Märchen aus dem Land der Mitternachtssonne - Regine Normann - E-Book

Märchen aus dem Land der Mitternachtssonne E-Book

Regine Normann

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Beschreibung

Erstmals erscheint eine Auswahl an Märchen von Regine Normann in deutscher Übersetzung. Vor fast 100 Jahren in Norwegen veröffentlicht, haben diese Kunstmärchen bis heute nichts von ihrer Wirkung eingebüßt und bringen Kinderaugen immer noch zum Glänzen. Hier bestehen Mädchen und Jungen gleichermaßen besondere Abenteuer: Ein Mädchen kämpft auf dem Meeresgrund, um den verwunschenen Prinzen zu erlösen. Ein junger Matrose muss sich gegen einen hinterhältigen Kapitän zur Wehr setzen. Eine Prinzessin bahnt sich mutig den Weg durch die Unterwelt bis zum Herzen der Erde ... Wie es sich für Märchen gehört, tauchen im richtigen Augenblick sprechende Tiere und andere Wesen aus der Zwischenwelt auf, um den kleinen Heldinnen und Helden beizustehen. Mal ist es ein Ziegenbock, mal ein Eissturmvogel, dann wieder ein wohlwollender Wichtel oder ein Hausgeist, der im Kampf gegen Räuber und Trolle zu Hilfe eilt. Die Kulisse für diese fabelhaften Geschichten bildet die typische Landschaft Nordnorwegens: karge Küstenstreifen mit vorgelagerten Inselchen sowie tiefe Fjorde mit steil aus dem Wasser aufragenden Bergen.

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Seitenzahl: 111

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

Vorwort

Das Otterfell

Das Goldbergschloss im Nordwestmeer

Der Sohn des Meereskönigs

Die Prinzessin, die bis zum Herzen der Erde ging

Jan, der Matrose

Die Holzpuppe

Das Weib, das nicht maßhalten konnte

Ringelihorn

Regine Normann und ihre Märchen

Quellen

Vorwort

Als ich vor ein paar Jahren in einer Touristenbroschüre über die Vesterålen zum ersten Mal den Namen Regine Normann las, ahnte ich nicht, wie sehr mich diese Schriftstellerin und ihr Heimatort einmal in ihren Bann ziehen würden. Mittlerweile reise ich regelmäßig nach Bø auf den Vesterålen und lasse mich von der atemberaubenden Küstenlandschaft verzaubern. Besonders gern bin ich Ende Juli dort, um das einwöchige Festival Reginedagan zu Ehren der Märchenerzählerin mitzuerleben. Die Menschen in Bø verstehen es, ihre berühmte Einwohnerin mit zahlreichen kreativen Veranstaltungen für Groß und Klein zu feiern. Diese Begeisterung hat mich angesteckt und zur Übersetzung der Märchen motiviert.

Regine Normann wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bø auf den Vesterålen auf – zu einer Zeit, als das Leben auf dieser abgelegenen Inselgruppe 300 Kilometer nördlich des Polarkreises noch beschwerlich und entbehrungsreich war. Wie sehr sie als junges Mädchen darunter litt, ihre Neugierde und Leselust nicht stillen zu können, weil vor Ort nur Bibel, Gebetsbuch und Schulbücher für sie zugänglich waren, erzählte die Schriftstellerin 1925 (in dem Jahr erschien auch ihr erster Märchenband) in einem Zeitungsartikel: Als 13-Jährige hatte sie, um an Lesestoff zu kommen, aus Apfelfässern die alten Zeitungen herausgelöst, mit denen diese ausgeschlagen waren. Umso verzweifelter war sie dann, als sie feststellen musste, dass die Zeitungen in einer fremden Sprache gedruckt waren …

Für die erwachsene Regine Normann blieb es Zeit ihres Lebens eine Herzensangelegenheit, Kindern den Zugang insbesondere zu solchen Büchern zu ermöglichen, die ihre Phantasie anregten. Sie setzte sich für den Auf- und Ausbau von Schulbibliotheken in ganz Norwegen ein, und sie nutzte ihre Rolle als Lehrerin, um ihren Schülern regelmäßig Geschichten zu erzählen. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur folgerichtig, dass die Schriftstellerin Regine Normann die von ihr im Rahmen ihrer Lehrerinnentätigkeit erzählten Märchen letztlich auch aufschrieb – herausgekommen sind so genannte Kunstmärchen, also phantastische Geschichten, die Regine Normann selbst erdacht hat, auch wenn natürlich einzelne Elemente als typisch nordische Märchenmotive bekannt und tradiert sind.

Insgesamt 20 Märchen veröffentlichte Regine Normann in ihren zwei Märchenbüchern Eventyr (1925) und Nye Eventyr (1926). Acht davon habe ich für dieses Büchlein ausgewählt und sie erstmals ins Deutsche übersetzt.

In Deutschland blieb Regine Normann, die in Norwegen zu Lebzeiten eine bekannte Schriftstellerin war, quasi unentdeckt, lediglich ihr Debütroman erschien 1925 auf Deutsch. Umso dankbarer bin ich Liv Helene Willumsen, dass ich ihr ausführliches Nachwort zur norwegischen Neuausgabe von Regine Normanns Märchen hier übersetzt abdrucken darf. Auf diese Weise bekommen alle deutschen Leserinnen und Leser einen Einblick in das Leben und das schriftstellerische Werk einer wirklich beeindruckenden Frau.

Alle, die nach der Lektüre dieses Buches Lust auf mehr Geschichten von Regine Normann haben, finden auf meinem Literaturblog Nordlieben.de weitere Übersetzungen.

Dörte Giebel, im Juli 2019

Das Otterfell

Es war einmal ein kleiner Junge, der an einem Donnerstagabend bei Vollmond seinen Vater auf die Otterjagd begleiten durfte. Als die beiden zu den Felsen am Ufer kamen, wo die Otter gewöhnlich auf dem Weg ins Wasser entlangliefen, sahen sie frische Spuren im nassen Sand unterhalb der großen Steine. Da wussten sie, dass die Tiere alle schon im Fjord waren. Also setzten sie sich hin und warteten, bis sie wieder auftauchten, und der Vater achtete darauf, dass der Wind von der Spur aus zu ihnen herüberwehte und nicht umgekehrt.

Es dauerte und dauerte, so dass der Junge müde und durchgefroren war, als am Morgen endlich ein Otter aus dem Wasser glitt, mit einer fetten Forelle im Maul. Witternd hielt er auf dem Sandstreifen inne. Dann drehte er sich blitzschnell wieder um, und der Vater schickte ihm aus der Entfernung eine Kugel hinterher. Die traf so gut, dass der Otter sich überschlug und mit allen Vieren von sich gestreckt liegen blieb. Doch als Vater und Sohn ankamen, um ihre Beute zu holen, waren Fleisch und Knochen verschwunden, und es lag nur noch ein leeres Otterfell auf dem weißen Sand.

»Pass auf, nicht anfassen! Das ist ein Trollotter und kein Tier aus Fleisch und Blut, wie ich noch dachte, als ich geschossen habe«, rief der Vater. Der Junge hatte sich jedoch bereits vorgebeugt und das seidenweiche Tierhaar berührt, und im selben Augenblick stülpte sich das Fell vom Kopf aus über seinen ganzen Körper und verwandelte ihn in einen großen, schönen Otter. Der Vater packte mit beiden Händen zu, um das Fell wieder abzuziehen, doch der Otter entglitt ihm und verschwand zwischen den Felsen. Schnell holte der Vater die Otterflöte hervor und begann zu trillern und zu locken – doch vergebens: Der Junge im Otterfell kam nicht wieder zum Vorschein. Voll Kummer und Sorge musste der Vater den schweren Gang nach Hause antreten und der Mutter erzählen, was mit ihrem geliebten Sohn Schreckliches geschehen war.

Währenddessen lief der Junge, verwandelt in einen Otter, über die felsigen Steine den Berg hoch und hinaus auf die Hochebene, weit weg von allen Menschen und allen Wegen. Es war das Fell, das ihn steuerte, der Junge selbst hatte keinen Willen mehr. Schließlich hielt der Otter vor einer kreisrunden Erdhütte an. Die Tür stand offen, und in der Mitte brannte ein Feuer, und an diesem Feuer saß eine strenge alte Jungfer und fütterte die Flammen mit weichen goldfarbenen Birkenzweigen. Der Otter schlüpfte durch die Türöffnung, schlich zur Alten hin und machte zitternd und fiepend vor ihr Halt.

»Ja, jetzt zitterst und winselst du«, sagte sie wütend. »Dein Vater hat vorige Nacht meinen Bruder erschossen, da habe ich heute Nacht sein Fell geschickt, um Dich zu holen. Und hier wirst du bleiben, bis jemand kommt, der es schafft, dich auszulösen.«

So musste der Junge im Otterfell draußen in der Wildnis bei der strengen alten Jungfer bleiben, die sich rächen wollte und nie auch nur ein einziges freundliches Wort für ihn übrig hatte. Tagsüber musste er Wasser und Holz für sie heranschleppen, ihr das Essen kochen und sie bedienen, so gut er konnte. Nachts zwang ihn das Otterfell hinunter zum Fjord und in die Tiefen, um leckeren fetten Fisch für sie zu fangen. Anfangs hatte er große Angst vor dem kalten, dunklen Wasser, doch nach und nach gewöhnte er sich daran und wurde ein mindestens genauso flinker Jäger wie all die anderen Otter, die er auf dem Weg zum Fjord kennengelernt hatte.

In manchen Nächten sah er seinen Vater auf den Felsen sitzen und die Otterflöte spielen, und in einer Nacht mit Vollmond saß auch seine Mutter dort. Da ließ er den dicken Fisch, den er im Maul trug, in ihren Fußspuren liegen, damit sie sehen konnte, dass er in ihrer Nähe gewesen war, und er tauchte ein zweites Mal in den Fjord hinab, um für das Trollweib einen Neuen zu fangen. Doch der Fisch, den er nun zu fassen bekam, war klein und mickrig, und zur Strafe versengte die Alte ihm im Feuer die Schnurrhaare, so dass es für ihn schwierig wurde, sich an Land und im Wasser fortzubewegen.

Eines Tages sagte die alte Trollfrau, dass sie einen silbernen Fisch serviert bekommen wolle, und für den Fall, dass er es nicht schaffen sollte, ihr in der nächsten Nacht einen solchen zu bringen, drohte sie ihm Schläge auf den Rücken mit sieben Birkenzweigen an. Er schlüpfte aus der Hütte hinaus und lief zur Quelle, um seine trockene Zunge mit einem Schluck kaltem frischem Quellwasser zu befeuchten, bevor er sich auf den Weg zum Fjord machte. Doch in dem Moment, in dem er von dem Wasser trinken wollte, sah er am Rand der Quelle eine kleine Forelle schwimmen.

»Ich bin die Tochter des Meereskönigs, und die gleiche Trollfrau, die dir das Otterfell übergeworfen hat, hat mich von den Meinen getrennt und hält mich hier in der Quelle gefangen. Am Tage bin ich eine armselige kleine Forelle, doch in der Nacht bin ich eine Prinzessin, und da quält und peinigt sie mich. Und der silberne Fisch, den sie dich heute Nacht fangen lässt, ist meine Schwester. Wenn du mir versprichst, dass du, sobald die Alte genug vom Fisch gegessen hat, die Gräten und alles, was vom Fisch übrig geblieben ist, aufsammelst und in diese Quelle wirfst, dann werde ich dafür sorgen, dass du den silbernen Fisch triffst, sobald du im Fjord schwimmst.«

Der Otter versprach ihr bereitwillig zu tun, worum sie ihn bat, und leichten Herzens sprang er über das Fjell hinunter zu den Felsen. Kaum war er im Wasser und nur wenige Meter vom Ufer entfernt, kam der silberne Fisch ihm auch schon entgegen geschwommen. Er nahm ihn zwischen die Zähne, trug ihn zur Erdhütte und legte ihn der Alten in den Schoß.

»Das hast du also geschafft«, sagte sie und lachte hässlich. »Doch in der nächsten Nacht sollst du einen goldenen Fisch für mich fangen, und gelingt dir das nicht, werde ich dich mit sieben Birkenreisigschlägen auf den Rücken bestrafen, nur dass du das weißt.« Der Otter muckte nicht auf, doch mit Grauen dachte er an die Strafe, die auf ihn wartete, denn noch nie hatte er einen goldenen Fisch im Fjord gesehen, und er wusste auch nicht, wohin er schwimmen sollte, um einen zu finden.

Als die Alte gegessen hatte, sammelte der Otter die Fischreste samt Gräten auf und warf sie in die Quelle, wie er es der kleinen Forelle versprochen hatte. Und als der Abend kam, lief er noch einmal dorthin, um seine heiße Zunge zu kühlen, bevor er zum Fjord und zur aussichtlosen Jagd nach dem goldenen Fisch aufbrach. Gerade als er vom Quellwasser trinken wollte, sah er am Rand zwei kleine Forellen schwimmen.

»Der goldene Fisch, den die Trollfrau dich heute Nacht fangen lässt, ist unsere jüngste Schwester«, sagten die Forellen. »Wenn du versprichst, dass du, sobald die Alte genug vom goldenen Fisch gegessen hat, die Gräten und alle anderen Fischreste in die Quelle wirfst, dann sorgen wir dafür, dass du unsere Schwester triffst, sobald du im Fjord angekommen bist.«

»Das kann ich gerne versprechen«, sagte der Otter. Doch sein Herz wurde ihm schwer, als er übers Fjell zu den Felsen hinunterrannte.

Der goldene Fisch schwamm ihm nur wenige Meter vom Ufer entfernt entgegen. Er war so schön und glänzte so sehr, dass es in den Augen stach. Der Junge im Otterfell nahm ihn vorsichtig zwischen die Zähne, brachte ihn zur Erdhütte und legte ihn der Trollfrau in den Schoß.

»Das hast du also auch geschafft«, sagte sie und warf den Fisch ins Feuer. »Doch in der nächsten Nacht sollst du einen pechschwarzen Fisch für mich fangen, und du wirst ihn daran erkennen, dass er eine goldene Krone auf dem Kopf trägt. Und wenn dir das nicht gelingt, werde ich dich mit sieben Birkenreisigschlägen auf den Rücken bestrafen und Salz in deine offenen Wunden streuen.«

Sobald die Alte genug vom goldenen Fisch gegessen hatte, sammelte der Otter die Reste auf und warf sie in die Quelle. Den ganzen Tag verfolgte ihn die Angst vor der Strafe, die auf ihn wartete, und als der Abend kam, schlich er zur Quelle, um seine Zunge zu kühlen, bevor er sich wieder auf den Weg machte. Als er zu trinken begann, sah er plötzlich drei kleine Forellen am Quellenrand schwimmen.

»Das ist unser Vater, den du in dieser Nacht fangen sollst«, sagten die Forellen. »Und es kann gut sein, dass dir das gelingt, denn vor lauter Sorge um uns hat er sein Schloss verlassen und schwimmt nun im ganzen Fjord herum, um nach seinen Töchtern zu suchen. Doch wenn die Trollfrau ihn zu fassen bekommt, ist es aus mit dem Meeresvolk. Sei so barmherzig und nimm uns drei in dein Maul und bring uns zurück zum Fjord.«

»Das kann ich gerne tun«, sagte der Otter, »doch ihr nehmt nachts Menschengestalt an, da ist in meinem Maul nicht genügend Platz für euch alle drei.«

»Bis Mitternacht bleiben wir Fische«, sagten die Forellen, »also beeil dich, bevor es zu spät ist.« Der Otter öffnete sein Maul, und die drei Forellen legten sich hinein, und so schnell er konnte, sprang er übers Fjell hinunter zum felsigen Ufer. Ihm hinterher sauste die Trollfrau in einem Eulengefieder, und es wurde ein Wettrennen auf Leben und Tod.

Unten auf den Felsen aber saß der Vater des Jungen und spielte auf seiner Otterflöte, neben ihm das Gewehr. Er sah den Otter wie einen Blitz an sich vorbeirasen und dahinter die Eule, die nach ihm hackte und schrie, und der Vater zögerte keine Sekunde, ihr eine Kugel hinterherzuschicken. In dem Moment, in dem die Eule auf dem Boden aufschlug, riss das Otterfell auf und der Junge stand befreit da, in der Hand die drei blanken Forellen. Vorsichtig trug er sie zum Wasser hinunter und ließ sie in den Fjord gleiten, und er glaubte ganz deutlich zu hören, wie sie ihm ein Danke zuriefen, obwohl er die Fähigkeit, die Sprache der Fische zu verstehen, in dem Moment verloren hatte, in dem er wieder ein Mensch geworden war.

Und schnipp, schnapp, schnaus, jetzt ist das Märchen aus.

Das Goldbergschloss im Nordwestmeer

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