Mara und der Feuerbringer - Tommy Krappweis - E-Book

Mara und der Feuerbringer E-Book

Tommy Krappweis

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Beschreibung

Wo beginnt die Sage – wo endet die Wirklichkeit? Die Trilogie Mara und der Feuerbringer von Grimme-Preisträger und Bestsellerautor Tommy Krappweis – vollständig überarbeitet und zum ersten Mal ungekürzt! Mara ist als eine der letzten Seherinnen dazu auserwählt, das Ende der Welt zu verhindern. Nun erfährt sie, dass der Feuerbringer doch noch nicht besiegt ist und seine Kraft täglich wächst. Zusammen mit Professor Weissinger versucht Mara, das Geheimnis um die Macht des Feuerbringers zu lüften. Dabei gerät sie in die Fänge der Todesgöttin Hel, die sie nur wieder gehen lässt, wenn Mara einen Auftrag für sie ausführt. Doch dafür muss sich Mara erneut in die Nähe des Halbgottes und Dämons Loki wagen … Band 2 enthält die Literatur/Musik/Webtipps von Tommy Krappweis und Prof. Rudolf Simek.

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Seitenzahl: 411

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Copyright © 2019 Tommy Krappweis

Copyright © 2019 by Edition Roter Drache für die deutsche Ausgabe

Edtion Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel [email protected]; www.roterdrache.org

Umschlaggestaltung: *zeichenpool, München

Buchgestaltung: Holger Kliemannel

Korrektorat: Diane Krauss & Holger Kliemannel

Zeichnungen: Adriaan Prent

Fachberatung: Prof. Rudolf Simek

Gesamtherstellung: Jelgavas tipografia, Lettland

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-964260-42-0

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Teil 2

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Teil 1

Schwarz wird die Sonne, die Erde sinkt ins Meer,

Vom Himmel schwinden die heitern Sterne.

Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltbaum,

Die heiße Lohe beleckt den Himmel.

Kapitel 1

Und darum finde ich es natürlich besonders zauberhaft, dass Sie, Herr Professor, sich für solcherlei Themen erwärmen können! Haben Sie auch schon mal eine Aura gesehen? Ein erhebender Anblick!«

Mara blickte quer über den Tisch zu Professor Reinhold Weissinger, dessen Hand mit dem Löffel auf halbem Weg zurück zum Teller eingefroren war. Im Moment war sein gesamter Denkapparat wohl fieberhaft damit beschäftigt, sich eine Antwort zu überlegen. Da musste der Körper eben alle anderen Aktivitäten einstellen und sämtliche Energie im Kopf sammeln.

Eigentlich war ja alles Maras Schuld: Sie hatte dieses Desaster schließlich arrangiert. Es wäre wohl früher oder später sowieso passiert, da sich Mama in den Kopf gesetzt hatte, den Professor mal zum Abendessen einzuladen. In einem Anfall geistigen Kontrollverlustes hatte Mara das dann plötzlich auch für eine gute Idee gehalten und Professor Weissinger dazu genötigt, hier aufzutauchen. Wobei ihr sein »Ja« dann doch etwas zu schnell gekommen war, aber nun gut …

Jetzt saß sie also hier und musste mit ansehen, wie sich Mama vor Professor Weissinger zum Obst machte. Wobei der Professor gerade auch ziemlich obstig rüberkam und immer noch nach einer Antwort suchte.

»Eine Aura … nein, das … nicht, dass ich mich erinnern könnte …«, hüstelte sich der Professor schließlich zusammen und steckte direkt danach den Löffel in den Mund, um ein besonders armseliges Ablenkungsmanöver einzuleiten. »Mmh, aber Ihre Maronensuppe ist wirklich exquisit, Frau Lorbeer!«

Mara verdrehte die Augen. Das Ganze hätte entscheidend an Glaubwürdigkeit gewonnen, wenn er vorher den Löffel in den Teller getaucht hätte.

Aber das fiel Mama weder auf noch brachte es sie vom Thema ab. »Schön, wenn es Ihnen schmeckt. Um ehrlich zu sein, als ich zum ersten Mal eine Aura um einen Menschen herum wahrgenommen habe, war ich noch Wochen später völlig verstört.«

»Tatsächlich? Wie äh … schön für Sie?«, sagte der Professor und es klang tatsächlich wie eine Frage.

»Ja, allerdings«, schwärmte Mama weiter. »Sie wissen ja gar nicht, was Sie da verpasst haben.«

»Es scheint fast so, ja«, nickte Professor Weissinger und steckte erneut einen leeren Löffel in den Mund. Diesmal bemerkte er den Fehler aber und riss ihn so ruckartig von den Lippen, dass Mara glaubte, ein leises »Webbl« zu hören.

Sie hatte den Professor ja schon in einigen brenzligen Situationen erlebt, aber selbst Auge in Auge mit dem Lindwurm Fafnir war er ihr nicht so nervös vorgekommen. Gerade schmetterte Professor Weissinger den Löffel etwas zu schnell in den Teller und versetzte die Maronensuppe in Aufruhr.

»Hoppla, na ja, dieses Hemd sollte eh mal wieder in die Wäsche«, scherzte er lahm.

Aus diesem Bart hab ich aber echt schon witzigere Sprüche gehört, dachte Mara.

Mama war dafür wild entschlossen, das sogar höchst amüsant zu finden, und schraubte sich dazu in ein Geräusch, das dringend den Untertitel »Hahaha« benötigt hätte, weil man es kaum als Lachen erkannte.

Die meisten Mädchen und Jungs in Maras Alter konnten es gar nicht erwarten, endlich erwachsen zu sein. Aber wenn Mara sich dieses seltsame Schauspiel so ansah, konnte es ihr persönlich gar nicht lange genug dauern. Vermutlich änderte sich im Alter von achtzehn Jahren irgendetwas schlagartig im Hirn und betätigte dann den Komisch-Knopf. Dieser Volljährigkeitseffekt sorgte bestimmt auch dafür, dass jeder zweite Satz mit »Ich mein’s doch nur gut …« begann. Mara war froh, dass sie sich ab und zu in ihre Gedankenwelt zurückziehen konnte. Das machte es irgendwie erträglicher. Man konnte durchatmen und dann der wirklichen Welt wieder ins Auge sehen. Nur manchmal schien die Welt zu schielen.

Wie zum Beispiel jetzt. Gerade erklärte Mama nämlich dem Professor, dass sie als Ergebnis des Aurakurses im Wicca-Café doch tatsächlich eine Art Lichtwolke um die Kursleiterin herum wahrgenommen hatte.

»Normalerweise nimmt man ja eher den Ätherischen Körper wahr. Ich sah aber deutlich diese hellen Lichtstreifen auf bläulichem Untergrund, was ja bekanntermaßen auf den Negativen Ätherischen Körper schließen lässt. Die Kursleiterin meinte, das sei der helle Wahnsinn, hahaha.«

»Nun, ich hoffe, Sie verstehen mich nicht falsch, wenn ich dem einhellig zustimme, haha«, antwortete der Professor und handelte sich dafür einen scharfen Blick von Mara ein.

Mama mit Ironie zu kommen, war nicht fair, denn dafür fehlte ihr der Decoder.

Immerhin versuchte der Professor gerade wieder zurückzurudern: »Allerdings bin ich durchaus schon mit Auren konfrontiert worden, Frau Lorbeer, aber nicht in dem Sinne, wie Sie das beschreiben. Zum einen ist mir natürlich die griechische Göttin gleichen Namens bekannt: Aura aus dem Geschlecht der Titanen, Patronin der Morgenbrise.«

»Ach was, wie interessant«, sagte Mama und schien tatsächlich interessiert zu sein.

Mara atmete erleichtert auf.

»Ja, allerdings«, fuhr der Professor fort. »Laut griechischer Mythologie verfällt sie später … dem Wahnsinn und äh … najaistjetztvielleichtnichtsowichtig … ist denn noch Suppe da?«

»Aber natürlich. Mara, bist du so nett und bringst dem Professor noch einen Teller?«

Mara nickte und nahm Professor Weissingers Teller mit in die Küche. Im Flur hörte sie ihn noch »Und zum anderen …« sagen, dann schloss sie die Küchentür und lehnte sich erschöpft mit dem Rücken an den Kühlschrank.

Puh. Bei Gelegenheit würde sie den Professor fragen, was die griechische Göttin denn so Schlimmes angestellt hatte, dass er es am Tisch nicht erzählen wollte. Aber sie wusste ja inzwischen aus eigener Erfahrung, dass alte Götter generell nicht besonders zimperlich waren. Der germanische Halbgott Loki, dessen Flucht aus seinem Gefängnis sie ja eigentlich verhindern sollte, wurde zum Beispiel nicht mit einem Seil auf die Felsen gebunden, sondern mit den Gedärmen seines eigenen Sohnes Narfi. Brr, Mara schüttelte sich jedes Mal, wenn sie nur daran dachte. Und leider dachte sie viel zu oft daran. So in etwa dauernd.

Mara seufzte und schöpfte dann Maronensuppe aus dem Topf in den Teller. Hier stand sie nun, suppeschöpfend, während man eigentlich von ihr erwartete, dass sie einen Halbgott an der Flucht hinderte, damit der nicht den Anfang vom Ende der Welt auslöste. Aber das Problem war doch, dass sie gar nicht das Gefühl hatte, bei Loki bestünde Fluchtgefahr. Und außerdem fand sie den Kerl eigentlich auch ganz … nett?

Ja klar, er konnte schreien, dass die Erde bebte, und hatte wohl damals zur Zeit der nordisch-germanischen Götter eine Menge Mist gebaut: Monster geschaffen, Streit angezettelt, gelogen, betrogen, Odins Lieblingssohn in die Hölle geschickt und so … Nein, ganz sicher war Loki kein harmloser Kumpel von nebenan.

Aber als sie ihn in seinem Höhlengefängnis aufgesucht hatte, wirkte er eher wie der lebende Beweis für die heilsame Wirkung von über tausend Jahren Gefangenschaft: Er hatte glaubhaft versichert, dass ihm nicht an Rache gelegen war, und Mara sogar einen Teil seiner Götterkraft verliehen.

Und überhaupt: Nach wie vor hatte sich ihr geheimnisvoller Auftraggeber nicht persönlich gemeldet und vielleicht lag der sogar völlig falsch mit seinem Verdacht gegen Loki?

Denn da gab es ja noch den Feuerbringer namens Loge, diese seltsame Mischung aus Loki, einem Feuerriesen namens Logi und einer Figur aus Richard Wagners Ring-Opern.

Vor dem hätte man sie mal warnen sollen, denn der hatte schließlich deutlich mehr Probleme gemacht als der arme Loki in seiner Höhle. Also echt!

Mara hörte auf zu schöpfen, als ihr die Suppe über den Daumen lief. Sie schimpfte leise und wischte den Tellerrand noch schnell mit einem schräg abgerissenen Fetzen Küchenrolle ab. Manchmal hatte sie fast den Eindruck, diese Perforation sollte nur zeigen, wo die Küchenrolle garantiert nicht reißen würde.

Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, schlug ihr ein eisiger Wind entgegen.

»Alles okay?«, fragte sie leise und las die Antwort bereits an den zusammengepressten Lippen ihrer Mutter ab.

»Der Professor meint, ich leide an einer Nervenkrankheit«, flötete es aus Mamas gespitztem Mund.

Mara verdrehte die Augen. Typisch Erwachsene – da kehrt man ihnen nur kurz den Rücken, und schon …

Professor Weissinger war redlich bemüht, sich zu erklären. »Du liebes bisschen, aber nein! Ich wollte wirklich nur rein informationshalber darauf hinweisen, dass ich das Verspüren von Auren eigentlich nur im Zusammenhang mit Epilepsiekranken kenne! ›Aura‹ nennt man das Gefühl, wenn wieder ein Anfall droht. Womit ich selbstverständlich weder Sie noch die bedauernswerten Epilepsiepatienten beleidigen wollte, Frau Lorbeer.«

»Also, wie darf ich denn das nun wieder verstehen?«

»Nun ja, nicht falsch, wär’ mir recht«, antwortete der Professor und lächelte dazu entwaffnend unter seinem Professorenbart hervor.

Das half. Mama lächelte zurück. Mara und Professor Weissinger atmeten fast gleichzeitig auf.

Puh, diese Klippe wäre also umschifft. Na dann, volle Kraft voraus zum nächsten Eisberg, dachte sie und sagte stattdessen: »Hier ist Ihre Suppe, Herr Professor. Ich würd’ ja gern schon den Hauptgang vorbereiten, aber ich glaube, das mit dem Anbraten hab ich nicht so drauf …«

»Ach Gott, nein, nein, das mache ich schon selbst«, fuhr Mama dazwischen. »Wenn ich Sie kurz mit Mara alleine lassen darf, Herr Weissinger?«

»Aber gern … ich meine, kein Problem. Sie kommen doch irgendwann zurück, oder nicht?«, charmantete der Professor hinterher und hatte damit durchaus Erfolg.

»Na, selbstverständlich komme ich zurück und ich bringe sogar Saltimbocca mit. Und dann muss ich Ihnen noch etwas ganz besonders Erstaunliches erzählen«, salbte Mama und ging lächelnd hinaus.

Kaum hatte Mara das typische Klickediklack der Küchentür vernommen, sprang sie auf und schloss leise die Tür zum Flur.

»Es tut mir leid!«, zischte der Professor sofort los. »Deine Mutter ist wirklich eine tolle Frau, aber wenn sie mit diesem Esoterikzeugs anfängt, weiß ich einfach nicht, was ich sagen soll!«

Eine tolle Frau? Auf diese Aussage war Mara gar nicht vorbereitet gewesen. Musste sie darauf jetzt was sagen? Sie zwang sich schließlich dazu, den ersten Teil des Satzes zu übergehen und nur auf den zweiten zu reagieren.

»Glauben Sie mir, ich weiß auch nie, was ich sagen soll. Das Problem ist aber, dass das nur der Anfang war. Weil, jetzt gleich wird sie Ihnen wohl von unserem … Ausflug erzählen.«

»Ausflug, welcher Ausflug?«, fragte der Professor verwirrt und Mara konnte förmlich beobachten, wie er sich die schlimmstmögliche Antwort zusammenreimte. »Oder hast du etwa … du wirst doch nicht …«

Mara nickte nur, denn, oh, genau das hatte sie eben leider doch. Sie hatte nur bisher einfach nicht den Mut gefunden, es dem Professor zu beichten.

Da kam Mama auch schon zurück und zwischen ihren Handschuhen hielt sie einen Bräter, in dem mit Speck und Salbei ummanteltes Fleisch vor sich hin brutzelte.

Sie stellte den Topf auf dem Tisch ab und bat Mara, ihr mit den Beilagen zu helfen. Mara stand auf und ließ den Professor mit offenem Mund zurück. Sie hatte den berechtigten Verdacht, dass er diesen nicht geöffnet hatte, um gefüttert zu werden …

In der Küche flüsterte Mara ihrer Mutter zu: »Mama, ich weiß, du willst ihm von unserem Ausflug in diesen Wald erzählen, aber meinst du nicht …«

»Mara, ich merke doch, dass Herr Weissinger mich für verschwurbelt hält!«

»Ach nein … bestimmt nicht …«, murmelte Mara halbgar dazwischen, aber Mama ließ sie kaum zu Wort kommen.

»Und diese Sache ist nun mal der schlagende Beweis für meine Kräfte, denn du warst dabei und wirst es bezeugen!« Und mit diesen Worten schnappte sie sich die Soßenkelle und winkte Mara zu der Schüssel mit den gerösteten Kartoffeln.

Warum nur habe ich Mama mit in diese Vision genommen?, seufzte Mara in Gedanken.

Dabei kannte sie die Antwort. Sie hatte Mama eben trösten wollen und das war ihr damit gelungen.

Aber warum habe ich es dem Professor nicht vorher gesagt?, fragte Mara sich selbst auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer. Na ja, sie kannte auch diese Antwort. Zu feige. Mist.

Kapitel 2

Und plötzlich stehe ich mit meiner Tochter in diesem wunderschönen, romantischen Wald. Die Vögel zwitschern und der Himmel strahlt, fast wie im Märchen! Es war einfach unglaublich, im wahrsten Sinne des Wortes zauberhaft!«

Mara überlegte, ob sie vielleicht unter den Tisch kriechen sollte, so wie früher als kleines Kind. Damals hatte sie eine Menge Zeit unter dem Tisch zugebracht. Wenn man das Tischtuch komplett auseinandergefaltet hatte, war man sich wie in einem Zelt vorgekommen. Am schönsten war es immer mit der weinroten Tischdecke gewesen, weil es so toll aussah, wenn das Licht da durchgeschienen hatte …

»… und dann war da noch dieser Hirsch, nicht wahr, Mara? Ich bin mir sicher, das war kein normaler Hirsch, ganz sicher nicht, oder Maraschatz? Das kann doch kein normaler Hirsch gewesen sein, so, wie der zu uns rüber geschaut hat, nicht wahr? Mara?«

Mara schreckte hoch. »Nein, nein, sicher nicht. Vermute ich mal. Ich weiß nicht.«

Mama warf ihr einen seltsamen Blick zu. Gar nicht verärgert, wie Mara erwartet hätte, sondern enttäuscht. Mara konnte allerdings schnell nachvollziehen, woher das kam. Ihre Mutter hatte zum ersten Mal etwas tatsächlich Unglaubliches erlebt – nicht nur, dass es warm wurde, wenn man jemandem die Hand auflegte, oder das Schwindelgefühl, nachdem man sich eine Stunde zum »Dönggg« einer Klangschale hin und her gewiegt hatte – nein, das war nichts gewesen, was man sich hinterher schönreden musste. Das war ein reales Erlebnis, das man sehen, fühlen, riechen und schmecken konnte. Und dazu kam noch, dass Mama nicht allein gewesen war. Sie hatte eine Zeugin: Mara. Und die sollte jetzt gefälligst aussagen und ihre Mutter freisprechen von jeglichem Blabla-Verdacht.

Dem Professor hingegen war immer noch die Überraschung ins Gesicht geschrieben wie eine Schlagzeile. Aber er blieb still.

Was hatte Mara für eine Wahl? Eben. Also sagte sie leise: »Ja, ich hab’s auch gesehen. War wirklich schön. Und der Hirsch war auch echt komisch.«

Mama grinste zufrieden und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Sehen Sie? Das ist der Beweis für mein starkes Band zu den arkanen Urkräften: Ich habe eine transzendentale Reise gemacht und sogar meine Tochter mit in diese Erfahrung eingeschlossen.«

»Sie haben …?« Professor Weissinger schaute zwischen Mama und Mara hin und her.

Letztere konnte nur gequält lächeln und dazu leise nicken. Ja, genau: Mama war der festen Überzeugung, sie habe sich selbst und Mara für fünf Minuten in einen Märchenwald versetzt. Und für die Tatsache, dass sie weder an einen Wald gedacht noch sich sonst wie konzentriert hatte, gab es folgende Erklärung: »Der Schlüssel ist, dass ich mich bisher wohl zu sehr verkrampft habe und es einfach zu sehr wollte. Doch die Erdmutter lässt sich nicht gerne drängen, sondern entscheidet selbst, wem sie die Türe der Erkenntnis öffnet. Was denken Sie denn, was es wohl mit dem Hirsch auf sich hatte, Herr Weissinger?«

»Mit dem Hirsch«, wiederholte der Professor langsam und Mara vermutete, dass er seine Festplatte nun nach irgendwelchen passenden Infos über Hirsche durchforstete.

Mara beneidete Professor Weissinger für sein umfassendes Wissen. Es ermöglichte ihm, zu jedem Thema irgendetwas halbwegs Passendes vorzutragen – eine Fähigkeit, die Mara so gar nicht besaß.

»Nun, der Hirsch ist in jedem Fall ein äußerst symbolträchtiges Tier«, dozierte der Professor nun los, um von seiner Überraschung abzulenken. »Er steht in verschiedenen Mythen und Religionen für die Wiedergeburt. Ansonsten finden wir ihn zum Beispiel im griechischen Aktaios-Mythos über einen Halbgott in Hirschgestalt, in der Sage von König Artus, und in der germanischen Mythologie gibt es unter anderem Eikthyrnir, den Hirsch auf dem Dach der Valhöll.«

»Sie meinen Walhalla?«, fragte Maras Mutter dazwischen.

»Nein, mit Verlaub, ich meine Valhöll. Zur Walhalla wurde die ›Halle der in der Schlacht Gefallenen‹ erst vor zweihundertfünfzig Jahren grundlos eingedeutscht und somit …«

»Ähm«, räusperte sich Mara und hob kaum merklich ihre beiden Zeigefinger Richtung Schläfe.

»… äh … somit zurück zum Hirsch«, fuhr der Professor mit seinem Vortrag fort. »In seiner alten, gemeingermanischen Form ›Herut‹ ist er aller Wahrscheinlichkeit nach sogar der Namenspatron eines ganzen germanischen Stammes: der Cherusker. Ach ja, und Siegfried der Drachentöter wurde verschiedenen Versionen der Sage nach von einer Hirschkuh aufgezogen. Aber Siegfried hat mit der ganzen Sache ja wohl eher gar nichts zu tun, nicht wahr? Hahaha … hm.«

Einen Moment lang war es still am Tisch. Dann erinnerte sich der Professor wieder an die Frage von vorhin. »Also, um auf Ihre Frage zurückzukommen, Frau Lorbeer, was der Hirsch wohl zu bedeuten hat: Ich habe keine Ahnung. Vielleicht war es einfach nur ein Hirsch?«

Da lachte Mama ihr Mag-ja-sein-aber-ich-weiß-es-besser-Lachen, das Mara so gar nicht an ihr mochte, und schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Herr Weissinger, wenn Sie dieses erhabene Tier auch gesehen hätten, dann würden Sie so nicht sprechen.«

Wie gerne hätte Mara ihr jetzt serviert, dass der Professor den Hirsch in der Tat gesehen hatte, und das sogar ein paar Stunden vor ihr … Oh Mann.

Der Rest des Abendessens verlief erstaunlich entspannt, denn Professor Weissinger schaffte es letztlich doch recht elegant, zu seinem Herzensprojekt überzuleiten: dem originalgetreuen Nachbau eines Wikingerschiffs am Tegernsee. Ihm und seinen Mitstreitern war zwar im vorigen Jahr das Geld ausgegangen, aber jetzt hatte dann doch noch der Freistaat Bayern eingegriffen und man war zuversichtlich, dass das Boot in ein paar Monaten vom Stapel laufen konnte. Seine Augen leuchteten begeistert, als er von den Schiffen erzählte, die aufgrund ihrer flachen Bauweise direkt bis ans Ufer fahren konnten, wo man sie dann mit vereinten Kräften an Land zog. Mara konnte sich gut vorstellen, wie Professor Weissinger mit wild flatterndem Bart Kommandos brüllte, während seine Studenten versuchten, ein tonnenschweres Wikingerschiff an den Strand zu zerren.

Als Mara nach dem Dessert – Bayrische Creme mit Waldbeeren – die Schüsseln in die Küche trug, merkte sie aber, dass Mama noch irgendwas vorhatte. Mara versuchte, sich gar nicht erst vorzustellen, was es wohl sein würde, aus Angst, vielleicht richtig zu tippen. Im Fernsehen hieß es nämlich nach solchen Abenden immer: »Wollen Sie noch mit reinkommen, auf einen Kaffee?« Die Hauptdarsteller setzten sich dann aufs Sofa, Musik setzte ein und die Kamera schwenkte auf den brennenden Kamin, den vorher irgendjemand mit einem Schlüssel für die Wohnung vorsorglich angezündet haben musste.

Aber in ihrem Fall waren die beiden ja erstens schon drin, zweitens gab es hier nur lösliches Pulver CappuccinoArt und drittens würde Mara den ganzen Abend lang zwischen den beiden sitzen und darauf achten, dass keiner plötzlich einen brennenden Kamin reinschleppte, verdammt noch mal!

Verwundert von ihren eigenen Gedanken horchte Mara kurz in sich hinein, um herauszufinden, was genau eigentlich ihr Problem war. Erst hatte sie das Treffen selbst eingefädelt und jetzt hätte sie die beiden am liebsten in getrennte Zimmer gesperrt. Schnell stellte Mara fest, dass sie darauf keine zufriedenstellende Antwort hatte. Sie fand es nun mal gleichzeitig irgendwie gut und irgendwie blöd und jetzt gerade fühlte es sich eben eher blöd an. Hm… Schließlich zuckte sie mental mit den Achseln und beschloss, das Ganze einfach auf die Pubertät zu schieben. Warum sollte diese praktische Ausrede nur den Erwachsenen zur Verfügung stehen? Eben.

Entschlossen, nun jegliche Annäherungen von Mama und Professor Weissinger, wenn nötig gewaltsam, zu unterbinden, stapfte Mara wieder ins Wohnzimmer zurück und ihr erster Blick fiel auf das Sofa. Es war leer. Die beiden saßen immer noch brav am Tisch, durch selbigen getrennt. Na wenigstens …

Außerdem sprach Mama gerade wieder von irgendeinem Wicca-Kram und Professor Weissinger wirkte, als würde er gleich durchs geschlossene Fenster springen und laut schreiend davonlaufen.

»… und da dachte ich mir, wo Sie doch so offen sind für spirituelle Themen jenseits wissenschaftlicher Trampelpfade, könnten Sie uns vielleicht dorthin begleiten«, beendete Mama gerade ihren letzten Satz und Mara wusste sofort, was Sache war. Mama hatte Professor Weissinger gerade eingeladen, mit ihnen zu dem Rückführungsseminar von Dr. Thurisaz zu fahren!

Mama, du weißt ja gar nicht, was du mir damit gerade für einen Gefallen getan hast, grinste Mara in sich hinein. Sofort machte sie einen kleinen Schritt rückwärts, damit Mama sie nicht direkt sehen konnte, und nickte dem Professor so heftig zu, dass sie fast mit dem Kinn auf den Boden beziehungsweise mit dem Schädel an die Decke stieß.

Als Mama sich umdrehte, um zu sehen, was ihre Tochter hinter ihrem Rücken für Faxen machte, nutzte der Professor die Chance für eine stumme Antwort. Um noch energischer den Kopf zu schütteln, hätte er dafür hin und her laufen müssen.

Verstand er denn nicht? Er wusste doch, dass Mara die geheimnisvollen Verse des Feuerbringers auf dem Infoblatt über das Seminar entdeckt hatte! Sie hatte sowieso schon ein mulmiges Gefühl dabei gehabt, dort mit Mama allein hinzufahren. Denn inzwischen konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, ohne Professor Weissinger ein weiteres Abenteuer durchzustehen. Sie brauchte ihn doch! Wusste er das denn nicht?

Da Mara ihm vor ihrer Mutter ja nicht direkt sagen konnte, warum sie die Idee so großartig fand, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm ein paar versteckte Hinweise zu geben. Und wenn das nichts half, würde sie ihn eben so weit in die Grütze reiten, dass er gar nicht anders konnte.

»Ich finde die Idee total super, Herr Professor! Wir werden bestimmt eine Menge lernen …«

Verstehen Sie doch: Lernen! Wie: Rausfinden!, dachte Mara.

»Das mag ja alles sein, aber ich kann leider meine Studis nicht vernachlässigen«, schüttelkopfte Professor Weissinger zurück.

»Aber diese tolle Gelegenheit dürfen wir uns doch nicht entgehen lassen!«, sprach Mara eindringlich auf ihn ein.

Verstehen Sie mich doch!

»Sind Sie nicht auch gespannt, was uns dort erwartet?«

Bitte raff es! Raff es bitte!

Eine Pause entstand. Der Professor seufzte. Schließlich sah er Mara an, nickte und Maras Herz machte einen Sprung: YES.

»Oh, das ist ja ganz wunderbar! Glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen«, sagte Mama. »Meine Wicca-Freundinnen sind ganz wunderbare und spirituelle Wesen.«

Mara sah, wie bei »spirituelle Wesen« etwas im Blick des Professors zerbrach, als hätte jemand seine Kontaktlinsen zersungen.

Da sehen Sie mal, was ich alles schon durchgemacht habe, dachte sie und musste grinsen.

Als Mama hinausging, um für sie zwei Tassen CappuccinoArt zu holen, schlug sich der Professor mit der flachen Hand gegen die Stirn und zog dann die Finger sehr langsam über das Gesicht nach unten, wobei er seine Wangen zu einer seltsamen Grimasse zerdrückte. Als er Mara mit trüben Augen ansah, musste sie richtig lachen. Er nahm es also auch mit Humor. Sehr gut, das würde helfen.

»Ich hab’s doch verstanden, Mara Lorbeer, danke für die vielen subtilen Hinweise. Aber ich musste mich erst einmal innerlich damit abfinden, mehrere Tage mit spirituellen Wesen verbringen zu müssen.«

»Ach, zusammen wird es vielleicht sogar ganz lustig. Meine Mutter ist ja auch dabei und mit der verstehen Sie sich doch ganz gut, oder nicht?«, fragte Mara lauernder, als sie beabsichtigt hatte.

»Aber ja, deine Mutter ist mir nach wie vor sehr sympathisch. Ich glaube, sie ist einfach nur auf der Suche nach Antworten und sondiert dafür den falschen Ort. Wenn ich das mal so ausdrücken darf.«

»Papa hat das Sondieren halt so genervt, dass er irgendwann weggegangen ist«, sagte Mara und beeilte sich hinterherzuwerfen: »Also, nicht dass Sie jetzt denken …«

»Keine Sorge, Mara, ich verstehe dich genau richtig. Aber was ich nicht verstehe, ist, warum du deine Mutter mit in eine Vision genommen hast. So gesehen hast du ja noch mal Glück gehabt, dass sie denkt, sie hätte es irgendwie selbst bewerkstelligt. Andererseits …«

»Andererseits ist es seitdem schlimmer denn je«, seufzte Mara. »Sie sitzt stundenlang da drüben vor ihrer Schale mit den Focus Stones™ und … fokust rum.«

Der Professor folgte Maras Blick hinüber in die Ecke, wo die schief getöpferte Schale mit den großen Flusskieseln stand, und nickte. »Lass mich raten, seitdem hat sie es aber nicht noch mal geschafft, sich in den Wald zu versetzen. Oder hast du etwa …«

»Nein, nein, hab ich nicht, ehrlich! Nur das eine Mal!« Natürlich hatte Mara schon darüber nachgedacht, ob sie ihrer Mutter den Gefallen noch einmal tun sollte. Aber es sprachen so viele Gründe dagegen, dass sie mit dem Zählen gar nicht hinterherkam. Außerdem hatte sie damit sowieso das letzte Quäntchen von Lokis Göttergeschenk verbraucht. Mara konnte gar nicht sagen, ob sie es mit ihren eigenen Kräften überhaupt hinbekommen würde. Am Ende reichte es vielleicht gerade so für die Reise dorthin, aber nicht mehr für die Rückfahrkarte. Bloß nicht!

Mama betrat das Wohnzimmer, in den Händen hielt sie zwei Kaffeetassen. »Bitte entschuldigen Sie den etwas labbrigen Kaffee-Ersatz, das ist mir furchtbar unangenehm. Aber ich habe leider vergessen, heute mal wieder echtes Pulver zu kaufen. Ich weiß natürlich, dass das vom energetischen Standpunkt her grundfalsch ist, aber ich habe mich irgendwann an dieses lösliche Chemiezeugs gewöhnt. Ich denk mir dann immer: Ein Laster darf ich mir doch vielleicht gönnen.« Sie lachte und Mara versuchte, ihre Mutter mit den Augen des Professors zu sehen.

Kann schon sein, dass Mama trotz ihres Wicca-Zeugs ganz okay rüberkommt, dachte sie. Auf jeden Fall stand ihr das Lachen besser als der sparsame Spitzmund …

Kapitel 3

Warum muss ich eigentlich jetzt sogar in den Ferien so früh aufstehen«, grummelte Mara vor sich hin, als sie sich am darauffolgenden Freitag aus dem Bett wälzte und mit den Füßen blind nach ihren Hausschuhen tastete. Na ja, früh übt sich, wer die Welt retten will.

Sie hatte vor einem Jahr Der Herr der Ringe von Tolkien gelesen, nachdem ihr die Filme so gut gefallen hatten. Mara war total überrascht gewesen, dass die Hobbits im Buch gar nicht gleich loszogen, um den Ring aus dem Auenland fortzubringen, sondern erst noch eine Menge Zeit verging. Monate, wenn Mara richtig gelesen hatte. Sie selbst hatte schon ein mulmiges Gefühl, wenn sie mal für eine halbe Stunde nicht an ihre große Aufgabe dachte. Die ganze Zeit über hatte sie zudem das Gefühl, bei Loki und Sigyn in der Höhle mal wieder nach dem Rechten sehen zu müssen. Aber gleichzeitig war sie sich auch ziemlich sicher, dass der sich schon melden würde, wenn er etwas brauchte. Das hatte er ja die letzten Male auch recht eindrucksvoll getan, indem er einfach durch die Leute gesprochen hatte, die gerade in Maras Nähe waren.

Mama war schon länger wach, und als Mara wachgeduscht und reisefertig ins Wohnzimmer kam, war sie gerade dabei, ihre Steine in einen Koffer zu packen.

»Aber Mama, meinst du nicht, wir finden im Mühlthal auch ein paar Flusskiesel?«, stöhnte Mara und kannte die Antwort bereits.

»Das sind nicht irgendwelche Flusskiesel, Mara, sondern meine Focus Stones™. Bitte sei nicht so ignorant, dazu hast du keinen Grund mehr.«

»Aber jetzt ist der halbe Koffer voll und du willst doch bestimmt auch noch ein paar Klamotten mitnehmen«, entgegnete Mara lahm.

»Nicht nur das«, antwortete Mama und legte wie zur Bestätigung auch noch ein Päckchen Räucherstäbchen, den dazugehörigen Aschefänger, zwei Kerzen und eine Kristallpyramide dazu. »Wir fahren schließlich nicht in den Badeurlaub, sondern auf ein Seminar.«

»Wär’ aber vielleicht auch mal ganz nett«, murmelte Mara zurück und verließ das Wohnzimmer, bevor es vielleicht noch zum Streit kam. Nicht dass sie sich nachher noch im Auto vor Professor Weissinger angifteten.

Der Professor stand wie verabredet um Punkt acht Uhr mit seinem Kombi vor ihrer Haustür. Für ihn war die ganze Sache dann doch etwas sehr kurzfristig gewesen, aber er hatte den Stapel mit den zu korrigierenden Arbeiten seiner Studenten einfach eingepackt.

Sein Auto war nichts anderes als die natürliche Verlängerung seines Büros in der Uni. Nur, dass hier noch nie die Putzfrau das Schloss aufgebrochen hatte, um wenigstens einmal in zwei Jahren durchzusaugen.

Der Professor nahm die Blicke mit Humor. »Guten Morgen allerseits. Ja, das ist mein Wagen und er ist für mich nichts anderes als ein Transportmittel. Wenn der Berg auf der Rückbank so hoch ist, dass der Kram beim Bremsen nach vorn zwischen die Pedale fällt, schmeiß ich ihn weg.«

Er öffnete den Kofferraum und stoppte routiniert einen labbrigen Pappkarton, bevor der sich auf die Straße entleeren konnte.

»Brauch mal eine neue Schachtel, die fällt schon auseinander«, brummelte er und benützte Maras kleinen Koffer, um den Karton zu stabilisieren. Dann griff er zu Mamas Koffer, versuchte, ihn zu heben, und stutzte. »Hoppla, Frau Lorbeer, was haben wir denn da eingepackt? Die Steinsammlung aus dem Wohnzimmerregal?«

Mama antwortete einfach nur: »Ja.«

Der Professor runzelte kurz die Stirn, wuchtete aber dann das Koffermonster mit einem unterdrückten Grunzer in den Kofferraum.

»Wer ist eigentlich der Nasenbär da am Erdgeschossfenster, der uns schon die ganze Zeit so interessiert zuschaut?«, fragte er dann und deutete mit dem Daumen über die Schulter.

Mara drehte sich um und sah hinter der Gardine das argwöhnische Gesicht von Nachbar Dahnberger verschwinden.

Fast schade, dass der so schnell von allein wieder aufgewacht ist, dachte Mara. Wüsste auch gerne, wie ich ihn überhaupt hab einschlafen lassen, dann würde ich das jetzt glatt noch mal machen.

»Das ist Nachbar Dahnberger«, erklärte Mama. »Ich glaube, er versucht, seine innere Leere zu füllen mit dem Leben anderer Menschen.«

Wow, Mama, das war echt cool gesagt, dachte Mara und fragte sich, warum sie das jetzt nicht laut ausgesprochen hatte.

»Ha, schön formuliert, Frau Lorbeer«, übernahm stattdessen der Professor das Lob. »Ach, ist das nicht sogar der, der euch dauernd hinterherspioniert, Mara?«

Mara nickte und auch Mama verdrehte die Augen. Der Professor nickte nur zurück, setzte dann sein freundlichstes Lächeln auf, stapfte ans Fenster und klopfte. Ununterbrochen, ziemlich heftig und auch ziemlich schnell. Was hatte er vor?

Es dauerte einen Moment, bis Herr Dahnberger sich zeigte und irgendetwas empört grummelte. Doch Professor Weissinger klopfte weiter. Dabei lächelte er weiterhin liebenswürdig in Herrn Dahnbergers Wohnung hinein, als würde er ihn gar nicht sehen.

Schließlich sah ihr Nachbar ein, dass der bärtige Mann mit dem Müllwagen nicht aufhören würde zu klopfen, bis er das Fenster öffnete. Also schimpfte er noch einmal irgendwas und machte schließlich das Fenster auf. »Was soll denn das, sind Sie verrückt, hier in aller Früh an mein Fenst…«

»Guten Morgen, Herr Dahnberger«, unterbrach ihn der Professor in einem so höflichen Tonfall, dass man ihm unmöglich böse sein konnte. »Ich wollte mich nur stellvertretend für Familie Lorbeer bei Ihnen abmelden, wenn es recht ist. Unsere Abfahrtzeit ist 8.11 Uhr, wir haben also elf Minuten Verspätung. Aber machen Sie sich keine Sorgen, das holen wir hoffentlich unterwegs wieder rein. Ach, und bitte vermerken Sie doch auch in Ihrem Überwachungsprotokoll, dass wir gedenken, in vier Tagen um 18.02 Uhr wieder hier zu landen. Sollten wir das wider Erwarten nicht genau einhalten, entschuldige ich mich schon einmal für die Unannehmlichkeiten und übernehme gerne die Kosten für zusätzliche Arbeitszeit und entsprechende Abnutzung des Radiergummis.«

»W… wovon … was …«, stotterte Herr Dahnberger, und der Professor unterbach ihn sofort wieder: »Fein, Sie wissen also Bescheid. Vielen herzlichen Dank für Ihre Bemühungen und ich hoffe, dass Sie in unserer Abwesenheit weiterhin alles dokumentieren, was in, vor und hinter diesem Haus vor sich geht. Irgendeiner muss es ja tun, denn wo kämen wir denn da hin, wenn jeder leben würde, wie er gerade will, nicht wahr?«

»Ja, das … nein, ich meine …«, blubberte der Nachbar.

»Na, das meine ich aber doch auch«, nickte Professor Weissinger freundlich, hörte dann aber so schlagartig auf zu grinsen, dass Herr Dahnberger zusammenzuckte, und drehte sich einfach weg.

Der Nachbar machte ein Gesicht wie eine halb offene Schublade, als ihn der Professor da im Feinrippunterhemd am offenen Fenster stehen ließ.

Mara und ihre Mutter lachten noch, als sie schon auf der Autobahn Richtung Starnberg waren.

Der Professor hörte im Auto keinen Popsender, sondern einen, der ausschließlich Klassik spielte. Der Sender zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass nach jedem Musiktitel eine weibliche Stimme hauchte, dass man »bitte entspannt« bleiben solle.

Okay, noch ein-, zweimal und ich bin wirklich entspannt, dachte Mara. Aber noch vierzigmal und ich drehe durch.

Gerade war ein Stück mit jeder Menge Geigen zu hören, das man ihnen kurz davor als den Winter der vier Jahreszeiten von Vivaldi angekündigt hatte. Es war mitreißend, aufwühlend und dadurch in etwa so entspannend wie eine kalte Dusche mit Ohrfeigen-Massage.

»Auch wenn es jetzt dafür ein bisschen zu spät ist: Was ist das denn jetzt eigentlich genau, wo ihr beiden mich hinschleppt?«, rief der Professor durch die Geigen, als sie bei der Ausfahrt Starnberg die Autobahn verließen. Er richtete die Frage an beide, aber natürlich war sie eigentlich an Maras Mutter gerichtet.

Die antwortete auch gleich mit einer Gegenfrage. »Haben Sie denn das Infoblatt nicht gelesen?«

»Doch, doch, aber nicht verstanden«, entschuldigte sich Professor Weissinger ohne einen Funken Ironie. »Wer ist denn eigentlich dieser Dr. Riese?«

Mama runzelte die Stirn: »Dr. Riese? Sein Name ist Thurisaz.«

»Ach so, Entschuldigung«, sagte der Professor und drehte das Radio leiser. »Thurisaz ist der Name der Rune TH im Urnordischen und entspricht lautlich dem altnordischen Wort ›Thurs‹ für ›Riese‹.«

Mara sah ihre Mutter an. Diese hing an den Lippen des Professors – und das, obwohl man die unter dem Bart nur vermuten konnte.

»Tatsächlich? Also das ist ja wirklich interessant«, sagte sie. »Wir haben im Wicca-Café auch einmal das Runenwerfen praktiziert, aber ohne fachliche Anleitung. Vielleicht wollen Sie ja beim nächsten Mal dazukommen?«

Der Professor winkte lachend ab. »Ach, Frau Lorbeer, ich glaube, das wollen Sie nicht wirklich. Mit mir macht so etwas keinen Spaß. Ich lese aus jedem Wurf nur die Information ›zufällige, sinnlose Anordnung‹ und ich glaube, Sie und Ihre Freundinnen erhoffen sich da was ganz anderes.«

Und Mara war völlig baff, als Mama nicht den Mund zu der bekannten missbilligenden Spitze zusammenzog, sondern ganz im Gegenteil laut loslachte. »Ja, Herr Weissinger, da könnten Sie recht haben. Da erhoffen wir uns wirklich ganz was anderes.«

So langsam entwickelte sich das Verhältnis zwischen Mama und dem Professor in eine Richtung, die Mara ebenso recht wie unrecht war.

Wie schön, dass es jetzt auch hier komplizierter wird, dachte Mara. Bin mal gespannt, was uns jetzt bei diesem Seminar vom Doktor Runenriese erwartet …

Da wurde sie vom Radio aus ihren Gedanken gerissen. Denn gerade hatten die Nachrichten begonnen und ein Politiker war zu hören: »Wir werden dieses Anliegen wohlwollend prüfen, aber bitte haben Sie Verständnis, dass diese Prüfung eingehend zu sein hat und darum etwas mehr Zeit in Anspruch nimmt.«

Mara beschloss, sich diesen Satz zu merken, wenn Mama wieder einmal verlangte, dass sie ihr mit der Wäsche half.

Unter anderen Umständen wäre das Forsthaus im Mühlthal sicher ein idyllischer Ausflugsort gewesen. Aber nun sah Mara der Ankunft dort mit gemischten Gefühlen entgegen. Mal ganz abgesehen von dem Vers des Feuerbringers, war ihr auch diese Rückführungsgeschichte nicht ganz geheuer. Sie wollte sich schließlich weder rück- noch vor- oder sonst wohin führen lassen, sondern nur herausfinden, was hinter dem Vers steckte. Und am besten, ohne dass dieser Dr. Thurisaz Verdacht schöpfte.

Das Forsthaus war nicht etwa eine kleine Holzhütte, wie der Name vielleicht vermuten ließ. Vielmehr war es als sogenannter Jagdsitz der Wittelsbacher im Jahr 1894 erbaut worden. Hier in der Gegend hatte sich also die Königsfamilie von einem Heer aus Treibern die Tiere des Waldes vor die Flinten hetzen lassen, um sie dann des Abends im Forsthaus gemeinsam zu verspeisen. Puh. Mara war zwar keine Vegetarierin, aber ein bisschen mulmig wurde ihr schon bei dem Gedanken. Dafür entschädigte allerdings der Anblick des romantisch anmutenden Hauses mit seinen efeuumrankten Fenstern und dem gemütlichen Biergarten unter den alten Kastanienbäumen.

Das Gebäude schmiegte sich mit seiner rechten Seite so nah an einen steilen Berghang, dass man fast das Gefühl hatte, das Haus würde Schutz suchen. Oder den Berg stützen.

Zwei rauchende Schornsteine ließen auf brennendes Kaminholz schließen und aus den Fenstern schimmerte warmes Licht.

Vielleicht wird’s ja doch sogar ganz nett, dachte Mara, als sie ihren Koffer vom Rücksitz zerrte und versuchte, die dort ebenfalls gestapelten Aktenordner nicht auf dem Parkplatz zu verteilen.

Am Eingang zum Forsthaus wurde Mama bereits herzlich begrüßt von ihrer besten Freundin bei den Wiccas von der Au: Walburga.

»Christa! Ist es hier nicht ganz zauberhaft?«, flötete sie und hopste dabei freudig auf und ab.

Walburga war wirklich und wahrhaftig Mamas dickste Freundin, denn sie war eher breit als hoch und hatte in etwa die Form von zwei aufeinandergedötschten Eiskugeln. Mit Beinen.

Trotzdem war Walburga erstaunlich quirlig und beweglich.

»Die heißt doch nicht wirklich Walburga, oder?«, zischte der Professor Mara zu, aber Mara zuckte nur mit den Schultern. Ob sie nun wirklich so hieß oder sich den Namen selbst gegeben hatte, machte kaum einen Unterschied: Auf jeden Fall passte er perfekt.

Mama und Walburga schwatzten sofort aufeinander ein und ihre Stimmen verschmolzen zu etwas, das so ähnlich klang wie »Bagawaggawagga…« Na ja, Hauptsache, die beiden verstanden, was sie sich gegenseitig erzählten.

Mara trottete über den Parkplatz auf sie zu und ließ die Umgebung auf sich wirken. Überrascht blieb sie plötzlich stehen, kniff die Augen zusammen und griff sich mit Zeigefinger und Daumen an den Nasenrücken. Aua! Was ist das denn? Au!

»Stimmt was nicht?«, raunte ihr der Professor zu.

»Ja, nein, ich weiß nicht …«, flüsterte Mara mit zugekniffenen Augen.

»Was Gutes oder was Schlechtes und will es, dass du kommst oder dass du wegbleibst?«, fragte der Professor in sachlichem Tonfall. Er hatte mit Mara schon zu viel erlebt, um ihre Empfindungen als Einbildung abzutun.

»Ich weiß gar nicht, ob es ein Es ist oder mehrere Esse. Es fühlt sich an, als würde mich der ganze Berg anbrüllen, aber ich verstehe ihn nicht. Er schreit nämlich … mit Licht«, presste Mara hervor.

Ja, genau das war es: Sie spürte eine gebündelte Energie von so reiner Kraft, dass sie ihr wie ein grellweißes Leuchten vorkam.

»Mara!«, stieß der Professor hervor, als sie den Koffer fallen ließ.

Ein paar Meter weiter drehte sich Mama erschrocken um. Mara widerstand dem sinnlosen Versuch, sich mit den Händen vor dem Licht zu schützen, und fuhr stattdessen ihre mentale Schutzmauer hoch. Während der langen Jahre als Tagträumerin hatte sie sich diese Antitraumblockade mühsam aufgebaut und diese leistete ihr nun gute Dienste: Tatsächlich verblasste das Licht ziemlich schnell zu einem kaum wahrnehmbaren Funkeln irgendwo am gegenüberliegenden Berghang.

Geblendet wie nach einem Fotoblitz, griff Mara tastend nach unten, bekam den Griff des Koffers zu fassen und richtete sich dann mit einem halb gefrorenen Lächeln wieder auf.

»Hoppla«, rief sie etwas zu laut und zu fröhlich, um auch nur ansatzweise den Eindruck zu erwecken, dass wirklich alles in allerbester Ordnung war.

Als sie dabei ihren Blick wieder auf das Forsthaus richtete und einen tapsigen Schritt nach vorn machte, war auch das Funkeln verschwunden und Mara konnte versuchen, ihre Sinne wieder zusammenzukehren.

»Okay, schräg unterhalb vom linken Berghang da drüben steht wohl ein Leuchtturm und leuchtet mir direkt ins Hirn«, flüsterte sie dem Professor zu. »Was ist das denn hier für ein Ort, verdammt?«

»Ich hatte kaum Zeit, mich eingehend mit dem Mühlthal zu beschäftigen«, antwortete Professor Weissinger entschuldigend. »Aber was ich weiß, ist, dass …«

Da unterbrach ihn Mama mit einem lauten »Huhu!« und winkte. Sie sollten wohl endlich Walburga begrüßen, anstatt weiter auf dem Parkplatz herumzustehen.

Gleichzeitig schalteten der Professor und Mara die Gesichtsmechanik auf »nett« und kamen folgsam näher.

»Erzähle ich dir gleich«, raunte Professor Weissinger Mara noch zu und da standen sie auch schon vor Walburga, die ihm interessiert von unten in den Bart starrte.

»Hallo«, sagte Mara einsilbig und der Professor streckte seine Hand aus. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Reinhold Weissinger mein Name.«

»Oh, Rein-Hold, der Reine, der Saubere, und dazu noch hold, wie schön! Ich bin beeindruckt«, flötete Walburga.

»Walburga interessiert sich sehr für die Herkunft von Namen«, erklärte Maras Mutter stolz.

»Ah, wie interessant. Welche Quellen nutzen Sie denn zumeist für Ihre Recherchen?«, fragte der Professor höflich.

»Die Erde selbst natürlich. Ich spüre durch mich hindurch in den Boden und Nerthus gibt mir die Antworten.«

»Ein ungewöhnlicher Ansatz zur wissenschaftlichen Wissensgewinnung«, murmelte der Professor und rang sich so etwas wie ein Lächeln ab.

»Ja, das höre ich oft«, lachte Walburga. »Ich kam darauf, als ich die Erdmutter um einen Namen bat. Sie taufte mich Walburga, denn es bedeutet Die Erwählte ihres Hauses. Wal wie Wahl und burg wie Haus plus das weibliche a am Ende, verstehen Sie?«, erklärte Walburga und Maras Mutter nickte wissend.

»Ich habe jedes Wort verstanden, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich alles verstanden habe«, brummte der Professor.

»Ach, macht nichts, das bin ich gewöhnt. Ich erkläre es Ihnen gerne jederzeit noch einmal in aller Ruhe, wenn Sie wollen«, flötete Walburga.

Mara konnte ein Grinsen gerade noch unterdrücken, als sie sah, wie sich Mamas Gesicht zu einer Zitrone formte.

»Alsowirbeziehenjetztmalunsere Zimmer«, sagte Mama etwas zu schnell und zog damit den Professor Richtung Tür. »Wir sehen uns ja später. Bis dann.«

»Ich freue mich!«, zwitscherte Walburga ihnen hinterher und Mara musste hinter ihr vorbeigehen, um ihr Grinsen zu verstecken.

Na, das kann ja noch was werden, dachte Mara, als sie kurze Zeit später mit dem Zimmerschlüssel in der Tasche ihren Koffer die schmalen Treppen hinaufwuchtete.

Mama hatte Mara sogar ein eigenes Zimmer gebucht, denn sie wollte bei ihrer morgendlichen, mittäglichen und abendlichen Meditation nicht gestört werden.

In einem richtigen Urlaub wäre Mara natürlich enttäuscht gewesen, dass Mama sich keine Zeit für sie nahm. Aber in diesem Fall war ihr das ausnahmsweise sehr recht. Sie war auch ganz froh, dass ihr Zimmer nicht im gleichen Stockwerk lag wie das von Mama. Zufrieden stellte sie außerdem fest, dass das Zimmer des Professors ebenfalls nicht in Mamas Gang lag. Um zu ihr zu gelangen, musste er sogar an Maras Zimmer vorbei und das würde sie natürlich hören und … ja, was eigentlich … Egal. Hauptsache, Mara hatte ein Auge darauf. Auf was auch immer. Nicht dass hier noch irgendwer irgendwas Dings. Aber echt.

Die Zimmer waren nicht luxuriös, aber sehr geschmackvoll eingerichtet, mit viel dunklem Holz und einem bequem aussehenden Bett. Mara fiel sofort die Nachttischlampe auf, die kleine Löcher in Form von Sternen im Lampenschirm hatte. Wenn man sie anschaltete, warf das Licht ein hübsches Sternchenmuster an die Wand. Direkt neben dem Eingang befand sich die Tür zu einem kleinen Badezimmer mit Dusche. Dort hängte Mara erst mal ihren Bademantel auf, den sie extra noch mit in den Koffer gequetscht hatte. Mara fand abtrocknen nämlich doof und umständlich. Es war doch viel praktischer, in einen Bademantel zu schlüpfen, der dann das Wasser einfach wegsaugte, während man es schön warm hatte. Dazu konnte man noch die Kapuze aufsetzen, die Haare wurden auch gleich trocken und machten nicht überall Wasserflecken, auf denen man dann ausrutschte.

Da klopfte es auch schon leise an der Tür und Mara ließ den Professor herein.

»Wo hast du mich da bloß hingeschleppt, Mara Lorbeer aus der Au«, seufzte er, ließ sich auf der Bettkante nieder und stützte den Kopf auf die Hände.

»Was denn? Ist doch ganz hübsch, das Hotel«, entgegnete Mara amüsiert, da sie natürlich genau wusste, worum es Professor Weissinger ging.

»Hast du gehört, was diese Walburga aus meinem Namen gemacht hat? Reinhold, der Reine, Saubere? Ist das zu fassen!«

»Passt auf jeden Fall weder zu Ihrem Auto noch zu Ihrem Büro.« Mara grinste.

»Wie könnte es auch, ist ja auch völlig falsch!«, ereiferte sich der Professor. »Der Name stammt ab von regin wie ›herrschen‹ und nicht von rein wie ›porentief reine Waschkraft‹, also wirklich. Und nicht mal ihren eigenen Namen hat sie richtig gedeutet! Die Silbe Wal geht auf Wala wie germanisch ›tot‹ zurück und hat nun wahrlich nichts zu tun mit erwählt sein! Also, diese verquere Quadratgranate stellt doch hoffentlich den Gipfel der Verschwurbeltheit dar, oder?«

Mara wusste, dass ihm die Antwort nicht gefallen würde, also sagte sie lieber erst mal nichts. Doch das war dem Professor Antwort genug. Er schlug sich die Hände vors Gesicht und ließ sich stöhnend rückwärts aufs Bett fallen. »Womit hab ich das verdient«, nuschelte er durch seine Finger und dann war es für einen Moment still.

»Ich bin echt froh, dass Sie da sind«, sagte Mara leise.

Der Professor rappelte sich wieder auf und sah Mara an. »Ist schon gut, entschuldige das Gejammer eines mittelalten Mannes. Es gibt ja wahrlich Schlimmeres. Auch wenn mir im Moment kein Beispiel einfällt.«

Mara nickte. »Lindwürmer, Feuerbringer, Ende der Welt …«

»Ja, das – und die Klausuren meiner Studis, die da drüben in einem Pappkarton noch auf mich warten. Aber du hast recht, lass uns endlich zum eigentlichen Thema kommen.«

Professor Weissinger stand auf und begann nun, in dem kleinen Zimmer auf und ab zu wandern. Dabei fasste er zusammen, was er über diesen Ort wusste. »Schon mal von Karl dem Großen gehört? Im Moment genügt erst einmal, dass er ein bedeutender Kaiser war, der in etwa im 8. Jahrhundert nach Christus gewirkt hat. Er war so bedeutend, dass der Name Karl in manchen slawischen Sprachen sogar zum Wort für ›König‹ wurde: Russisch korol, Polnisch król, král auf Tschechisch und so weiter. Man weiß leider nicht genau, wo und wann er geboren wurde. Aber es gibt da eine Sage, die seine Geburt hier ins Mühlthal verortet. Wahlweise da oben auf den Berg, wo man heute noch Reste einer uralten Burg finden kann, oder in einer Mühle etwas weiter die Straße runter. Beides leider in der Realität höchst unwahrscheinlich.«

»Aber was will denn bitte der Rest einer alten Burg von mir?«, fragte Mara und sofort stieg in ihr wieder das Gefühl der Hilflosigkeit auf, wie sie es in den letzten Tagen so oft gespürt hatte.

»Vermutlich nix. Denn dieses Leuchten, das du beschrieben hast, kam ja nun von der anderen Seite des Tals«, seufzte Professor Weissinger. »Und ich habe wirklich keinen Schimmer, was dir da wie ein Nebelscheinwerfer in den Kopf leuchten könnte. Tut mir leid. Was machst du denn da?«

Mara war in ihre Jacke geschlüpft. »Na, was mach ich wohl? Ich geh da jetzt hin und schau nach! Ich weiß nämlich jetzt schon, dass ich heute Nacht nicht schlafen kann. Erstens, weil ich wissen will, was hier los ist und zweitens, weil ich das sicher nicht abblocken kann, wenn ich müde bin. Kommen Sie mit?«

»Äh, jaja, natürlich. Aber wie viel Zeit haben wir denn noch? Wann beginnt denn dieses wahnwitzige Seminar?« Der Professor blätterte in den Infozetteln.

»In dreieinhalb Stunden und vier Minuten, wenn die Uhr da stimmt«, antwortete Mara und deutete auf den Digitalwecker auf dem Nachttisch. »Genug Zeit für einen Spaziergang. Und mit dem Leuchtturm fangen wir an.«

Kapitel 4

Sie wollten gerade die Straße überqueren, als Mara den Professor packte und mit einem Aufschrei zur Seite stieß. Im selben Moment raste ein dunkler Sportwagen mit hohem Tempo an ihnen vorbei und bremste so scharf auf dem kleinen Parkplatz, dass sich das Auto ein Stück weit um die eigene Achse drehte. Mara und der Professor hoben die Hände, um sich vor den spritzenden Kieselsteinen zu schützen.

Der Professor wollte gerade losschimpfen, als der Fahrer auch schon ausgestiegen war. Das einzig Auffällige an ihm war seine Unauffälligkeit. Der Mann war durchschnittlich groß, eher schlank, dunkelhaarig und trug Jeans mit einem dezent gestreiften Hemd über der Hose. Doch dann begann er zu sprechen und Mara war sofort klar, dass er alles andere als gewöhnlich war.

»Oh, bitte verzeihen Sie untertänigst dieses Fernsehkrimi-Bremsmanöver, aber es geht hier nach der Kurve direkt auf den Parkplatz und ich war in etwa so erschrocken wie Sie. Ihnen ist doch nichts passiert, nehme ich an?«

Schöne Stimme, dachte Mara. Und irgendwie will ich ihm gar nicht böse sein. Komisch, damit hab ich sonst nie Probleme …

Professor Weissinger schien allerdings weniger besänftigt und winkte mürrisch ab. »Alles in Ordnung, danke der Nachfrage. Aber vielleicht beachten Sie beim nächsten Mal einfach die Geschwindigkeitsbegrenzung, denn wer langsamer fährt, muss auch weniger scharf bremsen.«

»Ein guter Tipp, verblüffend in seiner Einfachheit.« Der Mann lächelte charmant über das Dach seines Autos herüber. »Aber bitte haben Sie doch ein wenig Verständnis. Dieser Wagen verführt einfach zum Rasen.« Er seufzte bewusst theatralisch und lächelte.

Erschrocken bemerkte Mara, dass sie zurücklächelte.

»Nein, dafür habe ich kein Verständnis«, antwortete Professor Weissinger. »Das Einzige, was mein Auto mit Rasen gemeinsam hat, ist die Geschwindigkeit eines ebensolchen Mähers und ich bin trotzdem immer pünktlich. Guten Tag.«

Damit drehte er sich weg und erwartete wohl, dass Mara ihm folgen würde. Das wollte sie eigentlich auch, aber etwas hielt sie davon ab. Während der Mann sich achselzuckend abwendete, um nun zwei große Taschen vom engen Rücksitz des Sportwagens zu fischen, musterte Mara das Auto genauer. Warum hatte sie das seltsame Gefühl, von dort angestarrt zu werden? Ganz offensichtlich war der Mann allein gekommen. Der Beifahrersitz war leer. Und doch … Fast war sie versucht, ihre Barriere fallen zu lassen, um mit dem Sinn einer Spákona das Auto abzusuchen. Sie entschied sich dagegen, denn schließlich wollte sie nicht vor dem Typen hier auf dem Parkplatz zusammenklappen wie vorhin.

»Mara?«, rief der Professor von der anderen Straßenseite herüber. »Wer wollte denn jetzt spazieren gehen?«

Widerwillig wendete sich Mara von dem Auto ab und folgte dem Professor über die Straße. Komisch …

»Haben Sie in dem Auto noch jemanden gesehen?«, fragte Mara, als sie den Professor eingeholt hatte.

Dieser schüttelte den Kopf. »Nein, da war niemand drin außer einem viel zu großen Motor und einem ebensolchen Ego. Wo geht’s denn lang, Fräulein Seherin?«