nicht minder jedenfalls als das kleine Mädchen selbst, das ihre Arme fest um den Hals von Cathline klammerte und ihr Gesichtchen an ihrem Hals verbarg.
„Kommt hierher zu mir, ihr zwei. Setzt euch, nur zu!“ Erleichtert nahm sie neben Françoise Platz. Auch Jacques nickte ihr freundlich zu.
„Setz dich ruhig. Nur das obere Ende der Tafel ist für den jungen Herrn und seine Gäste reserviert. Was allerdings nicht allzu oft der Fall ist“, fügte sie etwas unglücklich hinzu.
„Ja, aber! Isst er denn mit dem Gesinde?“, brach es überrascht aus Cathline.
„Hmm, ja sicher, mein Kind. Nur am Tag des Herrn bleibt er für sich.“
„Hat er denn keine Familie hier?“, flüsterte Cathline vorsichtig zurück, nachdem sie sich gesetzt hatte. Doch Françoise schien sie nicht gehört zu haben, vielmehr herzte sie Marie, die auf Cathlines Schoß hin und her rutschte.
Als der junge Seigneur in die Halle eintrat, wurde es stiller. Mägde und Knechte nickten ihm zu, doch gleich erhob sich wieder das muntere Stimmengewirr.
Genüssliche „Ahs“ und „Ohs“ ließen Cathline aufschauen. Von zwei Mädchen wurden große, dampfende Schalen hereingetragen, gefüllt mit saurem Kraut und fleischartigen Knödeln. Große Laibe Brot, die bereits auf den Tischen standen, wurden rasch aufgeschnitten und an alle verteilt. Dazu gab es reichlich Apfelmost und für die Kleineren frisch gemolkene Milch.
Mit Heißhunger stürzten sich alle auf das Essen. Zufriedenes Schmatzen breitete sich aus.
Völlig ausgehungert, versuchte sich Cathline zu zügeln, um nicht allzu gierig zu erscheinen. Marie begnügte sich mit einer Schale Milch, in die sie mit Freude Brotstücke eintauchte und sich tropfend in den Mund stopfte.
Vorsichtig spähte sie die Tischreihen entlang. Was sie dort sah, überraschte und freute sie gleichermaßen. Denn Knechte und Mägde saßen fröhlich beieinander, scherzten, wenngleich sie auch von der Arbeit müde waren. Selbst den Kleinsten wurde nicht verwehrt, sich munter in die Gespräche einzumischen. Nicolas saß am anderen Ende der Tafel, direkt neben dem Seigneur. Ein vielleicht zweijähriger Junge und ein kaum älteres Mädchen kämpften auf seinem Schoß darum, wer die besseren Happen des Vaters erhaschen konnte. So sehr war sie in ihre Betrachtungen vertieft, dass ihr zuerst gar nicht auffiel, wie auch sie Gegenstand neugieriger Blicke war. Doch Nicolas schien es sehr wohl gemerkt zu haben. Seine Augen trafen sich mit den ihren und dies wiederum hatte zur Folge, dass auch Jean auf sie aufmerksam wurde. Errötend wurde ihr gewahr, wie sein Blick von ihr auf das Kind auf ihrem Schoß fiel, dort verharrte und wieder fragend auf sie zurückfiel. Als warte er auf eine Antwort, ließen seine Augen nicht locker. Rasten seine Gedanken ebenso schnell wie die ihren?
Bruchstücke
Die Tage vergingen. Abends fiel sie todmüde auf das einfache Lager, das man ihr zugeteilt hatte. Sie und Marie teilten sich einen kleinen Raum mit zwei anderen jungen Mägden. Einfach ausgestattet, mit einem Tisch und drei Stühlen, bot er dennoch die Möglichkeit, sich zurückzuziehen.
Doch heute hielt sie es nach der Arbeit nicht länger in der kleinen Hütte aus. Auch Marie hüpfte unausgeglichen auf ihrem Schoß. So groß war der Drang in ihr, hinauszuwandern in die umliegenden Felder, die Hügel zu erklimmen und zu erkunden, was dahinter lag. Mit klopfendem Herzen nahm sie Marie an die Hand und stahl sich ohne eine Erklärung hinaus. Sie schlugen den Weg zu ihrem Garten ein, wie sie ihn schon für sich nannte. Langsam durchstreiften sie die Beete, am Brunnen vorbei; dort, wo der Garten durch eine dichte Buschhecke begrenzt wurde. Mit einem letzten kurzen Blick zurück schlüpften sie durch das Gebüsch hindurch und kletterten über die niedrige Steinmauer, die den Gemüsebereich von den umliegenden Wiesen trennte.
Nachdem sie den ersten Hügelkamm überschritten hatten, hielt Cathline an einer einzeln stehenden Eiche inne. Doch die Kleine an ihrer Seite war so voller Lebenslust, dass sie augenblicklich weiter sprang.
„Ja, lauf nur“, rief sie ihr heiter hinterher. „Aber nicht zu weit. Hörst du!“ Beruhigt ließ sie ihren Blick über das Grün um sie herum schweifen. Hier lauerten keine Gefahren, sodass sie Marie frei springen lassen konnte.
Langsam ließ sie ihre Arme nach unten gleiten, spürte den noch warmen Stamm in ihrem Rücken, unter ihren Händen. Ruhig ließ sie sich in die Umarmung ihres starken Freundes hinter ihr fallen.
Er war stark, hatte dem Leben getrotzt und wuchs Jahr für Jahr höher hinaus. Hier fand sie Trost und konnte ihre Gedanken fließen lassen und musste ihre Gefühle nicht verstecken. So versunken, nahm sie zuerst nur vage eine Veränderung wahr. Lange Minuten verstrichen, bis sie zu sich kam und diese weit entfernte Stimme einordnen konnte, die nach ihr verlangte. Noch immer benommen, löste sie sich von dem Baum und horchte, woher sie die lachende Stimme Maries gehört hatte. Wo steckte sie nur? Stimmen kamen näher. Verwirrt ging sie einige Schritte in die Richtung, aus der sie das Kichern zu hören gemeint hatte.
Da, wieder, es waren eindeutig zwei Stimmen. Und irgendwie kam ihr diese andere Stimme bekannt vor. Doch sie konnte sie niemandem zuordnen. Cathline stand unbeweglich. Dort! Schemenhaft bewegte sich jemand durch das wogende Gras auf sie zu. Schritt für Schritt erkannte sie in der hohen Gestalt Seigneur Jean, der auf seinen Schultern ihr strahlendes Kind trug! Näher und näher durchschritt er das Meer aus Grün, bis er direkt vor ihr stand. Vor Schreck rührte sie sich nicht von der Stelle. Kein Laut kam über ihre Lippen.
Glücklich strahlend zeigte Marie mit ihrem kleinen Ärmchen auf Cathline: „Maman, da Maman!“
„Hey, Marie, wo kommst du denn her?“, fand sie ihre Stimme schwankend wieder. Unsicher, wie sie sich verhalten sollte, sah sie von einem zum anderen.
„Ich fand sie dort unten am Wasser, sie spielte ganz vertieft – allein!“ Abwartend versuchte er in Cathlines Gesicht zu lesen.
„Wie soll ich Euch nur danken, Seigneur Jean?“, suchte Cathline nach Worten.
Noch immer war Marie auf seinen Schultern zufrieden und machte keinerlei Anstalten, daran etwas zu ändern.
Schweigend standen sie sich gegenüber, und als dies Jean zu unbehaglich wurde, löste er seinen Griff, mit dem er bislang die Beinchen Maries festgehalten hatte, und nahm sie von seinen Schultern herunter. Unmut zeigte sich in dem kleinen Gesichtchen.
Cathline streckte ihre Arme nach ihr aus. Sie sah so klein und zierlich in seinen kräftigen Armen aus.
Entschuldigend wies sie auf den Baum über ihr und den Horizont.
„Ich war so versunken hier an diesem wunderschönen Ort.“
Goldrot ging die Sonne hinter Gräsern und Schilf unter.
„Alles liegt so ruhig da!“
„Ja, um diese Zeit ist es hier sehr schön.“
Ungehalten forderte Maries Stimme Gehör: „Maman, Maman, was essen, essen!“
„Oh, Marie. Bald. Bald sind wir daheim, dann bekommst du Brot. Trink einen Schluck!“ Dabei löste sie einen von zwei kleinen ledernen Beuteln ihres Gürtels und gab ihn Marie in die Hände. Sie stellte Marie auf den Boden, als ihr das Wasser über das Kinn hinunterlief und auf Cathline tropfte. Rasch fasste sie nach dem kleinen Ziegenbeutel, bevor Marie das ganze Wasser auf den Boden laufen ließ. Schon verzogen sich ihre Mundwinkel und gleich würden die ersten Tränen kullern, wusste Cathline. Doch Jean kam ihr zuvor.
„Sieh mal, was ich dabei habe! Magst du Honig?“ Dabei war er vor ihr in die Hocke gegangen und hatte ein Tuch vor ihrer Nase aufgeschlagen. „Die Wabe habe ich gerade vorhin aus dem Stock geholt.“
Das Weinen war vergessen. Neugierig beobachtete sie Jean, wie er die Überreste eines Fladens vom Abendbrot aus seiner Umhängetasche hervorzauberte.
„Probiere, Marie!“ Sachte zog er sie zu sich auf einen Oberschenkel. Auf den anderen hatte er die Wabe und das Brot gelegt.
Mühsam beherrscht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, riss er ein Stück vom Fladen ab.
„Hier, schau!“ Er strich mit dem Brot über die Honigwabe.
„Probiere es!“ Zufrieden ging ein Grinsen über sein Gesicht, als Marie danach griff und es lächelnd in ihrem Mund verschwinden ließ.
Cathline musste bei diesem Anblick schmunzeln. Ächzend ließ er Marie von seinem Schoß gleiten, gab ihr aber noch einen Happen nach, um sicherzustellen, dass sie auch wirklich zufrieden war.
„Nehmt auch Ihr!“ Noch einmal hatte er vor ihren Augen den Rest geteilt und in die Waben eingetunkt.
„Habt Ihr den Honig schon einmal frisch vom Stock probiert?“
„Nein, ehrlich gesagt nicht.“ Aber der süße Duft hatte auch ihr das Wasser im Mund zusammenfließen lassen und so streckte sie ihm ihre Hand entgegen und nahm den Anteil, welchen er ihr anbot.
So vergingen Minuten, in denen sie vergnügt einen Brocken nach dem anderen in die Wabe tauchten. Marie saß zufrieden im Gras und knabberte an einem besonders harten Randstück, das ihrer ganzen Aufmerksamkeit bedurfte.
„Seid ihr öfters hier draußen unterwegs?“
Erschrocken blickte sie auf.
„Ich hoffe, Seigneur, Ihr habt nichts dagegen. Meine Arbeiten sind alle erledigt“, versuchte sie sich zu verteidigen, noch bevor er zum Angriff übergehen konnte. Heftig schluckte sie.
„Es ist nur so“, gab sie sich einen Ruck, „es ist wie eine Sucht, etwas in mir zieht mich hinaus.“
Nun war es an ihm, erschrocken dreinzublicken, angesichts ihrer heftigen Reaktion.
„Habt keine Furcht!“, versuchte er ihre offensichtliche Beunruhigung zu mildern.
„Geht hinaus, wenn es Eure Pflichten erlauben. Es ist nur, wie soll ich sagen, recht ungewöhnlich, jemanden hier draußen anzutreffen. Es sei denn, er hätte gewildert. Und das, vermute ich, trifft nicht auf Euch zu“, versuchte er sie zu necken. Ihr entrüsteter Gesichtsausdruck ließ ihn schmunzeln. Und als Cathline endlich erkannte, dass er nicht ärgerlich war, stahl sich auch um ihren Mund ein zaghaftes Lächeln.
Mit einem plötzlichen knappen Nicken verabschiedete sich Jean.
„Ich muss noch nach Migel sehen!“ Damit wandte er sich um und ging um den Hügelkamm herum, in Richtung der Koppel, auf der sein schwarzer Hengst stand, den er selbst versorgte. Denn so wild, wie der noch junge Hengst war, traute sich niemand an ihn heran.
Erst ein paar Minuten später wagte er es, sich umzudrehen, um nach Cathline zu sehen. Mit Marie auf dem Arm ging sie zurück. Heftig stöhnte er auf. „Was bin ich nur für ein Dummkopf und laufe vor ihr davon? Bin nicht ich der Herr und sie die Magd?“ Wütend auf sich selbst, stieß er mit dem Fuß in die Erde und schleuderte einen gewaltigen Erdballen in die Luft. „Was ist an dieser Magd, das mich durcheinanderbringt?“, fragte er Migel, als er bei ihm angekommen war und ihm den Hals klopfte. Migel wieherte und schleuderte seinen Kopf zur Seite, sodass seine lange Mähne aufflatterte. Ungestüm machte der junge Hengst Sprünge und brachte damit Jean zum Lachen.
„Ah, verstehe. Du willst mir zeigen, dass auch du Lust auf das Leben hast und Energie in dir steckt, die hinaus will.“
Erinnerungen
Es war Ende April. Cathline wanderte langsam die Obstwiese hinauf, die sich hinter dem Gemüsegarten über eine sanfte Kuppe erstreckte. Sie wählte einen kaum ausgetretenen Pfad Richtung Süden, von dem sie einen guten Blick auf all die Felder hatte, die das Hofgut umgaben. Noch lagen sie brach, aber bald schon würde auch dort üppiges Grün wachsen. Der gerade erblühte Ginster stieg ihr mit seinem Duft zärtlich in die Nase. Tief sog sie den Geruch des Frühlings in sich auf. Genoss die Wärme, das frische Grün und das Meer der wogenden Gräser um sich her.
Der Wind blies durch die hochgewachsenen Kirschbäume und wirbelte weiße Blütenblätter in die Luft. Liebevoll rieselten sie wie ein warmer Schnee auf sie herab.
Als sie hinunter in die Ebene blickte, sah sie von dort oben den aufgewirbelten Staub sofort. Seit Wochen hatte es nun schon nicht mehr geregnet und alle Wege waren völlig ausgetrocknet. Die Staubwolke bewegte sich langsam auf das Gut zu. Jetzt wand sie sich durch die Allee der hohen Pappeln und inzwischen konnte Cathline eindeutig eine Kutsche erkennen, die von einem kleinen Pferd im frechen Trab gezogen wurde. Ein einzelner Mann saß auf dem Kutschbock.
In den drei Monaten, die sie inzwischen hier war, hatte sie noch keinen einzigen Besucher gesehen.
Beim Abendbrot bekam sie ihn zum ersten Mal zu Gesicht. Fasziniert beobachtete sie den fremden Besucher und ihren Herrn.
Als hätten sie die Welt um sich herum vergessen, waren sie in ein Gespräch vertieft, das ihre volle Aufmerksamkeit beanspruchte. Wild gebärdete sich Jean. War er verärgert? Oder war es seine Art, sich leidenschaftlich auszudrücken? Schon wurde er durch heftiges Kopfschütteln des Gegenübers eines Besseren belehrt. Mit hochrotem Kopf schien es, als würde Jean im nächsten Augenblick aufspringen und seinen Gast hinauswerfen. Zornig funkelten Jeans Augen und spornten den kleinen Mann umso mehr an, der geradezu Gefallen an der Auseinandersetzung zu haben schien.
Nicht nur Cathline, auch die anderen warfen immer wieder verunsicherte Blicke zu den beiden hinauf ans Tischende, die aber keine Einmischung duldeten. Das fröhliche Lärmen, das sonst jedes Essen begleitete, war an diesem Abend einem leisen Gemurmel gewichen.
Nie zuvor hatte sie Jean derart heftig erlebt.
Plötzlich drehte sich der Fremde nach ihr um. Erschrocken fuhr Cathline zurück. „Mein Gott!“ Sie musste ihn derart angestarrt haben, dass er nun auf sie aufmerksam geworden war. Mit seinem bohrenden Blick drang er tiefer und tiefer. Bis in ihr Innerstes. Dunkelrot vor Bestürzung überzog sich ihr Gesicht bei dem Gedanken, er könnte all ihre Geheimnisse sehen. Als nun auch Jean verärgert nach der Störung suchte, wurde ihre Verlegenheit noch größer und ihre Röte noch tiefer. Könnte sie sich doch nur in Luft auflösen!
Ganz offensichtlich redeten sie nun über sie, denn der Fremde wies mit dem Kopf in ihre Richtung.
Wie hatte sie nur so leichtsinnig sein können? Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn.
Da unterbrach ein weinerliches Gejammer ihre Gedanken.
„Maman.“ Gierig streckte Marie ihre kleinen Hände nach dem Honig aus. Schuldbewusst, da sie die Kleine tatsächlich vergessen hatte, strich sie ihr hastig das Brot, mit einer extra dicken Schicht des süßen Honigs, was ihr wiederum einen tadelnden Blick von Françoise einbrachte. Mit einem kurzen Seitenblick wagte sie noch einmal an das Kopfende der Tafel zu schauen. Jean und der Fremde sprachen noch immer über sie. Das konnte sie sehen. Gesprächsfetzen drangen bis zu ihr durch. „… die Mutter von …, … erkennt sie nicht …“
Wie froh war sie, als Françoise in die Runde bellte: „Zeit, abzuräumen.“ Hastig wurden die letzten Reste vertilgt, die Becher geleert, Holzschüsseln aufgestapelt und in die Küche getragen.
Eilig drängten alle lärmend nach draußen, um den kurzen Abend auszukosten. So nutzte auch Cathline die Chance schnellstmöglich zu verschwinden.
Die Schatten der hohen alten Bäume hatten sich längst über das Gut gelegt. Dennoch war es noch angenehm. Cathline hatte noch keine Lust, in der engen, dunklen Hütte zu bleiben. Sie würde Marie schlafen legen und nochmals nach draußen gehen, überlegte sie sich.
Doch Marie hielt sie länger als gedacht auf:
„Singen, singen!“, bettelte sie. Nachdem sie schließlich zum dritten Mal eines der wenigen ihr bekannten Schlaflieder vorgesungen hatte, wurde sie langsam heiser.
„Tut mir leid, Schatz, aber ich kann nicht mehr.“ Sachte streichelte sie zärtlich Maries Haare. Sichtlich genoss Marie die volle Aufmerksamkeit von Cathline. Wenn sie sich doch nur mehr Zeit für das Kind nehmen könnte! Armer Schatz, hast nicht einmal einen Papa.
Dunkle Erinnerungen stürmten auf sie ein. Nein. Sie wollte nicht an die Vergangenheit denken. Heftig schluckte sie ihre bitteren Gedanken hinunter.
„Schlaf jetzt, mein Schatz.“ Sie drückte Marie einen dicken Kuss auf die kleine Wange und bekam zur Belohnung ein strahlendes Lächeln. Fest hielten die kleinen Händchen ihre Hände, als wollten sie sie niemals mehr loslassen. Wie schön sie doch aussah. Ihre zarte Haut, die Augen, die sie anstrahlten und ihr vertrauten.
„Ich hab dich lieb, meine Süße.“
Ein herzhaftes Gähnen ließ nun aber doch erkennen, dass Marie müde wurde. Behutsam löste sich Cathline aus ihrem Griff. Stattdessen gab sie ihr eine kleine Puppe, um die Marie heftig ihre kleinen Ärmchen schlang. Gerührt dachte Cathline daran zurück, wie sie aus dem Wenigen, das ihr zur Verfügung stand, dieses einfache Geschenk genäht hatte. Für Marie war es ohne Bedeutung, dass der Stoff gebraucht war und die Haare lediglich aus verfilzter Wolle bestanden.
„Puppi auch zudecken“, wurde sie von Marie ermahnt.
„Na klar doch.“ So zog sie die dünne Decke über Kind und Puppe. Beide lagen so friedlich und zufrieden da, dass ein tiefes Glücksgefühl Cathline durchstrahlte.
Sie war dankbar für dieses wunderbare Geschenk, dieses Kind, das nun zu ihr gehörte. Leise schlich sie hinaus.
In der Zwischenzeit war es dunkler geworden. Doch noch immer flogen vereinzelt Bienen und Hummeln umher. Cathline streifte durch die Obstbäume. Da die letzten Tage warm und sonnig gewesen waren, hatten sich schnell nacheinander alle Bäume mit einer blühenden Pracht überzogen. Ein weiß-rosa Blütenmeer. Darunter die gelbe Pracht des Löwenzahns, blaue Vergissmeinnicht, die die Bäume umsäumte. Und dort, im lichten Unterholz der hohen Buchen, blühten bereits die ersten kleinen weiß-gelben Blüten wilder Erdbeeren. Dort müsste es bald schon leckere Früchte in Hülle und Fülle geben, malte sich Cathline aus. Kaum konnte sie sich an dem Blütenwunder satt sehen, das sie mit dem starken Duft nach Frühling und dem Konzert der Vogelstimmen geradezu betörte.
Vereinzelt brannten bereits die Laternen. Auch dort im Gutshof konnte sie durch das offen stehende Fenster den flackernden Schein mehrerer Kerzen sehen. Ebenso den Schatten zweier Männer, die sich eifrig im Raum auf und ab bewegten. Es mussten Jean und der Fremde sein! Ihre Neugier wurde aufs Neue geweckt.
Widerwillig riss sie sich von ihrem Beobachtungsposten los und ging zur Hütte zurück. Inzwischen waren auch die beiden anderen Mägde Giselle und Molette da, die mit ihr die Kammer teilten. Vielleicht konnte sie von ihnen mehr erfahren?
Beide saßen nahe um einen kleinen Tisch. Sie hatten ihre Laternen entfacht, um bei den Näharbeiten, die sie in Händen hielten, besser sehen zu können. Mit geschickter Hand flickten sie ihre Wäsche. So griff auch Cathline nach ihrer Näharbeit und zog den letzten Stuhl näher an den Tisch. Bereitwillig machten sie ihr mit einem freundlichen Lächeln Platz. Wie dankbar war sie für den leichten Leinenstoff, den man ihr als Lohn gegeben hatte. Nun konnte sie für sich und Marie ein Sommerkleid nähen. Geschickt hatte sie mit sicherem Blick den Stoff zugeschnitten. Kritisch hatten Giselle und Molette sie beäugt, doch sie ließen sie in Ruhe weiterarbeiten, sichtlich beeindruckt von der Sicherheit, mit der Cathline schnell, zügig und genau arbeitete. Im Stillen dankte sie nun ihrer Mutter, die sie mit den täglichen Näharbeiten gequält hatte. Wie viel lieber wäre sie mit ihrem Bruder draußen herumgetollt oder hätte die Ställe ausgemistet! Nun aber war sie froh für die stundenlangen Zurechtweisungen. Leise stöhnte sie auf. Wie sehr sie sie doch alle vermisste!
Giselle horchte verwundert auf. „Ist alles in Ordnung?“ Fragend forschte sie in Cathlines Gesicht. „Du warst schon beim Essen so seltsam!“
Um von ihr selbst abzulenken, wagte sie es, nach dem Fremden zu fragen. „Was ist der Fremde für ein Mann? Ist er mit dem Seigneur gut bekannt?“, platzte es, schneller als geplant, aus ihr heraus.
Giselle und Molette warfen sich belustigte Blicke zu und fingen prustend an zu lachen. „Ah, er gefällt dir, was? Ist zwar ein bisschen klein geraten, aber nicht schlecht gebaut“, fuhr Molette amüsiert auf.
Errötend blickte Cathline zur Seite. Zu dumm! Hätte sie nicht geschickter nachfragen können? „Nein, es interessiert mich nur so, wer er ist. Obwohl er zugegeben nicht übel aussieht“, grinste sie nun doch zurück. Was tat es ihr schon? Sollten sie doch denken, was sie wollten.
„Ah, dieses Lächeln und dieser mitfühlende Blick“, schwärmte Molette. „Und immer fragt er, wie es mir geht, wenn ich ihm morgens beim Wasserholen begegne. Das fragt mich sonst nie jemand!“ Dabei blickte sie vorwurfsvoll von einer zur anderen. Die beiden mussten lachen, obwohl sie durchaus recht hatte.
„Aber lass die Finger von ihm“, meinte nun Giselle ernst, an Cathline gewandt. „Es ist Abbé Bernard. Und er fühlt sich für das geistliche Wohl von uns allen verantwortlich“, erläuterte sie. „Und“, fügte sie bedeutungsschwer hinzu, „nimmt es mit allem sehr genau. Noch nie ist er einer von uns zu nahe gekommen! Aber er ist lustig und macht mit uns allen seine Späße. Ist es nicht so, Molette?“ Diese nickte eifrig.
„Selbst den Seigneur bringt er zum Lachen! Und das soll was heißen!“
Verwirrt starrte Cathline Giselle an. „Was hast du gesagt? Der Mann dort oben ist ein Geistlicher?“
„Ja, sicher doch, Schätzchen. Er ist ständig auf Achse. Behauptet, eine lange Kutte sei ihm da ein Hindernis, die zieht er nur mal bei ganz besonderen Gelegenheiten über.“
„Dabei sieht er gar nicht wie ein braver Pater aus! Nicht wahr?“, mischte sich Molette ein.
„Und über was reden die zwei Herren stundenlang derart heftig?“ Sie wies mit dem Kopf Richtung Gutshof. Zu spät fiel ihr auf, dass sie sich damit verraten hatte, sie ausspioniert zu haben! Doch die beiden argwöhnten nichts, stellte Cathline erleichtert fest.
„Keine Ahnung. Er bringt jedes Mal seltsame Dinge mit, die wir nicht zu Gesicht bekommen. Nur Françoise sieht das ein oder andere beim Saubermachen. „Seltsames Gerümpel, sagt sie, auf das sie sich keinen Reim machen kann. Und natürlich die vielen alten, schon halb zerfallenen Bücher, für die schon der alte Seigneur sein halbes Vermögen ausgegeben hat. Sehr zum Leidwesen der Madame!“, fügte Giselle mit einem Ausdruck des Unverständnisses bei.
„Auf jeden Fall kommt Abbé Bernard weit herum, reist gerne und erzählt uns von fernen Ländern, die jenseits eines großen Wassers liegen sollen“, erzählte Molette weiter schwärmerisch. „Meist bleibt er für mehrere Tage. Der Seigneur ist dann kaum noch zu Gesicht zu bekommen. In diesen Tagen lässt er draußen alles stehen und liegen.“
„Hmm.“ Fasziniert hörte Cathline zu. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie auch gerne die Neuigkeiten aus der Welt außerhalb dieses Gutes wissen würde. Doch gleichzeitig stiegen Gefühle der Angst in ihr auf. Sie durfte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Je weniger sie kannten, desto besser. Stumm blickte sie in Richtung des beleuchteten Zimmers.
„Genug für heute“, beendete Giselle das Gespräch und die Arbeit.
Da wurde auch ihr bewusst, wie müde sie war.
Sie legte ihre Näharbeit zurück in den Korb. Einen letzten Blick erlaubte sie sich durch die Tür hinüber zum Haupthaus, bevor sie diese verschloss. Im Dunkeln zog sie sich ihr Arbeitskleid aus, hängte es an den einzigen Haken an der Wand und zog sich rasch ein einfaches Hemd über, das ihr als Nachtgewand diente. Sachte hob sie die Decke von Marie an und schlüpfte zu ihr auf die Schlafstatt. Wohlig empfingen sie die Wärme und der Geruch des Kindes. Doch lange noch fand sie keine Ruhe zum Schlaf. Zu sehr bewegte sie die Ankunft des Fremden.
Cathline trat am anderen Morgen leise aus ihrer kleinen Behausung heraus, um die anderen nicht unnötig früh zu wecken. Was für ein Tag! Sie roch es geradezu, wie schön dieser werden würde. Ein heller Lichtkegel im Osten ließ erkennen, dass die Sonne bald als strahlend leuchtender oranger Ball aufgehen würde. Doch noch lag Tau auf den stillen Wiesen, während die Vögel längst mit ihrem fröhlichen Gesang begonnen hatten.
Cathline lief den Obsthain hinauf, um besser in die Ferne schauen zu können. Dort, wo nur die obersten Baumwipfel aus einem Nebelstreifen herausragten, lag, so hatte sie inzwischen auf ihren Erkundungsgängen entdeckt, ein kleiner See.
Sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft. Denn in eben diesem Moment stand die Sonne am Horizont. Stumm bestaunte sie, wie die Sonne höher und höher stieg. Unauffällig verschwanden gleichzeitig die Nebelschwaden und wichen innerhalb kürzester Zeit einem strahlenden Morgen.
Ein nahes Knirschen auf dem kiesigen Weg ließ sie plötzlich erschrocken herumfahren.
„Auch ich genieße diesen Augenblick des Tages. Wenn alles mit Ruhe und Frieden beginnt!“ Die Augen des Abbés blieben strikt auf den grandiosen Sonnenaufgang gerichtet. Doch noch bevor sie sich von ihrer Sprachlosigkeit erholt hatte, setzte er unerwartet fort: „Ich habe Euch hier nie zuvor gesehen. Seid Ihr schon lange hier?“ Blitzschnell drehte er sich zu ihr um. Sein forschender Blick traf ihre Seele.
Cathline erschauerte innerlich. Tief sog sie die Luft ein, um erst wieder Herr über sich selbst zu werden.
„Ein paar Wochen“, stieß Cathline unwillig aus.
„Ihr redet nicht gerne über die Vergangenheit?“, versuchte er es etwas sanfter, denn das entsetzte Aufflackern in ihren Augen war ihm ebenso wenig wie die Verärgerung in ihrer Stimme entgangen.
Unfähig, darauf zu antworten, blieb ihr Mund verschlossen.
„Entschuldigt!“ Formvollendet verbeugte er sich vor ihr. „Ich habe mich Euch noch nicht einmal vorgestellt. Abbé Bernard, unterwegs im Namen des Herrn.“ Er lächelte sie so charmant an, dass all ihre Angst so schnell verflog, wie sie gekommen war.
Noch immer von der Neugier getrieben, beschäftigten sie noch dieselben Fragen wie am Vorabend. Sie versuchte es: „Erlebt Ihr viel auf Euren Reisen, wohin kommt Ihr und …?“ Mitten im Satz stockte sie und wagte nicht weiter zu fragen.
Bernard schmunzelte und freute sich, dass sie sich ihm gegenüber ein wenig geöffnet hatte. Gerne war er bereit, über seine Aufträge zu reden. Doch wieviel würde sie vertragen? Allzu oft machte er die Erfahrung, dass ein ungläubiges Auflachen sofort jedes weitere Interesse vereitelte.