Mantrap - Sinclair Lewis - E-Book

Mantrap E-Book

Sinclair Lewis

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  • Herausgeber: DigiCat
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

In 'Mantrap' von Sinclair Lewis taucht der Leser in die Welt des aufstrebenden Geschäftsmanns Ralph Prescott ein, der nach einem Urlaub in Kanada den verführerischen Charme einer jungen Frau namens Cherry hat. Lewis präsentiert in seinem Werk eine detaillierte Darstellung der moralischen Verwirrung und des gesellschaftlichen Drucks, denen Prescott ausgesetzt ist. Der literarische Stil von Lewis ist prägnant und fesselnd, und er schafft es, komplexe Themen wie Ambition, Moral und die Begrenzungen der sozialen Klassen mit großer Meisterschaft zu beleuchten. 'Mantrap' ist ein wichtiger Beitrag zur amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der den Leser zum Nachdenken über die moralischen Dilemmata der Moderne anregt.

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Sinclair Lewis

Mantrap

 
EAN 8596547731559
DigiCat, 2023 Contact: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Der Strom schoß zwischen den buckligen Felsen hindurch, und Ralph hatte das Gefühl, daß seine heißen Finger etwas Hartes, Schlüpfriges berühren würden, wenn er dieses schwellende Glatt anfaßte, das dahinfloß wie polierte Bronze. Aber jenseits der gefahrdrohenden Enge wirbelten zwischen den halb unter Gischt begrabenen Felsen hundert Strudel in dem schäumenden, außer sich geratenen Fluß.

Ralph war die ganze lange Tragstrecke unter seiner Last fast besinnungslos vorwärtsgetaumelt, und jetzt, während des angestrengten Paddelns, hielt er besorgte Ausschau nach den Trichtern des Geisterkatarakts, spähte immer wieder rückwärts, ob der Mann, der ihn und das Mädchen verfolgte, hinter ihnen her war.

Er war froh, daß er es geschafft hatte. Das Boot war bei den berühmten Stromschnellen angelangt, die Uferfelsen flogen an seinen Blicken vorbei, und er merkte, daß es mit der Geschwindigkeit eines Flugzeugs in den Maëlstrom ging. Der Indianer im Bug war aufgesprungen und wies mit dem Paddelruder auf die einzige sichere Fahrtrinne durch das Rasen der brandenden Wassermassen.

Plötzlich waren sie in dem ruhigen Wasser hinter den Schnellen, und erleichtert atmete Ralph über dem erhobenen Ruder auf, so daß das Mädchen sich überrascht umblickte und der Indianer zu kichern begann. Es entstand ein heiliger Augenblick der Ruhe. Aber noch immer drohte die Möglichkeit, daß der aufgebrachte Mann hinter ihnen herjagte – wütend und rachedurstig.

Ralph Prescott war wohl das vorsichtigste Mitglied des überaus vorsichtigen New Yorker Anwaltsbüros Beaseley, Prescott, Braun und Braun. Er spielte Prozeß, wie er Schach spielte. Zank war ihm ebenso unbegreiflich wie eine Schlägerei, und er erschrak immer wieder, wenn er konstatieren mußte, daß er in Händel mit Klienten, Kellnern und Taxichauffeuren geriet.

Er murmelte: »Überarbeitet – muß alles leichter nehmen! – Zu aufreibend, diese Verhandlungen unter Hochdruck! – Werd's mal mit ein bißchen Golf versuchen.« Aber das bißchen Golf konnte seine Nerven nicht beruhigen, und sogar die unerhörte Ausschweifung, in die »Follies«, statt nach Hause zu gehen und über den Akten zu arbeiten, unter deren Last seine Regale ächzten, beruhigte ihn noch weniger, und Nacht für Nacht erwachte er in panischem Schrecken, lag er erstarrt unter unbegreiflichem Alpdruck.

Mit vierzig Jahren war Ralph Junggeselle mehr denn je. Denn da ihm seine verständnisvolle Mutter heiterer und schöner erschienen war und viel mehr Verständnis für ihn hatte als alle Mädchen, die er kennen lernte, hatte er die Gesellschaft seiner Mutter aller Romantik vorgezogen. Aber seit zwei Jahren war sie tot, und in den Stunden um Mitternacht, wenn sie ihn vom Schreibtisch weggeschmeichelt hatte, um mit ihm zu plaudern und zu lachen und ihm noch ein Glas Milch zu geben, bevor sie ihn ins Bett schickte, in diesen Stunden quälte ihn jetzt die Leere, die sie hinterlassen hatte, und er arbeitete, bis eins – bis zwei – bis zur müden Dämmerung.

Ralph war ein schmächtiger Mann mit Augengläsern, freundlich, ernst, vielleicht ein wenig naiv, beliebt bei seinen Freunden, dem Dutzend Rechtsanwälten, Ärzten, Ingenieuren und Börsenmaklern, die er im College kennengelernt hatte und nun allabendlich im Yale Club traf.

Trotz aller Anerkennung, die seine Geschicklichkeit und gründliche Tüchtigkeit in der Durchführung von Rechtsfällen fanden, bezeigte er doch allen Künsten und schönen Wissenschaften noch immer die gleiche Ehrfurcht wie seinerzeit im College, als er bei Professor Phelps Literaturvorlesungen gehört und Thoreau, Emerson und Ruskin von ferne verehrt hatte.

An einem Maitag in den zwanziger Jahren merkte Ralph Prescott, wie verbraucht seine Nerven waren.

Er fuhr an diesem Sonnabendnachmittag nach White Plains zum Buckingham Moors Country Club, um Golf zu spielen. Er benutzte sein eigenes Kupee, das mit seinen blanken Nickelverschlägen, seinen Fenstern aus fleckenlosem Spiegelglas, seinen züchtigen Kissenüberzügen aus vielgewaschenem Drillich so niederdrückend korrekt wirkte wie das Wartezimmer einer Beerdigungsanstalt.

Es war der erste wirklich schöne Sonnabend des Spätfrühlings, und was in New York irgendeine Art Motorgefährt zur Verfügung hatte – vom neunzehnhundertzehner Ford bis zum neuen Rolls-Royce, von der Limousine bis zum fiebrig zitternden alten Motorrad – alles wurde von derselben Begeisterung erfaßt und drängte hinaus, um sich in Westchester County umzusehen. Als Ralph aus der Siebenunddreißigsten Straße im Osten, wo seine kleine, bescheidene Mietswohnung lag, in die Fünfte Avenue einbog, war er zu abgespannt, um einen Kampf mit der grausamen und unnachgiebigen Wagenmenge aufzunehmen.

Nur durch Akrobatenkunststücke und mit Lebensgefahr vermochte er im Zickzack den anderen Wagen vorzufahren. Meilen hindurch kroch er hinter einem ehrwürdigen Sedan einher – erschrocken anhaltend, so oft dieser anhielt – bis er schließlich die leuchtende Glatze des Chauffeurs vor ihm zu hassen begann. Immer mußte er auf die andere Wagenreihe an seiner linken Seite achten, mußte an den Wagen hinter ihm denken, der anscheinend den Ehrgeiz hatte, ihn niederzurennen.

»Und das soll nun ein freier Nachmittag zur Erholung sein!« seufzte er. »Ich muß ganz einfach schauen, daß ich wegkomme. Das ist kein Leben. Ich müßte irgendwohin gehen, wo ich mich rühren und wieder atmen kann.«

Einmal, als ihm ein Verkehrsschutzmann, gerade als er an die Kreuzung kam, Halt gebot, ein zweites Mal, als ein kleiner Junge unmittelbar vor ihm über die Straße lief, blieb ihm das Herz fast stehen, mit einem Entsetzen, das so grotesk war und so nervenzerreißend wie der Schrei eines Wahnsinnigen. Während des Fahrens ließ seine Spannung nicht nach, er wartete nur voller Verzweiflung auf das Ende dieser Prüfung.

Endlich hatte er das scheußliche Sammelsurium von Tankstellen, Würstelbuden und häßlichen Häusern hinter sich und kam in den Frieden des geräumigen Klubgeländes. Er ließ seinen Wagen in der Kurve der Kiesstraße vor der Rhododendronhecke halten und klammerte sich kraftlos an das Lenkrad an.

»Muß mehr acht geben auf mich«, grübelte er. »Elendiglicher Zustand. Außerdem rauche ich zu viel.«

In dieser schlappen Stimmung ekelten ihn die Garderobenräume des Klubs noch mehr als gewöhnlich an. Feuchte Zementmauern, ein kiesiger Zementboden, der Geruch von Schweiß, Gin und alten Badetüchern, der Anblick bäuchiger Männer mittleren Alters, die sich in ihren Sporttrikots wie Jungen gebärdeten, der Lärm überlauten Gelächters und mehr oder weniger witziger Aufschneidereien über Spielerfolge – er hatte diese Höhle immer gehaßt! Aber heute war es geradezu unerträglich, und es war eine Erleichterung, als Mr. E. Wesson Woodbury ihn mit lärmender Jovialität begrüßte.

Woodbury war Vorsitzender des Spielplatzausschusses, sonst Vizepräsident und Verkaufsmanager der außerordentlich mächtigen Twinkletoe-Strumpf-Company, deren geschmeidige Waren an der Hälfte aller Mädchenbeine im Lande zu sehen sind, bei den japanischen Arbeiterinnen der Konservenfabriken in Seattle ebenso wie bei den Choristinnen in New York. Mr. Woodbury war ein runder, dicker, selbstzufriedener Mann. Er erinnerte an eine ganz besonders große und saftige Keule im Hühnerfrikassee des Sonntagsdinners, und bei seinem lauten, schnellen Lachen fuhr man erschrocken zusammen, wie wenn ein ungeschickter Fahrer die Kupplung klemmt.

Woodbury zog sich nur vier Schränke weit von Ralph um. Er legte karierte Knickerbockers an und Strümpfe mit purpurroten, gelben und erbsengrünen Ringen, die von einigen sparsam angebrachten rautenförmigen Flecken angenehm verziert wurden. Während er sich ankleidete, brüllte er, als wäre Ralph eine Meile von ihm entfernt:

»Kommen Sie lieber mit uns – wir sind drei von einem Vierer – nur drei – ich und Richter Withers und Tom Ebenauer – nur drei – aber eine Mannschaft, Junge, eine Mannschaft, großartige Mannschaft! Kommen Sie nur mit uns – der Richter läßt Sie vielleicht durchschlüpfen, wenn Sie mal wegen einer Schnapsgeschichte auffliegen.«

Sonst pflegte Ralph die Gesellschaft Woodburys zu meiden. Ruhigere, manierlichere und anständigere Männer waren ihm lieber. Aber heute, in seiner erschreckenden Unsicherheit, gab ihm Woodburys aufgeblasenes, strahlendes Patent-Selbstvertrauen einen gewissen Halt. Er hatte dasselbe Gefühl wie ein kleiner Junge in der Sexta, der wohl keine allzu große Achtung vor der Ansicht des Fußballkapitäns über lateinische Deklination hat, sich aber dennoch durch dessen Freundlichkeit glühend geschmeichelt fühlt.

»Gut –« sagte er.

So oder so war Woodbury schon ein Kerl, wie er ihn jetzt brauchte. Er mußte jemand haben, der ihn aus seiner elenden Niedergeschlagenheit herausreißen konnte.

Ralph spielte ein präzises und gewissenhaftes Golf, und trotz der Nervenattacken, die er gegen sich geritten hatte, war er, ohne sich besonders anzustrengen, der beste im Vierer. Während sie sich über die heiteren Wiesen des ulmenbeschatteten Spielterrains bewegten, fand Ralph wieder Ruhe und Kraft und faßte sogar eine gewisse Zuneigung für seine unentwegt spaßenden Gefährten. Aber Woodbury machte keineswegs immer Späße. Er hatte einen Verdruß:

»Ein schönes Pech, das ich gehabt habe. Ich hatte mir 'ne großartige Fisch- und Paddeltour droben in Nordkanada vorgenommen – nördlich hinauf von der Endstation der Bahn, an der Grenze von Manitoba und Saskatchewan entlang – das Land am Mantrap River. Großartige Gegend – ganz weit weg von der Zivilisation; da denken Sie überhaupt nicht mehr an die verdammten Schreibtische und Telephonanrufe und falschen Konti. Vor drei Jahren war ich schon mal oben – nach Mantrap bin ich nicht ganz gekommen, aber in die Nähe. Und Fische! Ich sage Ihnen! Muskalonges, Spitzmäuler (in Kanada nennen sie sie Dorés), Seeforellen von zehn Pfund, fünfzehn Pfund – Junge! Ich hatte schon den ganzen Plan fix und fertig, wollte diesen Sommer mit einem Freund von mir, der in Winnipeg wohnt, hinauf – Kanus gekauft, Route ausgearbeitet, vier fabelhafte Indianer als Führer geheuert; und mit einem Male hat Lou – mein Freund – den niederträchtigen Einfall, sich mit mir zu verkrachen. Sagen Sie, Prescott, Sie sollten sich die Sache wirklich mal überlegen und mit mir in die Gegend da hinaufgehen. Ihr Anwälte habt ja sowieso nie was Ernsthaftes zu versäumen. Lassen Sie Ihre armseligen ollen Klienten 'ne Zeitlang in Ruhe und geben Sie ihnen eine Möglichkeit, 'ne Kleinigkeit Geld zusammenzukratzen, das Sie ihnen nächsten Herbst wieder abnehmen können!«

»Ich könnte einen Urlaub ganz gut brauchen«, murmelte Ralph, viel eifriger mit der wahrscheinlichen Lage seines Balls beschäftigt als mit der großartigen freien Natur.

»Ganz gut brauchen? Me–ensch! 'nen Fünfzehnpfünder rausziehen! Am Lagerfeuer sitzen, den Old Timern zuhören, wie sie über ihre Pioniertaten flunkern! Im Zelt schlafen, ohne Autogetute! Und sehen Sie, Prescott, ernsthaft jetzt: ein schrecklich leichter Trip, so wie ich ihn vorhabe. Die Indianer machen die ganze Schlepperei bei den Tragstrecken; sie kochen das Futter und putzen die Fische und schlagen die Zelte auf. Und wenn wir nicht mit dem Außenbordmotor fahren, paddeln auch sie, nicht wir.«

»Motoren? Kanus? In Nordkanada?« keuchte Ralph. Ein Sakrileg!

Woodbury schüttelte sich in fast hysterischem Gelächter.

»Ach, Sie entzückendes Muttersöhnchen! Sie Manhattan-Hinterwäldler! Jeder Creehäuptling in Kanada – Sie erwarten wahrscheinlich, daß sie alle Wildlederhosen anhaben und in Birkenrindenkanus fahren. Also, es gibt kaum einen Häuptling, der nicht einen Außenbordmotor und das Segeltuchkanu des Weißen hat. Herr Gott, ihr fallt mir auf die Nerven. Ihr – also, Sie wissen genau Bescheid mit London und Paris und der Riviera – ich habe Sie mit Eddie Leroy drüber schwatzen gehört – und von unserem Nordamerika hier kennt ihr nicht mehr wie 'n Karnickel. Himmel noch einmal, Sie wissen aber auch rein gar nichts. Kommen Sie nur mit mir und lernen Sie zur Abwechslung mal richtige Männer kennen!«

Ralph ärgerte sich und machte sich Gewissensbisse. Es war richtig, er wußte nichts, nicht das mindeste von den Trappern und den Schürfern, die noch immer an der Grenze lebten. Er hatte noch nie auf dem Erdboden geschlafen. Er war verzärtelt und furchtsam – er mit seinen netten kleinen Ferien in der Bretagne, in Devonshire und dem bayerischen Oberland! Aber ihn irritierte auch Woodburys überlegene Art, als er ihm, wie ein Radioansager, einen Vortrag darüber hielt, daß es sechs Methoden gäbe, die großen Lastkanus, deren man sich auf den langen Nordfahrten bediene, vorwärts zu treiben: paddeln, staken, motoren, tauen, segeln und sogar, in Tiefwasser, rudern.

Mr. Woodbury verachtete offenbar die lackierten Boote mit roten Kissen und Modenamen, die in Sommerfrischen zu finden sind. Da Ralph aber noch nie andere gesehen hatte, da er für einen bestimmten See, ein bestimmtes Kanu und ein bestimmtes Mädchen, das er in der goldenen Zeit vor zwanzig Jahren eine ganze Meile weit gepaddelt hatte, eine zärtliche Erinnerung bewahrte, war Woodbury für ihn ein Lümmel … Ein fürchterlicher Gesellschafter für das enge Beisammensein, zu dem eine Reise durch die Wildnis zwingt.

Als sie aber das Spiel beendet hatten und zum Klubhaus zurückgeschlendert waren, zum Gin und Ingwerbier, nach denen es Richter Withers ganz besonders dürstete (nach einer harten Woche voller Urteile wegen heimlichen Ginverkaufs), legte Woodbury seinen Arm um Ralphs Schulter und rief mit der bezaubernd jungenhaften Art, die ihm manchmal zu eigen war:

»Seien Sie nicht böse, weil ich Sie aufgezogen habe, Prescott. Sie kennen die Wälder nicht, aber Sie würden sich dran gewöhnen – Sie sind ein ganzer Kerl, und auf den Kopf gefallen sind Sie auch nicht. Wenn Sie's möglich machen könnten, würde ich mich sehr freuen, Sie mitzuhaben. Bedenken Sie! Hinauf zur Hudsonbay, wo schon im August die Nordlichter quer über den Himmel schießen!«

Obgleich er den Vorschlag nicht ernst genommen hatte, fuhr Ralph den ganzen Weg vom Klub zerstreut nach Hause, ohne sich das drängende Schieben des Verkehrs ins Bewußtsein dringen zu lassen, ganz in Visionen vom Norden eingesponnen – in Visionen aus Büchern, die er im Bett verschlang, nach Mitternacht, wenn seine Nerven ihn nicht schlafen ließen …

Der lange Weg. Ein düsterer Pfad unter riesigen Tannen. Oben goldgrünes Licht, das zwischen den Zweigen hindurchgleitet. Verträumte Seen, die das Silber der Birkengehölze wie Ebenholz widerspiegeln. Die eherne Nacht, und in dem ungeheuren Schweigen strahlende Sterne. Finstere, wortlose Indianer, hoch, hakennäsig, Meile für Meile der Fährte eines verwundeten Elens folgend. Eine Blockhütte, und an der Tür eine liebliche Indianerprinzessin. Ein Trapper mit der Last kostbarer Felle, Hermelin, Kreuzfuchs und Biber …

Ein glänzendes Dinner in einem japanischen Restaurant am Croton River stärkte Ralph in seinen Träumen, und in ausgezeichneter Stimmung fuhr er heim und ließ seinen Wagen in der großen, ununterbrochen summenden Garage, in der die Automobile von Syndicis, alkoholschmuggelnden Millionären und Filmschauspielerinnen friedlich nebeneinanderlebten. Pfeifend kam er in das Haus, in dem seine Wohnung war, und pfeifend öffnete er seine absonderlich schwarz und orange bemalte Tür.

Sein Herz machte einen Saltomortale, er fuhr vor Entsetzen keuchend zurück. Ihm gegenüber stand ein Eindringling mit ausgestrecktem Arm, in der Hand einen Revolver …

In zwei Sekunden sah er, daß der Eindringling er selbst war – sein verschwommenes Spiegelbild im großen Spiegel der Badezimmertür. Der ausgestreckte Arm war sein eigener, und der glitzernde Revolver sein harmloser Türschlüssel. Dennoch ließ ihn der Schrecken nicht zu Atem kommen, selbst als er schon durch den Flur in das pedantisch und etwas schwerfällig ausgestattete Wohnzimmer wankte und schlotternd in einen roten Ledersessel fiel.

»Ich – ich muß unbedingt etwas tun, oder es kommt zu einem Zusammenbruch! Ich will mit Woodbury nach Kanada. Schließlich ist er ein riesig guter Kerl, trotz seinem Brüllen und seinen verdammten Dummheiten und Dalbereien. Ich werde gehen!«

In seinem ganzen behüteten und sorgfältig vorausberechneten Dasein hatte er sich noch nie so – verzweifelt entschlossen ausgesprochen. Und in seiner Stimme zitterte der Schrecken noch nach, als er am Telephon Woodburys Nummer verlangte und mit ihm sprach; sie klang kaum weniger geängstigt, als er ein Taxi bestellte und die Portierfrau grüßte, die vom Vestibül aus das Schauspiel genoß, den wohlanständigen Mr. Prescott um elf Uhr nachts das Haus verlassen zu sehen.

»Natürlich – natürlich – kommen Sie nur rüber – macht gar nichts, daß es spät ist. Ich werde meiner Frau sagen, sie soll den Japs ein paar Flaschen richtiges, echtes Bier aufs Eis legen lassen.« Im Taxi, das ihn zu Woodbury führte, war ihm noch ganz warm ums Herz von so viel Freundlichkeit.

»– nicht mehr um die ganze Kreuzworträtselklauberei der Gesetzesbücher kümmern, um die Konzerte und superklugen englischen Wochenschriften, um die behutsamen Bridgepartien! Hinauskommen zu wirklichen Männern, richtiges Männerfutter essen und auf der Mutter Erde schlafen«, murmelte er. »Guter alter Woodbury – er ist doch ein prachtvoller Kerl!«

Woodbury wartete schon in der Halle unten, als Ralph ankam. Er begrüßte ihn, indem er ihm dreimal die Hand schüttelte und ihn dreimal wuchtig auf die Schulter klopfte, dann führte er ihn über die reichgeschnitzte Treppe aus schwarzem Nußholz hinauf, in die »Bude«, ein üppiges, etwas muffiges Zimmer: unzählige herumstehende Nippes, alte Pfeifen, die zum Andenken an die Colgate University an einem mit Brandmalerei geschmückten Gestell hingen, und die Originalplakate – viele Mädchen mit seidenglatten Beinen –, deren Kopien einer sehnsüchtigen Welt die frohe Botschaft von den Twinkletoe-Strümpfen gebracht hatten.

Er führte Mrs. Woodbury vor, eine hübsche Frau von dreißig Jahren.

»Oh, Mr. Prescott, es wäre wirklich zu reizend, wenn Sie mit Wesson mitgehen könnten. Der alte Bär! Er tut immer so, als ob er ein rauher Mann der Wildnis wäre, aber in Wirklichkeit ist er zart wie ein Baby, und ich hoffe, Sie werden mit ihm hinaufgehen und auf ihn achtgeben. Sie sagen, Sie sind solche Strapazen nicht gewohnt, aber wirklich, Sie sehen richtig athletisch aus – wie ein Waldläufer.«

Ihr Gatte gab zu: »Ja, das wird schon stimmen, glaub' ich. Ich bin nicht so tüchtig, wie ich immer tue. Aber trotzdem komme ich mit Speck und Sterz viel weiter, als die kleine Frau da meint, und für Sie könnt' es nur gut sein, wenn Sie in die großen Wälder zum erstenmal mit einem Mann kommen, der nicht so ausgekocht ist und Sie womöglich achtzehn Stunden im Tag vorwärtstreibt.«

Diese Bescheidenheit überzeugte Ralph eher als stundenlanges Prahlen mit verwegenen Pionierstaten, und er fand, daß es schön sein würde, mit ihm zu fahren.

Und als Woodbury wie ein etwas wichtigtuerischer, aber sehr lustiger kleiner Junge seine geliebten Spielsachen aus Kisten und Schränken hervorholte, machten die Schönheiten eines lackierten Fisches (der so unerquicklich tot aussah, daß man unmöglich mit freudigen Gefühlen an den Fang denken konnte) und die Smartheit eines Angelzeugs mit achatgelagerter Rolle auf Ralph weniger Eindruck als ein abgetragenes und runzliges Paar Schnürstiefel.

»Das sind mal richtige Ritz-Tanzpumps«, sagte Woodbury zärtlich. »Kucken Sie sich die Nägel an – als wären sie aus 'nem Salzstreuer draufgebeutelt. Habe ich mir extra machen lassen. Und der Fuß – weich wie ein Mokassin. Die Stiefel – na, ich sage Ihnen, die waren mit mir in Maine, und in Michigan und in Kanada. Viele große, schöne Barsche hab' ich rausgezogen mit den Stiefeln an den Füßen. Auf viele Berge bin ich raufgestiegen. Und jetzt möcht' ich Ihnen was zeigen, das wirklich was ist!«

Er breitete eine auf Leinwand aufgezogene Karte aus, welche die Inschrift trug, »Mantrap River und Umgebung«. Da war Winnipeg, in der Ecke rechts unten; da war der Flambeau River; der Warwicksee und der Mantrap River, Mantrap Landing und der Träumende See, Verlorener Fluß, Weinender Fluß und Mitternachtssee, Geistersquawfluß und Geisterkatarakt.

Ralph konnte sich mehr oder weniger ein Bild von Winnipeg machen, obwohl er nie im Westen von Chicago gewesen war; und er hatte vom Flambeau River gehört. Er stellte sich seine gelben Wasser vor, die mürrisch über tausend Meilen durch riesige Föhrenwälder, durch Weidendickichte und einsame, melancholische Sümpfe rollten. Aber das meiste auf der Karte, in Manitoba sowohl wie in Saskatchewan, war ihm ebenso fremd wie Zentraltibet, und die Namen lockten ihn: Kriegstrommelkatarakt, Singende Schnellen, Neepegosis-See, Mudhen Creek; Donnervogelsee, Föhrenspitze. Und Ansiedlungen, die Whitewater und Kittiko und Mantrap Landing hießen – Flecken, sicherlich entzückend, mit dunkelhäutigen Indianern, kleinen Rothäuten auf den Rücken der Squaws, den Blockhütten der Hudsons-Bay-Company-Posten und Trappern, die in ihren schwarz und rot gewürfelten Hemden froh und zufrieden waren.

Bevor sein sonst scharfes und aller Romantik bares Auge die Karte halb übersehen hatte, wußte er, daß er sich von seinem gewohnten, wohlgeordneten Leben loslösen und in diese Mysterien untertauchen würde, und bevor er die Flasche Bier zur Hälfte geleert hatte, die Woodbury stolz für ihn öffnete (am Griff einer Schublade im Küchenschrank, weil erstaunlicherweise, aber ganz gewiß nur im Augenblick, kein Flaschenöffner zur Hand war), gab Ralph die für ihn fast übertrieben unvorsichtige Erklärung ab:

»Ich glaube wirklich, ich sollte versuchen, ob ich es nicht einrichten könnte, mich frei zu machen, und ich bin Mrs. Woodbury und Ihnen ganz außerordentlich dankbar dafür, daß Sie meinen Besuch zu dieser unziemlich späten Stunde angenommen haben, und –«

Diese Nacht, es war schon sehr spät, legte er den ganzen weiten Weg in die Siebenunddreißigste Straße zu Fuß zurück. Er fühlte sich stark und groß und frei, und während seine Füße in schwarzen Schuhen und sauberen Leinengamaschen stolz über das Pflaster klapperten, war es ihm, als stapften sie über einen sumpfigen Waldweg hoch oben im Norden.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Unter den Schaufenstern der Fünften Avenue mit ihren silbernen Cocktail-Mixbechern, Smaragd-Armbändern und prunkvollen Toiletten (die direkt aus dem Faubourg Saint-Honoré bezogen sind) fällt die prächtige Fensterausstattung des großen Sporthauses Messrs. Fulton & Hutchinson auf.

Sie zeigt eine Lagerszene. Wie grün ist das baumwollene Gras, wie wässerig das gläserne Wasser, wie erschütternd für jeden verbannten Dan'l Boone die ausgestopfte Amsel, die auf einem leblosen Schilfrohr ihr stummes Lied singt! Und wie unentbehrlich sind nicht für das rauhe Lagerleben der transportable Radioapparat, das Luftkissen, das sich in einen Rettungsgürtel verwandeln läßt, und der Vierflammen-Petroleumofen!

Ralph Prescott staunte dieses realistische Bild ehrfurchtsvoll an, marschierte dann in den Laden und wurde in das siebente Stockwerk, in die Abteilung für Touristenausrüstung, gewiesen.

»Ich gehe nach Nordkanada fischen und brauche etwas Dauerhaftes und ziemlich Einfaches an Kleidern«, sagte er bescheiden zu dem herangleitenden Kommis.

»Gewiß, Herr. Eine ganze Ausstattung? Dürfte ich Ihnen diese Reithosen aus Whipcord empfehlen, dazu Schnürstiefel, ein echtes Ouspewidgeon-Flanellhemd und eine imprägnierte Segeltuchjacke mit Jagdtaschen? Also diese Hosen zum Beispiel, die werden Ihr ganzes Leben lang halten, und sie sind wirklich sehr preiswert, nur achtundsechzig Dollar« – der Kommis strahlte.

Ralph zögerte und knurrte etwas Unverständliches, ließ sich aber schließlich dazu überreden. Er wählte zwei besonders flauschige Flanellhemden, das eine schwarz und knallrot gewürfelt, das andere gelb und grün gestreift. Dazu nahm er einen verwegenen Zwei-Gallonen-Bill-Hart-Hut mit Lederband und bewunderte dann in einem dreiflügligen Spiegel die ganze Pracht und Herrlichkeit.

Wie den meisten Männern war Ralph das Probieren von Kleidern gewöhnlich eine Qual, und die Neuheit eines neuen Anzugs ließ ihm alles, was er vorher getragen hatte, abgenützt und schäbig erscheinen. Aber seine Lagerausrüstung machte ihm dieselbe Freude wie eine Maskerade. Er sehe sehr männlich und tüchtig aus, sagte er sich. Er richtete sich grimmig auf, stemmte die Fäuste großtuerisch in die Hüften und nahm die randlosen Augengläser ab, die ihm jetzt zu seinem Äußeren – der rauhe Mann der Tat – nicht ganz passen wollten. In diesem Augenblick hegte er nicht den leisesten Zweifel daran, daß er Stromschnellen hinunterschießen, an den Tragstrecken dreihundert Pfund schleppen und den frechsten Indianer meistern könne.

»Ich werde mir eine große runde Brille anschaffen, so eine wie Wes Woodbury hat – das sieht sportsmännischer aus«, beschloß er.

Der kundige Kommis, dessen Erfahrung in gefahrvollen Expeditionen nicht lediglich aus dem Etablissement der Messrs. Fulton & Hutchinson stammte, sondern auch auf drei Wochen in einem Y. M. C. A.-Lager am Chautauquasee zurückblicken konnte, versah Ralph noch mit einigen großen bunten Halstüchern, Rock, Hose und Hut aus Öltuch, ventilierten Handschuhen, zusammenfaltbaren Pantoffeln, Wollsocken (von irgendeiner Spezialfirma speziell hergestellt, für irgendeinen Spezialzweck, den der Kommis nur ziemlich nebelhaft umschreiben konnte), hohen Schnürstiefeln, niedrigen Schnürstiefeln und Segeltuchschuhen mit Gummisohlen, die einen Zoll dick waren.

Nun erinnerte Ralph sich Wes Woodburys flehentlicher Bitte: »Was Sie sich auch anschaffen, sehen Sie um Gottes willen, daß Ihre Ausrüstung klein bleibt!«

Er entrann aus dem siebenten Stockwerk, nachdem er auf den dringenden Rat des Kommis noch einen Rucksack gekauft hatte, der so groß war, daß der Indianer, der ihn vollgepackt über eine Tragstrecke schaffen könnte, erst hätte geboren werden müssen. Es war ein bezaubernder, raffinierter Rucksack. Er hatte Innentaschen, Außentaschen und Obertaschen, alle mit Riemen und Klappen und köstlichen kleinen Schlößchen. Er hatte nur einen Fehler: die obere Verschlußklappe war so kunstvoll und sinnreich eingerichtet, daß es keine Möglichkeit gab, sie zu befestigen; sie mußte immer offen bleiben und gewährte allem Regen des Himmels Zutritt. Das entdeckte Ralph aber erst, als er in einem kleinen Kanu auf dem Warwicksee schwamm.

Den Rest seiner Ausrüstung erstand er im ersten Stockwerk.

Zelte, Decken, Kanus und derlei waren von Woodburys Freund in Winnipeg vorbereitet worden und sollten sie an der Endstation der Bahn, in Whitewater, erwarten, so daß Ralph sich damit begnügen konnte, nur zwei bis dreimal so viel zu kaufen, als er brauchte.

Die Sportspezialisten hatten noch das Vergnügen, ihn mit einigen Kleinigkeiten auszustatten, die später seinen Indianerführern viel Freude machen sollten: mit einem kugelgelagerten Kompaß, einer Moskitosalbe, die von den dankbaren Moskitos für Nektar gehalten wurde, einer eisernen Ration von hochkonzentrierten und unverdaulichen Nährtabletten und mit einem Apparat, der abwechselnd alles sein konnte: Messer, Nagelfeile, Bohrer, Korkenzieher, Zange und Schraubenzieher. Aber manches war auf der Tour doch von einigem Nutzen: eine großartige elektrische Lampe, eine Schrotflinte und Angelruten, Rollen, Fliegen, Angelhaken und Fischnetze, die – wie der Gerätefachmann ihm versicherte – unerläßlich waren.

Für ein erstes Abenteuer in einem solchen Geschäft war Ralphs Selbstbeherrschung wirklich groß, besonders wenn man bedenkt, unter welchem hypnotischen Bann er auf Zelte mit Grammophonen, zusammenlegbaren Eisschränken und Porträts von Roosevelt sehen mußte, auf liebliche Entenjagdanzüge aus Gras, die den Kostümen hawaiischer Tänzer glichen, und auf bezwingend realistische Wachspuppen, die mit allen Anzeichen von Behaglichkeit in Eiderdaunenschlafsäcken schlummerten.

Es war vollbracht. Ralph drückte sechs verschiedenen Kommis und dem Portier die Hand und nahm stolz Abschied. Alle seine Einkäufe kamen zu ihm in den Taxameter. Sie waren zu köstlich, als daß er auf ihre Zusendung hätte warten können, und in bizarren, die Phantasie reizenden Paketen türmten sie sich um ihn von Sitz und Boden des Autos auf.

Zu Hause legte er seine Rüstung an und stellte sich vor den großen Türspiegel, der ihn unlängst so erschreckt hatte. Es war einfach prachtvoll: breitkrempiger Hut, Segeltuchjacke mit riesigen Taschen für Jagdbeute (die aber noch zu erlegen war), rot und schwarz gewürfeltes Hemd, Whipcord-Breeches und die erschreckliche, grimmige Brille, die er unterwegs noch schnell beim Optiker besorgt hatte.

»He! Ich seh' gar nicht so schlecht aus! Ich sehe wirklich nach etwas aus! Ich –«

Auf unerklärliche Weise war mit einem Male der Zauber vernichtet, er war kein Kind mehr, das Held sein spielte, frei sein und geschickt und stark – er war nichts weiter als ein müder Akademiker mittleren Alters.

»Teufel, ich sehe aus wie Ralph Prescott in einer renommistischen Verkleidung! Ich sehe aus wie ein Dilettant auf einer Liebhaberbühne! Die Kommis bei Fulton & Hutchinson lachen sich wahrscheinlich halbtot über mich!«

So sehr er eben noch in selbstvergessener Freude jubiliert hatte, plötzlich war er tief in selbstbeobachtende Zweifel versunken. In seinem Kostüm der Wildnis, das noch von keinem Kotstreifen, keinem Blutstropfen, keinem Regenspritzer beschmutzt war, saß er wieder elend und grübelnd in seinem nüchternen roten Ledersessel.

Aber aus seiner trüben Stimmung stieg eine Tatsache empor: Er besaß einen Freund!

Sein ganzes Leben lang hatte er nur laue und vorsichtige Bekannte gehabt, die zuverlässig genug und beständig waren, verstehend und bequem, aber voller Angst vor dem Leben, voll peinlicher Angst vor den Opfern und der heißen Anteilnahme wahrer Freunde. Und in demselben E. Wesson Woodbury, der ihm als lärmender und flacher Dummkopf oft eine komische Figur gewesen war, hatte er die eine, dauernde Freundschaft gefunden.

»Wir werden es wunderschön in den Wäldern haben. Wes ist ein ganzer Kerl. Er wird mich schon aus meiner verdammten Hasenherzigkeit herausbringen.«

Mit einem schwachen Abglanz seiner nachmittägigen Begeisterung begann Ralph zu packen. Doch es war ihm eingefallen, daß diese Expedition gefährlich werden könnte, und während er mit vielem Hin und Her seine Schätze in dem ungeheuren Rucksack ordnete, sah seine Phantasie Kanus, die in Stromschnellen zertrümmert wurden – in Wüsteneien gebrochene Beine – um einsame Zelte streifende Bären – in pfadlosen Urwäldern verirrte Stadtschwächlinge.

Drittes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Als Ralph aufwachte und den Vorhang hochrollen ließ, dampfte der Zug durch die Manitoba-Prairie. Ralph lag gelöst in seinem schwingenden Bett und wünschte, immer weiter zu fahren. Er hatte die Unermeßlichkeit der Alpen gesehen und Schiffe in dem unendlichen Rund des Horizonts zusammenschrumpfen, aber nie hatte er die Grenzenlosigkeit der Welt so tief empfunden wie jetzt, als er über diese ebenen Flächen blickte, deren Linie nur von fernen Farmhäusern mit ihren kargen Pappelhecken gebrochen wurde. Es war ein kraftvolles, junges Land.

Sie sahen die freundliche Stadt Winnipeg, sie verbrachten eine Nacht in Bearpaw Junction; dann rumpelten sie den ganzen Tag durch Moorland und Nadelwälder in gemischtem Zug nach Whitewater, das am Flambeau River gelegen ist.

Der Zug hatte einen Dienstwagen, und hinter der langen Reihe brauner, knarrender Güterwagen rumpelte ein bejahrter Personenwagen einher. Züge hatten für Ralph bequeme Pullmanwagen bedeutet, die Länder achtlos durchrasten, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und nie wäre er auf den Gedanken gekommen, daß es angenehm sein könnte, sich mit einem Eisenbahner zu unterhalten. Nun saß er im Dienstwagen, in einem Holzsessel, und hörte dem alten Schaffner mit den wolligen Haarbüscheln in den Ohren zu, der sein Geschwätz mit zahllosen langweiligen Sentenzen unterstrich, vom Wetter plauderte, von der Regierung, vom Reisepublikum und warum die Frauen von vielen für nervös gehalten werden.

Woodbury hatte ihnen die Möglichkeit geschaffen, statt in dem überfüllten Personenwagen in dem für die Eisenbahner bestimmten Dienstwagen zu reisen. Woodbury gehörte zu den Leuten, die es verstehen, Freikarten im Theater, Rabatt auf Autoreifen und an Feiertagabenden Tische in Restaurants zu ergattern. Als sie fünf Minuten im Zug gewesen waren, hatte er den Bremser mit Ratschlägen für seine Verdauungsstörungen versehen, Ralph und sich in den Dienstwagen bugsiert und wußte, daß der Enkel des Schaffners die Handelsschule besuchte.

Das Innere des kleinen roten Wagens am Zugende glich dem Büro eines Bauholzlagers. Ein Schreibpult, hart aussehende Stühle und ein Tischbrett, das an der Wand hochzuklappen war. Hier versammelte sich die Crême des Zuges: der Schaffner, ein reisender Kolonialwarenhändler, der jeden Menschen und jeden Skandal von Bearpaw bis Kittiko kannte, und ein echter Sergeant der Royal Mounted Police, der aber in seinem strammen scharlachroten Rock, dem großen Hut und den unglaublich gut geschnittenen Reithosen einem Filmsergeanten nichts nachgab.

Der Zug schob sich langsam vor, die Erde, die Ralph durch die offene Hintertür des Wagens erblickte, war so nah, daß er sich mit ihrer schläfrigen Kraft vereint fühlte. Er gehörte nicht mehr der hektischen Stadt. Nein, er war eins mit den braunen Marschen, die sich weithin dehnten, mit dem düsteren Horizont, in den die schwarzen Skelette verkohlter Bäume ihre sonderbaren Schattenrisse warfen. Ihm behagte die Herbheit des Dienstwagens, sie befreite ihn – befreite ihn von all der dumpfen Sauberkeit der Büros und der glatten Mietwohnungen.

Dann aber wurde ihm sehr unbehaglich, die Erzählung des Polizisten schreckte ihn auf aus seiner Träumerei.

»Schreckliche Sache – ich konnte seine Leiche nie finden –« sagte dieser, »er muß bei den Felsen in lauter Stücke zerfetzt worden sein – konnte es nie verstehen ich habe ein Stück von seinem Kanu und ein Paddel gefunden – es war mir unbegreiflich, daß ein so guter Bootsmann wie er überhaupt in die Versuchung kam, die Singenden Schnellen zu nehmen.«

»W–was für Schnellen sind das?« fragte Ralph leise Woodbury.

»Singende Schnellen im Mantrap. Der Sergeant hat uns eben erzählt, wie ein Halbblut, blendend guter Kanumann übrigens! – wie er darin ertrunken ist.«

Mit einemmal wußte Ralph, daß er ein Feigling war.

Er wußte, daß er Angst hatte, tödliche Angst, vor den Stromschnellen und all den unbekannten Gefahren der Wildnis. Und weil er Angst hatte, bemühte er sich, seiner Stimme einen möglichst sorglosen Klang zu geben:

»Hm. Wirklich? Na, dann hoffe ich, wir machen die nicht, was?«

»Nein, wir haben sie hinauf zu, Ralph. Unsere Route geht stromaufwärts.«

»Ich verstehe. Aber würden, ah-was halten Sie eigentlich von so einer Sache? Würden Sie's riskieren und es versuchen, die Schnellen zu nehmen, wenn sie die Freundlichkeit hätten, dieselbe Richtung zu haben wie wir? Und was werden Sie tun? Hinauftauen, oder was?«

»Wahrscheinlich Tragen um sie herum. Zeit genug, daran zu denken, wenn wir hinkommen … Viel Branntweinschmuggel jetzt hier oben, Sergeant?« fragte Woodbury mit dröhnender Liebenswürdigkeit.

»Zeit genug, daran zu denken …«

Ralph schauderte; er begann schon jetzt daran zu denken. Er quälte sich mit dem Gedanken: »Werde ich die ganze Zeit über Angst haben?« Seine Abenteuerfreude war getrübt, sie verschwand fast ganz, als er, dem Geplauder lauschend, von Wölfen hörte, von Waldbränden, von Kanus, die mitten in einem zehn Meilen breiten See gekentert, und von Kanus, die im Sturm auf verborgene Baumstämme gestoßen und untergegangen waren.

Und zu seinen traurigen Befürchtungen gesellte sich noch eine gewisse Langweile. Fast vier Tage war er ununterbrochen mit E. Wesson Woodbury zusammen gewesen, und er empfand einen leichten Überdruß vor diesem bellenden Lachen, diesem aufdringlichen Gönnertum, der Geschichte von den Affendrüsen, die er nun schon siebenmal gehört hatte.

»Ist ja gut, daß wir getrennte Kanus haben werden«, dachte er.

»Wes ist ein Prachtkerl, aber er hat nie gelernt, den Mund zu halten«, und: »Wenn wir jetzt in den Schnellen wären – wenn das Kanu auf einen Felsen auffahren würde, und du müßtest schwimmen – was, wenn die Strömung dich mit dem Kopf gegen einen Felsen schleudern würde?«

So saß er da, voll Angst vor künftiger Angst, gelähmt von der entnervendsten und erbärmlichsten Furcht, Stunde um langweilige Stunde, während sie zwischen den staubigen Kiefern dahinkrochen, während der Zug bei jedem einsamen Weizenspeicher anhielt und im unermeßlichen Bahnhof der Zeit Güterwagen rangierte, und seine Erstarrung wurde einzig durch Wutanfälle über Woodburys mannhaftes Gelächter unterbrochen.

Es war eine Erlösung, als der Zug widerwillig in Whitewater einrollte – Whitewater am Flambeau River, Umschlagplatz der sogenannten Zivilisation – und es war eine Erlösung, die ersten Stromschnellen zu sehen und die Bahnfahrt hinter sich zu haben. Ende der Eisenbahn!

Der Flambeau kriecht wie eine angeschwollene Boa constrictor durch die zerzausten Wälder und fällt am Rande der Stadt, neben der Bahnstrecke, in die Whitewater-Schnellen. Der ganze Strom wird zwischen zwei schwarze Granitbasteien gedrängt, so glatt fließend, als würde er aus einer Millionen-Gallonenflasche gegossen. Aber unten, im vielfachen Geröll, wird er in ein Chaos milchigen Gischts zerbrochen. Kein Kanu könnte in diesem Wirrsal leben, in dem das gemarterte Wasser in regenbogengeädertem Gischt emporgeschleudert wird, um in schneeweiße Strudel zu stürzen.

Doch Ralph faßte wieder Mut.

Wie die meisten schweigsamen und zu phantasievollen Menschen hatte er Angst hauptsächlich vor dem, was er nicht sehen konnte. Er hatte sich alle Schnellen in drohende Finsternis gehüllt vorgestellt, und so ungestüm dieser Katarakt auch war, er erschien unter dem Licht der nördlichen Sonne als etwas Wirkliches und Überwindbares. Durchschwimmen? – sicher konnte er durchschwimmen – also, vielleicht konnte er – wenn er mußte!

Mit erneuter Abenteuerfreude und infolgedessen erneuter Sympathie für E. Wesson Woodbury, kletterte er vom Zug herunter, seine Flinte und sein Angelzeug klapperten, seine neuen Stiefel dröhnten befriedigend und höchst ergreifend auf den Bohlen des Bahnsteigs, er war in seiner ersten Grenzstadt.

Viertes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Whitewater war einst eine Sägemühlenstadt mit fünfzehnhundert Einwohnern gewesen. Aber die patriotische Bauholzgesellschaft hatte das ganze Holz abgeflößt, das heißt alles Holz, das nicht fahrlässig verbrannt worden war, und der Ort war auf hundert Seelen zusammengeschrumpft – ein Haufen baufälliger Hütten in einer wüsten Wildnis von Baumstümpfen und Morästen.

Seine Hauptzier ist ein hoher eiserner Sägemühlenschornstein, den ein Funkenfänger aus Drahtnetz krönt. Der Schornstein ist jetzt verfallen und wird wohl ein Opfer des nächsten Sturms werden. Die zweite Pracht von Whitewater, das Bunger House, überragt stolz die Teerpappehütten. Hier gibt es Kost und Logis.

Es erhebt sich ganze drei Stockwerke hoch. Angestrichen wurde es noch nie, und die Schmierigkeit seiner grauen Holzschindeln belebt nur das saubere Gelb neuer Bretter, die Mr. Bert Bunger aufzunageln genötigt war, um den Regen abzuhalten. Die meisten Fenster sind zerbrochen. Wo einst die Holzkönige, oder wenigstens Holzknechte, Fluchten von zwei Zimmern bewohnten (beide ohne Bad, eines zum Schlafen und eines zum Pokerspielen), wo einst der Speisesaal unter dem Tritt der Holzfällerpantinen erdröhnte, dort ist Mr. Bunger jetzt glücklich, wenn er einen einzigen Mieter hat und sechs Kostgänger für Schweinefleisch und Bohnen.

Doch Mr. Bunger kann in der Armut nicht vergessen, daß er einmal mächtig war. Es verletzt ihn, irgend etwas für seine Gäste tun zu müssen, es stört seine Patiencespiele und sein Herrengefühl, völlig Fremde zu empfangen.