Maralenas Art zu lieben - Gertrud Zelinsky - E-Book

Maralenas Art zu lieben E-Book

Gertrud Zelinsky

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Maralena Achstetter wird kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges im erzkonservativen, katholischen Oberschwaben geboren. Während die Gleichaltrigen in die Tradition hineinwachsen und sich mit ihr identifizieren, beginnt sie zu rebellieren und flieht aus dem strengen Elternhaus in eine frühe Ehe. Doch bald erkennt sie deren Grenzen: Sie leidet trotz der materiellen Annehmlichkeiten unter ihren Pflichten als Ehefrau und Mutter, sie leidet an der Enge, sie leidet an den verkrusteten gesellschaftlichen Strukturen, denen sie sich nicht entziehen kann. Eines Tages verfällt Maralena dem vermeintlich Richtigen. Sie gibt sich dieser Liebe ganz und gar hin und beginnt eine Affäre. Endlich scheint sie in ihrem Leben angekommen zu sein. Doch das Schicksal meint es anders. Maralena sinnt auf Rache …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 374

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gertrud Zelinsky

Maralenas Art

zu lieben

Roman

LangenMüller

Meinen Eltern

www.langen-mueller-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook: 2013 LangenMüller in der

F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten.

Schutzumschlag: Wolfgang Heinzel

Satz: H. Herrmann

ISBN 978-3-7844-8161-6

Homepage der Autorin:

www.Gertrud-Zelinsky.de

1

Die Sonne stand am südöstlichen Himmel. Belanglose Wolken zogen vorbei. Kurze Schatten verfolgten hartnäckig das Original. Obwohl früh im Jahr, war es warm.

Maralena Grünland blieb im Hintergrund. Sie lehnte an einer Birke. Eulenspiegel, ihr staubfarbener Rauhhaarmischling, kauerte daneben. Ein anderer Hund heulte irgendwo in Richtung der Bauernhöfe. Er heulte immer, wenn das Totenglöcklein rief.

Die Glocke durchdrang monoton und mahnend die Luft, die unbewegt über den Gräbern stand. Mit Bedacht setzte der Pfarrer einen Fuß vor den anderen in den knirschenden Kies.

Zwei junge Burschen in Ministrantenkleidung trugen ein hohes, schmales Kruzifix und ein Rauchfass voraus. Ein Fichtenholzsarg ruhte auf dem schwarzlackierten Wagen. An manchen Stellen war die Farbe abgesplittert. Der Karren, der wie eine Lafette holpernd dahinrollte, wurde von sechs Männern vorwärts bewegt. Diesen Männern war die Bedeutung ihrer Aufgabe ins Gesicht geschrieben. Sie schauten mit wichtigen Mienen auf den Sarg, dessen Deckel ein Bukett aus roten und weißen Rosen schmückte.

Maralena bekam eine Gänsehaut. Mit ausdruckslosen Augen starrte sie zu den Gestalten. Dicht hinter dem Wagen ging eine zierliche Frau, sie trug einen weißen Kaftan, der bis zur Erde reichte. Schuhe waren nicht zu sehen. Ein Schleier, in derselben Farbe wie der Kaftan, bedeckte ihr Gesicht. Ihr folgte die kleine Gemeinde stiller Menschen. Drei Männer, in Mausgrau gewandet, bildeten den Schluss des Trauerzugs. Sie hielten Blasinstrumente bereit und warteten auf ihren Einsatz.

Der Priester und die Ministranten führten die Trauernden zu einem rechteckigen Erdloch, das den gemähten Rasen durchschnitt. Dem Rechen entkommene Grashalme lagen verstreut auf dem Weg und blieben trocken wie Heu an den Schuhsohlen hängen. Jetzt versammelten sich die Schweigenden um das offene Grab. Die kleine Frau stand bei dem Erdhaufen, der daneben aufgeschüttet war und der später den Sarg zudecken würde.

Die sechs Männer hoben den Sarg vom Wagen und überließen ihn an dicken Stricken gleitend der Ungewissheit. Maralena senkte die Lider. Als sie wieder aufschaute, war er verschwunden. Die Männer zogen die Stricke aus der Grube und warfen sie achtlos hinter den benachbarten Grabstein.

Ein alter Mann ging gebeugt an Maralena vorbei. Mit der rechten Hand stützte er sich auf einen Stock, in der anderen Hand hielt er einen Strauß, von einer Blumenbinderin zusammengesuchte Blumen: »Ist es so recht?« Der alte Mann musste gleich genickt haben; offenbar war ihm alles recht. In der Nähe der Birke und von Maralena blieb er stehen. Er nahm seine Mütze ab. Der aufgeschüttete Hügel war überdeckt mit kaum verwelkten Blütenkränzen und Blumengestecken. Maralena wurde durch den Mann abgelenkt, der, wie sie vermutete, am Grab seiner Frau stand.

›Welcher Mann wird einmal an meinem Grab stehen? Der arme Alte. Vielleicht hätte er noch viel gutzumachen gehabt. Am Grab stellt er fest, dass es noch viele Fragen, aber keine Antworten mehr geben wird.‹

Über dem Friedhof verhallten die Klänge der Totenglocke. Als sie verstummt waren, schwieg auch der andere Hund. Die drei Männer setzten ihre Instrumente an die Lippen und spielten eine Trauerweise.

Die zierliche Frau zuckte zusammen. Sie hielt zwei Rosen in der Hand, eine rote und eine weiße. Sie küsste die Rosen und überließ auch sie der Ungewissheit. Ihr Mund bewegte sich, die Arme streckte sie zum Himmel, als wolle sie eine Beschwörung ausrufen. In dieser Haltung verharrte sie zur Statue.

Aus dem linken breiten Ärmelaufschlag seines Rocks griff der Priester ein Stück Papier. Er faltete es auseinander, warf einen Blick darauf und begann zu sprechen. Ein paar Worte schlängelten sich zwischen den Grabsteinen hin bis zu Maralena: »Heute begleiten wir die sterbliche Hülle eines wunderbaren Menschen zu seiner letzten Ruhestätte. Er kam auf eine tragische Weise ums Leben. Gott allein weiß, warum er diesen Tod erleiden musste. Ohne Sinn. Unbegreiflich.«

Die kleine Frau sank jetzt in sich zusammen. Die Arme hielt sie noch immer über ihren Kopf.

Der Geistliche sprach davon, dass wohl nie jemand jemals erfahren würde, wie der Verstorbene wirklich zu Tode kam. Welche Umstände dafür verantwortlich waren, dass er sich gerade an jenem Ort aufhielt, wo er seinem Ende nicht entrinnen konnte. Ob er ahnungslos in eine Falle gelaufen sei? Und wer sie ihm gestellt haben könnte. Alle müssten diesen Tod respektieren. Rätselhaft, im Dunkel bleibe dieses Sterben verborgen.

Die Statue bewegte sich, sie musste von herbeieilenden Trauergästen gestützt werden. Ihre Arme konnte sie nicht länger ausgestreckt zum Himmel erheben, sie hatten aufgegeben und hingen kraftlos, wie nicht dazugehörend, links und rechts entlang den Seitennähten des Kaftans.

Der Pfarrer segnete die Grabstätte, machte einige Schritte zurück. Die Trauergemeinde konnte noch einmal am Sarg Abschied nehmen. Buchszweige lagen in einem Korb bereit, ein letzter Gruß in das offene Grab.

Noch bevor die feierliche Handlung zu Ende war, verließ Maralena den Friedhof. Sie ging die schmale Straße entlang, die stadtauswärts führte. Am Straßenrand wartete ein Auto. Die Wagentür wurde von innen geöffnet, Maralena stieg ein, Eulenspiegel sprang auf den Rücksitz, Till saß bereits erwartungsvoll im Wagen.

2

Ein ungewöhnlich belebter Marktplatz an jenem Samstagmorgen. Es roch nach Wochenende und von der Morgensonne angewärmter Frühlingsluft. Geschäftige Bauersleute stellten ihre Stände auf. Die ersten Blumen des Jahres wurden angeboten neben Gemüse und Obst, das, fachgerecht überwintert, noch immer großes Interesse fand. Eier lagen in Körben. Selbstgebrannter Schnaps und hausgeschlachtetes Geflügel erfreuten die Kauflustigen.

Das hübsche Rathaus mit seinem kunstvoll bemalten Fachwerk und den kalkweißen Wänden bildete den Mittelpunkt des Städtchens. Von den Häusern, die wie zufällig daneben oder davor oder dahinter standen, führten geteerte Wege marktauswärts. Diese kleinen Straßen waren gesäumt von nur sparsam aufwendig gestalteten, aber schmucken Einfamilienhäusern, deren Fassaden mit ihrem wie mit dem Wasserschlauch abgespritzten Verputz freundlich und sauber wirkten. Vereinzelt sah man Frauen beflissen die Straße fegen, sie hatten ihren Marktbesuch bereits hinter sich. Wichtig war, dass sie bei ihrer Arbeit gesehen wurden. Sollte doch keiner denken, sie hätten schon am Samstagmorgen die Arbeit eingestellt und sich dem Wochenende mit Nichtstun gewidmet.

Nicht nur die grünen Klappläden und die drei Stufen, die zu den Eingangstüren führten, mussten blitzsauber sein. Die reinlich gewaschenen schneeweißen Gardinen, die peinlich genau auch den letzten Winkel der Fensterscheiben, die nie schmutzig zu werden schienen, abdeckten, blieben zugezogen. Sie schützten die Bewohner vor neugierigen Blicken. Was sich innerhalb der eigenen vier Wände zutrug, durfte nicht nach außen dringen. Der Schein musste gewahrt bleiben. Wie es allerdings hinter den Gardinen anderer Leute zuging, war in höchstem Maße interessant und durfte mit allen Tricks ausgekundschaftet werden.

Die Gardinen wurden nur zurückgezogen oder abgenommen, wenn Großputz veranstaltet wurde oder dem kritischen Blick ein leichter Grauschimmer über der Milchfarbe nicht entgangen war.

Vier Hausdächer weiter, in Richtung der Kuhweiden, stand eine Kirche, deren Zwiebelturm weit in die gemütliche oberschwäbische Landschaft hinaus zu sehen war. Der Friedhof schmiegte sich unauffällig um das Gotteshaus. Er war von einer hohen Mauer umgeben, der Lärm wurde von den Steinen geschluckt, die Toten hatten ihre Ruhe. Wer sich allerdings die Mühe machte und den Friedhof besuchte, konnte gepflegte Gräber bewundern. Wie auf dem Reißbrett entworfene Pflanzungen machten auf sich aufmerksam. Dem teilnahmslosen Betrachter drängte sich der Eindruck auf, als wollten sich die Überlebenden in der sichtbar gemachten Trauer auf diese Art und Weise übertrumpfen. Die sterile Atmosphäre dieses Gottesackers mochte einem fast das Sterben verleiden.

Einen Steinwurf entfernt, hinter dem schmiedeeisernen Tor, das in den Friedhof führte, aber nicht immer wieder heraus, wohnte der beleibte Pfarrer, Hochwürden Unbehauen. Er war mit jedem seiner Schäflein vertraut, kannte sich aus mit der Schlitzohrigkeit der Schwaben. Er scheute sich nicht, vermeintliche Missetäter persönlich von der Kanzel herunter anzusprechen und ihnen die Leviten zu lesen. Er gehörte neben Dr. Krumm, dem Arzt für alle Fälle, Dr. Achstetter, dem Zahndoktor, der die Nachfolge der Barbiere angetreten hatte und vorzugsweise seine Patienten nur zu Gesicht bekam, wenn Zähne gezogen werden mussten, sowie den Lehrern zu den hochangesehenen Herrschaften der kleinen Stadt. Der Bürgermeister, Herr Kübelbrot, erfreute sich ebenfalls einer gewissen Hochachtung von Seiten seiner Bürger und wurde, was die Wichtigkeit der Persönlichkeiten anging, im gleichen Atemzug genannt mit Hochwürden Unbehauen, dem Arzt Dr. Krumm, dem Zahnarzt Dr. Achstetter, den Lehrern der Volksschule, Herrn Pechschwarz und Herrn Sauerbier. Und den Pädagogen des Gymnasiums. Auf dieses Gymnasium war Bürgermeister Kübelbrot besonders stolz, und er meinte, dass alle Kinder seiner Gemeinde dort zur Schule gehen müssten.

Polizeiwachtmeister Langsam gehörte ebenfalls zum vertrauten Stadtbild. Sein Fahrrad und er bildeten eine Einheit. Zu Fuß unterwegs sahen ihn die Leute nur, wenn er außer Dienst war. Das war selten – er war eine wichtige Person.

Am Rand des Städtchens, gleich da, wo die Straße zur nächsten Ortschaft begann, stand in einem großzügig wilden Garten das Haus der Achstetters, der Familie des Zahnarztes. Der Nachbar, Dr. Krumm, lebte als früher Witwer ein bescheidenes Leben. Er hatte einen Garten, den er aber nicht nutzte. Niemand sah ihn unter den knorrigen Bäumen sitzen, das hochgewachsene Gras mähen oder gar ein Beet anlegen. Er besuchte lieber den Markt, um seinen Bedarf an Obst und Gemüse zu decken. Geflügel oder Fleisch kaufte er nie, er lebte einer neuen Gesundheitswelle, die den Verzehr von Fleisch als ungesund propagierte. Die Herren Lehrer Pechschwarz und Sauerbier kamen vom benachbarten Dorf. Sie wollten nicht mit ihren Familien da wohnen, wo sie unterrichteten. Bürgermeister Kübelbrot hatte eine Dienstwohnung im zweiten Stock des Rathauses. Frau Bürgermeister, von den Bewohnern der Stadt ehrerbietig so genannt, liebte es, über die Dächer ihrer Untertanen zu blicken, und war nicht dazu zu bewegen auszuziehen.

Es wurde viel geschwatzt und viel eingekauft. Wer die Mengen nicht unbedingt schleppen wollte, konnte sich vom Schulbus nach Hause bringen lassen. Diese Einrichtung war neu und wurde rege genutzt – auch wenn der Weg kurz war. Die Haltestelle, etwas unglücklich gewählt, da die Straße sehr eng war, bot vor dem Schulgebäude, das sich dem Rathaus direkt anschloss, den Marktbesuchern Gelegenheit, bequem nach Hause zu kommen.

An dieser Bushaltestelle wartete eine junge Frau. Vornübergebeugt, stützte sie mit beiden Händen den weit ausgewölbten Leib. Die vollen Einkaufstaschen hatte sie neben sich gestellt. Ihr Atem ging schwer. Sie hoffte, dass der Bus kommen und sie auf dem kürzesten Weg nach Hause bringen würde. Ihr Kind drängte auf die Welt. Seit ihr die Leibesfülle körperliche Beschwerden bereitete, nutzte sie die willkommene Gelegenheit, mit den schweren Taschen gefahren zu werden.

Als der Bus um die Ecke bog und direkt vor ihr haltmachte, war sie erleichtert. In diesem Augenblick beschloss sie, dass der Punkt, der »eheliche Pflichten« hieß, für sie aus dem Programm ihres Ehelebens gestrichen würde. Eine weitere Schwangerschaft käme nicht mehr in Frage. Verhütungsmittel, welcher Art auch immer, waren für die linientreue Katholikin kein Thema, das sie beschäftigte.

Nur mit Mühe trugen ihre Beine den schweren Körper mit den Armen, an denen die Taschen hingen. Die wievielte Schwangerschaft das war, wusste sie schon nicht mehr. Die Abgänge und die Fehlgeburten waren eine Katastrophe im Leben der Hermine Achstetter. Nun aber sollte dieses Kind endlich wieder lebend geboren werden. Es war das fünfte.

Schwerfällig ließ sie sich mit einem nicht zu überhörenden Seufzer auf dem nächsten freien Platz nieder. Der Schüler, der ihr Platz gemacht hatte, nahm von ihr weiter keine Notiz. Er rückte ein wenig zur Seite und plauderte über sie hinweg mit seinen Kameraden. Bei der dritten Haltestelle stieg sie aus.

Am nächsten Tag war es soweit. Hermine Achstetter gebar ihr Kind in der vertrauten Umgebung ihres Schlafzimmers, dessen Tür sonst immer einen Spalt weit geöffnet war, damit sie jederzeit den Schlaf ihrer Kinder überwachen konnte. Jetzt blieb diese Tür verschlossen, und auch die Vorhänge blieben zugezogen, sie sollten die Gebärende vor der allzu grellen Frühlingssonne schützen.

Mutter Achstetter machte aus dem Geburtsvorgang kein Aufhebens. Sie gebar das Kind mit einer gewissen Gottergebenheit, es war für sie ein Ereignis, das ihr inzwischen vertraut war.

Dieses fünfte Kind der Familie war wieder eine Tochter. Mit einem kräftigen Schrei aus der kleinen Kehle begrüßte es seine Welt.

Wilhelm Achstetter, Doktor der Zahnheilkunde und Vater des Babys, fand nur wenig Worte für die Mutter seiner Kinder, aber die waren von einer tiefen Dankbarkeit: »Hermine, du machst alles gut, ich könnte mir keine bessere Frau wünschen.«

Er strich ihr über das unfrisierte Haar und gab ihr einen flüchtigen, zärtlichen Kuss auf die trockenen Lippen. Was Hermine Achstetter in ihrem Innersten beschlossen hatte, davon ahnte ihr Mann nichts.

Es war nicht nur Sonntag, sondern auch Frühling. Die Hebamme, die schon am Abend zuvor ins Haus gekommen war, um der werdenden Mutter beizustehen, verrichtete unbeeindruckt von der heraufbeschworenen Besonderheit dieser Geburt ihre Arbeit. Badete und wickelte das Kind, das der ersten Bekanntschaft mit dem rauhen Leben, dem Badewasser, nichts abgewinnen konnte und sein Schreien in noch lauteren Tönen fortsetzte. Doktor Krumm, der Hausarzt, der für gewöhnlich am Sonntagmorgen mit den anderen bekannten Persönlichkeiten der Kleinstadt einen Schoppen trank, war auch zur Stelle. Er stieß mit Vater Achstetter an, und die beiden nahmen einen kräftigen Schluck, eine ärztliche Kunst wurde nicht benötigt.

Es ist ein Sonntagskind geboren und daher ein außergewöhnlicher Mensch, wie die Nachbarn bemerkten, als sie der Mutter und dem Vater gratulierten. Alle kamen sie nacheinander, um das Baby zu bestaunen. Die Nachbarin, die erst vor wenigen Wochen ins Städtchen gekommen war und die bis zu dem Tag, als das Kind geboren wurde, noch keinen Kontakt aufgenommen hatte, erschien mit einem Blumenstrauß und selbstgestrickten Pantöffelchen. Sie sprach eine Spur zu laut für die Ohren einer Wöchnerin und meinte, dass dieses kleine Wesen ein besonderes Leben vor sich haben werde, denn der Herr, der alles plane, hätte sonntags besonders viel Zeit für die Erschaffung eines neuen Erdenbürgers.

Wir schreiben das Jahr 1937. Das Neugeborene hatte wieder Leben in das bescheidene, aber wohlgestalte Haus in der Poststraße 73 gebracht. Es war zwar das fünfte Kind, aber, nach Karl, dem Erstgeborenen, kam das Töchterchen Erna, das mit fast drei Jahren an Diphtherie gestorben war. Genau an jenem unglücklichen Tag, an dem es begraben wurde, genau an diesem Tag war wieder ein Mädchen zur Welt gekommen, die kleine Gerda.

Zwei Jahre danach durfte die Familie Achstetter erneut einen Namen aussuchen, eine weitere Schwester war angekommen. Sie sollte den Namen des verstorbenen kleinen Mädchens erhalten. Die Idee stammte von Tante Erna, die sich sehnlichst wünschte, dass eine ihrer Nichten ihren Namen tragen solle. Sie selbst war unverheiratet und gedachte es auch zu bleiben. Ihr Verlobter, dem sie ein ewiges Andenken bewahren wollte, war in den letzten Tagen des Ersten Weltkrieges gefallen. Damals war sie achtzehn und hatte mit einer Inbrunst geliebt, wie achtzehnjährige Frauen lieben. Doch Hermine Achstetter hatte sich dagegen gewehrt, dem kleinen Mädchen den Namen ihres verstorbenen Töchterchens zu geben: »Es hat nichts mit dir zu tun, Erna. Aber Ernachen ist tot. Es wäre für das Kind eine Belastung ein Leben lang. Bitte, versteh das.« Also wurde das kleine Mädchen auf den Namen Elfriede getauft.

Dann war das Sonntagskind da. Es wurde mit allen Kosenamen bedacht, die Menschen beim Anblick eines Babys einfallen. Jeder, der in das muntere Gesichtchen schaute, war entzückt: »Ein besonders reizendes Kind. Wie heißt es denn?« Gerda, die ältere Schwester, die der immer gleich lautenden Fragen nach kurzer Zeit überdrüssig war, weil sie sie als langweilig und dumm empfand, verblüffte die Menschen mit der Antwort: »Eisenbähnchen. Sie heißt Eisenbähnchen.«

Hermine Achstetter wollte ihrem Vorsatz – Abstinenz im Ehebett – treu bleiben und hatte deshalb alle Mühe, sich Tricks auszudenken. Plauderabende mit ihrem Mann erwiesen sich als gefährlich. Doch sie verließ sich auf ihre weibliche Schläue und kam damit gut zurecht. Ob sie sich zur Schlafengehenszeit noch in der Küche zu schaffen machte, ob sie sich so lange im Badezimmer der Körperpflege hingab, bis sie die regelmäßigen Schnarchtöne ihres Mannes hörte, oder ob sie ganz einfach unpässlich war, immer gelang es ihr, die Zeit für sich arbeiten zu lassen. Natürlich wusste sie, dass sie auf Dauer mit ihrem Mann so nicht leben konnte, ohne eine Krise heraufzubeschwören. Trotzdem, sie wollte nun einmal keine Schwangerschaft mehr – unter keinen Umständen. Ihr Körper brauchte Ruhe. Sie fand, dass diese Geschichte mit der Sexualität, der Fortpflanzung, Erhaltung der Art bei den Menschen nicht zufriedenstellend geregelt sei.

Bei den Tieren erschien ihr alles viel praktischer. Es gibt eine Brunftzeit für Hirsch und Reh, Stuten sind rossig, Katzen werden rollig, Sauen haben ihre Rauschzeit. Kurz, da wollte nicht jedes Tier immer, sondern es hatte alles seine Zeit, die Paarungszeit. Der Menschheit hatte die Natur keinen Gefallen getan. Ständig und allzeit bereit – das war doch nun wirklich des Guten zuviel. Und die Begattung war nicht immer das reine Vergnügen.

›Ich war nie besonders erpicht auf diese körperlichen Dinge. Ich hätte darauf verzichten können, wenn ich nicht Kinder gewollt hätte. Aber was sagt uns die Bibel? Die Frau sei dem Manne untertan. Hat die Bibel immer recht? Die Kirche befiehlt es, und ich habe mich danach zu richten? Muss ich das bis zur Erschöpfung? Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich bin die Ausnahme, zumindest in diesem ganz besonderen Fall. Ob ich das aber Wilhelm zumuten kann?‹

Hermine Achstetter saß in der Küche auf einem Schemel, machte sich ihre Gedanken und kam zu keinem Ergebnis. Der Duft von Sauerkraut stand über dem Herd und zog ihr in die Nase. Sie öffnete das Fenster zum Garten und ließ frische Luft herein. Hermine Achstetter aß gern Sauerkraut.

Der wilde Garten war Mutter Achstetters ganzer Stolz. Da standen knorrige Apfelbäume herum, die schon alt gewesen sein mochten, als Achstetters in das Haus eingezogen waren. Kleine Rabatten, die mit frischen Kräutern bepflanzt waren, schlossen sich an die Treppe an, die von der Küche aus in den Garten führte. Das Treppengeländer konnte im Frühjahr und Sommer kaum wahrgenommen werden, denn eine prächtige Teerose rankte sich an ihm mit üppigem Laub und gelben, süß duftenden Blüten empor bis zum kleinen Toilettenfenster. Blumenbeete schmückten wie bunte Teppiche das Gras. Der Sandhaufen rechts neben der Treppe war begehrter Spielplatz für die Kinder. Er konnte von der Küche und von einem Fenster des Wohnzimmers aus eingesehen werden.

Hermine Achstetter liebte es, im Schatten der Bäume mit ihren Kindern zu hocken. Hier konnte sie sich ihren Kleinen ganz widmen, sie auf das Zwitschern der Vögel aufmerksam machen, ihnen die Namen der vorbeiflatternden Schmetterlinge nennen, sie an den Blüten und Gräsern riechen lassen, damit sie ein Gefühl für die unterschiedlichsten Düfte bekämen, und sie zeigte ihnen Regenwürmer und Käfer und machte ihren Kindern verständlich, wie alles in der Natur seinen Platz und seine Aufgabe habe. Es war Mutter Achstetters großes Anliegen, ihren Kindern die Achtung vor der Schöpfung zu vermitteln.

3

Die ersten Anzeichen für ein blutiges Europa waren nicht mehr zu übersehen. Bereits zwei Jahre später hieß es Mobilmachung.

Krieg.

Das so hoffnungsfroh begonnene Leben von Eisenbähnchen bekam eine besorgniserregende Wendung. Noch im Sportwagen sitzend, Papas Liebling, musste sie, mit den kleinen Händen winkend, dem Vater Ade sagen, der mit Tausenden anderen Männern, mit Söhnen, Familienvätern, Ehemännern, Freunden und Verlobten, zum großen »Kampf für Volk und Vaterland«, wie die verführerische Parole lautete, aufbrechen musste. Doktor Krumm blieb von dieser Maßnahme verschont, er hatte einen Klumpfuß.

Unruhige Nächte, die die Kleine auf dem Schoß der betenden Mutter mit den beiden Schwestern und Pia, dem Kindermädchen, im Keller verbrachte: Auf leeren Apfelkisten zwischen Kartoffelsäcken und einem Eierkohlenhaufen saßen sie. Elfriede und Gerda spielten mit ihren Puppen. Pia strickte im Dunkeln. Licht durfte bei Androhung empfindlichster Strafe für jeden, der das Verbot missachtete, nicht eingeschaltet werden. Die Luft legte sich feuchtkühl ins Dunkel. Es roch nach einem Gemisch aus Schimmel und Fäule. Es roch nach Hoffnungslosigkeit und Hoffnung.

Die Kinder konnten den Ernst der Situation nicht ausmachen, hörten die Mutter beten. Das Heulen der Sirenen wurde zur angstverbreitenden Schreckensmusik, war immer häufiger zu hören, ließ die Bewohner der Städte nicht mehr zur Ruhe kommen.

Auch das Haus der Achstetters war in Gefahr, und jedes Mal, wenn die Sirenen Entwarnung heulten, gab es ein Aufatmen: noch einmal davongekommen.

Karl, der gerade Abitur gemacht hatte, ein ahnungsloser, ein begeisterter Hitlerjunge, meldete sich freiwillig an die Kriegsfront. Er verabschiedete sich von der weinenden Mutter, die ihm ein Kreuzeszeichen auf die Stirn zeichnete. Ab jetzt bangte sie um ihren Mann, um ihren Sohn, um all die Männer, die einem Wahnsinnigen Folge zu leisten hatten.

Socken wurden gestrickt, Päckchen gepackt und zu den Soldaten ins Feld geschickt. Die Mutter, eine leidenschaftliche Raucherin, gewöhnte sich, um den Männern im Feld Zigaretten schicken zu können, von einem Tag auf den anderen das Rauchen ab. Das einzig Gute, das dieses teuflische Blutvergießen, Gemetzel und Morden der Mutter brachte. Und Mutter Achstetter musste sich keine Tricks mehr ausdenken.

In der Heimat wurden die Lebensmittel knapp, Kleidung zur Mangelware. Alles wurde von nun an gebraucht für den Sieg! Das hieß, die Bevölkerung hungerte, darbte und schränkte sich ein. Wer in ländlichen Gegenden wohnte, hatte Glück, und wer noch dazu mit einer Bauernfamilie bekannt war, hatte doppeltes Glück, denn da gab es schon einmal ein halbes Ei, einen Kaffeelöffel Schweineschmalz oder eine Tasse Mehl.

Eisenbähnchen konnte unterdessen laufen und auch sprechen. Das erste Wort, das sie sagen konnte, war »selber«. Ob es beim Anziehen, beim Essen oder beim Spaziergang war, Eisenbähnchen wollte alles selbst und allein machen, deshalb wurde sie auch oft »Fräulein Selber« genannt. Es kümmerte sie wenig, ob sie die Schuhe verkehrt herum angezogen hatte, beim Spaziergang hinfiel, das Essen öfter mal von der Gabel rutschte – Hauptsache, sie durfte alles selbst machen. Und es dauerte gar nicht lange, da hatte Fräulein Selber durch ihre Fehler so viel gelernt, dass sie kaum noch der Hilfe von Mutter oder Pia bedurfte.

Mit den großen Schwestern ging Eisenbähnchen zum Ährenlesen auf die abgeernteten Felder. Schuhe wurden im Sommer nicht angezogen, die mussten für den Winter geschont werden, denn dann sollten die größer gewordenen Füße wenigstens noch ein paar Monate die Schuhe tragen können. Nacktfüßig ging es über die Stoppelfelder. Das piekste nicht nur, sondern gab auch Verletzungen, die schmerzten. Die Füße waren, neben anderen Missverhältnissen, übel dran. Sie waren für das weitere Leben durch die permanent zu kleinen, von den älteren Geschwistern schiefgetretenen Schuhe deformiert, wenn sich auch manches später mehr oder weniger verwachsen würde.

Die Nahrungsknappheit machte auch bei Familie Achstetter nicht halt. Die Kinder bekamen zu jeder Mahlzeit Kartoffeln abgezählt – zwei an der Zahl, nur wenn sie gar zu klein ausgefallen waren, konnten es schon einmal drei sein. Eine halbe Scheibe Brot, ein wenig Butter darüber gekratzt und vielleicht eine Spur Marmelade, so sah das Frühstück aus. Brot und Butter wurden zur begehrten Köstlichkeit – auch für Eisenbähnchen. Einmal stand auf ihrem Wunschzettel für das Christkind: Ich wünsche mir einen Laib Brot und ein halbes Pfund Butter. Dieser Wunsch konnte ihm erfüllt werden: Einige Wochen vor dem Weihnachtsfest, das dem Kind die Köstlichkeiten bescheren sollte, wurde Mutter Achstetter sehr krank – Lungenentzündung. Das hatte zur angenehmen Folge, dass die Lebensmittelmarken bei einer so ernsten Lage für den Patienten verdoppelt wurden. »Jetzt kann ich dem Kind wenigstens seinen Weihnachtswunsch erfüllen. Wie dankbar bin ich doch, dass ich krank geworden bin.« Als aber die Lebensmittelmarken noch spärlicher bemessen wurden, wurde auch das Brot knapper, es reichte schon lange für den Abend nicht mehr aus. Der Kartoffelsack im Keller schrumpfte in sich zusammen. So musste mit noch mehr Umsicht und Bedacht an notwendigen Lebensmitteln gespart und mit viel Fantasie gekocht werden. Ab sofort gab es Tag um Tag Haferschleim zum Frühstück – immer wieder Haferschleim. Wasser und Haferflocken, Haferflocken und Wasser. Die Kinder hatten Spaß an dem Brei, denn wenn Mutter und Pia einmal gleichzeitig aus dem Hause waren, dann holten sich die Schwestern einen kleinen Kochtopf aus dem Regal, mengten Wasser und Haferflocken zusammen und kochten. Sie kochten mit Leidenschaft und großem Eifer ihren altgewohnten Brei, um ihn dann mit Genuss zu verspeisen. Natürlich war das in ihrer Vorstellung keineswegs Haferbrei, sondern es war etwas ganz Besonderes, was nur sie, die Schwestern Achstetter, zu essen hatten.

Eisenbähnchen gewöhnte sich in jener Zeit den Hunger fast ab. Von der Abendbrotscheibe behielt sie stets ein Stückchen übrig, zur Freude ihrer größeren Schwester Elfriede, die immer hungrig war und regelmäßig um dieses Stückchen bettelte: »Maralena, bekomme ich dein Brot?«

Maralena wurde Eisenbähnchen von dem Tag an genannt, als sie sprechen konnte und jedem verkündete, sie sei kein Eisenbähnchen, sie heiße Maralena nach ihren Großmüttern Maria und Helene.

Noch immer war Krieg. Noch immer wurden Päckchen gepackt mit Socken und Zigaretten, noch immer gingen die drei Achstetter-Mädchen über Stoppelfelder, um Ähren zu lesen, die in eine Mühle gebracht wurden. Stolz kehrten die Kinder mit einem Löffel Mehl nach Hause zurück, den sie vom Müller aus Mitleid erhalten hatten.

Maralena wurde eingeschult. Das hieß, endlich auch so früh aufstehen zu dürfen wie die beiden großen Schwestern. Sie war ein Kind, das den Tag am liebsten sehr früh begann, denn die Sorge, etwas zu versäumen, machte sie zu einer begeisterten Frühaufsteherin. »Nur wenn man krank ist, bleibt man bis in den späten Morgen im Bett.« Endlich zählte sie zu den Großen.

Es war mitten im Krieg, als sie eingeschult wurde. Fliegeralarm, unregelmäßiger Unterricht, wechselnde Lehrer, Angst und Unverständnis, das war der Alltag der Schülerin, aller Schüler.

Zu diesem Alltag gehörten merkwürdige Vorkommnisse, die sie nicht verstand, auch wenn sie angestrengt darüber nachdachte. Da wurden Leute, bei denen Mutter einkaufte, und Kinder, mit denen sie auf der Straße über ein Seil gehüpft war, auf Lastwagen geladen und vor die Stadt in Baracken gebracht. Plötzlich gab es den köstlichen »Berches« und die »Seelen« nicht mehr, die sie und ihre Schwestern so gerne aßen, denn der Bäcker, der unten am Bach seine Backstube hatte, gehörte auch zu diesen Leuten, die weggebracht wurden.

Diese Menschen waren auch anders angezogen, als Maralena sie bisher kannte. Auf langen schwarzen Mänteln war ein großer gelber Stern. Maralena wollte auch einen haben. »Mama, nähst du mir so einen schönen Stern auf meinen Mantel?«

Hermine Achstetter erschrak: »Was soll das? Du bist doch keine Jüdin. Sag nie wieder so einen Unsinn. Oder willst du auch in den Baracken hausen wie diese unglücklichen Menschen?« Maralena verstand nicht, warum ihre Mutter so böse wurde. Sie hatte doch nur gefragt, ob sie auch so einen schönen Stern auf ihren Mantel bekäme. Der Mantel war blau.

»Warum bin ich keine Jüdin? Was sind Jüdins?«

»Kind, es heißt nicht Jüdins. Es sind Juden. Juden gibt es auf der ganzen Welt, nicht nur bei uns in Deutschland. Judith, deine Schulfreundin, ist Jüdin, genauso wie ihre Eltern und Geschwister. Menschen, die einen anderen Glauben haben als wir«, begann Mutter Achstetter mit der schweren Aufgabe, ihrem Kind zu erklären, was Entsetzliches in ihrer Stadt geschah.

»Es ist nicht nur dieser furchtbare Krieg. Es geschehen noch andere schreckliche Dinge, denn die Menschen, die nicht mehr in unserer Stadt leben dürfen, sollen nicht so viel wert sein wie wir, weil sie einer anderen Rasse angehören und einen anderen Glauben haben. Lass dich von diesem gotteslästerlichen Unsinn nicht beeinflussen. Wenn du betest, bete auch für diese Menschen.«

»Die sehen aber doch genauso aus wie wir! Wie kann ich feststellen, dass Menschen Juden sind? Die Judith und ihr Bruder, was haben die denn Besonderes an sich? Die haben mir nie gesagt, dass sie Juden sind. Also, sag schon, woher hätte ich das wissen sollen?«

»Du kannst es ihnen nicht ansehen. Außerdem ist es auch gar nicht wichtig. Wenn ihr zusammen zur Schule geht, miteinander spielt, kommt es nicht darauf an, an welchen Gott ihr glaubt. Hauptsache ist, dass ihr euch versteht und ihr euch mögt. Aber das ist zu schwierig, ich kann es dir nicht erklären.«

Wenige Wochen später beobachtete Maralena dramatische Szenen: Ein Lastwagen nach dem anderen transportierte die Menschen aus der Stadt – und nicht in die Baracken.

»Wann kommen sie wieder?« Ängstlich schaute Maralena zu ihrer Mutter.

»Ich fürchte, sie kommen nicht mehr zurück.«

»Auch Judith nicht?«

»Nein.«

»Und ihr Bruder, der freche Joshua?«

»Auch der nicht.«

»Ich habe noch ein Hüpfseil von Judith. Was mache ich jetzt damit?«

»Bewahre es gut auf. Wer weiß, vielleicht seht ihr euch doch noch irgendwann wieder.«

»Wo werden sie denn hingebracht?«

»Du bist zu neugierig. Das ist gefährlich. Aber es ist gut. Trotzdem kann ich dir keine Antwort geben, denn ich weiß es nicht.« Und leise fügte sie hinzu: »Ich glaube, ich will es auch gar nicht wissen.«

Maralena fragte nicht weiter.

Doch sie vergaß das Gespräch über Judith, den gelben Stern und die Baracken nicht. Die heftige Reaktion der Mutter auf ihre harmlose Bitte ließ Maralena keine Ruhe. Sie wartete einige Tage, tat so, als dächte sie nicht mehr daran, um dann eines Morgens die Mutter mit ihrer Frage zu überraschen:

»Was haben die Juden angestellt, dass sie weggefahren werden? Warum dürfen sie nicht mehr bei uns wohnen? Ich gehe nicht in die Schule, bis du mir das gesagt hast. Du weißt es nämlich.«

Sie baute sich, so klein und zart sie auch war, vor ihrer Mutter auf und reckte ihren Kopf nach oben, denn sie wollte groß und wichtig erscheinen. Mutter sollte merken, dass es ihr sehr ernst war.

Frau Achstetter legte die Hände auf die Schultern ihrer Jüngsten, schaute sie traurig an: »Kind, du weißt doch, dass ich diese entsetzlichen Umstände nicht erklären kann.«

»Aber du weißt, dass sie entsetzlich sind. Warum weißt du dann das, wenn du sonst nichts weißt?«

»Es wird viel heimlich herumgesprochen und von besorgten Menschen weitererzählt.«

»Was wird herumgesprochen? Was weitererzählt?«

»Eben das, was ich dir schon sagte. Und deshalb werden die Juden eingesperrt und sogar gequält und getötet.«

»Warum eingesperrt? Warum gequält? Warum getötet? Was haben sie denn getan? Mama, sie müssen doch etwas Böses getan haben!«

»Sie haben nichts Böses getan. Genauso viel oder so wenig wie wir alle.«

Maralena wurde laut. Sie riss sich los, machte zwei schnelle Schritte zurück an den Küchentisch und trommelte mit ihren kleinen Fäusten auf die Tischplatte.

»Du lügst«, schrie sie, »niemand wird eingesperrt oder getötet, der nichts Böses getan hat!«

»Maralena, Kind, du musst dich wieder beruhigen. Du kannst nichts tun. Es passiert vor unseren Augen, wir müssen schweigen und können nur noch beten.«

Maralena war verzweifelt. Sie glaubte daran, dass niemand für eine Tat bestraft wird, die er nicht begangen hat. Aber sie spürte, dass die Welt, in der noch alles mit rechten Dingen zuging, wie sie sie sich in all ihrer Unschuld vorstellte, anders aussah als die der Erwachsenen. In ihren Augen gab es von jetzt an auch böse Erwachsene, denn sie wollten Judith, Joshua, den Bäcker unten am Bach und viele andere, die sie kannte, einsperren und töten. Es war schwer für sie, mit dieser Tatsache zu leben. Sie packte ihren Schulranzen und machte sich auf den Weg.

Trotz allem blieb Maralena ein fröhliches Kind. Die Schule, die sie nie ernst genommen hatte, war für sie nur dann interessant, wenn sie von Dingen erfuhr, die sie bis dahin noch nicht kannte.

Ihr Schulweg, nicht ungefährlich durch die immer häufiger werdenden Fliegerangriffe, führte an einer Pferdekoppel vorbei. Maralena entdeckte ihre Liebe zu Tieren und verweilte oft und viel zu lange bei den Pferden, lockte sie an den Zaun, sprach mit ihnen und erzählte ihnen, was sie alles erlebt hatte.

Diese Idylle wurde jäh zerstört, als sie zum ersten Mal erfahren musste, dass das Leben nicht nur aus der Nebensächlichkeit Schule und einer Hauptsache wie Liebe zu Pferden bestand, sondern auch aus tiefer Trauer. Eines Tages nämlich überbrachte der Ortsgruppenleiter die Nachricht, dass ihr Bruder in Russland gefallen war. Ein Zweifel an seinem Tod sei ausgeschlossen.

Maralena reagierte auf diese Nachricht hilflos und ungläubig. Ihr geliebter Bruder, ihre große Liebe, ihr Vorbild sollte in diesem schrecklichen Russland totgeschossen worden sein?

»Er wird nie mehr heimkommen? Sagt doch, dass das nicht wahr ist.«

Sie lief im Wohnzimmer hin und her, presste ihre Lieblingspuppe an sich, weinte laut, rief immer wieder den Namen ihres Bruders und suchte Schutz und Trost auf dem Schoß ihrer vom Schmerz tief getroffenen Mutter.

Maralena verstand immer weniger, was um sie herum geschah. Das Bild, das sie sich von den Menschen und der Welt gemacht hatte, war so ganz anders als das, was sie jetzt erlebte. Judith kam nicht mehr zum Spielen, die Menschen mit dem gelben Stern waren nicht mehr in der Stadt und womöglich schon tot, es gab keine »Seelen« und keinen »Berches« mehr vom Bäcker am Bach, und ihren einzigen Bruder hatten böse Menschen getötet. Ihr Lebensmosaik bekam dunkle Flecken, und bald war sie klug genug, das zu begreifen.

Aber es gab in den Wirren des Krieges auch tröstliche Erfahrungen. Die deutschen Offiziere waren bei russischen Familien einquartiert, in den Gebieten, die die deutschen Truppen eingenommen hatten. Auch Maralenas Vater war für einige Wochen zusammen mit seinem Burschen bei einer russischen Familie untergebracht. Als die russische Frau erfuhr, dass der einzige Sohn des deutschen Offiziers gefallen war, nahm sie spontan zwei Ikonen von der Wand ihrer Wohnstube – die eine stellte Mutter Maria dar und die andere das Gesicht des leidenden Christus – und schenkte sie ihm als Zeichen ihrer Mittrauer. Vater Achstetter brachte die beiden orthodoxen Kultbilder mit nach Hause, als er für drei Tage Sonderurlaub bekam.

Lange hingen die Ikonen an der Wand im Wohnzimmer, bis Mutter Achstetter das Marienbild verschenkte. Die Ikone mit dem Antlitz des leidenden Christus ging irgendwann später in Flammen auf, als die hochbetagte Frau Achstetter vergaß, die Kerze zu löschen, als sie zu Bett ging. Aus nie geklärten Gründen war die Ikone von der Wand heruntergefallen. Nur ein verkohltes Stück Holz blieb übrig. Vom Gold, das nicht allzu üppig auf das Bild aufgetragen worden war, fehlte jede Spur. Das Feuer, das sich leicht zu einem Zimmerbrand hätte ausbreiten und das ganze Haus hätte erfassen können, wurde auf eine geheimnisvolle Weise gelöscht. Das Kerzenlicht war erstickt, die Ikone zerstört.

Drei Jahrzehnte später sollte Familie Achstetter noch einmal eine Nachricht über den gefallenen Bruder bekommen.

Die greise Mutter stand am Grab ihres Mannes, auf dem auch ein Gedenkstein für den Gefallenen lag. Im Gebet vertieft, wurde sie von einem unbekannten Mann angesprochen: »Verzeihen Sie, wenn ich Sie störe. Sind das Angehörige in diesem Grab?«

»Ja, hier liegen mein Mann und meine kleine Tochter, und diese Tafel ist zur Erinnerung an meinen gefallenen Sohn.«

»Dann habe ich Sie nach all den Jahren doch noch gefunden.«

»Ich verstehe nicht.«

»Ihr Sohn ist mein Kompaniechef gewesen. Ich war ganz in seiner Nähe, als er tödlich getroffen nach seiner Mutter und Marianne rief.«

»Marianne? Marianne war seine Braut. Um Gottes willen. Was sagen Sie da?«

Die alte Frau begann zu weinen. Sie strauchelte, griff mit den Armen hilfesuchend nach einem festen Gegenstand, der ihr Halt hätte geben können. Da war aber nichts. Als ihr der Fremde zu Hilfe kommen wollte, hatte sie sich schon wieder gefasst und schaute ihn fragend an.

»Bitte, so erzählen Sie doch weiter.«

»Es gab eine Gefechtspause, die wir nutzten, um Ihren Sohn zu begraben. Wir haben einen kleinen Hügel aufgeschüttet, ein paar Gräser und Blumen vom Feld geholt und sie dazu gelegt. Dann haben wir aus herumliegenden Ästen so etwas wie ein Kreuz gebastelt, seinen Namen auf ein Stück Holz geschrieben. Wenige Minuten sind wir zur Ehre des Gefallenen still stehen geblieben. Bevor wir das Grab wieder eingeebnet haben, hat es einer von uns fotografiert. Den Film konnte ich nach Kriegsende bis ins Lazarett mitnehmen und in die Heimat retten. Ich schicke Ihnen das Negativ.«

Als dies alles passierte, war Maralena schon lange verheiratet und wohnte in einer anderen Stadt. Eines Morgens klingelte das Telefon. Sie nahm den Hörer und erkannte sofort die Stimme ihrer Mutter, die ihr nur mit Mühe das Erlebnis erzählen konnte.

Socken wurden noch immer gestrickt, aber bald wurde die Wolle knapp, und es gab nur noch wenige alte Pullover zum Aufribbeln, die zu wärmenden Füßlingen verarbeitet werden konnten.

Wieder einmal streiften die Kinder fröhlich singend über die abgeernteten Kornfelder. Sie kamen an einer eingezäunten Wiese vorbei, auf der Schafe weideten. Maralena sang nicht mehr weiter, denn sie wollte mit den Schafen ein wenig plaudern. Sie stellte sich an den Zaun, umfasste vorsichtig den obersten Draht und wunderte sich, dass er sich weich anfühlte. Jetzt erst, nachdem sie hinschaute, bemerkte sie, dass sich dort kleine Schafwollnoppen verfangen hatten. Das brachte sie auf eine Idee. Sie rief ihre Schwestern und bat sie, mit ihr den Zaun entlang zu gehen und alle Noppen einzusammeln, die die Schafe beim Umherstreifen oder wenn sie sich am Zaun scheuerten und wetzten, hinterlassen hatten.

»Daraus machen wir Handschuhe«, stellte Maralena fest, und die Mädchen wollten ihrer kleinen Schwester nicht widersprechen. So kam eine beachtliche Menge Schafwolle zusammen, die die drei stolz nach Hause brachten.

Maralena war aufgeregt. »Was wird Mutter sagen? Wird sie uns loben?«

Hermine Achstetter freute sich über ihre einfallsreichen Töchter. »Da hattet ihr wirklich eine gute Idee. Wir werden versuchen, etwas daraus zu machen.« Sie nahm die Wolle, zupfte sie auseinander, zwirbelte sie zwischen Daumen und Mittelfinger hin und her, bis sie dicke Fäden gedreht hatte. Insgeheim bewunderte sie ihre Kinder: ›Es sind tüchtige Mädchen mit einem praktischen Verstand. Was wohl einmal aus ihnen werden wird?‹

Der Krieg tobte weiter und zog seine erschütternde Blutspur.

Familien aus den zusammengebombten Großstädten suchten Zuflucht auf dem Land. Eine junge Mutter kam mit Markus, ihrem kleinen Sohn, zu den Achstetters. Er wurde bald zum Liebling aller. In der Geborgenheit der Familie konnten sich die Hilfesuchenden bald wohlfühlen. Die Kinder spielten zusammen und vergaßen die Schrecken des Krieges. Sie waren jung und wollten fröhlich sein.

Den Augen der Nazis entging nicht, dass Mutter Achstetter regelmäßig – auch während der Woche – den Gottesdienst besuchte. Wenn sie Zeit habe, dauernd in die Kirche zu laufen, wurde ihr mitgeteilt, dann könne sie auch ohne Haushaltshilfe auskommen. Die würde dringend in einem Kinderheim gebraucht. Hermine Achstetter fühlte sich keineswegs von dieser Maßnahme getroffen oder gar bestraft, denn sie sah das durchaus ein. So packte Pia ihre Tasche und begab sich in ein Kinderheim, das einige Kilometer vom Heimatort entfernt war.

Inzwischen war die Ostfront mitten in Deutschland angekommen, das grausame Ende war abzusehen. Aus der Luft nicht mehr zu stoppender Bombenhagel. Als das Morden endlich nachließ, lag Deutschland in Schutt und Asche. Häuser brannten, krachten in sich zusammen und begruben Tausende unter den Trümmern.

Eines Nachts klopfte es an der Haustür, die Klingel war schon lange kaputt. Mutter Achstetter vermutete einen flüchtigen deutschen Soldaten, der sich vor der Militärpolizei verstecken wollte. Umso mehr wunderte sie sich, als sie Pia vor der Tür stehen sah, die sich im allgemeinen Tumult auf den Weg gemacht hatte und die zwanzig Kilometer im Schutze der Nacht und der Wälder zu Fuß nach Hause zurückgekommen war.

Die beiden Frauen umarmten sich, legten sich schlafen, als wäre in der Zwischenzeit nichts passiert. Achstetters Pia war wieder bei Achstetters.

Maralena war bei Kriegsende acht Jahre alt.

Die Invasion der Siegermächte erlebte sie daheim. Die Franzosen durchstreiften die Straßen und das, was von den Häusern noch übriggeblieben war.

Die Tage vergingen. Hausdurchsuchungen waren zum Alltag geworden – die Besatzer vermuteten in jedem Haus deutsche Soldaten, die sich dort versteckt hätten. Außerdem hielten sie Ausschau nach wertvollen Einrichtungsgegenständen, die sie in beschlagnahmte Häuser schaffen ließen. Auch Maralenas Zuhause wurde auf diese Weise um einen Sessel und zwei Teppiche ärmer. An einem Tag, an welchem zwei marokkanische Besatzersoldaten die Hausdurchsuchung vornahmen, saß der kleine Markus in der Küche auf seinem Topf und krähte vergnügt vor sich hin. Einer der Marokkaner – es war der größere der beiden – griff in die Tasche, holte eine Dose heraus und gab sie dem lustig schauenden kleinen Jungen. Die Dose konnten die kleinen Hände nicht festhalten, sie rutschte auf den Küchenboden. Dort lag sie nun, das Geschenk eines feindlichen Soldaten. Neugierig beobachteten die Mädchen die ungewöhnliche Szene. Was hatte es mit dieser Dose wohl auf sich? Maralena nahm sie beherzt, konnte nicht genau entziffern, was auf dem Deckel stand. Die älteren Schwestern lasen und stellten begeistert fest, dass es sich um Schokolade handeln müsse, was großen Jubel auslöste.

Geschenke des fremden Soldaten wurden über einige Wochen zum erfreulichen Alltagsgeschehen in einer düsteren Zeit, denn immer wieder brachte er dem kleinen Markus Süßigkeiten. Maralena hörte Mutter sagen, dass dieser junge Soldat vielleicht selbst einen kleinen Sohn habe, den er vermisse, er habe Tränen in den Augen gehabt, als er Markus sah.

Allerdings wurde Maralena auch Zeuge eines Gesprächs, das ihre Mutter mit einer Nachbarin führte, das sie in blanke Angst versetzte und ihre kindliche Phantasie grausigen Auswüchsen aussetzte. Denn von den beiden Besatzungssoldaten, die das Haus durchsuchten, war nur einer anständig. Von dem anderen, dem kleineren, wurde erzählt, dass er eine Nachbarin – obwohl offensichtlich schwanger – vergewaltigt hätte. Immer wieder hörte sie dieses Wort und konnte, unerfahren wie sie war, nichts damit anfangen. Es musste aber etwas ganz Schreckliches bedeuten, denn die beiden Frauen sprachen aufgeregt, und ihre Gesichter waren rot, sehr rot. Mutter war sonst nur so rot im Gesicht, wenn sie wütend war und sich über ihre Kinder ärgerte. Diesmal waren sie aber nicht schuld an Mutters Aufregung. ›Vergewaltigt, was heißt das nur‹, sinnierte Maralena. Sie sprach ganz langsam, jeden Buchstaben überlegend. Da kristallisierte sich ein Wort heraus, das sie kannte: Gewalt.

»Bitte, bitte, was ist vergewaltigen?« Mutter nahm Maralena bei der Hand, setzte sich mit ihr auf die Kiste am Küchentisch. In der Kiste verbarg sich allerlei Geheimnisvolles: abgelegte Kleider, Blusen und Röcke und die von den Mädchen besonders begehrten Stöckelschuhe aus Mutters jungen Jahren. Diesmal wurde nicht in der Kiste gewühlt, denn es gab etwas sehr Ernstes zu besprechen.

Maralena war zehn Jahre alt. Sie wechselte von der Volksschule ins Gymnasium, das schon die beiden älteren Schwestern besuchten. Jetzt musste richtig gelernt werden, was nicht Maralenas Lieblingsbeschäftigung war. Lernen wozu und für wen?

Sie sprach lieber mit den Pferden auf der Koppel und mit jedem Hund, dem sie begegnete, sie streichelte jede Katze, die um ihre Beine strich, lauschte geistesabwesend dem Zwitschern der Vögel. Sie betrachtete lieber Blumen und Gräser, deren Namen sie mit Begeisterung lernte.

Mutter ging öfter mit den Mädchen durch die heimatliche Landschaft, führte sie über die schmalen Feldwege, die viele Spuren der Ochsenkarren im harten Erdreich zeigten. Ab und zu kreuzte ein Feldhase ihren Weg und erschreckte Wildenten, die aufgeregt in Richtung des nahen Baches aufflogen.

Bevorzugtes Ziel der Familie war die benachbarte Wallfahrtskirche. Dort beteten sie für den gefallenen Bruder und den Vater, der noch immer in einem Kriegsgefangenenlager in Russland festgehalten wurde.

Mit Vorliebe spazierte Maralena auch allein durch die hochgewachsenen Wiesen. Sie fühlte sich wohl, wenn sie ihren Gedanken nachhängen, ihren Fantasien freien Lauf lassen konnte. Am liebsten malte sie sich aus, wie es wäre, wenn Vater heimkäme, wie er sie in die Arme nähme und mit ihr Hand in Hand über die Wiesen und durch die Wälder streifte.

Ihr Vater fehlte ihr sehr, obwohl sie ihn kaum kannte. Außerdem hoffte sie, dass dann auch Mutter wieder heiterer wäre, dass sie mehr mit ihr und den Schwestern lachen würde, dass sie nicht so streng wäre. Wie gerne wären sie einmal ins Kino oder bei einem Schulausflug mitgegangen, doch dafür war kein Geld da. Und vielleicht, wenn Papa zu Hause wäre, müssten sie nicht so häufig in die Kirche gehen.

»Weißt du, lieber Gott, ich besuche dich ja gern, aber oft bist du langweilig. Ich habe dich noch nie gesehen. Langsam wäre es an der Zeit, dass du auch einmal zu uns zum Abendessen kämst. Findest du nicht auch? Ich weiß natürlich, dass das nicht geht, weil du dich bei niemandem blicken lässt. Aber du solltest dich wirklich mehr um uns kümmern.«

Während Maralena ihre Beine bewegte und die Gräser durch die Finger gleiten ließ, pflückte sie Blumen zu einem immer größer werdenden Strauß, bis sie Mühe hatte, ihn zu halten. Sie sah jede Blüte mit liebevollen Augen an, bedankte sich bei ihr und erzählte ihr, dass sie sie ins Krankenhaus zu einem armen Menschen bringen werde. Die Schwestern im Krankenhaus kannten das kleine Mädchen und brachten sie zu den Patienten, die entweder keinen Besuch bekamen oder die unheilbar krank waren. Maralena begegnete ihnen unvoreingenommen und freundlich. Mit der typischen Offenheit eines Kindes überreichte sie die Blumen, setzte sich auf einen Stuhl, fragte: »Wie geht’s? Soll ich für dich beten? Morgen komm ich wieder oder in einer Woche.« Bei den letzten Worten war sie auch schon wieder aufgestanden und winkend zur Tür hinausgegangen.