Märchen und Spukgeschichten - Theodor Storm - E-Book

Märchen und Spukgeschichten E-Book

Theodor Storm

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Beschreibung

Erleben Sie die Märchen und Sagen aus aller Welt in dieser Serie "Märchen der Welt". Von den Ländern Europas über die Kontinente bis zu vergangenen Kulturen und noch heute existierenden Völkern: "Märchen der Welt" bietet Ihnen stundenlange Abwechslung. Das Inhaltsverzeichnis dieses Buches: Der kleine Häwelmann Hinzelmeier Hans Bär Am Kamin Die Regentrude Bulemanns Haus Der Spiegel des Cyprianus

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Märchen und Spukgeschichten

Theodor Storm

Inhalt:

Theodor Storm – Biografie und Bibliografie

Märchen und Spukgeschichten

Der kleine Häwelmann

Hinzelmeier - Eine nachdenkliche Geschichte

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Hans Bär

Am Kamin

Die Regentrude

Bulemanns Haus

Der Spiegel des Cyprianus

Märchen und Spukgeschichten, Theodor Storm

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849603366

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Frontcover: © Sweet Angel - Fotolia.com

Theodor Storm – Biografie und Bibliografie

Dichter und Novellist, geb. 14. Sept. 1817 zu Husum in Schleswig, gest. 4. Juli 1888 in Hademarschen, studierte Rechtswissenschaft in Kiel und Berlin, wo er mit dem Brüderpaar Theodor und Tycho Mommsen in nähere Verbindung trat, und ließ sich nach abgelegter Staatsprüfung 1842 als Advokat in seiner Vaterstadt nieder, verlor aber 1853 als Deutschgesinnter sein Amt und ward hierauf erst als Gerichtsassessor in Potsdam, dann als Landrichter zu Heiligenstadt im Eichsfeld angestellt. Nach der Befreiung Schleswig-Holsteins ging er 1864 nach Husum zurück, wo er zunächst zum Landvogt, 1867 zum Amtsrichter und 1874 zum Oberamtsrichter befördert wurde. Seit 1880 als Amtsgerichtsrat im Ruhestand, siedelte er nach Hademarschen (Kreis Rendsburg) über. S. nimmt unter den neuern Lyrikern, besonders aber unter den Novellisten eine hervorragende Stellung ein. Als ersterer führte er sich mit dem im Verein mit den beiden Mommsen herausgegebenen »Liederbuch dreier Freunde« (Kiel 1843) in die Literatur ein; »Sommergeschichten und Lieder« (Berl. 1851) und ein Band »Gedichte« (das. 1852, 15. Aufl. 1906) folgten nach. Besonders letztere brachten ihm stets wachsende Anerkennung ein. Der Dichter S. erweist sich als eine tiefsinnige, dabei frische und warmblütige Natur, die den tausendmal besungenen uralten Themen der Lyrik den Stempel des eigensten Gefühls ausdrückt. Reicher und mannigfaltiger noch sind seine Novellen. Der zuerst in den »Sommergeschichten und Liedern« veröffentlichten vielgelesenen Novelle »Immensee« (Sonderausg., Berl. 1852; 62. Aufl., das. 1906) ließ er zahlreiche andre Erzählungen und Novellen folgen, die sämtlich Stimmungsbilder von einer Tiefe, Zartheit und Kraft der Empfindung sind, wie sie nur eine ursprüngliche und echte Dichternatur schaffen kann. Der Kreis des Lebens, den er darstellt, ist eng, aber innerhalb dieses engen Kreises waltet Lebensfülle und Lebensglut; der norddeutsche Menschenschlag mit seinem tiefinnerlichen Phantasie- und Gemütsreichtum findet sich in Storms Geschichten in einer fast unerschöpflichen Mannigfaltigkeit der Charaktere geschildert. Dabei ist seine Vortragsweise künstlerisch sein und durchgebildet. Die Titel seiner meist vielfach ausgelegten Novellen sind: »Im Sonnenschein«, drei Erzählungen (Berl. 1854); »Ein grünes Blatt«, zwei Erzählungen (das. 1855); »Hinzelmeier« (das. 1857); »In der Sommermondnacht« (das. 1860); »Drei Novellen« (das. 1861); »Leonore« (das. 1865); »Zwei Weihnachtsidyllen« (das. 1865); »Drei Märchen« (Hamb. 1866; später u. d. T.: »Geschichten aus der Tonne«); »Von jenseit des Meeres« (Schleswig 1867); »Zerstreute Kapitel« (Berl. 1873); »Novellen und Gedenkblätter« (Braunschw. 1874); »Waldwinkel etc.« (das. 1875); »Ein stiller Musikant. Psyche. Im Nachbarhause links« (das. 1877); »Aquis submersus« (Berl. 1877); »Carsten Curator« (das. 1878); »Neue Novellen« (das. 1878); »Eekenhof. Im Brauerhause« etc. (das. 1880); »Die Söhne des Senators« (das. 1881); »Der Herr Etatsrat« (das. 1882); »Schweigen« und »Hans und Heinz Kirch« (das. 1883); »Zur Chronik von Grieshuus« (das. 1884); »Ein Bekenntnis« (das. 1887); »Der Schimmelreiter« (das. 1888) etc. Außerdem besitzen wir von S. eine wertvolle kritische Anthologie: »Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius« (4. Aufl., Braunschw. 1877). Eine Gesamtausgabe seiner Schriften erschien in 19 Bänden (Braunschw. 1868–89; letzte Ausg. in 8 Bdn., das. 1905). Seinen Briefwechsel mit Mörike gab J. Bächtold heraus (Stuttg. 1891), den mit Emil Kuh dessen Sohn Paul in »Westermanns Monatsheften«, Bd. 67 (1890), den mit Gottfried Keller Köster (Berl. 1904). Vgl. Erich Schmidt, Theodor S., in den »Charakteristiken«, Bd. 1 (2. Aufl., Berl. 1902), und in der »Allgemeinen Deutschen Biographie«, Bd. 36; Schütze, Theodor S., sein Leben und seine Dichtung (das. 1887, 2. Aufl. 1907); Ad. Stern, Studien zur Literatur der Gegenwart (3. Aufl., Dresd. 1905); Remer, Theodor S. als norddeutscher Dichter (Berl. 1897); Gilbert, Theodor S. als Erzieher (Lübeck 1904).

Märchen und Spukgeschichten

Der kleine Häwelmann

Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Häwelmann. Des Nachts schlief er in einem Rollenbett und auch des nachmittags, wenn er müde war; wenn er aber nicht müde war, so mußte seine Mutter ihn darin in der Stube umherfahren, und davon konnte er nie genug bekommen.

Nun lag der kleine Häwelmann eines Nachts in seinem Rollenbett und konnte nicht einschlafen; die Mutter aber schlief schon lange neben ihm in ihrem großen Himmelbett. "Mutter", rief der kleine Häwelmann, "ich will fahren!" Und die Mutter langte im Schlaf mit dem Arm aus dem Bett und rollte die kleine Bettstelle hin und her, und wenn ihr der Arm müde werden wollte, so rief der kleine Häwelmann: "Mehr, mehr!", und dann ging das Rollen wieder von vorne an. Endlich aber schlief sie gänzlich ein; und soviel Häwelmann auch schreien mochte, sie hörte es nicht; es war rein vorbei. – – Da dauerte es nicht lange, so sah der Mond in die Fensterscheiben, der gute alte Mond, und was er da sah, war so possierlich, daß er sich erst mit seinem Pelzärmel über das Gesicht fuhr, um sich die Augen auszuwischen; so etwas hatte der alte Mond all sein Lebtage nicht gesehen. Da lag der kleine Häwelmann mit offenen Augen in seinem Rollenbett und hielt das eine Beinchen wie einen Mastbaum in die Höhe. Sein kleines Hemd hatte er ausgezogen und hing es wie ein Segel an seiner kleinen Zehe auf; dann nahm er ein Hemdzipfelchen in jede Hand und fing mit beiden Backen an zu blasen. Und allmählich, leise, leise, fing es an zu rollen, über den Fußboden, dann die Wand hinauf, dann kopfüber die Decke entlang und dann die andere Wand wieder hinunter. "Mehr, mehr!" schrie Häwelmann, als er wieder auf dem Boden war; und dann blies er wieder seine Backen auf, und dann ging es wieder kopfüber und kopfunter. Es war ein großes Glück für den kleinen Häwelmann, daß es gerade Nacht war und die Erde auf dem Kopf stand; sonst hätte er doch gar zu leicht den Hals brechen können.

Als er dreimal die Reise gemacht hatte, guckte der Mond ihm plötzlich ins Gesicht. "Junge", sagte er, "hast du noch nicht genug?" – "Nein", schrie Häwelmann, "mehr, mehr! Mach mir die Tür auf! Ich will durch die Stadt fahren; alle Menschen sollen mich fahren sehen." – "Das kann ich nicht", sagte der gute Mond; aber er ließ einen langen Strahl durch das Schlüsselloch fallen; und darauf fuhr der kleine Häwelmann zum Hause hinaus.

Auf der Straße war es ganz still und einsam. Die hohen Häuser standen im hellen Mondschein und glotzten mit ihren schwarzen Fenstern recht dumm in die Stadt hinaus; aber die Menschen waren nirgends zu sehen. Es rasselte recht, als der kleine Häwelmann in seinem Rollenbette über das Straßenpflaster fuhr; und der gute Mond ging immer neben ihm und leuchtete. So fuhren sie Straßen aus, Straßen ein; aber die Menschen waren nirgends zu sehen. Als sie bei der Kirche vorbeikamen, da krähte auf einmal der große goldene Hahn auf dem Glockenturm. Sie hielten still. "Was machst du da?" rief der kleine Häwelmann hinauf. – "Ich krähe zum erstenmal!" rief der goldene Hahn herunter. – "Wo sind denn die Menschen?" rief der kleine Häwelmann hinauf. – "Die schlafen", rief der goldene Hahn herunter, "wenn ich zum drittenmal krähe, dann wacht der erste Mensch auf." – "Das dauert mir zu lange", sagte Häwelmann, "ich will in den Wald fahren, alle Tiere sollen mich fahren sehen!" – "Junge", sagte der gute alte Mond, "hast du noch nicht genug?" – "Nein", schrie Häwelmann, "mehr, mehr! Leuchte, alter Mond, leuchte!" Und damit blies er die Backen auf, und der gute alte Mond leuchtete, und so fuhren sie zum Stadttor hinaus und übers Feld und in den dunkeln Wald hinein. Der gute Mond hatte große Mühe, zwischen den vielen Bäumen durchzukommen; mitunter war er ein ganzes Stück zurück, aber er holte den kleinen Häwelmann doch immer wieder ein.

Im Walde war es still und einsam; die Tiere waren nicht zu sehen; weder die Hirsche noch die Hasen, auch nicht die kleinen Mäuse. So fuhren sie immer weiter, durch Tannen- und Buchenwälder, bergauf und bergab. Der gute Mond ging nebenher und leuchtete in alle Büsche; aber die Tiere waren nicht zu sehen; nur eine kleine Katze saß oben in einem Eichbaum und funkelte mit den Augen. Da hielten sie still. "Das ist der kleine Hinze! " sagte Häwelmann, "ich kenne ihn wohl; er will die Sterne nachmachen." Und als sie weiterfuhren, sprang die kleine Katze mit von Baum zu Baum. "Was machst du da?" rief der kleine Häwelmann hinauf. – "Ich illuminiere!" rief die kleine Katze herunter. – "Wo sind denn die andern Tiere?" rief der kleine Häwelmann hinauf. – "Die schlafen", rief die kleine Katze herunter und sprang wieder einen Baum weiter; "horch nur, wie sie schnarchen!" – "Junge", sagte der gute alte Mond, "hast du noch nicht genug?" – "Nein", schrie Häwelmann, "mehr, mehr! Leuchte, alter Mond, leuchte!" Und dann blies er die Backen auf, und der gute alte Mond leuchtete; und so fuhren sie zum Walde hinaus und dann über die Heide bis ans Ende der Welt, und dann gerade in den Himmel hinein.

Hier war es lustig; alle Sterne waren wach und hatten die Augen auf und funkelten, daß der ganze Himmel blitzte. "Platz da!" schrie Häwelmann und fuhr in den hellen Haufen hinein, daß die Sterne links und rechts vor Angst vom Himmel fielen. – "Junge", sagte der gute alte Mond, "hast du noch nicht genug?" – "Nein!" schrie der kleine Häwehnann, "mehr, mehr!" Und – hast du nicht gesehen! fuhr er dem alten guten Mond quer über die Nase, daß er ganz dunkelbraun im Gesicht wurde. "Pfui!" sagte der Mond und nieste dreimal, "Alles mit Maßen!" Und damit putzte er seine Laterne aus, und alle Sterne machten die Augen zu. Da wurde es im ganzen Himmel auf einmal so dunkel, daß man es ordentlich mit Händen greifen konnte. "Leuchte, alter Mond, leuchte!" schrie Häwelmann, aber der Mond war nirgends zu sehen und auch die Sterne nicht; sie waren schon alle zu Bett gegangen. Da fürchtete der kleine Häwelmann sich sehr, weil er so allein im Himmel war. Er nahm seine Hemdzipfelchen in die Hände und blies die Backen auf; aber er wußte weder aus noch ein, er fuhr kreuz und quer, hin und her, und niemand sah ihn fahren, weder die Menschen noch die Tiere, noch auch die lieben Sterne.

Da guckte endlich unten, ganz unten am Himmelsrande ein rotes rundes Gesicht zu ihm herauf, und der kleine Häwelmann meinte, der Mond sei wieder aufgegangen. "Leuchte, alter Mond, leuchte!" rief er. Und dann blies er wieder die Backen auf und fuhr quer durch den ganzen Himmel und gerade drauflos. Es war aber die Sonne, die gerade aus dem Meere heraufkam. "Junge", rief sie und sah ihm mit ihren glühenden Augen ins Gesicht, "was machst du hier in meinem Himmel?" Und – eins, zwei, drei! nahm sie den kleinen Häwelmann und warf ihn mitten in das große Wasser. Da konnte er schwimmen lernen.

Und dann?

Ja und dann? Weißt du nicht mehr? Wenn ich und du nicht gekommen wären und den kleinen Häwelmann in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können!

Hinzelmeier - Eine nachdenkliche Geschichte

Erstes Kapitel

Die weiße Wand

In einem alten weitläufigen Hause wohnten Herr Hinzelmeier und die schöne Frau Abel; sie waren nun schon ins zwölfte Jahr verheiratet, ja die Leute in der Stadt zählten ihnen nach, daß sie zusammen schon fast an die achtzig Jahre auf dem Nacken hätten, und noch immer waren sie jung und schön und hatten weder ein Fältchen vor der Stirn, noch ein Hahnepfötchen unter den Augen. Daß dies nicht mit rechten Dingen zugehe, war nun freilich klar genug, und wenn die Hinzelmeierschen aufs Tapet kamen, so tranken die Stadtskaffeetanten drei Näpfchen mehr als am ersten Ostersonntagnachmittage. Die eine sagte: "Sie haben einen Jungbrunnen im Hofe!" Die andere sagte: "Es ist eine Jungfernmühle!" Die dritte sagte: "Ihr Bube, das Hinzelmeierlein, ist mit einer Glückshaube auf die Welt gekommen, und nun tragen die Alten sie wechselsweise, Nacht um Nacht!" Das kleine Hinzelmeierlein dachte nun freilich nicht dergleichen; es kam ihm im Gegenteil ganz natürlich vor, daß seine Eltern immer jung und schön waren; aber gleichwohl bekam auch er sein Nüßchen, das er vergeblich zu knacken suchte.

Eines Herbstnachmittags, da es schon gegen das Zwielicht ging, saß er in dem langen Korridor des obern Stockwerks und spielte Einsiedler; denn weil die silbergraue Katze, welche sonst bei ihm zur Schule ging, eben in den Garten hinabgeschlichen war, um nach den Buchfinken zu sehen, so hatte er mit dem Professorspiel für heute aufhören müssen. Er saß nun als Einsiedler in einem Winkel und dachte sich allerhand, wohin wohl die Vögel flögen und wie die Welt draußen wohl aussehen möge und noch viel Tiefsinnigeres; denn er wollte der Katze darüber auf den andern Tag einen Vortrag halten – als er seine Mutter, die schöne Frau Abel, an sich vorübergehen sah. "Heisa, Mutter!" rief er; aber sie hörte ihn nicht, sondern ging mit raschen Schritten an das Ende des Korridors; hier blieb sie stehen und schlug mit dem Schnupftuch dreimal gegen die weiße Wand. – Hinzelmeier zählte in Gedanken "ein" – "zwei", und kaum hatte er "drei" gezählt, als er die Wand sich lautlos öffnen und seine Mutter dadurch verschwinden sah; kaum konnte der Zipfel des Schnupftuchs noch mit hindurchschlüpfen, so ging alles mit einem leisen Klapp wieder zusammen, und der Einsiedler dachte nun auch noch darüber nach, wohin doch wohl seine Mutter durch die Wand gegangen sei. Darüber ward es allmählich dunkler, und das Dämmern in seinem Winkel war schon so groß geworden, daß es ihn ganz verschlungen hatte, da machte es, wie zuvor, einen leisen Klapp, und die schöne Frau Abel trat aus der Wand wieder in den Korridor hinein. Ein Rosenduft schlug dem Knaben entgegen, wie sie an ihm vorüberstrich. "Mutter, Mutter!" rief er; aber er hielt sie nicht zurück; er hörte, wie sie die Treppe hinab und in das Zimmer des Vaters ging, wo er am Vormittag sein Schaukelpferd an den messingenen Ofenknopf gebunden hatte. Nun hielt es ihn nicht länger, er sprang durch den Korridor und ritt wie der Wind das Treppengeländer hinab. Als er ins Zimmer trat, war es voller Rosenduft und es schien ihm fast, als wäre seine Mutter selber eine Rose, so leuchtend war ihr Antlitz. Hinzelmeier wurde ganz nachdenklich.

"Liebe Mutter", sagte er endlich, "weshalb gehst du denn immer durch die Wand?"

Und als Frau Abel hierauf verstummte, sagte der Vater: "Ei nun, mein Sohn, weil die andern Leute immer durch die Tür gehen."

Das war dem Hinzelmeier schon einleuchtend; bald aber wollte er mehr erfahren.

"Wohin gehst du denn, wenn du durch die Wand gehst?" fragte er weiter. "Und wo sind denn die Rosen?"

Aber ehe er sich's versah, hatte der Vater ihn kopfüber aufs Schaukelpferd gestülpt und die Mutter sang das schöne Lied:

Hatto von Mainz und Poppo von Trier

Ritten zusammen aus Lünebier;

Hatto hott hott! immer im Trott!

Poppo hopp hopp! immer Galopp!

Ein, zwei, drei!

Zelle vorbei;

Ein, zwei, drei, vier!

Nun sind wir schon hier.

"Bind es los! bind es los!" rief Hinzelmeier; und der Vater band das Rößlein vom Ofenknopf, und die Mutter sang, und der Reiter ritt hopp hinauf und hopp hinab und hatte bald alle Rosen und weißen Wände in der ganzen Welt vergessen.

Zweites Kapitel

Der Zipfel

Nun gingen manche Jahre hin, ohne daß Hinzelmeier eine Wiederholung des Wunders erlebt hätte; er dachte daher auch überall nicht mehr daran, obgleich seine Eltern jung und schön blieben, wie sie es immer gewesen waren, und oftmals auch im Winter der wunderbare Rosenduft sie umgab.

In dem einsamen Korridor des oberen Stockwerks war Hinzelmeier jetzt nur selten noch zu finden; denn die Katze war vor Alter gestorben, und so war seine Schule aus Mangel an Schülern von selber eingegangen.

Es war ihm nun schon fast so, als müßte um einige Jahre der Bart zu wachsen anfangen; da ging er eines Nachmittags wieder in den alten Korridor hinauf, um die weißen Wände zu besichtigen; denn er wollte auf den Abend das berühmte Schattenspiel "Nebukadnezar und sein Nußknacker" zur Aufführung bringen. In dieser Absicht war er an das Ende des Ganges gekommen und betrachtete die weiße Querwand von oben bis unten, als er zu seiner Verwunderung den Zipfel eines Schnupftuches daraus hervorhängen sah. Er bückte sich, um es genauer zu betrachten; in der Ecke stand: A.H.; das konnte nichts anderes heißen als: Abel Hinzelmeier; es war das Schnupftuch seiner Mutter. Nun fing's in seinem Kopfe an zu schnurren und die Gedanken arbeiteten rückwärts, weiter und weiter, bis sie bei dem ersten Kapitel dieser Geschichte plötzlich haltmachten. Hierauf suchte er das Schnupftuch aus der Wand herauszuziehen, was ihm auch nach einem etwas schmerzhaften Experimente glücklich gelang; dann schlug er, wie einst die schöne Frau Abel, dreimal mit dem Tuche gegen die Wand; und "ein – zwei – drei –!" tat sie sich lautlos voneinander, Hinzelmeier schlüpfte hindurch und stand – wohin er am wenigsten zu gelangen dachte – auf dem Hausboden. Aber es war nicht daran zu zweifeln; dort stand der Urgroßmutterschrank mit den wackelköpfigen Pagoden, daneben seine eigne Wiege und weiterhin das Schaukelpferd, lauter ausgedientes Gerät; unter dem Balken längs an eisernen Haken hingen wie immer des Vaters lange Mäntel und Reisekragen und drehten sich langsam um sich selbst, wenn der Zug durch die offenen Bodenluken hereinstrich. "Sonderbar!" sagte Hinzelmeier, "warum ging die Mutter denn doch immer durch die Wand?" Da er indessen außer den bekannten Gegenständen nichts bemerken konnte, so wollte er durch die Bodentür wieder ins Haus hinabgehen. Allein die Tür war nicht da. Er stutzte einen Augenblick und meinte anfänglich, sich nur geirrt zu haben, weil er von einer andern Seite, als gewöhnlich, hinaufgelangt war. Er wandte sich daher und ging zwischen die Mäntel durch nach dem alten Schranke, um sich von hier aus zurechtzufinden; und richtig, dort gegenüber war die Tür, er begriff nicht, wie er sie hatte übersehen können. Als er aber darauf zuging, erschien ihm plötzlich wieder alles so fremd, daß er zu zweifeln begann, ob er auch vor der rechten Tür stehe. Allein soviel er wußte, gab es hier keine andere. Was ihn am meisten verwirrte, war, daß die eiserne Klinke fehlte und auch der Schlüssel abgezogen war, der sonst immer aufzustecken pflegte. Er legte daher sein Auge an das Schlüsselloch, ob er vielleicht jemanden auf der Treppe oder dem Vorplatz gewahren könne, der ihn herabließe. Zu seinem Erstaunen sah er aber nicht auf die dunkle Treppe, sondern in ein helles geräumiges Zimmer, von dessen Dasein er bisher keine Ahnung gehabt hatte.

In der Mitte desselben gewahrte er einen pyramidenförmigen Schrein, der von zwei goldschimmernden Türen verschlossen und mit wunderlicher Schnitzarbeit verziert war. Hinzelmeier wußte nicht recht, ob das enge Schlüsselloch seinen Blick verwirrte, aber es war ihm fast, als wenn die Gestalten der Schlangen und Eidechsen in der braunen Laubgirlande, welche sich an den Kanten hinunterzog, auf und ab raschelten, ja mitunter sogar die geschmeidigen Köpfe auf den Goldgrund der Türe hinüberreckten. Dies alles beschäftigte den Knaben so, daß er nun erst die schöne Frau Abel und ihren Eheherrn bemerkte, welche mit geneigtem Haupte vor dem Schrein niedergekniet waren. Unwillkürlich hielt er den Atem an, um nicht bemerkt zu werden, und nun hörte er die Stimmen seiner Eltern in leisem Gesange:

Rinke, ranke, Rosenschein,

Tu dich auf, du goldner Schrein!

Tu dich auf und schließ uns ein,

Rinke, ranke, Rosenschein!

Während des Gesanges erstarrte in dem Laubwerk das Leben des Gewürmes; die goldenen Türen gingen langsam auf und zeigten in dem Innern des Schrankes einen kristallenen Becher, in welchem eine halberschlossene Rose auf schlankem Schafte stand. Allmählich öffnete sich der Kelch; weiter und weiter, bis eins der schimmernden Blätter sich ablöste und zwischen die Knienden hinabfiel. Ehe es aber den Boden erreichte, zerstob es klingend in der Luft und füllte das Gemach mit rosenrotem Nebel.

Ein starker Rosenduft quoll durch das Schlüsselloch; der Knabe preßte sein Auge an die Öffnung, aber er gewahrte nichts als dann und wann ein Leuchten, das in der roten Dämmerung aufbrach und wieder verschwand. Nach einer Weile hörte er Schritte an der Tür; er wollte aufspringen, aber ein heftiger Schmerz an der Stirn raubte ihm die Besinnung.

Drittes Kapitel

Die Rose

Als Hinzelmeier aus der Betäubung erwachte, lag er in seinem Bette; Frau Abel saß neben ihm und hielt seine Hand in der ihren. Sie lächelte, da er die Augen zu ihr aufschlug, und der Abglanz der Rose lag auf ihrem Antlitz. "Du hast zuviel erlauscht, um nicht noch mehr erfahren zu müssen", sagte sie. "Nur darfst du für heute dein Bett nicht verlassen; aber währenddessen will ich dir das Geheimnis deiner Familie mitteilen. Du bist jetzt groß genug, um es zu wissen."

"Erzähle nur, Mutter", sagte Hinzelmeier und legte den Kopf zurück in die Kissen. Und dann erzählte Frau Abel: "Weit von dieser kleinen Stadt liegt der uralte Rosengarten, von dem die Sage geht, er sei am sechsten Schöpfungstage mit erschaffen worden. Innerhalb seiner Mauer stehen tausend rote Rosenbüsche, welche nie zu blühen aufhören; und jedesmal, wenn in unserem Geschlechte, welches in vielen Zweigen durch alle Länder der Welt verbreitet ist, ein Kind geboren wird, springt eine neue Knospe aus den Blättern. Jeder Knospe ist eine Jungfrau zur Pflegerin bestellt, welche den Garten nicht verlassen darf, bis die Rose von dem geholt worden, durch dessen Geburt sie entsprossen ist. Eine solche Rose, welche du vorhin gesehen hast, besitzt die Kraft, ihren Eigentümer zeitlebens jung und schön zu erhalten. Daher versäumt denn nicht leicht jemand, sich seine Rose zu holen; es kommt nur darauf an, den rechten Weg zu finden; denn der Eingänge sind viele und oft verwunderliche. Hier führt es durch einen dicht verwachsenen Zaun, dort durch ein schmales Winkelpförtchen, mitunter" – und Frau Abel sah ihren Eheherrn, der eben ins Zimmer trat, mit schelmischen Augen an –, "mitunter auch durchs Fenster!"

Herr Hinzelmeier lächelte und setzte sich neben das Bett seines Sohnes.

Dann erzählte Frau Abel weiter: "Auf diese Weise wird die größte Zahl der Jungfrauen aus ihrer Gefangenschaft erlöst und verläßt mit dem Besitzer der Rose den Garten. Auch deine Mutter war eine Rosenjungfrau und pflegte sechzehn Jahre lang die Rose deines Vaters. Wer aber an dem Garten vorübergeht ohne einzukehren, der darf niemals dahin zurück; nur der Rosenjungfrau ist es nach dreimal drei Jahren gestattet, in die Welt hinauszugehen, um den Rosenherrn zu suchen und sich durch die Rose aus der Gefangenschaft zu erlösen. Findet sie in dieser Zeit ihn nicht, so muß sie in den Garten zurück und darf erst nach wiederum dreimal drei Jahren noch einmal den Versuch erneuern; aber wenige wagen den ersten, fast keine den zweiten Gang; denn die Rosenjungfrauen scheuen die Welt, und wenn sie ja in ihren weißen Gewändern hinausgehen, so gehen sie mit niedergeschlagenen Augen und zitternden Füßen; und unter hundert solcher Kühnen hat kaum eine einzige den wandernden Rosenherrn gefunden. Für diesen aber ist dann die Rose verloren, und während die Jungfrau zu ewiger Gefangenschaft zurückgegangen ist, hat auch er die Gnade seiner Geburt verscherzt und muß wie die gewöhnliche Menschheit kümmerlich altern und vergehen. – Auch du, mein Sohn, gehörst zu den Rosenherren und kommst du in die Welt hinaus, dann vergiß den Rosengarten nicht."

Herr Hinzelmeier neigte sich zur Frau Abel und küßte ihre seidenen Haare; dann sagte er, freundlich des Knaben andere Hand ergreifend: "Du bist jetzt groß genug! Möchtest du wohl in die Welt hinaus und eine Kunst erlernen?"

"Ja", sagte Hinzelmeier, "aber es müßte eine große Kunst sein; so eine, die sonst noch niemand hat erlernen können!"

Frau Abel schüttelte sorgenvoll den Kopf; der Vater aber sagte: "Ich will dich zu einem weisen Meister bringen, der viele Meilen von hier in einer großen Stadt wohnt; da magst du dir selbst eine Kunst erwählen."

Das war Hinzelmeier zufrieden.

Einige Tage darauf packte Frau Abel einen großen Koffer mit unzählig vielen Kleidern, und Hinzelmeier selber legte noch ein Rasierzeug hinein, damit er den Bart, wenn er käme, sogleich wieder abschneiden könne. Dann fuhr eines Tages der Wagen vor die Tür, und als die Mutter ihren Sohn zum Abschied umarmte, sagte sie unter Tränen zu ihm: "Vergiß die Rose nicht!"

Viertes Kapitel

Krahirius

Als Hinzelmeier ein Jahr bei dem weisen Meister gewesen war, schrieb er seinen Eltern, er habe sich nun eine Kunst erwählt, er wolle den Stein der Weisen suchen; nach zwei Jahren werde der Meister ihn lossprechen, dann wolle er auf die Wanderschaft und nicht eher zurückkehren, als bis er den Stein gefunden habe. Dies sei eine Kunst, welche noch von niemandem erlernt worden; denn auch der Meister sei eigentlich nur ein Altgesell, da der Stein noch keineswegs von ihm gefunden sei.

Als die schöne Frau Abel diesen Brief gelesen hatte, faltete sie ihre Finger ineinander und rief: "Ach, er wird nimmer in den Rosengarten kommen! Es wird ihm gehen wie unseres Nachbarn Kasperle, der vor zwanzig Jahren ausgezogen und nimmer wieder nach Hause gekommen ist!"

Herr Hinzelmeier aber küßte seine schöne Frau und sagte: "Er mußte seinen Weg gehen! Ich wollte auch einmal den Stein der Weisen suchen und habe statt dessen die Rose gefunden."

So blieb denn Hinzelmeier bei dem weisen Meister; und allmählich ging die Zeit herum. – –

Es war schon tief in der Nacht. Hinzelmeier saß vor einer qualmenden Lampe über einen Folianten gebückt. Aber es wollte ihm heute nicht gelingen; er fühlte es in seinen Adern klopfen und gären, es überfiel ihn eine Angst, als könne ihm auf immer das Verständnis für die tiefe Weisheit der Formeln und Sprüche verlorengehen, welche das alte Buch bewahrte.

Mitunter wandte er sein blasses Gesicht ins Zimmer zurück und starrte gedankenlos in den Winkel, wo die grämliche Gestalt seines Meisters vor einem niedrigen Herde zwischen glühenden Kolben und Tiegeln hantierte; mitunter, wenn die Fledermäuse an den Scheiben vorüberstrichen, sah er verlangend in die Mondnacht hinaus, die wie ein Zauber draußen über den Feldern lag. Neben dem Meister kauerte die Kräuterfrau am Boden. Sie hatte den grauen Hauskater auf dem Schoß und stäubte ihm sanft die Funken aus dem Pelz. Manchmal, wenn es so recht behaglich knisterte und das Tier vor angenehmem Grausen mauzte, langte der Meister liebkosend nach ihm zurück und sagte hustend: "Die Katze ist die Genossin des Weisen!"

Plötzlich scholl von außen her, von der First des Daches, das unter dem Fenster lag, ein langgezogener, sehnsüchtiger Laut, wie dessen von allen Tieren nur die Katze und nur im Lenze mächtig ist. Der Kater richtete sich auf und krallte seine Klauen in die Schürze des alten Weibes. Noch einmal rief es draußen. Da sprang das Tier mit einem derben Satz auf den Fußboden und über Hinzelmeiers Schultern durch die Scheiben ins Freie, daß die Glasscherben klingend hinterdrein stoben.